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Fachabteilung A: Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik · 2. ÜBERBLICK ÜBER DIE GEGENSEITIGKEITS-GESELLSCHAFTEN IN DER EUROPÄISCHEN UNION 20 2.1. Gegenseitigkeit in Europa: ein

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Fachabteilung A: Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________________

GENERALDIREKTION INTERNE POLITIKBEREICHE

FACHABTEILUNG A: WIRTSCHAFTS- UND WISSENSCHAFTSPOLITIK

BESCHÄFTIGUNG UND SOZIALE ANGELEGENHEITEN

Die Rolle von Gegenseitigkeitsgesellschaften im

21. Jahrhundert

STUDIE

Inhalt

Gegenseitigkeitsgesellschaften spielen eine wichtige Rolle in der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft, denn sie bieten einem Großteil der EU-Bürger soziale Absicherung und sonstigen Versicherungsschutz. Diese Studie gibt einen Überblick über die speziellen Merkmale und die Aufgaben von Gegenseitigkeitsgesellschaften in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten, analysiert das für Gegenseitigkeitsgesellschaften relevante Gemeinschaftsrecht und betrachtet das Abschneiden dieser Gesellschaften in der Finanz- und Wirtschaftskrise. Behandelt wird in diesem Bericht auch die Frage, wie Gegenseitigkeitsgesellschaften zum integrativen und nachhaltigen Wachstum der Europäischen Union beitragen können.

IP/A/EMPL/ST/2010-004 JULI 2011 PE 464.434 DE

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Diese Studie wurde vom Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments in Auftrag gegeben. VERFASSER Douwe Grijpstra Simon Broek Bert-Jan Buiskool Mirjam Plooij (Research voor Beleid; Niederlande) ZUSTÄNDIGE VERWALTUNGSBEAMTIN Moira Andreanelli Fachabteilung Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik Europäisches Parlament B-1047 Brüssel E-Mail: [email protected] SPRACHFASSUNGEN Original: [EN] Zusammenfassung: [DE, FR] ÜBER DEN HERAUSGEBER Kontakt zur Fachabteilung oder Bestellung des Newsletters: [email protected] Redaktionsschluss: Juli 2011 Brüssel, © Europäische Union, 2011 Dieses Dokument ist im Internet unter folgender Adresse abrufbar: www.europarl.europa.eu/activities/committees/studies.do?language=EN HAFTUNGSAUSSCHLUSS Die hier vertretenen Auffassungen geben die Meinung der Verfasser wieder und entsprechen nicht unbedingt dem offiziellen Standpunkt des Europäischen Parlaments. Nachdruck und Übersetzung - außer zu kommerziellen Zwecken - mit Quellenangabe gestattet, sofern der Herausgeber vorab unterrichtet und ihm ein Exemplar übermittelt wird.

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Die Rolle von Gegenseitigkeitsgesellschaften im 21. Jahrhundert ___________________________________________________________________________________________________________________________________________________

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INHALTSVERZEICHNIS

INHALTSVERZEICHNIS 5

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS 8

TABELLENVERZEICHNIS 9

ABBILDUNGSVERZEICHNIS 9

ZUSAMMENFASSUNG 10

Gegenseitigkeitsgesellschaften in der EU und ihre Bedeutung für die soziale Sicherheit 10

Gegenseitigkeitsgesellschaften im EU-Binnenmarkt 11

Gegenseitigkeitsgesellschaften in einem sich verändernden wirtschaftlichen Umfeld 13

Die künftige Rolle von Gegenseitigkeitsgesellschaften in der europäischen Gesellschaft 14

1. EINLEITUNG 16

1.1. Ziel der Studie 17

1.2. Methodik der Studie 18

2. ÜBERBLICK ÜBER DIE GEGENSEITIGKEITS-GESELLSCHAFTEN IN DER EUROPÄISCHEN UNION 20

2.1. Gegenseitigkeit in Europa: ein historischer Abriss 21

2.2. Gegenseitigkeitsgesellschaften in der Sozialwirtschaft 24

2.3. Definition der Gegenseitigkeitsgesellschaften unter einem unionsweiten Blickwinkel 26

2.4. Überblick über die nationalen Rechtsvorschriften zu Gegen-seitigkeitsgesellschaften 30

2.5. Umfang des Sektors in der EU 34

2.6. Schlussbemerkungen 36

3. DIE BEDEUTUNG DER GEGENSEITIGKEITS-GESELLSCHAFTEN FÜR DIE SOZIALE SICHERHEIT 38

3.1. Gegenseitigkeitsgesellschaften im Bereich der Kranken-versicherung 38

3.2. Gegenseitigkeitsgesellschaften im Bereich der privaten Rentenversicherung 50

3.3. Schlussbemerkungen 52

4. GEGENSEITIGKEITSGESELLSCHAFTEN IM EU-BINNENMARKT 53

4.1. EU-Rechtsvorschriften zu Versicherungsdienstleistungen und Gegenseitigkeitsgesellschaften 54

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4.1.1. Lebensversicherung 54

4.1.2. Schadenversicherung 57

4.1.3. Solvabilität II 59 4.2. Gegenseitigkeitsgesellschaften als Anbieter von Sozial-

dienstleistungen von allgemeinem Interesse 60

4.2.1. Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse 60

4.2.2. Die Anbieter von Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse 61

4.2.3. Die Debatte über Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse und die Anwendung der EU-Vorschriften 62

4.2.4. Vertragsverletzungsverfahren und Rechtsetzung 64 4.3. Ein Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft 68

4.3.1. Ziel und Inhalt des Statuts 68

4.3.2. Zurücknahme des Verordnungsentwurfs und Wiederaufgreifen der Initiative 71

4.3.3. Vorschlag europäischer Vertretungsorganisationen für ein Statut 72

4.3.4. Erfahrungen mit dem Statut der Europäischen Genossenschaft 74

4.3.5. Derzeitige Diskussionen über das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft 76

4.4. Schlussbemerkungen 78

5. GEGENSEITIGKEITSGESELLSCHAFTEN IN EINEM SICH VERÄNDERNDEN WIRTSCHAFTLICHEN UMFELD 80

5.1. Der Versicherungssektor und die Krise 81

5.1.1. Gegenseitigkeitsgesellschaften im Versicherungsmarkt 81

5.1.2. Die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Versicherungsmärkte 82

5.2. Gegenseitigkeitsgesellschaften und Kapitalgesellschaften im Vergleich 84

5.2.1. Homogenität und Heterogenität des Kundenkreises der Versicherungsunternehmen und der von ihnen abgesicherten Risiken 84

5.2.2. Zugang zu Kapital 86

5.2.3. Leistungsfähigkeit im Vergleich 87 5.3. Das Abschneiden der Gegenseitigkeitsgesellschaften in der jüngsten

Finanzkrise 88

5.4. Schlussbemerkungen 90

6. DIE GEGENWÄRTIGE UND DIE KÜNFTIGE ROLLE VON GEGENSEITIGKEITSGESELLSCHAFTEN IN DER EU 92

6.1. Die Nachhaltigkeit und Bezahlbarkeit der Systeme der sozialen Sicherheit 93

6.2. Die künftige Rolle von Gegenseitigkeitsgesellschaften 97

6.3. Schlussbemerkungen 100

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7. SCHLUSSFOLGERUNGEN 102

ANHANG 1: NATIONALE RECHTSVORSCHRIFTEN ZU GEGENSEITIGKEITSGESELLSCHAFTEN 105

Anhang 1A: Definition der Gegenseitigkeitsgesellschaften in den 27 Mitgliedstaaten 105

Anhang 1B: Die wichtigsten Rechtsquellen 109

ANHANG 2: VERZEICHNIS DER BEFRAGTEN 113

ANHANG 3: ICMIF: MARKTANTEIL DER GEGEN-SEITIGKEITSGESELLSCHAFTEN UND GENOSSENSCHAFTEN 2008 115

LITERATURVERZEICHNIS 116

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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AT Österreich BE Belgien BG Bulgarien CY Zypern CZ Tschechische Republik DK Dänemark EE Estland FI Finnland FR Frankreich DE Deutschland EL Griechenland HU Ungarn IE Irland IT Italien LV Lettland LT Litauen LU Luxemburg MT Malta NL Niederlande PL Polen PT Portugal RO Rumänien SK Slowakei SI Slowenien ES Spanien SE Schweden UK Vereinigtes Königreich

AIM Association Internationale de la Mutualité

AMICE Association of Mutual Insurers and Insurance Cooperatives in Europe CEA Comité Européen des Assurances/Europäisches Versicherungskomitee

EWR Europäischer Wirtschaftsraum EMS/ME Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaft

EP Europäisches Parlament EU Europäische Union

BIP Bruttoinlandsprodukt ICMIF International Cooperative and Mutual Insurance Federation OECD Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

SCE European Cooperative Society/Europäische Genossenschaft SE European Company/Europäische Gesellschaft

AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

WHO World Health Organization/Weltgesundheitsorganisation

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TABELLENVERZEICHNIS Tabelle 1: Die Rolle der Gegenseitigkeitsgesellschaften in der

Krankenversicherung..............................................................39

Tabelle 2: Marktanteil der Gegenseitigkeitsgesellschaften und

Genossenschaften 2008........................................................ 115

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Der Anteil der Gegenseitigkeitsgesellschaften und

Genossenschaften am Versicherungsmarkt (Marktanteil Lebens- und

Schadenversicherung insgesamt) in den einzelnen EU-

Mitgliedstaaten (2008) ...........................................................81

Abbildung 2: Direkte Prämieneinnahmen insgesamt im europäischen

Versicherungsmarkt (indexiert (1999=100))..............................83

Abbildung 3: Altersabhängigkeitsquotient für die EU und für ausgewählte

Mitgliedstaaten (Zahl der über 65-Jährigen im Verhältnis zur Zahl

der 15-64-Jährigen) ...............................................................94

Abbildung 4: Gesamtüberblick über die Sozialschutzausgaben in der EU27 (in

Prozent des BIP) im Jahr 2008, aufgeschlüsselt nach den vier

wichtigsten Systemen (Invalidität, Alter und Hinterbliebene,

Krankheit und Gesundheitsvorsorge sowie Arbeitslosigkeit)..........95

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ZUSAMMENFASSUNG

Gegenseitigkeitsgesellschaften in der EU und ihre Bedeutung für die soziale Sicherheit Gegenseitigkeitsgesellschaften sind freiwillige Vereinigungen natürlicher oder juristischer Personen, deren primäres Ziel die Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder und nicht die Gewinnerzielung ist. Sie arbeiten nach dem Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedern, die auch an der Leitung der Gesellschaft beteiligt sind. Wie Genossenschaften, Stiftungen und Vereine sind Gegenseitigkeitsgesellschaften ein wichtiges Element der Sozialwirtschaft bzw. des dritten Sektors in der Europäischen Union.

In vielen europäischen Ländern haben Gegenseitigkeitsgesellschaften eine lange Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Ihre Blütezeit lag im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Damals dienten sie als Sicherheitsnetz für Industriearbeiter sowie andere Gesellschafts- und Berufsgruppen, die ihre Mittel zusammenlegten, um sich gegen soziale Risiken und Sachrisiken abzusichern. Gegenseitigkeitsgesellschaften können als Vorläufer des modernen Wohlfahrtsstaats betrachtet werden.

Die umfassenden Reformen nach dem Zweiten Weltkrieg, mit denen gesetzliche Systeme der sozialen Sicherheit geschaffen wurden, führten dazu, dass sich die Stellung der Gegenseitigkeitsgesellschaften in der europäischen Gesellschaft veränderte. In den meisten Ländern übernahmen diese Gesellschaften eine alternative Rolle, indem sie freiwillige Krankenversicherungssysteme entwickelten und ihre Aktivitäten in anderen Bereichen der Risikodeckung (zum Beispiel bei der Kraftfahrzeugversicherung) fortsetzten oder ausbauten. In vielen Mitgliedstaaten der EU spielen Gegenseitigkeitsgesellschaften immer noch eine bedeutende Rolle. In den neueren, vormals kommunistisch regierten EU-Mitgliedstaaten wurden die Gegenseitigkeitsgesellschaften, die es dort bis zum Zweiten Weltkrieg gegeben hatte, in der kommunistischen Ära unterdrückt und konnten sich nach dem Zusammenbruch des Kommunismus meist nicht wieder etablieren.

In Europa sind vor allem zwei Hauptformen von Gegenseitigkeitsgesellschaften üblich, und zwar Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge und Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit. Während letztere Versicherungsanbieter darstellen, die nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit organisiert sind und geleitet werden und alle Arten von Sach- und Lebensrisiken abdecken können, erbringen erstere Sozialleistungen ergänzend zum gesetzlichen System der sozialen Sicherheit oder sind in dieses integriert. In manchen Fällen betreiben sie eigene Einrichtungen (wie Krankenhäuser und Apotheken). In den meisten Mitgliedstaaten unterliegt die Tätigkeit von Gegenseitigkeitsgesellschaften einer gesetzlichen Beschränkung auf bestimmte Aktivitäten. Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge sind vor allem in den west- und südeuropäischen Ländern zu finden, während Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit in fast allen Mitgliedstaaten existieren. In Großbritannien und in Irland gibt es zudem noch Gegenseitigkeitsgesellschaften in anderen als den beiden genannten Bereichen (in der Wohnungswirtschaft, im Fußball, aber hauptsächlich im Kreditsektor). In Zypern, der Tschechischen Republik, Estland, Litauen und der Slowakischen Republik gibt es keine Gegenseitigkeitsgesellschaften.

Die oben beschriebenen Hauptmerkmale treffen im Allgemeinen für alle Gegenseitigkeitsgesellschaften in Europa zu, es gibt aber auch beträchtliche Unterschiede zwischen ihnen.

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Nicht in allen EU-Mitgliedstaaten sind diese Gesellschaften durch die Merkmale gekennzeichnet, die sie nach allgemeiner Auffassung von anderen Organisationstypen unterscheiden (d. h. die Mitglieder sind auch Versicherungsnehmer, jedes Mitglied hat eine Stimme und es gibt keine Anteile). Deshalb ist es in Europa weitgehend eine Frage der Auslegung, was eine Gegenseitigkeitsgesellschaft ist, und in manchen Fällen weisen Organisationen, die in den einzelnen Ländern als Gegenseitigkeitsgesellschaften gelten, nur wenige Ähnlichkeiten auf.

Obgleich sich die Rechtsvorschriften für Gegenseitigkeitsgesellschaften in den einzelnen europäischen Länder unterscheiden, unterliegen Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit weitgehend den allgemeinen gesetzlichen Vorschriften für Versicherungen und Finanzdienstleistungen, während Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge durch Ad-hoc-Bestimmungen reguliert werden.

Schätzungen zufolge erbringen Gegenseitigkeitsgesellschaften heutzutage Gesundheits- und Sozialleistungen für 230 Millionen EU-Bürger und erheben insgesamt mehr als 180 Milliarden Euro an Versicherungsbeiträgen. Sie beschäftigen europaweit etwa 350 000 Personen. Genaue statistische Daten fehlen allerdings.

Der Stellenwert der Gegenseitigkeitsgesellschaften innerhalb der Systeme der sozialen Sicherheit ist in den einzelnen Ländern der EU unterschiedlich. Dies ist vor allem auf die individuellen historischen, kulturellen und politischen Entwicklungen in den Mitgliedstaaten zurückzuführen. In Griechenland sind Gegenseitigkeitsgesellschaften ausschließlich im Bereich der obligatorischen Krankenversicherung tätig, in Belgien und den Niederlanden erbringen sie Dienstleistungen sowohl im Bereich der obligatorischen als auch der freiwilligen Krankenversicherung. In vielen Ländern sind Gegenseitigkeitsgesellschaften ausschließlich im Bereich der freiwilligen Krankenversicherung zu finden (Österreich, Deutschland, Dänemark, Spanien, Finnland, Frankreich, Ungarn, Italien, Luxemburg, Malta, Polen, Portugal, Schweden, Slowenien und Großbritannien), während es in einigen wenigen Mitgliedstaaten der EU offenbar keine Gegenseitigkeitsgesellschaften in diesem Sektor gibt (Belgien, Irland, Lettland und Rumänien). Gegenseitigkeitsgesellschaften zur Abdeckung anderer sozialer Risiken gibt es im Bereich der privaten Rentenversicherung, wo sowohl die Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge als auch die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (oft in Verbindung mit Lebensversicherungspolicen) vertreten sind.

Gegenseitigkeitsgesellschaften im EU-Binnenmarkt Die Aktivitäten von Gegenseitigkeitsgesellschaften unterliegen weitgehend den Gemeinschaftsvorschriften für den Binnenmarkt und den Wettbewerb.

Deshalb müssen Gegenseitigkeitsgesellschaften auch die Solvabilitätsvorschriften für die Eigenkapitalausstattung von Finanzinstitutionen erfüllen. „Solvabilität II“ verlangt von Dienstleistungsanbietern höhere Solvabilitätsspannen und eine Risikodifferenzierung. Da viele Gegenseitigkeitsgesellschaften nur bestimmte Marktnischen besetzen, was ihnen den Zugang zu Kapital erschwert, könnten sie Schwierigkeiten haben, die strengeren Anforderungen von „Solvabilität II“ zu erfüllen und gleichzeitig ihre Leistungen bei wettbewerbsfähigen Beiträgen zu erbringen.

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In Zukunft wird sich der Versicherungsmarkt wahrscheinlich einheitlicher gestalten, was unter anderem auch auf die Gemeinschaftsvorschriften zu Versicherungen und Finanzinstitutionen, die weitgehend vom Unternehmensmodell der Kapitalgesellschaft ausgehen, zurückzuführen ist. Dadurch werden Gegenseitigkeitsgesellschaften möglicherweise gezwungen, immer stärker wie Kapitalgesellschaften zu handeln oder sich vom Gegenseitigkeitsgrundsatz zu entfernen.

Abhängig von den jeweiligen Aktivitäten und dem rechtlichen/organisatorischen Rahmen, innerhalb dessen diese realisiert werden, können die Leistungen einiger Gegenseitigkeitsgesellschaften unter die Definition der „Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse“ entweder „nicht gewerblicher“ oder „gewerblicher“ Natur gemäß EU-Recht fallen, weshalb sich nicht immer leicht feststellen lässt, ob und wie die Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln für sie zutreffen, insbesondere da Gegenseitigkeitsgesellschaften häufig Dienstleistungen in anderen, ergänzenden Bereichen erbringen. In den letzten Jahren wurden einige Streitfälle im Zusammenhang mit Gegenseitigkeitsgesellschaften vor den Europäischen Gerichtshof gebracht, so dass inzwischen eine relativ umfangreiche Rechtsprechung in diesem Bereich vorliegt.

Bereits seit den neunziger Jahren gibt es Initiativen zur Einführung eines gemeinschaftlichen Rechtsinstruments, das die Gründung von Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaften erlaubt, und zwar auf der Grundlage eines „Statuts“, ähnlich den bereits entwickelten Statuten für Europäische Gesellschaften und Europäische Genossenschaften. Über den von der Europäischen Kommission 1992 vorgelegten Entwurf einer Verordnung des Rates über das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft wurde einige Jahre lang debattiert, bevor er 2006 wieder zurückgezogen wurde. Vom Geltungsbereich der vorgeschlagenen Verordnung ausgenommen waren von Gegenseitigkeitsgesellschaften verwaltete grundlegende und obligatorische Sozialversicherungssysteme, denn die Mitgliedstaaten wollten sich die Freiheit bewahren, selbst über die Art der Organisationen zu entscheiden, denen sie eine derartige Verantwortung übertragen.

Die in den Debatten über die Notwendigkeit eines Statuts der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft angeführten Argumente zugunsten dieser Initiative sind nachvollziehbar (zum Beispiel die Hervorhebung der neuen Möglichkeiten für grenzübergreifende Aktivitäten von Gegenseitigkeitsgesellschaften und der besseren Anerkennung der Gegenseitigkeit auf europäischer Ebene). Das Europäische Parlament und der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss sowie die Europäische Kommission haben kürzlich ihren Willen bekundet, die Initiative erneut aufzugreifen.

Bei der Ausarbeitung einer neuen Verordnung sollten allerdings die Kritikpunkte berücksichtigt werden. Insbesondere sollte die Gebrauchstauglichkeit eines solchen Statuts in der Praxis vorab sorgfältig geprüft werden, wobei den Erfahrungen mit dem Statut der Europäischen Genossenschaft Rechnung getragen werden sollte, dessen praktische Umsetzung durch die Komplexität der Bezugnahmen auf die nationalen Rechtsvorschriften Gesetzgebung erschwert wird.

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Im November 2007 haben zwei Organisationen, die Gegenseitigkeitsgesellschaften auf europäischer Ebene vertreten (die AIM - Association Internationale de la Mutualité - und die AMICE - Association of Mutual Insurers and Insurance Cooperatives in Europe), ein Arbeitsdokument veröffentlicht, in dem eine aktualisierte Fassung des Statuts für eine Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaft vorgeschlagen wird, die verglichen mit dem Verordnungsentwurf der Europäischen Kommission einige Verbesserungen hinsichtlich der Anwendbarkeit und des praktischen Einsatzes aufweist.

Gegenseitigkeitsgesellschaften in einem sich verändernden wirtschaftlichen Umfeld Untersuchungen zeigen, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften in Krisenzeiten offenbar widerstandsfähiger und somit nachhaltiger sind, da sie ihr Kapital ausschließlich durch ihre Mitglieder und nicht über die Kapitalmärkte beziehen. Da es jedoch noch zahlreiche andere Indikatoren, wie zum Beispiel die Kosteneffizienz und die Kunden- bzw. Mitgliederfreundlichkeit gibt, ist es nicht möglich, ein endgültiges Urteil darüber abzugeben, ob Gegenseitigkeitsgesellschaften besser oder schlechter als Kapitalgesellschaften abschneiden. Komparative Vor- oder Nachteile sind häufig eher auf die Größe der Gesellschaft und weniger auf ihren Rechtsstatus zurückzuführen. Generell gehen kleinere Versicherungsgesellschaften, unabhängig von ihrer Rechtsform, tendenziell stärker auf die Bedürfnisse ihrer Kunden/Mitglieder ein und achten mehr auf demokratische Werte. Die Tatsache, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften generell kleinere Versicherungsunternehmen sind, führt dazu, dass sie zusätzlich zu den ihnen eigenen charakteristischen Grundsätzen meist auch enger mit ihren Versicherungsnehmern zusammenarbeiten. Aus den analysierten Quellen geht hervor, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften tendenziell bessere Beziehungen zu ihren Kunden/Mitgliedern unterhalten als im gleichen Bereich tätige Kapitalgesellschaften.

Auf einem stark wettbewerbsorientierten Markt ist es für Gegenseitigkeitsgesellschaften von Nachteil, keinen einfachen Zugang zu Kapital bzw. Risikokapital zu haben. Sie sind also gezwungen, andere Wege zur Kapitalaufstockung zu finden. So können Gegenseitigkeitsgesellschaften ihr Geschäft durch die Aufnahme neuer Mitglieder, durch die Erschließung neuer Märkte oder durch die Erweiterung ihrer Produktpalette ausbauen. Zusätzlich können sie ihre Aktivitäten kosteneffektiver organisieren und/oder Skaleneffekte nutzen, indem sie mit anderen Gegenseitigkeitsgesellschaften innerhalb eines Mitgliedstaates oder in anderen Mitgliedstaaten fusionieren oder mit diesen Bündnisse eingehen. Allerdings bestehen häufig rechtliche und administrative Hindernisse für solche Erweiterungen. Zum Beispiel dürfen Gegenseitigkeitsgesellschaften in vielen Mitgliedstaaten nur bestimmten geschäftlichen Aktivitäten nachgehen und können deshalb nicht immer zusätzliche Leistungen anbieten. Auch im Hinblick auf die grenzübergreifende Zusammenarbeit sind Gegenseitigkeitsgesellschaften im Nachteil, da sie im Grunde gezwungen sind, für diese Zwecke eine Holding-Gesellschaft mit Strukturen einer Aktiengesellschaft zu gründen, wodurch sie ihren besonderen Charakter verlieren. In vielen Mitgliedstaaten der EU ist es Gegenseitigkeitsgesellschaften zudem nicht erlaubt, Vereinigungen zu bilden.

Im Bereich der Versicherung haben die einzelnen Rechtsformen der Anbieter (Gegenseitigkeitsgesellschaften oder nicht) jeweils Vor- und Nachteile.

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Jede der beiden Gesellschaftsformen eignet sich speziell zur Deckung bestimmter Risiken, für bestimmte Zielgruppen und für bestimmte Verwaltungs- und Organisationsstrukturen. Im Allgemeinen konzentrieren sich die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit auf weniger riskante Geschäftsaktivitäten und Produkte. Zudem sind sie aufgrund des erschwerten Zugangs zu den Kapitalmärkten auch weniger von diesen abhängig, und die Interessen von Eigentümern und Gläubigern/Versicherungsnehmern stimmen stärker überein und sind auf einen längeren Zeitraum ausgerichtet. Zudem wird geltend gemacht, dass gemischte Märkte, in denen es sowohl Gegenseitigkeitsgesellschaften als auch Kapitalgesellschaften gibt, zu einem systemischen Vorteil führen, da ein Markt, auf dem unterschiedliche Eigentumsverhältnisse herrschen, stärker wettbewerbsorientiert und weniger risikobehaftet ist als einer, auf dem ausschließlich eine der beiden Gesellschaftsformen tätig ist.

Die künftige Rolle von Gegenseitigkeitsgesellschaften in der europäischen Gesellschaft Gegenseitigkeitsgesellschaften erbringen Dienste für viele EU-Bürger und sind in einigen Mitgliedstaaten historisch, wirtschaftlich und kulturell tief verwurzelt, auch wenn dabei erhebliche nationale Unterschiede zu verzeichnen sind. Gleichwohl werden sie in der nächsten Zukunft vor ernsten Herausforderungen stehen.

Aufgrund des demografischen Wandels (alternde Gesellschaft) laufen die bestehenden Systeme der sozialen Sicherheit zunehmend Gefahr, langfristig weder nachhaltig noch finanzierbar zu sein. Dies wird dazu führen, dass gesetzliche Systeme der sozialen Sicherheit in Zukunft nur noch begrenzte Absicherungsmaßnahmen bieten werden und es im sozialen Bereich ein breiteres Angebot von Leistungen ergänzend zu den gesetzlichen Systemen geben wird. Im Ergebnis einer solchen Entwicklung werden Versicherer, die zusätzliche Krankenversicherungen oder private Rentenversicherungen anbieten, ihre Beiträge auf der Grundlage von Risikoprofilen immer stärker differenzieren, so dass es für Risikogruppen (Menschen mit gesundheitlichen Problemen, Arbeitslose, ältere Menschen) immer schwieriger wird, ausreichenden und bezahlbaren Versicherungsschutz zu erhalten. Angesichts des Strebens der Europäischen Union nach einer intelligenten, nachhaltigen und integrativen Wirtschaft ist dies keine wünschenswerte Entwicklung.

Gleichzeitig müssen sich Gegenseitigkeitsgesellschaften zunehmend auf Märkten mit einem sehr harten Wettbewerb behaupten und werden so dazu gedrängt, immer stärker wie gewinnorientierte Wirtschaftsteilnehmer zu arbeiten, um überleben zu können.

Durch die aktuellen gesetzlichen Regelungen wird dem privaten Sektor mehr und mehr Verantwortung für Leistungen der sozialen Sicherheit übertragen. Insofern können die Sozialwirtschaft und ganz besonders die Gegenseitigkeitsgesellschaften eine wichtige Rolle spielen. Mit ihren Grundsätzen wie Solidarität, demokratische Führung und Verzicht auf Anteilseigner wirken Gegenseitigkeitsgesellschaften zum Nutzen ihrer Mitglieder und handeln ihrem Wesen nach sozial verantwortlich. Um an der Suche nach Lösungen für die künftigen Herausforderungen mitwirken zu können, müsste es Gegenseitigkeitsgesellschaften zunächst einmal ermöglicht werden, ihre grundlegenden Prinzipien und speziellen Arbeitsweisen aufrechtzuerhalten.

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Das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft könnte dabei durchaus von Nutzen sein, nicht nur weil es einen speziellen rechtlichen Rahmen für Gegenseitigkeitsgesellschaften und ihre grenzübergreifende Tätigkeit schafft, sondern auch, weil es das Bewusstsein für Gegenseitigkeitsgesellschaften in der künftigen (europäischen) Politikgestaltung erhöht. Um gleiche Voraussetzungen für alle Anbieter zu schaffen und gleichzeitig die Kosten für zusätzlichen Versicherungsschutz auf einem Niveau zu halten, das für alle Bürger erschwinglich ist, sollten die entsprechenden Märkte auf nationaler Ebene in solchem Maße reguliert werden, dass gerechte Bedingungen für alle gewährleistet sind und Kapitalgesellschaften, Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und auch alle anderen Marktteilnehmer dazu angeregt werden, gesunde Risikoportfolios zu unterhalten. Dazu könnten Regelungen, die auf die Begrenzung der Risikoauslese oder auf die Eindämmung von Praktiken der Bevorzugung „guter Risiken“ gerichtet sind, sowie die Einführung von Risikoausgleichssystemen in Betracht gezogen werden.

Abschließend ist festzustellen, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften nach wie vor eine Daseinsberechtigung haben und einen Mehrwert für die europäische Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt darstellen. Es gibt vernünftige volkswirtschaftliche Gründe, Gesellschaften auf Gegenseitigkeit zu fördern (Differenzierung im Bereich der Finanzdienstleistungen, Widerstandsfähigkeit in Krisenzeiten), und es spricht auch aus geschäftlicher Sicht vieles für Gegenseitigkeitsgesellschaften, da ein Großteil der EU-Bürger bewusst diese Art von Gesellschaft wählt, um Zugang zu hochwertigen Gesundheits- und Sozialdienstleistungen zu erlangen, um sich gegen soziale Risiken und Sachrisiken abzusichern oder auch um optimale Lösungen für andere Bedürfnisse zu finden. Im Hinblick auf den Weiterbestand von nachhaltigen und erschwinglichen Systemen der sozialen Sicherheit im Einklang mit den strategischen Zielen der Europäischen Union brauchen wir zunehmend Unternehmen, in denen die soziale Verantwortung bereits tief in der Organisationsstruktur verwurzelt ist.

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1. EINLEITUNG Diese Studie zum Thema „Die Rolle von Gegenseitigkeitsgesellschaften im 21. Jahrhundert“ wurde vom Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments in Auftrag gegeben.

Wie Genossenschaften, Stiftungen und Vereine sind Gegenseitigkeitsgesellschaften ein wichtiges Element der Sozialwirtschaft bzw. des dritten Sektors in der Europäischen Union. Aus mehreren Gründen wird in jüngster Zeit unter verschiedenen Blickwinkeln an den tatsächlichen und potenziellen Beitrag erinnert, den die Sozialwirtschaft zur Umsetzung der strategischen Ziele der EU leistet. Im Vertrag von Lissabon wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, eine wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft zu entwickeln1, in der sozialwirtschaftliche Unternehmen eine wichtigere Rolle spielen können2. Gleichzeitig bekundet die Europäische Union in der Agenda EU 2020 ihr Bestreben, unter Berücksichtigung der sich wandelnden globalen Rahmenbedingungen eine intelligente, nachhaltige und integrative Wirtschaft zu werden3 und somit einige der Grundprinzipien der Sozialwirtschaft in ihre strategische Politikplanung einzubeziehen.

Zur Überwindung der Hindernisse, denen sich Gegenseitigkeitsgesellschaften bei der grenzübergreifenden Tätigkeit gegenübersehen, gab es in den letzten zwanzig Jahren Initiativen zur Festlegung eines Statuts der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft, die allerdings nicht zum Erfolg geführt haben. Die jüngsten von der Europäischen Kommission veröffentlichten Dokumente über neue Impulse zur Vollendung des Binnenmarktes4 enthalten Vorschläge für eine bessere Qualität der Rechtsvorschriften für sozialwirtschaftliche Organisationen (einschließlich Gegenseitigkeitsgesellschaften). Darüber hinaus betont die Kommission, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften in die Lage versetzt werden sollten, grenzübergreifend zu agieren.5 Ferner hat das Europäische Parlament (EP) eine schriftliche Erklärung zur Einführung eines Europäischen Statuts für Gesellschaften auf Gegenseitigkeit, Verbände und Stiftungen angenommen.6

In diesem Zusammenhang plant der Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten des Europäischen Parlaments die Ausarbeitung eines legislativen Initiativberichts über die Einführung eines Europäischen Statuts für eine Gesellschaft auf Gegenseitigkeit auf der Grundlage von Artikel 225 AEUV. Die in Auftrag gegebene Studie soll Hintergrundinformationen für die künftige parlamentarische Arbeit zu diesem Thema bereitstellen.

1 Vertrag über die Europäische Union, Artikel 2. 2 Ein Kommentar über den Unterschied zwischen „Sozialwirtschaft“ und „sozialer Marktwirtschaft“ findet sich in: Social Economy Europe, Answer to the European Commission's consultation on the future „EU 2020“ strategy, 19.1.2010. 3 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission: EUROPA 2020 Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, Brüssel, 3.3.2010, KOM(2010)2020. 4 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte - für eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft - 50 Vorschläge, um gemeinsam besser zu arbeiten, zu unternehmen und Handel zu treiben, Brüssel, 27.10.2010 - KOM(2010)608 endg. 5 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen „Binnenmarktakte - Zwölf Hebel zur Förderung von Wachstum und Vertrauen - Gemeinsam für neues Wachstum“, KOM(2011)206 endg., 2011. 6 Erklärung des Europäischen Parlaments vom 10. März 2011 zur Einführung eines Europäischen Statuts für Gesellschaften auf Gegenseitigkeit, Verbände und Stiftungen.

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1.1. Ziel der Studie

Die Kommission hat Gegenseitigkeitsgesellschaften als freiwillige Vereinigungen natürlicher oder juristischer Personen beschrieben, deren primäres Ziel die Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder und nicht die Gewinnerzielung ist. Diese Unternehmen arbeiten nach dem Grundsatz der Solidarität unter den Mitgliedern und der Beteiligung der Mitglieder an der Unternehmensführung“.7 Diese Definition ist jedoch - da sie EU-weit sehr unterschiedlichen Realitäten Rechnung tragen soll - sehr weit gefasst und schließt Körperschaften ein, die nicht unbedingt in allen EU-Mitgliedstaaten als Gegenseitigkeitsgesellschaften bezeichnet würden.

Gegenseitigkeitsgesellschaften haben eine lange Tradition und haben bei der Schaffung des modernen Wohlfahrtsstaats eine wichtige Rolle gespielt. Sie spielen auch heute noch eine wichtige Rolle in der europäischen Wirtschaft und bieten einem Großteil der EU-Bürger vor allem Gesundheits-, Sozial- und Versicherungsleistungen. Trotz ihrer Bedeutung liegen jedoch nicht viele komparative Erkenntnisse über Gegenseitigkeitsgesellschaften in den EU-Mitgliedstaaten vor. Deshalb zielt die Studie darauf ab,

1) einen Überblick über die verschiedenen Merkmale von Gegenseitigkeitsgesellschaften in den EU-Mitgliedstaaten und über deren Rolle in den unterschiedlichen Sozialschutzsystemen zu geben;

2) die einschlägigen EU-Rechtsvorschriften für Gegenseitigkeitsgesellschaften zu analysieren, die Notwendigkeit/den Mehrwert eines Statuts der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft und alternativer Lösungen zu untersuchen, die von europäischen Verbänden von Gegenseitigkeitsgesellschaften vorgeschlagen wurden, und andere zur Debatte stehende Themen zu erörtern;

3) zu prüfen, inwieweit Gegenseitigkeitsgesellschaften von der Rezession betroffen waren und wie sie auf diese reagiert haben;

4) zu erörtern, inwieweit sich Gegenseitigkeitsgesellschaften an einen sich verändernden sozioökonomischen Kontext und entstehende soziale Bedürfnisse anpassen und zur Umsetzung der Strategie EU 2020 für ein integratives und nachhaltiges Wachstum beitragen können.

Der vorliegende Bericht gliedert sich wie folgt:

1) In Kapitel 1 werden zunächst das Ziel und der Hintergrund der Studie festgelegt; anschließend wird ein kurzer Überblick über die Methodik gegeben.

2) Kapitel 2 ist einer Beschreibung der grundlegenden Merkmale der Gegenseitigkeitsgesellschaften in den Mitgliedstaaten einschließlich einer komparativen Analyse der verwendeten Definitionen und der Rechtsrahmen gewidmet, in die sie eingebunden sind.

3) Gegenstand von Kapitel 3 ist die Analyse der Rolle, die Gegenseitigkeitsgesellschaften beim Sozialschutz in den EU-Mitgliedstaaten spielen.

7 Europäische Kommission, Konsultationsdokument - Gegenseitigkeitsgesellschaften in einem erweiterten Europa, 3.10.2003.

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4) Kapitel 4 enthält eine eingehendere Untersuchung der europäischen Maßnahmen und Vorschriften, die Gegenseitigkeitsgesellschaften betreffen, einschließlich einer Betrachtung über das vorgeschlagene Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft.

5) In Kapitel 5 wird die Art und Weise erörtert, in der Gegenseitigkeitsgesellschaften in einem sich verändernden wirtschaftlichen Umfeld tätig sind, und es wird eine vergleichende Analyse zwischen diesen Unternehmen und ihren Hauptwettbewerbern angestellt.

6) Kapitel 6 bietet eine Analyse der möglichen künftigen Rolle der Gegenseitigkeitsgesellschaften in der europäischen Gesellschaft.

7) Kapitel 7 enthält einige abschließende Bemerkungen.

1.2. Methodik der Studie

Zur Verfolgung der oben genannten Forschungsziele wurden folgende Untersuchungen durchgeführt:

Sekundärforschung auf EU-Ebene: Die Sekundärforschung umfasste eine Einschätzung des politischen/rechtlichen Rahmens für die Tätigkeit von Gegenseitigkeitsgesellschaften in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten, so zum Beispiel des Sozialwirtschafts-, Gesellschafts-, Finanz- und Solvabilitätsrechts. Auf EU-Ebene schloss dies eine Studie zu den Binnenmarktvorschriften (europäische Versicherungsrichtlinien, „Solvabilität-II-Richtlinie“) und den Wettbewerbsvorschriften (staatliche Beihilfen und Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse) ein. Darüber hinaus wurden die Geschichte des zurückgezogenen Statuts der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft und die vorgeschlagenen Alternativen untersucht. Ein Verzeichnis der verwendeten Quellen ist in den Anhängen beigefügt.

Befragungen auf EU-Ebene: Um das aus dem Studium der Fachliteratur gewonnene Bild zu vervollständigen, wurden Befragungen mit Interessenvertretern auf EU-Ebene durchgeführt (z. B. mit den zuständigen Generaldirektionen der Europäischen Kommission, Vertretungsorganisationen von Gegenseitigkeitsgesellschaften auf EU-Ebene sowie Sachverständigen für das Gegenseitigkeitsprinzip in Europa). Dabei handelte es sich um halbstrukturierte Befragungen anhand einer Checkliste. Ein Verzeichnis der Befragten findet sich in Anhang 2.

Schnellübersicht zu den EU-Mitgliedstaaten: Die Schnellübersicht basierte hauptsächlich auf bestehenden Veröffentlichungen und Datenbanken zu Gegenseitigkeitsgesellschaften auf Landesebene (die vor allem quantitative Daten zu Gegenseitigkeitsgesellschaften liefern)8. Zur strukturierten Erfassung der Informationen wurde ein Datenerfassungsformat entwickelt. Wenn in diesem Datenerfassungsformat Angaben zu einzelnen Mitgliedstaaten fehlten, wurden die bestehenden Daten durch Informationen der auf nationaler Ebene konsultierten Sachverständigen ergänzt.

8 Da wir keine neuen statistischen Daten über Umfang und Zusammensetzung von Gegenseitigkeitsgesellschaften in den Mitgliedstaaten erhoben haben, sind fehlende Angaben zu den einzelnen Mitgliedstaaten unvermeidlich.

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Eingehende Länder-/Fallstudien in sechs Ländern: Nach der Erstellung der Schnellübersicht wurden sechs Länder für eine eingehendere Untersuchung ausgewählt.9 In dieser Phase der Untersuchungen ging es darum, ein besseres Verständnis der Dynamik zwischen verschiedenen Sozialschutzsystemen und des Stellenwerts der Gegenseitigkeitsgesellschaften in diesen Systemen zu erlangen. Hierzu trug auch das Studium der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften bei. Schließlich wurde eine eingehende Untersuchung darüber angestellt, wie Gegenseitigkeitsgesellschaften auf die Finanz- und Wirtschaftskrise reagiert haben. Die eingehenden Länderstudien umfassten außerdem eine weitere Bewertung von Veröffentlichungen, Dokumenten und Befragungen von wichtigen Auskunftgebern auf nationaler Ebene (durchschnittlich drei pro Land).

9 Bei den ausgewählten Mitgliedstaaten handelt es sich um Belgien, Frankreich, Italien, Schweden, Slowenien und das Vereinigte Königreich.

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2. ÜBERBLICK ÜBER DIE GEGENSEITIGKEITS-GESELLSCHAFTEN IN DER EUROPÄISCHEN UNION

DIE WICHTIGSTEN ERKENNTNISSE

In vielen europäischen Ländern haben Gegenseitigkeitsgesellschaften eine lange Tradition, die bis ins Mittelalter zurückreicht. Ihre Blütezeit lag im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Damals dienten sie als Sicherheitsnetz für Industriearbeiter sowie andere Gesellschafts- und Berufsgruppen, die ihre Mittel zusammenlegten, um sich gegen soziale Risiken und Sachrisiken abzusichern. Gegenseitigkeitsgesellschaften können als Vorläufer des modernen Wohlfahrtsstaats betrachtet werden. Zwei Arten von Gegenseitigkeitsgesellschaften sind in Europa weit verbreitet: Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge und Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit.

Die 2003 von der Europäischen Kommission festgelegte Definition, nach der Gegenseitigkeitsgesellschaften freiwillige Vereinigungen natürlicher oder juristischer Personen sind, deren primäres Ziel die Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder und nicht die Gewinnerzielung ist und die nach dem Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedern arbeiten, die auch an der Leitung der Gesellschaft beteiligt sind, trägt den großen nationalen Unterschieden in Recht und Praxis Rechnung und ist allgemein in der gesamten EU anwendbar. Nicht in allen EU-Mitgliedstaaten werden die Merkmale, die diese Gesellschaften nach allgemeiner Auffassung von anderen Organisationstypen (unter anderem in der Sozialwirtschaft, z. B. Genossenschaften) unterscheiden - d. h. die Tatsache, dass die Mitglieder auch Versicherungsnehmer sind, dass jedes Mitglied eine Stimme hat und dass es keine Anteile gibt -, strikt angewandt.

In den meisten Mitgliedstaaten unterliegt die Tätigkeit von Gegenseitigkeits-gesellschaften einer gesetzlichen Beschränkung auf bestimmte Aktivitäten. So ist in der Regel die Tätigkeit der Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge auf in das System der sozialen Sicherheit eingebundene oder zusätzlich/ergänzend dazu erbrachte Leistungen beschränkt, während die Tätigkeit der Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit auf verschiedene Arten von Lebens- und Schadenversicherungen beschränkt ist. Obgleich sich die Rechtsvorschriften für Gegenseitigkeitsgesellschaften in den einzelnen europäischen Länder unterscheiden, unterliegen Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit weitgehend den allgemeinen gesetzlichen Vorschriften für Versicherungen und Finanzdienstleistungen, während Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge durch Ad-hoc-Bestimmungen reguliert werden.

In diesem Kapitel konzentrieren wir uns auf die Frage, wie Gegenseitigkeitsgesellschaften in die Sozialwirtschaft eingebunden sind (Abschnitt 2.2), und befassen uns eingehender mit der Definition der Gegenseitigkeitsgesellschaften (Abschnitt 2.3).

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In Abschnitt 2.4 erörtern wir die für Gegenseitigkeitsgesellschaften relevanten nationalen Rechtsvorschriften. Umfang und Zusammensetzung des Sektors in der EU sind Thema von Abschnitt 2.5, und Abschnitt 2.6 enthält einige abschließende Bemerkungen. Als Einleitung wird in Abschnitt 2.1 kurz der historische Hintergrund der Gegenseitigkeit beschrieben.

2.1. Gegenseitigkeit in Europa: ein historischer Abriss

Der Gegenseitigkeitsgedanke hat seine Wurzeln in der fernen Vergangenheit, im späten Mittelalter haben sie jedoch in der europäischen Gesellschaft und Wirtschaft an Bedeutung gewonnen10 (z. B. wurde 1663 in den Niederlanden ein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit für Mühlen und 1706 im Vereinigten Königreich die „British Amicable Society for Perpetual Insurance Office“ gegründet). Diese Organisationsformen beruhten auf der Idee der gegenseitigen Risikoabsicherung durch Beitragszahlungen in einen Fonds, der den Beitragszahlern gehört.11

Diese Ideen hatten ihre Blütezeit in ganz Europa im 19. Jahrhundert, als die industrielle Revolution und die Abwanderung aus ländlichen Gebieten die traditionelle Solidarität zwischen Dorfbewohnern und - was noch wichtiger ist - zwischen Familienmitgliedern bedrohte. Gesellschafts- und Berufsgruppen wie Fabrikarbeiter, Eisenbahner und später Lehrer und Einzelhändler begannen damit, Fonds einzurichten, um die Kosten im Zusammenhang mit sozialen Risiken wie Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und Alter abzudecken. Darüber hinaus legten andere Berufsgruppen, wie Bauern, ihre Ersparnisse in ähnlicher Weise zusammen, um sich gegen Risiken im Zusammenhang mit ihrem Besitz (z. B. Brand, Unfälle, Unwetter) zu schützen.

Im Zuge der Modernisierung des Gesellschaftsrechts zwischen 1850 und 1900 wurden in den meisten europäischen Ländern Rechtsvorschriften eingeführt, um die Gründung und die Tätigkeit von Gegenseitigkeitsgesellschaften zu regulieren. Der Begriff „Gegenseitigkeitsgesellschaft“ als spezifische auf den Grundsätzen von Solidarität und demokratischer Verwaltung beruhende Rechtsperson wurde in die Zivilgesetzbücher oder in besondere Gesetze aufgenommen (z. B. in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Italien).

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in den meisten europäischen Ländern umfassende Reformen zur Schaffung öffentlicher Sozialversicherungssysteme oder staatlicher Gesundheitsdienste durchgeführt, um ein Sicherheitsnetz für alle Bürger bereitzustellen.

10 Gegenseitigkeitsgesellschaften wurden zunächst geschaffen, um Unfall- und Brandopfer finanziell zu unterstützen. Siehe: Europäische Kommission, Konsultationsdokument - Gegenseitigkeitsgesellschaften in einem erweiterten Europa, 3.10.2003. Für mehr Informationen über die Geschichte der Gegenseitigkeitsgesellschaften siehe: CIRIEC, The Social Economy in the European Union, 2007; Archambault, Edith, Mutual organizations, mutual societies, in: International Encyclopedia of Civil Society, Anheier H. und Toepler S. (Herausg.), 2009; AIM/AMICE, European Mutual Society, AMICE / AIM Draft Regulation 2007, Explanatory Memorandum, 2008. 11Siehe: zur Versicherung auf Gegenseitigkeit für Mühlen: Bert Koene, De Caeskopers. Een Zaanse koopmansfamilie in de Gouden Eeuw, 2011; zur British Amicable Society for Perpetual Insurance Office im Vereinigten Königreich, David Jenkins und Takau Yoneyama, The History of Insurance, 2000.

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Sie beruhten auf der Idee, Schutz zu bieten gegen soziale Risiken (wie in Frankreich), die Ungleichheit zu bekämpfen und den Wohlstand umzuverteilen (wie in den skandinavischen Ländern) oder Not, Armut und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen (wie im Vereinigten Königreich).12

Was als soziales Risiko, Ungleichheit, Not oder Armut definiert wird, hängt weitgehend von den Traditionen, der Kultur und den Ideologien ab, die in den verschiedenen Ländern vorherrschen. Daher erstrecken sich die Sozialschutzsysteme auf unterschiedliche Bereiche. Ungeachtet der Unterschiede gelten jedoch folgende Formen des Risikoschutzes in den meisten Ländern auf die eine oder andere Weise als Bestandteil der Sozialschutzsysteme13: Gesundheitsversorgung, Geldleistungen bei Krankheit, Leistungen bei Mutterschaft, Pflegebedürftigkeit, Invalidität, Altersrenten, Hinterbliebenenleistungen/-renten, Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie Leistungen bei Arbeitslosigkeit und Familienleistungen.

Die Schaffung der gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit stellte die traditionelle Rolle der Gegenseitigkeitsgesellschaften in Frage14 und führte zu unterschiedlichen Entwicklungen in Abhängigkeit von den spezifischen Merkmalen der etablierten Wohlfahrtssysteme:

So wurde zum Beispiel im Vereinigten Königreich durch die von William Henry Beveridge angeregten Reformen15 die Beteiligung der Gewerkschaften und der Risk Prevention Companies am Sozialschutzsystem abgeschafft und somit das Ende der Vorherrschaft der Gegenseitigkeitsgesellschaften eingeleitet.

In anderen Mitgliedstaaten arbeiteten die Gegenseitigkeitsgesellschaften neben den Systemen der sozialen Sicherheit weiter und spielen nach wie vor eine bedeutende Rolle.

In Deutschland wurde eine dritte Möglichkeit umgesetzt, d. h. die Gegenseitigkeitsgesellschaften wurden in das System integriert, in Körperschaften des öffentlichen Rechts (Krankenkassen) umgewandelt, und verloren genau genommen ihren ursprünglichen Status, da sie sich nicht mehr im Eigentum der Versicherungsnehmer befinden. In ähnlicher Weise wurden in Schweden die Gegenseitigkeitsgesellschaften (für soziale Fürsorge) in das für die Verwaltung des obligatorischen Krankenversicherungssystems zuständige regionale Organ umgewandelt.

In den meisten Ländern übernahmen die Gegenseitigkeitsgesellschaften eine alternative Rolle, indem sie freiwillige Krankenversicherungssysteme entwickelten und ihre Aktivitäten in anderen Bereichen der Risikodeckung (zum Beispiel bei der Kraftfahrzeugversicherung) fortsetzten oder ausbauten.

12 Palier, Bruno, Les différents modèles de protection sociale et leur impact sur les réformes nationales“, in Daniel, C. und Palier, B. (Herausg.), La protection sociale en Europe. Le temps des réformes, Paris, La Documentation française, 2001, S. 33−34. 13 MISSOC, Vergleichende Tabellen, 2010. Dieser Abschnitt basiert hauptsächlich auf MISSOC, Übergreifende Einleitungen zu den MISSOC Tabellen 2010. 14 Archambault, Edith, Mutual organizations, mutual societies, in: International Encyclopedia of Civil Society, Anheier H. und Toepler S. (Herausg.), 2009, S. 3. 15 Beveridge, William Henry, Social Insurance and Allied Services, 1942.

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So bildeten sich zwei Hauptformen von Gegenseitigkeitsgesellschaften heraus, je nachdem, welche Tätigkeiten sie ausüben - Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge:16

Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit sind eine besondere Gesellschaftsform für Anbieter von Versicherungsdienstleistungen. Diese Vereine können alle Arten von Sach- und Lebensrisiken abdecken, auf den Krankenversicherungsmärkten tätig sein oder private Rentenversicherungen anbieten (hauptsächlich in Form von Lebensversicherungspolicen). Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit sind in den meisten europäischen Ländern weit verbreitet und stehen im Wettbewerb mit anderen privaten, kommerziellen Wirtschaftsanbietern.

Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge oder Krankenversicherungen auf Gegenseitigkeit gibt es in mehreren europäischen Ländern. Sie bieten in der Regel Gesundheits-, Sozial- und Versicherungsdienste und -leistungen zur Abdeckung sozialer Risiken wie Krankheit, Arbeitsunfähigkeit und Alter an.17 In den meisten Fällen decken sie jedoch ein breites Tätigkeitsspektrum ab, wie die Förderung der Lebensqualität und die Durchführung von Sozialarbeit und kulturellen Aktivitäten. In einigen Fällen betreiben Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge eigene Krankenhäuser, Pflegeheime und Rehabilitationszentren. In Belgien verwalten Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge das gesamte obligatorische Krankenversicherungssystem.

Wenngleich häufig auf den Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien von Gegenseitigkeitsgesellschaften hingewiesen wird, ist eine Abgrenzung zwischen den Organisationsformen aufgrund der teilweisen Überschneidung ihrer Tätigkeitsbereiche mitunter schwierig. Aus diesem Grund verwenden wir den Begriff „Gegenseitigkeitsgesellschaften“ in diesem Bericht hauptsächlich im Sinne einer von der jeweiligen Tätigkeit unabhängigen Definition.

Einige Gegenseitigkeitsgesellschaften in einer begrenzten Zahl von Mitgliedstaaten können keiner der beiden Kategorien zugeordnet werden. Das betrifft zum Beispiel die so genannten „Friendly Societies“ und „Building Societies“, die ein breites Spektrum an Dienstleistungen anbieten dürfen (z. B. im Vereinigten Königreich und in Irland).18

16 Siehe zum Beispiel: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, KOM(93)252 endg., Brüssel, 6. Juli 1993, und http://ec.europa.eu/enterprise/policies/sme/promoting-entrepreneurship/social-economy/mutuals. 17 Archambault, Edith, Mutual organizations, mutual societies, in: International Encyclopedia of Civil Society, Anheier H. und Toepler S. (Herausg.), 2009. 18 Siehe die ausführliche Diskussion über verschiedene Formen von Gegenseitigkeitsgesellschaften im Vereinigten Königreich: Mutuo, Britain Made Mutual, Mutuals Yearbook 2010. In Abschnitt 2.3 finden sich einige Anmerkungen zu „Building Societies“.

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Die Haupttätigkeit der „Building Societies“ besteht beispielsweise in der Gewährung von Hypothekenkrediten (Personen, die ein Spar- oder Hypothekenkonto bei einer „Building Society“ eröffnen, werden automatisch Mitglieder und können an den Generalversammlungen teilnehmen, bei denen jedes Mitglied eine Stimme hat).19

In den kommunistisch regierten europäischen Ländern wurden die Gegenseitigkeitsgesellschaften, die es dort bis zum Zweiten Weltkrieg gegeben hatte, unterdrückt und konnten sich in einigen dieser Länder nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nicht wieder etablieren.

Schätzungen zufolge erbringen Gegenseitigkeitsgesellschaften heutzutage Gesundheits- und Sozialleistungen für 230 Millionen EU-Bürger20 und erheben insgesamt mehr als 180 Milliarden Euro an Versicherungsbeiträgen.21 Die Zahl der Beschäftigten dieser Gesellschaften wird mit europaweit 350 000 Personen angegeben.22 Genaue statistische Daten fehlen allerdings.

2.2. Gegenseitigkeitsgesellschaften in der Sozialwirtschaft

Der Impuls zur Gründung von Vereinen, aus dem die Gegenseitigkeitsgesellschaften hervorgegangen waren und dem sie ihre Erfolge als Teil der Antwort der schwächsten und schutzbedürftigsten Gruppen der Gesellschaft auf die neuen Lebensbedingungen im 18. und 19. Jahrhundert verdankten23, brachte auch andere Organisationsformen hervor, die vor allem den großen Kategorien der Genossenschaften und Verbände zuzuordnen sind. Diese drei Gruppen von Organisationen, zu denen später noch die Stiftungen hinzukamen, stellen auch heute noch die wichtigsten Bestandteile der so genannten „Sozialwirtschaft“ in Europa dar.24

Wenngleich sich Hinweise und Erwägungen im Zusammenhang mit der Idee eines sozialen Ansatzes für die Wirtschaft und wirtschaftliche Tätigkeiten in der Fachliteratur seit dem 18. Jahrhundert finden25, stammt der Begriff der „Sozialwirtschaft“, so wie er heute verstanden wird, aus den 1970er Jahren. Im Jahr 1980 veröffentlichte das französische Comité national de liaison des activités coopératives, mutuelles et associatives (CNLAMCA26) ein Dokument, die Charte de l´économie sociale (Charta der Sozialwirtschaft), in der die Sozialwirtschaft definiert wird als die Gruppe der nicht zum öffentlichen Sektor gehörenden Organisationen, die demokratisch agieren, deren Mitglieder gleiche Rechte und Pflichten haben, bei denen besondere Eigentumsverhältnisse herrschen und eine besondere Form der Gewinnverteilung praktiziert wird, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Überschüsse für die Erweiterung der Organisation und die Verbesserung ihrer Dienstleistungen für die Mitglieder und die Gesellschaft eingesetzt werden.27

19 The Building Societies Association, Mutual societies in an enlarged Europe. Response by The Building Societies Association to the Consultation Document issued by Enterprise Directorate General in October 2003. 20 Association Internationale de la Mutualité (AIM), Siehe: AIM´s Memorandum to the new European Parliament. 21 AIM/AMICE, A European Statute for Mutual Societies, 2007. 22 Centre international de recherches et d'information sur l'économie publique, sociale et coopérative (CIRIEC), The Social Economy in the European Union, 2007. 23 Ebenda. 24 CIRIEC, The Social Economy in the European Union, 2007, siehe: Lópes Castellano, F., Una sociedad ‘de cambio y no de beneficencia’. El asociacionismo en la España Liberal (1808-1936), CIRIEC-España, Nr. 44, 2003, S. 199-228. 25 Ebenda. 26 Das Comité national de liaison des activités mutualistes, coopératives et associatives (CNLAMCA) wurde 1970 gegründet. 2001 ging es in den heute bestehenden CEGES (Conseil des entreprises, employeurs et groupements de l’économie sociale / Council of Social Economy Companies and Institutions) über. CIRIEC,

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Eine jüngere Selbstdefinition des Begriffs „Sozialwirtschaft datiert aus dem Jahr 200228: Sozialwirtschaftliche Organisationen sind in allen Bereichen tätige wirtschaftliche und soziale Akteure. Sie zeichnen sich vor allem durch ihre Ziele und durch eine eigene Form des Unternehmertums aus. Die Sozialwirtschaft umfasst Organisationen wie zum Beispiel Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften, Vereine und Stiftungen. Diese Unternehmen sind vor allem in bestimmten Bereichen wie Sozialschutz, soziale Dienstleistungen, Gesundheitswesen, Banken- und Versicherungswesen, Agrarproduktion, Verbraucherangelegenheiten, Verbandstätigkeit, Handwerk, Wohnungswirtschaft, Versorgung, lokale Dienstleistungen, allgemeine und berufliche Bildung sowie im Bereich Kultur, Sport und Freizeitaktivitäten tätig. Die Rechtsform von sozialwirtschaftlichen Einrichtungen kann von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sein. Von Kapitalgesellschaften unterscheiden sie sich allerdings durch spezifische Merkmale im Zusammenhang mit ihren gemeinsamen Grundprinzipien, d. h. insbesondere: Vorrang des Einzelnen und des sozialen Ziels vor dem Kapital, freiwillige Mitgliedschaft, die allen offensteht, demokratische Entscheidungsfindung durch die Mitglieder, Vereinbarkeit der Interessen der Mitglieder/Nutzer mit dem allgemeinen Interesse, Verfechtung und Anwendung des Grundsatzes der Solidarität und der Verantwortlichkeit, selbstständige Verwaltung und Unabhängigkeit von staatlichen Stellen, Verwendung der erzielten Gewinne für nachhaltige Entwicklungsziele und Dienstleistungen für die Mitglieder oder für das Allgemeinwohl.

Über eine gemeinsame Definition der Sozialwirtschaft und über die Organisationsformen, die diese umfassen sollte, gibt es keinen EU-weiten Konsens29; insbesondere wird darüber diskutiert, ob Organisationen, die keinerlei wirtschaftliche Tätigkeit ausüben, dem Sektor zuzuordnen sind.

Innerhalb der Sozialwirtschaft können Sozialunternehmen (einschließlich Gegenseitigkeitsgesellschaften) auf einer Skala der verschiedenen Organisationsformen, die von herkömmlichen gemeinnützigen Organisationen bis zu herkömmlichen gewinnorientierten Organisationen reicht, etwa in der Mitte eingeordnet werden.30 Zum Skalenende „Gemeinnützigkeit“ hin werden die Sozialunternehmen flankiert von gemeinnützigen Organisationen mit einkommensgenerierenden Tätigkeiten, während sie zum Skalenende „Gewinnorientierung“ hin neben den sozialverantwortlichen Unternehmen angesiedelt sind.31

The Social Economy in the European Union, 2007, siehe: Davant J.P., Las organizaciones intersectoriales de la Economía Social: Francia, CEGES, in: VV.AA., La Economía Social y el Tercer Sector, Escuela Libre Editorial, Madrid, 2003. 27 CIRIEC, The Social Economy in the European Union, 2007, siehe: Lópes Castellano, F., Una sociedad ‘de cambio y no de beneficencia’. El asociacionismo en la España Liberal (1808-1936), CIRIEC-España, Nr. 44, 2003, S. 199-228. 28 Charta der Sozialwirtschaft der Europäischen Ständigen Konferenz der Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften, Verbände und Stiftungen (CEP-CMAF), 2002; die CEP-CMAF war die Vorläuferorganisation von Sozialwirtschaft Europa. 29 Siehe: DIESIS, Map of European and national social economy institutions and organisations, 2008. 30 Siehe: Kernot, Cheryl, Social Enterprise: A Powerful Path to Social Inclusion, 2009. Siehe auch: Alter, K., Social enterprise typology, 2007. 31 Alter, Sutia Kim, et al., Generating and Sustaining Nonprofit Income, 2004. Siehe auch: Seanor, Bull, Rory Ridly-Duff, Mapping social enterprise: do social enterprise actors draw straight lines or circles?, 2007.

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Die Unterschiede zwischen gemeinnützigen und gewinnorientierten Unternehmen und zwischen Wirtschaft und Drittem Sektor sind jedoch fließend.32 Auch innerhalb der Sozialwirtschaft bestehen zwischen den wichtigsten Organisationsformen auf europäischer Ebene (Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften, Vereine und Stiftungen) teilweise Überschneidungen auf nationaler Ebene, und eine klare Unterscheidung zwischen diesen Formen kann in den Mitgliedstaaten nicht immer eingehalten werden.

Schätzungsweise zehn Prozent aller europäischen Unternehmen und sechs Prozent aller Arbeitsplätze sind in der Sozialwirtschaft angesiedelt.33 Der geringste Anteil davon - drei bis dreieinhalb Prozent aller Arbeitsplätze in sozialwirtschaftlichen Organisationen - entfällt auf Gegenseitigkeitsgesellschaften, da sie auf bestimmte Bereiche konzentriert sind.34

Der Sektor erhebt unter anderem vor allem Anspruch darauf, dass der Erfolg von Unternehmen in der Sozialwirtschaft nicht allein an der wirtschaftlichen Leistung gemessen werden könne, die jedoch für die Erreichung ihrer Ziele notwendig sei.35 Außerdem werden die konkreten wirtschaftlichen Auswirkungen der Sozialwirtschaft nicht in der wirtschaftlichen Gesamtrechnung der Mitgliedstaaten erfasst oder sichtbar gemacht, daher wurden entsprechende Arbeiten durchgeführt, um Satellitenkonten für den Sektor zu erstellen.36

Während der letzten 30 Jahre hat die Sozialwirtschaft innerhalb der Union und bei den EU-Institutionen öffentliche Anerkennung erlangt.37 Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat sich maßgeblich dafür eingesetzt, die Herausbildung einer gemeinsamen Identität innerhalb des Sektors sowie dessen Anerkennung auf europäischer Ebene zu fördern. Unter den Dienststellen der Europäischen Kommission gibt es eine Abteilung, die speziell für die Sozialwirtschaft zuständig ist, und beim Europäischen Parlament besteht seit 1990 die Intergruppe Sozialwirtschaft; das Europäische Parlament hat mehrere Entschließungen zum Thema Sozialwirtschaft angenommen38, und in seinen Dokumenten oftmals Themen erwähnt, die für diesen Sektor von Bedeutung sind.

2.3. Definition der Gegenseitigkeitsgesellschaften unter einem unionsweiten Blickwinkel

In dem Versuch, eine unionsweit gültige gemeinsame Definition festzulegen, beschreibt die Europäische Kommission Gegenseitigkeitsgesellschaften wie folgt: „…es handelt sich um einen freiwilligen Zusammenschluss von (natürlichen und juristischen) Personen, dem es um die Deckung des Bedarfs ihrer Mitglieder und nicht um die Verzinsung von Kapital geht.

32 Siehe: Westall, Andrea, Business or third sector? What are the dimensions and implications of researching and conceptualising the overlap between business and third sector? Third Sector Research Centre Working Paper 26, 2009. 33 Social Economy Europe, Answer to the European Commission's consultation on the future „EU 2020“ strategy, 19.1.2010. 34 CIRIEC, The Social Economy in the European Union, 2007, und Archambault, Edith, Mutual organizations, mutual societies, in: International Encyclopedia of Civil Society, Anheier H. und Toepler S. (Herausg.), 2009. 35 Charta der Sozialwirtschaft der Europäischen Ständigen Konferenz der Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften, Verbände und Stiftungen (CEP-CMAF), 2002. 36 Siehe zum Beispiel: CIRIEC, Handbuch zur Erstellung eines Satellitensystems für Unternehmen in der Sozialwirtschaft: cooperatives and mutual societies, 2006. 37 DIESIS, Map of European and national social economy institutions and organisations, 2008. 38 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 19. Februar 2009 zu der Sozialwirtschaft (2008/2250(INI)).

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Diese Unternehmen arbeiten nach dem Grundsatz der Solidarität unter den Mitgliedern und der Beteiligung der Mitglieder an der Unternehmensführung“.39 Darüber hinaus sind Gegenseitigkeitsgesellschaften der Kommission zufolge „privatrechtliche Unternehmen“, was den Untersuchungsbereich erheblich einschränkt.

Diese Definition kann bei unserem Überblick über die wichtigsten Merkmale von Gegenseitigkeitsgesellschaften als besondere Unternehmensform in den EU-Mitgliedstaaten als Ausgangspunkt dienen. Zusammenfassend gelten folgende Grundsätze für die meisten Gegenseitigkeitsgesellschaften:

Keine Geschäftsanteile oder Aktien: Gegenseitigkeitsgesellschaften sind ein Zusammenschluss von (natürlichen und juristischen) Personen und keine Zusammenlegung von Geldmitteln, wie dies bei Kapitalgesellschaften der Fall ist.

Freier Zugang für alle: Das bedeutet, dass es jedem, der die im Statut festgelegten Bedingungen erfüllt und sich an die Grundsätze der Gegenseitigkeit hält, freisteht, beizutreten (und auszuscheiden).

Solidarität unter den Mitgliedern: Hierbei handelt es sich um einen in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts und der Ideologie der Solidaritätsbewegung verwurzelten historischen Grundsatz.

Heutzutage bedeutet dies gesamtschuldnerische Haftung sowie Quersubventionierung zwischen guten und schlechten Risiken und keine Diskriminierung unter den Mitgliedern.

Demokratische Verwaltung: nach dem Grundsatz „ein Mitglied, eine Stimme“ im Gegensatz zu der für die Corporate Governance symbolischen Regel „ein Geschäftsanteil, eine Stimme“. Die Mitglieder des Vorstandes sind ehrenamtlich tätig, während die Vorstandsmitglieder von Kapitalgesellschaften ein Entgelt erhalten.

Unabhängigkeit: Gegenseitigkeitsgesellschaften sind unabhängige private Organisationen, die weder von Regierungsvertretern kontrolliert noch durch öffentliche Subventionen finanziert werden.

39 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Konsultationsdokument: Gegenseitigkeitsgesellschaften in einem erweiterten Europa, 3.10.2003; Siehe auch: http://ec.europa.eu/enterprise/policies/sme/promoting-entrepreneurship/social-economy/mutuals: „Eine Gegenseitigkeitsgesellschaft ist eine autonome Gemeinschaft von Personen (juristische oder natürliche Personen), die sich freiwillig mit dem Hauptzweck zusammenschließen, ihren gemeinsamen Bedarf zu decken, und die nicht darauf abzielen, Gewinne zu erwirtschaften oder eine Kapitalrendite zu erzielen. Gegenseitigkeitsgesellschaften werden von den Mitgliedern, die sich an der Führung der Geschäfte beteiligen, nach dem Solidaritätsprinzip verwaltet. Daher sind sie gegenüber denjenigen rechenschaftspflichtig, zur Deckung von deren Bedarf sie gegründet wurden.“ Im Handbuch zur Erstellung eines Satellitensystems für Unternehmen in der Sozialwirtschaft: Genossenschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften, das 2006 von CIRIEC für die Europäische Kommission erarbeitet wurde, wird eine etwas andere Definition verwendet: „Eine Gegenseitigkeitsgesellschaft ist eine autonome Gemeinschaft von Personen (juristische oder natürliche Personen), die sich freiwillig mit dem Hauptzweck zusammenschließen, ihren gemeinsamen Bedarf in den Bereichen Versicherung (Leben und Nichtleben), Vorsorge, Gesundheit und Bankwesen abzudecken und deren Aktivitäten dem Wettbewerb unterliegen. Gegenseitigkeitsgesellschaften werden von den Mitgliedern, die sich an der Führung der Geschäfte beteiligen, nach dem Solidaritätsprinzip verwaltet ...“

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Begrenzte Gewinnbeteiligung: Der Gewinn einer Gegenseitigkeitsgesellschaft kann unter den Eigentümern/Mitgliedern aufgeteilt werden, was in der Regel in Form von Beitragsnachlässen oder Rabatten erfolgt; allerdings werden die Einnahmen größtenteils in die Gesellschaft reinvestiert, um ihre Dienstleistungen zu verbessern, die Geschäftsentwicklung zu finanzieren und die Eigenmittel aufzustocken.40

In den einzelnen Mitgliedstaaten sind jedoch Abweichungen von der unionsweiten Definition und den oben beschriebenen gemeinsamen Grundsätzen zu verzeichnen, was die Debatte über die Frage, was als Gegenseitigkeitsgesellschaft betrachtet werden kann und was nicht, anheizt.

Der Grundsatz, dass Mitglieder generell auch Versicherungsnehmer sind, gilt nicht in allen Mitgliedstaaten. In einigen Ländern dürfen Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit Versicherungsnehmer unabhängig davon absichern, ob sie Mitglieder sind oder nicht (zum Beispiel in Deutschland, den Niederlanden, Österreich, Polen und Slowenien).

Darüber hinaus sind weitere Ausnahmen von den gemeinsamen Merkmalen festzustellen. So setzt sich in mehreren Mitgliedstaaten die Generalversammlung einiger Gegenseitigkeitsgesellschaften nicht aus den Mitgliedern selbst, sondern aus Mitgliedervertretern zusammen (wie in Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, den Niederlanden, Österreich und Schweden). In Deutschland und Finnland gilt nicht immer der Grundsatz, dass jedes Mitglied eine Stimme hat. In den Niederlanden schließlich kann das Kapital von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit in Anteile unterteilt sein.41

Einige Organisationen, wie die Krankenkassen in Deutschland, weisen, wenngleich sie mitunter als Gegenseitigkeitsgesellschaften bezeichnet werden, nur einige der Merkmale dieser Rechtsform auf. Im Zuge der Einführung der obligatorischen Krankenversicherung in Deutschland wurden die bestehenden Gegenseitigkeitsgesellschaften in das Sozialversicherungssystem integriert. Heutzutage sind Krankenkassen Körperschaften des öffentlichen Rechts, und ihre Verwaltungsräte bestehen aus Vertretern der Versicherten und der Arbeitgeber, wogegen die Verwaltungsräte der Ersatzkassen ausschließlich mit Vertretern der Versicherten besetzt sind.42 Weitere Beispiele für Organisationen, die Gegenseitigkeitsgesellschaften ähneln, sind die Krankenkassen in der Tschechischen Republik.

40 Zusammengefasst aus: Archambault, Edith, Mutual organizations, mutual societies, in: International Encyclopedia of Civil Society, Anheier H. und Toepler S. (Herausg.), 2009. Diese Liste der Grundsätze ist auch dargestellt in: CIRIEC, Handbuch zur Erstellung eines Satellitensystems für Unternehmen in der Sozialwirtschaft: Genossenschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften, 2006, S. 44. 41 Siehe: Niederländisches Zivilgesetzbuch, Buch 2 (juristische Personen), Teil 3, Artikel 53 – 63j. Teil 3 in seiner heutigen Fassung ist seit dem 1. Januar 1989 in Kraft: in: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Législation relative aux mutuelles dans les Etats Members/Legislation regarding mutuals in Member States (Entwurf vom 3.10.2003): „Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit können grundsätzlich auch Aktien ausgeben, was jedoch in der Praxis selten geschieht.“ http://ec.europa.eu/enterprise/policies/sme/files/mutuals/mutuals-legis-in-ms.pdf. 42 Busse, R, Riesberg A. Gesundheitssysteme im Wandel: Deutschland. Kopenhagen, WHO Regionalbüro für Europa im Auftrag des Europäischen Observatoriums für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik, 2004.

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Wenngleich die tschechischen Krankenkassen manchmal als Gegenseitigkeitsgesellschaften beschrieben werden43, erfolgt ihre Finanzierung de facto nicht über Mitgliedsbeiträge, sondern über Pflichtbeiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie von Selbstständigen. Sie werden von Vorständen verwaltet, deren Mitglieder vom Gesundheitsministerium und (im Fall der allgemeinen Krankenkasse, VZP) von der Abgeordnetenkammer bzw. (im Fall der anderen, kleineren Fonds) von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen ernannt werden.44

In Anbetracht ihres Status als halböffentliche, selbstverwaltete Körperschaften sind sie den deutschen Krankenkassen vergleichbar.45

Wie bereits erwähnt, teilen Gegenseitigkeitsgesellschaften einige Merkmale mit anderen Organisationsformen innerhalb der Sozialwirtschaft und sind insbesondere eng mit Genossenschaften verwandt. Im Gegensatz zu Genossenschaften gilt jedoch für Gegenseitigkeitsgesellschaften im Allgemeinen, dass es eine unauflösliche und untrennbare Verbindung zwischen der Mitgliedschaft und der Eigenschaft als Versicherungsnehmer (auf den die Tätigkeit der Gegenseitigkeitsgesellschaft ausgerichtet sein soll) gibt.46 Im Gegensatz zu den Geldern von Genossenschaften verbleiben die Gelder einer Gegenseitigkeitsgesellschaft im Eigentum all ihrer Mitglieder und sind daher wahrhaft gemeinschaftlich und unteilbar. Ein weiterer typischer Unterschied zwischen den beiden Rechtsformen besteht darin, dass die Mitglieder Beiträge zahlen anstatt Anteile zu erwerben.

Diese Unterschiede sind jedoch nicht in allen Mitgliedstaaten so deutlich. Es gibt Mitgliedstaaten (wie Bulgarien, Griechenland und Portugal), in denen Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit als eine Art Genossenschaft beschrieben werden.

Die Unterscheidungen zwischen Gegenseitigkeitsgesellschaften und Genossenschaften können auf den entsprechenden Tätigkeiten basieren. In den meisten Ländern sind Gegenseitigkeitsgesellschaften definitionsgemäß Versicherungsvereine, während Genossenschaften definitionsgemäß keine Versicherungsvereine sind. In vielen Mitgliedstaaten gibt es jedoch sowohl Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit als auch genossenschaftliche Versicherer (Belgien, Italien, Lettland, Luxemburg, Spanien, Ungarn und Vereinigtes Königreich).

Deshalb ist es in Europa weitgehend eine Frage der Auslegung, was eine Gegenseitigkeitsgesellschaft ist, und in manchen Fällen werden Organisationen als Gegenseitigkeitsgesellschaften bezeichnet, obwohl sie nicht alle Merkmale aufweisen, die diesen Gesellschaften gemeinhin zugeordnet werden. Was in einem Land als Gegenseitigkeitsgesellschaft gilt, wird möglicherweise in einem anderen Land nicht als eine solche Gesellschaft betrachtet.

43 Zum Beispiel in dem Bericht 2008 der AIM-Arbeitsgruppe Reform der Gesundheitssysteme „Gesundheitsschutz heute: Strukturen und Tendenzen in 13 Ländern“. 44 Bryndová L, Pavloková K, Roubal T, Rokosová M, Gaskins M und van Ginneken E., Czech Republic: Health system review. Health Systems in Transition. 2009; 11(1). 45 Hlavačka S, Wágner R, Riesberg A. Health care systems in transition: Slovakia. Kopenhagen, WHO Regionalbüro für Europa im Auftrag des Europäischen Observatoriums für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik, 2004. 46 CIRIEC, The Social Economy in the European Union, 2007.

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Darüber hinaus können Organisationen aus verschiedenen Ländern zwar einige gemeinsame Merkmale aufweisen, sich jedoch in wesentlichen Punkten unterscheiden, sodass sie genau genommen offenbar nicht dieselbe Rechtsform haben.

Somit ist es derzeit nicht möglich, eine allgemeine europäische Definition der Gegenseitigkeitsgesellschaften festzulegen, die für alle Akteure annehmbar ist. In diesem Bericht schließen wir bei der Erörterung von Gegenseitigkeitsgesellschaften auch Organisationsformen ein, die unter dieser Bezeichnung geführt werden, obwohl sie gegebenenfalls einige Unterschiede zu den gemeinsamen Grundsätzen aufweisen; nicht einbezogen werden dagegen Organisationen, die lediglich ähnlich wie Gegenseitigkeitsgesellschaften agieren, die jedoch in Wirklichkeit nicht auf dem Gegenseitigkeitsprinzip beruhen.

Ausgehend von diesen Auswahlkriterien für die Durchführung der vorliegenden Studie gibt es nach unserer Einschätzung in Estland, Litauen, der Slowakischen Republik, der Tschechischen Republik und Zypern keine Gegenseitigkeitsgesellschaften.

2.4. Überblick über die nationalen Rechtsvorschriften zu Gegen-seitigkeitsgesellschaften

In diesem Abschnitt befassen wir uns mit den nationalen Rechtsrahmen für Gegenseitigkeitsgesellschaften. Die einschlägigen Rechtsvorschriften sind entweder auf Gegenseitigkeitsgesellschaften als besondere Rechtspersönlichkeit (Organisation, Arbeitsweise usw.) oder auf die Tätigkeiten, die diese Gesellschaften ausüben dürfen (in vielen Ländern dürfen sie laut Gesetz nur bestimmte Tätigkeiten ausüben) oder auf beide Bereiche ausgerichtet. Aufgrund der großen Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten bei der Einstufung als Gegenseitigkeitsgesellschaft weicht auch die Art der Reglementierung dieser Gesellschaften unter den jeweiligen nationalen Gegebenheiten sehr stark voneinander ab.

In der Regel fallen Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit unter das allgemeine Versicherungsrecht, während für Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge gegebenenfalls besondere Vorschriften gelten.

Das Versicherungsrecht umfasst Vorschriften über Gründung, Mitgliedschaft, Finanzen (Verbindlichkeiten, Gewinnbeteiligung), Organisation und Leitung, Auflösung und Verschmelzungen; in einigen Fällen gibt es Sondervorschriften für Gegenseitigkeitsgesellschaften.

Auch für die Gründung und Arbeitsweise von Organisationen auf Gegenseitigkeit gelten Sondervorschriften. Ein gutes Beispiel ist der französische „Code de la mutualité“, der die Grundsätze der Gegenseitigkeit beschreibt und alle Aspekte der Organisation von Gegenseitigkeitsgesellschaften - einschließlich Gründung, Unternehmenszusammenschlüsse und Auflösung, demokratische Strukturen, Finanzen sowie Tätigkeiten dieser Gesellschaften - regelt. Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge müssen sich entweder auf Gesundheits- oder auf Sozialdienstleistungen spezialisieren, und dementsprechend gibt es in dem Gesetzbuch getrennte Abschnitte für Gegenseitigkeitsgesellschaften, die im Versicherungsbereich tätig sind, und Gesellschaften, die in der Prävention und im sozialen Bereich tätig sind bzw. andere gesundheitsbezogene/soziale/kulturelle Tätigkeiten ausüben. Darüber hinaus können sich Gegenseitigkeitsgesellschaften, wenn sie Versicherungsleistungen erbringen, auch auf die Versicherungsordnung („Code des assurances“) stützen.

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In einigen Fällen unterliegen Gegenseitigkeitsgesellschaften Bestimmungen, die den Rechtsvorschriften für Genossenschaften entsprechen (wie in Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Italien, den Niederlanden, Portugal und Schweden), da sie in diesen Ländern als eng mit den Genossenschaften verwandt bzw. als Sonderform von Genossenschaften betrachtet werden. In anderen Fällen gelten Gegenseitigkeitsgesellschaften als Vereinigungen im weiteren Sinne bzw. als eine Sonderform von Vereinigungen und fallen daher unter die einschlägigen Rechtsvorschriften.

In vielen Mitgliedstaaten sind Gegenseitigkeitsgesellschaften definitionsgemäß Versicherungsunternehmen (wie zum Beispiel in Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Lettland, Malta, den Niederlanden, Österreich, Polen, Rumänien, Schweden und Slowenien). In diesen Ländern gibt es oft keine allgemeine, übergeordnete Bezeichnung für Gegenseitigkeitsgesellschaften. So wird zum Beispiel in Österreich ein „Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit“ definiert als ein Verein, der die Versicherung seiner Mitglieder nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit betreibt.47

In anderen Ländern, wie zum Beispiel Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, Portugal, Spanien, und Ungarn), wird unterschieden zwischen Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit und Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge/Krankenkassen. So ist in Portugal ein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (mútua de seguros) ein Versicherungsunternehmen, das aus einem Zusammenschluss von Einzelpersonen besteht, welche sowohl Versicherer als auch Versicherte sind. Die Gegenseitigkeitsgesellschaft häuft keine Gewinne an.

In Portugal hat eine Gegenseitigkeitsgesellschaft die Form einer Genossenschaft mit beschränkter Haftung, die aus Angehörigen ein und desselben Berufs besteht, welche sich gegen die Risiken im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit versichern möchten. Verträge mit einer Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit können ausschließlich von Mitgliedern abgeschlossen werden.48 Vereine auf Gegenseitigkeit („Associações Mutualistas“) sind gemeinnützige Vereine, die ergänzende Maßnahmen in den Bereichen soziale Sicherheit, Gesundheit, Sozialarbeit und Förderung der Lebensqualität vorzugsweise für ihre Mitglieder und deren Familien durchführen.49 Gemäß dem Gesetzeswerk für Gegenseitigkeitsvereine muss der Hauptzweck darin bestehen, Leistungen der sozialen Sicherheit und Gesundheitsleistungen bereitzustellen, aber sie können auch andere Ziele im Zusammenhang mit Sozialschutz und Lebensqualität verfolgen (d. h. soziale Hilfsdienste, Sozialarbeit, kulturelle Aktivitäten).

47 Siehe: Glossar Finanzmarktaufsicht: „Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (VVaG): Unter einem Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit versteht man einen Verein, der die Versicherung seiner Mitglieder nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit betreibt. Ein VVaG bedarf zur Aufnahme des Geschäftsbetriebs in Österreich einer Konzession gemäß § 4 Abs. 1 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG).“ http://www.fma.gv.at/de/footer/glossar.html. 48 Siehe: Versicherungsgesetz von 1998 (Decreto-Lei n.o 94-B/98 de 17 de Abril, Diário da rebública — I Série-A Nr. 90 — 17.4.1998). 49 Siehe: Mutualismo/ União das mutualidades Portuguesas, siehe: http://www.3sector.net/equalificacao/src_cdroms/novos_conceitos_praticas/recursos_complementares/Mutualismo.pdf).

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In zwei Mitgliedstaaten (Großbritannien und Irland) können Gegenseitigkeitsgesellschaften nach den geltenden Rechtsvorschriften einer Vielzahl von Aktivitäten nachgehen. In diesen Mitgliedstaaten gibt es nicht nur eine, sondern mehrere Rechtsformen für Organisationen auf Gegenseitigkeit, wie „Friendly Societies“, „Building Societies“, „Credit Unions“, „Industrial and Provident Societies“ usw. In Großbritannien und Irland können sich die „Building Societies“, deren Haupttätigkeit in der Gewährung von Hypothekenkrediten besteht, auf eine Tradition berufen. Es ist nicht immer eindeutig, welche dieser Organisationen als Gegenseitigkeitsgesellschaften und welche als Genossenschaften einzustufen sind, weil in diesen Mitgliedstaaten der Unterschied zwischen den beiden Rechtsformen nicht klar definiert ist und die Bezeichnung Gegenseitigkeitsgesellschaft sich auch auf Genossenschaften erstrecken kann.50

In einigen Mitgliedstaaten (wie Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Irland, Italien, Niederlande und Vereinigtes Königreich) unterliegen Gegenseitigkeitsgesellschaften, vor allem diejenigen, die im Bereich der sozialen Fürsorge tätig sind, besonderen Regeln für die Besteuerung. Sofern Gegenseitigkeitsgesellschaften bestimmte Bedingungen erfüllen, ist eine besondere steuerliche Behandlung vorgesehen, wie in Belgien, wo Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge die alleinige gesetzliche Zuständigkeit für die obligatorische Krankenversicherung haben. In Ungarn wird der Abschluss von Krankenversicherungen bei Gegenseitigkeitsvereinen mit einem Steuernachlass von 30 % auf die Versicherungsbeiträge subventioniert. In Frankreich waren Gegenseitigkeits- und Versorgungsvereine von 1945 bis 2002 von der Krankenversicherungssteuer freigestellt, was jedoch geändert wurde, nachdem die Europäische Kommission das für nicht mit den EU-Vorschriften über staatliche Beihilfen vereinbar erklärt hatte. In Luxemburg dagegen sind Gegenseitigkeitsgesellschaften nach wie vor von der Versicherungssteuer freigestellt, weil ein Gentlemen’s Agreement zwischen Gegenseitigkeitsgesellschaften und kommerziellen Versicherern letztere davon abhält, bei der Europäischen Kommission Beschwerde einzulegen. Im Gegenzug beeinträchtigen die Gegenseitigkeitsgesellschaften nicht die beherrschende Stellung der kommerziellen Versicherer auf dem Markt für Rentenversicherungen oder sonstige Versicherungen.51

Unabhängig davon, ob sie in ein gesondertes Gesetzeswerk oder in das allgemeine Versicherungsrecht eingebunden sind, umfassen die Rechtsvorschriften zu Gegenseitigkeitsgesellschaften in der Regel Bestimmungen über die Auflösung. In den meisten Mitgliedstaaten kann das Reinvermögen im Falle der Auflösung oder Demutualisierung unter den Versicherungsnehmern, die zugleich Mitglieder sind, aufgeteilt werden.

50 Zum Beispiel in dem Bericht: Michie, Jonathan, Promoting Corporate Diversity in the Financial Services Sector, 2010; oder Stewart, Jim, Mutuals and Alternative Banking: A Solution to the Financial and Credit Crisis in Ireland?, 2010. 51 Thomson, Sarah, Elias Mossialos, Private health insurance in the European Union, Final report prepared for the European Commission, Directorate General for Employment, Social Affairs and Equal Opportunities, 2009; Mossialos, Elias und Sarah Thomson, Voluntary Health Insurance in the European Union, Europäisches Observatorium für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik, Kopenhagen: WHO, 2004.

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Die französischen Rechtsvorschriften stehen dem jedoch entgegen, da das Reinvermögen entweder einem anderen Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit oder einer Stiftung übertragen werden muss, um die Versicherungsnehmer davon abzuhalten, für die Auflösung eines Gegenseitigkeitsvereins zu stimmen.52

Ein Überblick über die für Gegenseitigkeitsgesellschaften in den EU-Mitgliedstaaten relevanten Rechtsvorschriften findet sich in den Anhängen zu diesem Bericht: Anhang 1A (Definition der Gegenseitigkeitsgesellschaften in den 27 EU-Mitgliedstaaten) und Anhang 1B (Die wichtigsten Rechtsquellen). Wenngleich es bei den für Gegenseitigkeitsgesellschaften geltenden rechtlichen Rahmenvorschriften große Unterschiede gibt, lassen sich die Länder zu Gruppen zusammenfassen:

In der größten Gruppe von Ländern fallen Gegenseitigkeitsgesellschaften unter die allgemeinen Rechtsvorschriften für die Versicherungs-/Finanzwirtschaft, die spezielle institutionelle und finanzielle Bestimmungen für diese Gesellschaften enthalten können (wie in Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Lettland, Malta, den Niederlanden, Österreich, Polen, Rumänien, Schweden (neue Rechtsvorschriften), und Slowenien).

In der zweitgrößten Gruppe von Ländern gelten für Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit die allgemeinen Rechtsvorschriften für die Versicherungs-/ Finanzwirtschaft, während Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge besonderen Rechtsvorschriften unterliegen (wie in Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, Portugal, Schweden (alte Rechtsvorschriften), Spanien und Ungarn).

In einer kleinen Gruppe von Ländern (Irland, Vereinigtes Königreich) sind für Gegenseitigkeitsgesellschaften sowohl die allgemeinen Rechtsvorschriften für die Versicherungs-/Finanzwirtschaft als auch besondere Rechtsvorschriften relevant.

In einem Land, Finnland, wird unterschieden zwischen kleinen Gegenseitigkeitsgesellschaften (in höchstens 40 Gemeinden tätig), die als Versicherungsvereine („vakuutusyhdistys/försäkringsförening“) bezeichnet werden, und größeren Gegenseitigkeitsgesellschaften, die als Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit („keskinäinen vakuutusyhtiö/ömsesidigt försäkringsbolag“) bezeichnet werden. Letztere zielen darauf ab, ihren Mitgliedern Gewinne oder andere wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen, sofern die Satzung nichts anderes vorsieht.53 Größere Gegenseitigkeitsgesellschaften fallen unter die allgemeinen Rechtsvorschriften für die Versicherungs-/Finanzwirtschaft, während für kleine Gegenseitigkeitsgesellschaften besondere Rechtsvorschriften gelten.

In anderen Ländern gibt es keine Rechtsvorschriften für Gegenseitigkeitsgesellschaften (Estland, Litauen, Slowakei, Tschechische Republik und Zypern).

52 Iannello, Francesco, Edoardo Greppi & Patrick Peugeot, The European Mutual Society: The challenge of a renaissance of mutuality, Mutuality Review 55, 2003. 53 Siehe Försäkringsbolagslag 18.7.2008/521: http://www.finlex.fi/sv/laki/ajantasa/2008/20080521.

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2.5. Umfang des Sektors in der EU

Umfang und Zusammensetzung des Sektors auf nationaler Ebene hängen vom historischen Hintergrund, der Art der Definition von Gegenseitigkeitsgesellschaften, den Tätigkeiten, die sie ausüben dürfen, sowie von dem Rechtsrahmen ab, in dem sie agieren.

Bei Gegenseitigkeitsgesellschaften kann es sich um sehr große Organisationen mit Millionen Mitgliedern handeln.54 Oftmals sind sie in ideologischen, politischen Gruppen verwurzelt. In einigen Ländern stellen sie nach wie vor eine große (politische) Macht dar. Es gibt aber auch kleine Gegenseitigkeitsgesellschaften, die in einem sehr lokalen Nischenmarkt tätig sind.

Gemäß den im Rahmen einer Studie zur Sozialwirtschaft erhobenen Daten waren im Bezugszeitraum 2002-2003 in der EU-25 (ausgenommen Rumänien und Bulgarien) insgesamt 351 000 Personen bei Gegenseitigkeitsgesellschaften beschäftigt. Die Daten weisen erhebliche Lücken auf, vor allem in den neuen Mitgliedstaaten, und sie sind in Italien in den Daten für Genossenschaften und in Portugal in den Daten für Verbände enthalten. Den vorliegenden Angaben zufolge ist ein Großteil der bei Gegenseitigkeitsgesellschaften beschäftigten Arbeitnehmer in zwei Mitgliedstaaten konzentriert, d. h. in Deutschland (150 000 Arbeitsplätze) und Frankreich (110 000 Arbeitsplätze).55

Einer anderen Quelle, der International Cooperative and Mutual Insurance Federation (ICMIF), zufolge sind in der EU insgesamt 282 110 Menschen im Gegenseitigkeitssektor beschäftigt, wobei jeweils mehr als 80 000 Beschäftigte auf den deutschen und den französischen Gegenseitigkeits- und Genossenschaftssektor entfallen.56 Allerdings sind nicht in der Versicherungsbranche tätige Gegenseitigkeitsgesellschaften nicht in diesen Zahlen inbegriffen.

Daten über den Bevölkerungsanteil der Versicherungsnehmer werden von der Association Internationale de la Mutualité (AIM)57 erfasst, indem ausgehend von der gemeldeten Zahl der Versicherungsnehmer/Mitglieder des Verbands die Gesamtzahl berechnet wird. Diese Daten betreffen jedoch ausschließlich Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge, während Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit nicht berücksichtigt werden. Am höchsten ist der Anteil der Versicherten dieser Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge den vorliegenden Daten zufolge in Belgien, gefolgt von den Niederlanden und Deutschland. In jedem dieser Länder sind mehr als 80 % der Bevölkerung bei einer Gegenseitigkeitsgesellschaft für soziale Fürsorge, versichert. Die Gruppe mit dem höchsten Anteil an Versicherungsnehmern/Mitgliedern wird gefolgt von Frankreich, der Tschechischen Republik und Luxemburg mit jeweils 60 bis 80 % sowie von Slowenien, Irland und der Slowakischen Republik (mit einem Bevölkerungsanteil der Versicherungsnehmer/Mitglieder von 40 bis 60 %).

54 Beispiele siehe: CIRIEC, The Social Economy in the European Union, 2007, S. 93. 55 CIRIEC, The Social Economy in the European Union, 2007. 56 ICMIF, Annual Mutual Market Share & Global 500 for 2007–2008, 2010. 57 Die Association Internationale de la Mutualité (AIM) ist ein Zusammenschluss nationaler Verbände oder Vereinigungen eigenständiger Kranken- oder Sozialversicherungsträger, die nach den Grundsätzen der Solidarität und Gemeinnützigkeit arbeiten.

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Dies scheint jedoch auch Organisationen einzuschließen, die nicht die Rechtsform einer Gegenseitigkeitsgesellschaft haben, sondern bei denen es sich eher um öffentliche oder halböffentliche Einrichtungen (wie die deutschen Krankenkassen, die im Rahmen des öffentlichen Rechts tätig sind, sowie die tschechischen und slowakischen „Gegenseitigkeitsgesellschaften“, die an der Verwaltung der gesetzlichen Krankenversicherung beteiligt und ebenfalls im Rahmen des öffentlichen Rechts tätig sind) oder sogar um Kapitalgesellschaften handelt (zum Beispiel in Form von Tochtergesellschaften/Unternehmen innerhalb einer Holdinggesellschaft auf Gegenseitigkeit), die nicht als Gegenseitigkeitsgesellschaften im Sinne dieses Berichts betrachtet werden. Bemerkenswert ist der geringe Bevölkerungsanteil der Versicherungsnehmer/Mitglieder von Gegenseitigkeitsgesellschaften in Italien, Griechenland und Spanien (jeweils unter 10 %).58 Portugal und das Vereinigte Königreich sind Schätzungen zufolge der Gruppe mit einem Anteil von 10 bis 20 % zuzurechnen, während sich der geschätzte Anteil in Ungarn und Dänemark auf jeweils 20 bis 40 % beläuft.

Den Berechnungen des Verbands der Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und der genossenschaftlichen Versicherungsvereine ICMIF zufolge entspricht der Marktanteil der Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und genossenschaftlichen Versicherungsvereine insgesamt (Lebens- und Schadenversicherung) etwa einem Viertel des Marktanteils des gesamten Versicherungssektors in der Europäischen Union, und die erhobenen Versicherungsbeiträge belaufen sich auf etwa 400 Mrd. USD (etwa 300 Mrd. EUR).59 Allerdings sind die Daten von AIM auf Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge ausgerichtet und beinhalten keine Informationen über Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, während bei den Daten der ICMIF zum Marktanteil von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit und genossenschaftlichen Versicherungsvereinen wiederum die Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge unberücksichtigt bleiben und auch Genossenschaften einbezogen werden.

Gegenseitigkeitsgesellschaften sind auch außerhalb der Landesgrenzen tätig. Im Allgemeinen fehlen Daten über die grenzübergreifenden Tätigkeiten von Gegenseitigkeitsgesellschaften in Europa. Einige dieser Gesellschaften richten für ihre Tätigkeit in anderen Ländern Zweigstellen ein, während andere über eine Art gemischte Kapitalgesellschaft auf Gegenseitigkeit Versicherungspolicen verkaufen.

Dieser Frage kommt jedoch große Bedeutung zu. Europaweit wird Gegenseitigkeitsgesellschaften die grenzübergreifende Tätigkeit und die transnationale Zusammenarbeit bei gleichzeitiger Wahrung ihrer Merkmale erschwert.

58 http://www.aim-mutual.org/uploads/fmanager/about_mutuality/en_pop_couverte_par_mut_en_europe.pdf. 59 Es bestehen erhebliche Unterschiede zwischen den von AIM/AMICE und den von der ICMIF ermittelten Daten über die Versicherungsbeiträge, doch kann es dennoch nützlich sein, beide Werte zu berücksichtigen. Wenngleich die Daten der ICMIF offenbar eine besser überprüfte und vollständigere Darstellung der Versicherungsbeiträge liefern, werden bei den Berechnungen auch nicht auf dem Gegenseitigkeitsprinzip beruhende Versicherungsvereine berücksichtigt (z. B. genossenschaftliche Versicherungsvereine). Die Daten von AIM/AMICE beruhen auf den gemeldeten Versicherungsbeiträgen ihrer Mitgliedsorganisationen und sind nicht leicht zu überprüfen. Sie betreffen jedoch ausschließlich Organisationen, die nach dem Gegenseitigkeitsprinzip arbeiten (wenngleich auch nicht mit einer auf Gegenseitigkeit beruhenden Rechtspersönlichkeit ausgestattete Organisationen einbezogen werden).

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Wenngleich es in einigen Mitgliedstaaten, zum Beispiel in Frankreich, Rechtsinstrumente gibt (wie das SGAM-Modell, siehe nachstehenden Kasten), wurde bei mehreren im Laufe dieser Studie durchgeführten Befragungen auf die rechtlichen und administrativen Schwierigkeiten verwiesen, denen sich Gegenseitigkeitsgesellschaften gegenübersehen, wenn es darum geht, eine grenzübergreifende europäische Zusammenarbeit aufzubauen, einschließlich der Tatsache, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften ganz unterschiedliche nationale Vorschriften einhalten müssen, dass sie nicht in allen nationalen Märkten zugelassen sind und dass demokratische Grundsätze und Grundsätze des gemeinsamen Eigentums nicht grenzübergreifend ausgeübt werden können.

Französische Zusammenschlüsse von Gegenseitigkeitsgesellschaften (SGAM)

Französische Gegenseitigkeitsgesellschaften haben seit 2001 die Möglichkeit, Versicherungsgruppen auf Gegenseitigkeit (Société de Groupe d’Assurance Mutuelle: SGAM) zu gründen. Zweck einer SGAM ist es, die Zusammenarbeit zwischen einer Gruppe von Gegenseitigkeitsgesellschaften zu organisieren, wobei der Grad der Integration jedoch von den Gründern beschlossen wird. Das schließt auch den Umfang und die Bedingungen der finanziellen Solidarität zwischen den Mitgliedern ein. Auch weitere Merkmale sind fakultativ; so können SGAM über Kapital verfügen oder nicht, und bei den Mitgliedern kann es sich um nationale oder europäische Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, Rückversicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, Krankenversicherungen auf Gegenseitigkeit oder Verbände und Einrichtungen für Leistungen an Arbeitnehmer handeln.60

Kürzlich haben zwei Gegenseitigkeitsgesellschaften (die französische Gesellschaft „Harmonie Mutualité“ und die italienische Gesellschaft „Cesare Pozzo“) ihre grenzübergreifenden Tätigkeiten im Rahmen einer Europäischen Genossenschaft organisiert.

2.6. Schlussbemerkungen

Bis zum 20. Jahrhundert boten Gegenseitigkeitsgesellschafen die ersten Formen des Sozialschutzes für Risikogruppen in Europa. Bevor die meisten Regierungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begannen, gesetzliche Systeme der sozialen Sicherheit zu schaffen, nahmen Gegenseitigkeitsgesellschaften in den europäischen Gesellschaften eine wichtige Aufgabe wahr.

Die umfassenden Reformen, mit denen Wohlfahrtsstaaten geschaffen wurden, führten dazu, dass sich die Stellung der Gegenseitigkeitsgesellschaften veränderte. Historische und kulturelle Entwicklungen waren ausschlaggebend für die Art und Weise, in der sich Gegenseitigkeitsgesellschaften an den neuen sozioökonomischen Kontext angepasst haben. In den meisten Ländern übernahmen diese Gesellschaften eine alternative Rolle, indem sie freiwillige Krankenversicherungssysteme entwickelten und ihre Aktivitäten in anderen Bereichen der Risikodeckung (zum Beispiel bei der Kraftfahrzeugversicherung) fortsetzten oder ausbauten. In vielen Mitgliedstaaten der EU spielen Gegenseitigkeitsgesellschaften immer noch eine bedeutende Rolle.

60 Groups of mutual insurance companies: the lessons of initial experiments. Jean-Claude SEYS, MMA, France. French experience with the „mutual insurance group company“ (Société de Groupe d’Assurance Mutuelle: SGAM), S. 47-48. Siehe auch: Lowet, Lieve, Wat is een SGAM? (Was ist eine SGAM?), in: Larcier, Financieel Forum-Bank en Financiewezen, 2008/8, S. 497-503, 2008.

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Das hat jedoch zu großen Unterschieden zwischen den EU-Mitgliedstaaten bei den Tätigkeiten, die Gegenseitigkeitsgesellschaften ausüben, und bei ihrer Stellung im nationalen Recht und auf den Märkten geführt. Dadurch gestaltet sich auch die Suche nach einer EU-weiten Definition besonders schwierig, und die vorgeschlagenen Optionen, wie die Definition der Europäischen Kommission von 2003, lassen Spielraum für Diskussionen über die Frage, welche Arten von Organisationen der Familie der europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaften zugeordnet werden können.

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3. DIE BEDEUTUNG DER GEGENSEITIGKEITS-GESELLSCHAFTEN FÜR DIE SOZIALE SICHERHEIT

DIE WICHTIGSTEN ERKENNTNISSE

Die Art und Weise, in der die Systeme der sozialen Sicherheit organisiert sind, bestimmt weitgehend den Stellenwert der Gegenseitigkeitsgesellschaften innerhalb bzw. in Bezug auf diese Systeme.

In vielen EU-Mitgliedstaaten sind Gegenseitigkeitsgesellschaften in ergänzende und zusätzliche Krankenversicherungssysteme eingebunden. Die nationalen Unterschiede reichen von Gegenseitigkeitsgesellschaften, die gesetzliche Leistungen erbringen und daher eine maßgebliche Rolle im System der sozialen Sicherheit spielen, bis zu Gegenseitigkeitsgesellschaften, die überhaupt keine Rolle spielen.

In anderen Systemen der sozialen Sicherheit als der Krankenversicherung sind Gegenseitigkeitsgesellschaften vor allem auf dem Gebiet der Rentenversicherung tätig und bieten als Ergänzung zum gesetzlichen System private Versicherungen an.

Wie bereits erwähnt, spielen Gegenseitigkeitsgesellschaften eine wichtige Rolle im System der sozialen Sicherheit und ergänzend/zusätzlich zu diesem System. In diesem Abschnitt wird eingehender untersucht, wie Gegenseitigkeitsgesellschaften in den EU-Mitgliedstaaten Krankenversicherungs- und Rentenansprüche bereitstellen.

3.1. Gegenseitigkeitsgesellschaften im Bereich der Kranken-versicherung

Bei den Krankenversicherungen im Rahmen der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit gilt es zu unterscheiden zwischen obligatorischen und freiwilligen Systemen. Die obligatorische Krankenversicherung bietet eine Basisabsicherung durch einen staatlichen Gesundheitsdienst oder durch Krankenkassen. Die freiwillige Krankenversicherung lässt sich wie folgt unterteilen:61

substitutiv - bietet denselben Versicherungsschutz wie die obligatorische Krankenversicherung (für Menschen, die von dem obligatorischen System ausgeschlossen werden oder sich für den Ausstieg entscheiden),

zusätzlich - bietet Leistungen und Versicherungsschutz zusätzlich/über die obligatorische Krankenversicherung hinaus (wie zum Beispiel einen schnelleren Zugang und bessere Wahlmöglichkeiten für die Verbraucher),

61 Colombo, Francesca, Tapay, Nicole, Private Health Insurance in OECD Countries: The Benefits and Costs for Individuals and Health Systems, OECD Health Working Papers Nr. 15, Paris, 2004. Andere Klassifikationen der freiwilligen Krankenversicherung umfassen die substitutive, die zusätzliche und die ergänzende Versicherung, nicht jedoch die duplikative Krankenversicherung (siehe zum Beispiel Thomson, Sarah, Elias Mossialos, Private health insurance in the European Union, Final report prepared for the European Commission, Directorate General for Employment, Social Affairs and Equal Opportunities, 2009).

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ergänzend - Deckung von Zuzahlungen/Selbstbeteiligung und zusätzlichen Leistungen, die vom gesetzlichen System ausgeschlossen sind,

duplikativ – bietet Leistungen und Versicherungsschutz als Alternative zu den staatlichen Gesundheitssystemen.

Die nachstehende Tabelle vermittelt einen Überblick über die Unterschiede bei der Rolle, die Gegenseitigkeitsgesellschaften bei der Krankenversicherung in den EU-Mitgliedstaaten spielen.

Tabelle 1: Die Rolle der Gegenseitigkeitsgesellschaften in der Krankenversicherung

Die Rolle der Gegenseitigkeitsgesellschaften in der Krankenversicherung

Länder

A) Gegenseitigkeitsgesellschaften sind nur im Bereich der obligatorischen Krankenversicherung tätig

EL

B) Gegenseitigkeitsgesellschaften sind sowohl im Bereich der obligatorischen als auch im Bereich der freiwilligen Krankenversicherung tätig

BE, NL

C) Gegenseitigkeitsgesellschaften sind nur im Bereich der freiwilligen/zusätzlichen Krankenversicherung, nicht jedoch in der obligatorischen Krankenversicherung tätig62

AT, DE, DK, ES, FI, FR, HU, IT, LU, MT, PL, PT, SE, SI, UK

D) Gegenseitigkeitsgesellschaften sind offenbar nicht im Bereich der Krankenversicherung tätig

BG, IE, LV, RO

Quelle: Von den Verfassern erstellt. Wie in der obigen Tabelle angegeben, sind in Griechenland Gegenseitigkeitsgesellschaften ausschließlich im Bereich der obligatorischen Krankenversicherung tätig. Obwohl die meisten Krankenkassen in Griechenland öffentliche Einrichtungen sind, gibt es auch Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge, die die obligatorische Krankenversicherung anbieten und bei denen etwa 110 000 Menschen versichert sind. Diese Kassen, die keine freiwillige Krankenversicherung anbieten, sind auf bestimmte Berufsgruppen beschränkt und mit Gewerkschaften verbunden.63 Einige dieser Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge bestehen seit den 1930er Jahren (wie die Personalkrankenkasse der griechischen Nationalbank (T.Y.P.E.T.)).

62 Frankreich und Deutschland nehmen eine Sonderstellung ein, da in beiden Ländern öffentliche Einrichtungen, die als Gegenseitigkeitsgesellschaften gelten, Leistungen der obligatorischen Krankenversicherung erbringen (Frankreich: MSA (Mutualité sociale agricole) und Deutschland: Krankenkassen), während öffentliche Einrichtungen im Sinne der Definition der Europäischen Kommission von 2003, die der Analyse im Rahmen dieser Studie zugrunde liegt, nicht als „Gegenseitigkeitsgesellschaften“ betrachtet werden können. 63 Report 2008 of the AIM working group on health system reform „Healthcare protection today: Structures and trends in 13 countries“.

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Generell weist Griechenland aufgrund eines fragmentierten Systems der sozialen Sicherheit, das in Hunderten von Gesetzestexten verankert ist, eine sehr spezifische Situation in Europa auf.64

In Belgien und in den Niederlanden spielen Gegenseitigkeitsgesellschaften sowohl bei der obligatorischen Krankenversicherung als auch bei der zusätzlichen Krankenversicherung eine Rolle. In den Niederlanden wird die obligatorische Krankenversicherung von privaten Versicherungsunternehmen angeboten (Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und Kapitalgesellschaften), die auch freiwillige Krankenversicherungen anbieten. Für den obligatorischen Teil ist es privaten Versicherern nicht gestattet, Einzelanträge abzulehnen und Risikoselektion zu betreiben. In Belgien spielen Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge eine einzigartige Rolle, wie dies im nachstehenden Kasten näher erläutert wird.

Belgien: Eine wichtige Rolle bei der obligatorischen Krankenversicherung

Die Gestaltung des belgischen Gesundheitssystems geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Damals schlossen sich Arbeiter zu kleinen Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit zusammen, die ihre Mitglieder gegen das Risiko von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfähigkeit absicherten. Diese Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge wurden 1851 als spezielle Rechtsform anerkannt, und 1894 wurden weitere Rechtsvorschriften erlassen.

Ausgehend von den ideologischen und politischen Präferenzen schlossen sich die kleinen Gegenseitigkeitsgesellschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu nationalen Verbänden zusammen:

dem Landesbund der christlichen Krankenkassen (1906); dem Landesbund der neutralen Krankenkassen (1908); dem Landesbund der sozialistischen Krankenkassen (1913); dem Landesbund der liberalen Krankenkassen (1914) und dem Bund der freien und Berufskrankenkassen (1920).

Neben diesen fünf Verbänden gibt es eine Kasse für Beschäftigte der belgischen Eisenbahngesellschaft und eine Kasse für Kranken- und Invaliditätsversicherung (öffentliche Einrichtung).

In Belgien fanden im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg keine umfassenden Reformen statt. Die Rolle der ideologisch und politisch verwurzelten Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge (Mutualiteiten (ziekenfonds)/Mutualité)65 blieb während des gesamten 20. Jahrhunderts unverändert bestehen. Das im Jahr 1990 überarbeitete Gesetz von 1894 über Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge und Verbände von Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge66 enthält neue Bestimmungen über

64 Amitsis, Gabriel, Current Policies and Reform Plans for the Greek Benefits Framework, Benefits & Compensation International, Band 31, Nr. 7, März 2002. 65 Wir verwenden für „mutualiteiten/mutualité“ die Bezeichnung „Gegenseitigkeitsgesellschaft für soziale Fürsorge“ anstelle von „Krankenkassen“, weil die Bezeichnung „Kasse“ zu Verwechslungen mit öffentlichen Krankenkassen führen kann, wie es sie zum Beispiel in Deutschland und in Slowenien (slowenisches Krankenversicherungsinstitut) gibt. 66 Gesetz vom 6. August 1990 über Krankenkassen und nationale Verbände von Krankenkassen/Wet van 6 augustus 1990 betreffende de ziekenfondsen en de landsbonden van ziekenfondsen.

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Gründung, Organisation und zu erbringende Dienstleistungen sowie Finanzregelungen (einschließlich staatlicher Zuweisungen), Verschmelzungen67, Abwicklung und Beaufsichtigung von Krankenkassen.

Die Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge sind derzeit die einzigen Anbieter der obligatorischen Krankenversicherung. Jeder Bürger muss einer dieser Gesellschaften, die die obligatorische Krankenversicherung anbieten, beitreten bzw. sich bei einer solchen Gesellschaft anmelden. Mit Ausnahme der Eisenbahner, die automatisch bei der Krankenkasse für die Beschäftigten der belgischen Eisenbahngesellschaft versichert sind, kann zwischen den Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge frei gewählt werden. Nahezu 99 % der Bevölkerung sind bei der obligatorischen Krankenversicherung versichert.68

Die Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge sind für die Umsetzung der Bestimmungen für die Krankenversicherung zuständig. Die obligatorische Krankenversicherung wird durch das Gesetz und durch mehrere königliche Erlasse geregelt, und die Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge haben diesbezüglich keine Entscheidungsbefugnis. Die obligatorische Krankenversicherung bietet einen weitreichenden Versicherungsschutz, der mehr als 8000 Arten von Leistungen umfasst. Die Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge handeln mit den Anbietern von Gesundheitsdiensten jährlich oder zweijährlich die Gebühren für die im Leistungskatalog aufgeführten Dienstleistungen aus.

Am 31. Dezember 2009 gab es insgesamt 54 Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge mit mehr als 15 000 Mitgliedern und drei solcher Gesellschaften mit weniger als 15 000 Mitgliedern.

Wenngleich die belgischen Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge von jeher sowohl freiwillige (ergänzende) Versicherungen als auch die obligatorische Versicherung angeboten haben, vertrat die Europäische Kommission die Auffassung, dass die Situation nicht mit dem EU-Recht im Einklang stehe, und forderte Änderungen, sodass die betreffenden Gesellschaften für den Zugang zum Markt für freiwillige Krankenversicherungen gesonderte Rechtsträger schaffen mussten - die Gesellschaften für gegenseitige Hilfe (maatschappijen van onderlinge bijstand/sociétés mutualistes).69

Eine Gesellschaft für gegenseitige Hilfe darf nur denjenigen Krankenkassenmitgliedern Versicherungsschutz bieten, die der Gesellschaft angehören – Einzelpersonen können nicht direkt Mitglied einer Gesellschaft für gegenseitige Hilfe werden. Gesellschaften für

67 Die Krankenversicherungen auf Gegenseitigkeit, die ein und demselben Verband angehören, können sich für einen Zusammenschluss entscheiden. Darüber hinaus können sich auch Verbände zusammenschließen. Ein Zusammenschluss von Gegenseitigkeitsvereinen oder Verbänden bedarf der Zustimmung der Mitglieder und der Generalversammlung des betreffenden Vereins bzw. Verbands. Bei einem Zusammenschluss werden die staatlichen Stellen der Gesellschaften gemeinsam organisiert, und die Satzung muss geändert werden. Außerdem können sich Gesellschaften für gegenseitige Hilfe zusammenschließen, wenn ihre Muttergesellschaften ein und demselben Verband angehören. Siehe: Gesetz vom 6. August 1990 über Krankenkassen und nationale Verbände von Krankenkassen/Wet van 6 augustus 1990 betreffende de ziekenfondsen en de landsbonden van ziekenfondsen. 68 Gerkens S, Merkur S. Belgium: Health system review. Health Systems in Transition, 2010, 12(5):S. 1–266. 69 De Wet van 26 april 2010 houdende diverse bepalingen inzake de organisatie van de aanvullende ziekteverzekering (I)/Loi du 26 Avril 2010 portant des dispositions diverses en matière de l’organisation de l’assurance maladie complémentaire (I). 70 De Wet van 26 april 2010 houdende diverse bepalingen inzake de organisatie van de aanvullende ziekteverzekering (I)/Loi du 26 Avril 2010 portant des dispositions diverses en matière de l’organisation de l’assurance maladie complémentaire (I); Controledienst voor de ziekenfondsen en de landsbonden van ziekenfondsen/Office de contrôle des mutualités et des unions nationales de mutualités: Jahresbericht 2009.

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gegenseitige Hilfe im Gesundheitswesen, die Krankenversicherungen anbieten, fallen unter das allgemeine Versicherungsrecht70 (und können daher als eine Art Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit eingestuft werden).

Es bestehen große Unterschiede bei den Gründen, weshalb Gegenseitigkeitsgesellschaften in Belgien und den Niederlanden sowohl im Bereich der obligatorischen als auch im Bereich der zusätzlichen Krankenversicherung tätig sind. In Belgien haben die Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge von jeher beide Arten von Leistungen erbracht (und mussten die beiden Tätigkeitsbereiche nur aufgrund der jüngsten Reformen in getrennte Rechtsträgerschaften aufteilen). In den Niederlanden hat die Regierung von 2006 an strenge Vorschriften für die Erbringung von Dienstleistungen im Bereich der obligatorischen Krankenversicherung festgelegt, jedoch den Rechtsstatus der Anbieter gesetzlicher Leistungen offengelassen. Die rechtlichen Rahmenvorschriften für die obligatorische Krankenversicherung sehen Mindestanforderungen vor, die von allen Versicherungsunternehmen eingehalten werden müssen. Darüber hinaus können Gegenseitigkeitsgesellschaften und Gesellschaften unterschiedlicher Rechtsformen auch freiwillige Krankenversicherungen anbieten.

In den meisten Mitgliedstaaten sind Gegenseitigkeitsgesellschaften (d. h. sowohl Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge als auch Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit) nur im Bereich der zusätzlichen/ergänzenden Krankenversicherung tätig. In Ungarn ist der Markt für zusätzliche Krankenversicherungen de facto auf Gegenseitigkeitsgesellschaften beschränkt, und in Slowenien hat das Versicherungsunternehmen auf Gegenseitigkeit „Vzajemna“ in den Rechtsvorschriften eine besondere Stellung inne, wie im nachstehenden Kasten dargestellt.

Slowenien: ergänzende Versicherung zur Deckung von Zuzahlungen

In Slowenien gibt es nur eine Gegenseitigkeitsgesellschaft, und diese Organisation ist ausschließlich auf dem Markt für ergänzende Krankenversicherungen tätig.

Seit 1992 hat Slowenien ein Krankenversicherungssystem, das auf den bismarckschen Grundsätzen beruht. Es gibt nur einen Versicherer für die gesetzliche Krankenversicherung, eine Krankenkasse, die vom slowenischen Krankenversicherungsinstitut („Zavod za zdravstveno zavarovanje Slovenije“ (ZZZS)) verwaltet wird. Um die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens zu verringern, wurden finanzielle Negativanreize wie Zuzahlungen eingeführt, was jedoch nicht zu einer wirksamen Verringerung führte; vielmehr schloss der größte Teil der Bevölkerung zur Deckung der Zuzahlungen ergänzende Versicherungen beim slowenischen Krankenversicherungsinstitut ab, was eine weiterhin hohe Inanspruchnahme des Gesundheitswesens zur Folge hatte.

Seit der Schaffung des slowenischen Krankenversicherungsinstituts entwickelte sich ein gemischtes Modell, bei dem öffentliche Gelder (obligatorische Krankenversicherung) und private Gelder (Versicherungsbeiträge für ergänzende Systeme) von ein und derselben Organisation erhoben wurden. Dies führte zu Unklarheiten darüber, welche Mittel für die obligatorische und welche für die ergänzende Krankenversicherung verwendet wurden. Im Jahr 1998 wurde das Institut durch Änderungen des Gesetzes über das Gesundheitswesen und die Krankenversicherung gezwungen, eine vollständige Trennung zwischen der obligatorischen Versicherung und ergänzenden Systemen vorzunehmen. Der für die Verwaltung des ergänzenden Teils gegründete

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Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit „Vzajemna“ („Gegenseitigkeit“) wurde innerhalb kürzester Zeit zum größten Anbieter freiwilliger Krankenversicherungen in Slowenien.

Die obligatorische Krankenversicherung erstreckt sich praktisch auf die gesamte Bevölkerung. Ein problematisches Phänomen im slowenischen Gesundheitswesen sind die Wartelisten, insbesondere für zahnärztliche Leistungen sowie für einige fachärztliche Leistungen und in der Chirurgie. Auch eine ergänzende Versicherung zur Deckung von Zuzahlungen wurde von beinahe 100 % der Bevölkerung abgeschlossen.

Seit 2004-2005 zwei private Unternehmen in den Markt für ergänzende Krankenversicherungen eingetreten sind, ist das oben genannte Versicherungsunternehmen auf Gegenseitigkeit nicht mehr der alleinige Anbieter.

Der Markteintritt der kommerziellen Versicherer hat zu einer unausgewogenen Situation geführt. Diese Unternehmen brachten Kampagnen zur Risikoselektion und „Rosinenpickerei“ (Cream-Skimming) auf den Weg, um durch risikoabhängige Versicherungsbeiträge ausschließlich jüngere und gesündere Personen zum Abschluss einer Versicherung zu bewegen. Dagegen verblieben die älteren und weniger gesunden Personen bei dem Gegenseitigkeitsverein „Vzajemna“, dessen Portfolio demzufolge auf einer weniger günstigen Risikostruktur basierte.

Als im Zeitraum 2003-2006 Pläne zur Umstrukturierung von Vzajemna in eine Aktiengesellschaft diskutiert wurden, legte das Gesundheitsministerium einen Vorschlag für ein Gesetz über die Umgestaltung des Status der Krankenversicherung „Vzajemna“ vor, der im April 2007 vom Parlament angenommen wurde. Der Vorschlag der Regierung zielte darauf ab, die einzige Krankenversicherung auf Gegenseitigkeit zu erhalten und die Solidarität im System der ergänzenden Krankenversicherung zu gewährleisten.71 Um die Rosinenpickerei von Anbietern freiwilliger Krankenversicherungen zu verhindern und die Unterschiede zwischen den privaten Krankenversicherungsunternehmen bei der Risikostruktur auszugleichen, wurde 2005 eine Risikoausgleichsregelung eingeführt72, die gleiche Beiträge für alle Versicherten unabhängig vom Alter sicherstellte.

2010 wurde eine Änderung des Versicherungsgesetzes angenommen, nach der die Generalversammlung einer Gegenseitigkeitsgesellschaft, die zusätzliche Krankenversicherungen oder Lebensversicherungen anbietet, die Altersstruktur ihrer Mitglieder widerspiegeln muss.73 Dieses Gesetz wurde aufgrund von Unregelmäßigkeiten bei der Verwaltung und Zweifeln hinsichtlich der demokratischen Struktur der Unternehmensführung der Gegenseitigkeitsgesellschaft auf den Weg gebracht.

71 Albreht, T, Turk E, Toth M, Ceglar J, Marn S, Pribaković Brinovec R, Schäfer M, Avdeeva O und van Ginneken E. Slovenia: Health system review. Health Systems in Transition. 2009; Band 11(3): 56, 142; Corporate governance in a mutual insurance company. Case of Vzajemna mutual insurance company, Slovenia. Dušan Kidrič, Chairmen of the management Board. 72 Gesetz über Änderungen und Ergänzungen zum Gesetz über Gesundheitsfürsorge und Krankenversicherung, Amtsblatt der Republik Slowenien, 100/05; 2005, Siehe: Albreht, T, Turk E, Toth M, Ceglar J, Marn S, Pribaković Brinovec R, Schäfer M, Avdeeva O und van Ginneken E. Slovenia: Health system review. Health Systems in Transition. 2009; Band 11(3): 56, 142. 73 Unternehmensführung einer Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit/Änderung des Versicherungsgesetzes - Amtsblatt der Republik Slowenien Nr. 79/10 vom 8. Oktober 2010.

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In Schweden bieten Gegenseitigkeitsgesellschaften Krankenversicherungen zusätzlich zu dem obligatorischen System an, legen jedoch eine gewisse Zögerlichkeit an den Tag, wenn es darum geht, auf diesem Markt tätig zu sein, da die Auffassung besteht, dass die zusätzliche Krankenversicherung eigentlich nicht mit den vorherrschenden Werten von Solidarität und Gleichheit vereinbar ist (siehe unten).

Schweden: begrenzte Präsenz in der Krankenversicherung

In Schweden sind Gegenseitigkeitsgesellschaften definitionsgemäß Versicherungen. Der Sozialschutz in Schweden gilt als hochwertig und allen Menschen zugänglich. Die Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen durch das gesetzliche System beruht auf drei Grundprinzipien: dem Prinzip der Menschenwürde, dem Prinzip von Bedarf und Solidarität und dem Prinzip der Kosteneffektivität.

Der Gesundheitsstatus der schwedischen Bevölkerung ist weltweit einer der höchsten. Das schwedische Gesundheitssystem ist eng mit der Sozialversicherung verbunden, d. h. jeder, der in Schweden lebt und arbeitet, hat Zugang zu dem stark subventionierten Gesundheitswesen.74 Das schwedische Gesundheitssystem wird in erster Linie aus Steuern finanziert, die auf lokaler und nationaler Ebene erhoben werden. Die schwedische Sozialversicherung wird von der nationalen Sozialversicherungs-agentur (Försäkringskassan) verwaltet.

Sie schließt die Krankenversicherung, die Elternversicherung (Elternurlaub), eine Grundrente, eine Zusatzrente, Kindergeld, Einkommensbeihilfe und Wohngeld ein. Neben dem Versicherungsgeschäft ist die Agentur auch an der Prävention und Verringerung von Krankheiten durch vorausschauende positive Maßnahmen beteiligt, die letztendlich auf den Wiedereinstieg ins Berufsleben abzielen. Die schwedische Sozialversicherungsagentur hat eine Zweigstelle in jeder Provinzregierung, die Einzelfälle auf regionaler und lokaler Ebene bearbeitet. Darüber hinaus gibt es 240 örtliche Geschäftsstellen für die Betreuung der Anwohner.75

Das Sozialversicherungssystem lässt nicht viel Raum für freiwillige (zusätzliche) Krankenversicherungen. Daher hat die private Krankenversicherung in Schweden einen geringen Stellenwert. Im Jahr 2003 hatten etwa 200 000 Einwohner (2,3 % der Bevölkerung) eine freiwillige Krankenversicherung.76 Allerdings ist der Markt für die private Krankenversicherung wegen der Wartelisten für Wahlbehandlungen im Wachsen begriffen. Menschen entscheiden sich für den Abschluss einer freiwilligen Versicherung, um schnellen Zugang zu einer Spezialbehandlung zu erhalten.

Die freiwillige Krankenversicherung wird von privaten Versicherern und nur in begrenztem Maße von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit angeboten. Das ist offenbar darauf zurückzuführen, dass die Gründe für die freiwillige Versicherung nicht mit den Ideen der Gegenseitigkeit - Solidarität und Gleichheit - im Einklang stehen. Sie soll ihren Mitgliedern eine

74 http://www.sweden.se/eng/Home/Society/Health-care/Reading/Swedish-health-care-and-social-security. 75 Siehe: Glenngård A.H, Hjalte F, Svensson M, Anell A, Bankauskaite V. Health Systems in Transition: Sweden. Kopenhagen, WHO Regionalbüro für Europa im Auftrag des Europäischen Observatoriums für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik, 2005. 76 Glenngård A.H, Hjalte F, Svensson M, Anell A, Bankauskaite V. Health Systems in Transition: Sweden. Kopenhagen, WHO Regionalbüro für Europa im Auftrag des Europäischen Observatoriums für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik, 2005.

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Vorzugsbehandlung sichern, d. h. es ist nicht ihre Aufgabe, bei ihrer Tätigkeit dem Allgemeinwohl Rechnung zu tragen.

Während Gegenseitigkeitsgesellschaften nur begrenzt im Bereich der freiwilligen Krankenversicherung zu finden sind, spielen sie auf anderen Märkten eine sehr aktive Rolle. Im Jahr 2008 belief sich der Marktanteil von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit auf dem Markt für Schadenversicherungen auf 52,6 %. Auf dem Markt für Lebensversicherungen haben sie einen Marktanteil von 11,1 %.77 Eine der größten Gegenseitigkeitsgesellschaften, Folksam, hat etwa 4 Millionen Kunden; jede zweite schwedische Familie ist bei Folksam versichert.

Im Dezember 2010 wurde in Schweden ein neues Versicherungsgesetz verabschiedet, das am 1. April 2011 in Kraft trat. Das alte Versicherungsgesetz von 1982 und das Gesetz über Hilfsvereine auf Gegenseitigkeit von 1972 wurden außer Kraft gesetzt. Nach dem neuen Gesetz ist das allgemeine Aktiengesetz (durch Bezugnahme) auf Versicherungsgesellschaften mit beschränkter Haftung anwendbar, während Versicherungsgesellschaften und Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (die früher als Wohlfahrtsvereine bezeichnet wurden) unter das Gesetz über Genossenschaften fallen.78

Die Frage, ob für Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit das Aktiengesetz oder das Genossenschaftsgesetz gelten sollte, wurde kontrovers diskutiert, da viele Merkmale der führenden schwedischen Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit eher aus dem allgemeinen Gesellschaftsrecht als aus dem Genossenschaftsrecht entliehen sind. Ein Grund dafür ist, dass die Stimmrechte oftmals bei Organisationen, wie zum Beispiel Gewerkschaften, und nicht bei den einzelnen Versicherungsnehmern liegen. Umstritten war auch die Frage selbst, welchen Einfluss die Versicherungsnehmer haben. Ursprünglich hatte der Versicherungsausschuss vorgeschlagen, dass nach dem neuen Gesetz ausschließlich die Versicherungsnehmer stimmberechtigt sein sollten. Das stieß auf Kritik, weil diese direkte Demokratie schwer in die Praxis umzusetzen ist.

Als Kompromiss wurde festgelegt, dass die Hälfte der Stimmrechte von Versicherungsnehmern oder Organisationen gehalten werden soll, die als deren Interessenvertreter angesehen werden können.79 Das neue Gesetz und die Harmonisierung der rechtlichen Rahmenbedingungen für Gegenseitigkeits-gesellschaften und für Genossenschaften haben keinen Einfluss auf die Art und Weise, in der Gegenseitigkeitsgesellschaften auf den schwedischen Versicherungsmärkten agieren.

Ein ausschlaggebender Faktor für die Entwicklung des Stellenwerts der Gegenseitigkeitsgesellschaften im Rahmen der Krankenversicherung war in vielen europäischen Ländern die Einrichtung staatlicher Gesundheitsdienste nach dem Zweiten Weltkrieg oder später. In Frankreich haben Gegenseitigkeitsgesellschaften trotz der Einführung der gesetzlichen Krankenversicherung nach wie vor große Bedeutung.

77 ICMIF Annual Mutual Market Share & Global 500 for 2007–2008, 2010. 78 http://www.sweden.gov.se/sb/d/12677/a/152256, http://www.sweden.gov.se/sb/d/13416/a/152060. 79 Eckerberg, Per Johan, Peter Morawetz und Per Brandt, A possible modernization of the Swedish Insurance Business Act. In: Nordisk Försäkringstidskrift, 2009: www.nft.nu.

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Frankreich: die gesetzliche Krankenversicherung und die Gegenseitigkeits-gesellschaften

In Frankreich sind Gegenseitigkeitsgesellschaften vor allem im Bereich der ergänzenden Krankenversicherung tätig. Im 19. Jahrhundert wurde die soziale Sicherheit hauptsächlich von Organisationen innerhalb der Bewegung für soziale Fürsorge auf Gegenseitigkeit bereitgestellt. Um 1900 waren bei den Gegenseitigkeitsorganisationen für soziale Fürsorge, deren Zahl sich auf 13 000 belief, 2,5 Millionen Bürger versichert. Gegenseitigkeitsgesellschaften spielten im politischen Leben Frankreichs auch weiterhin eine wichtige Rolle und hatten in den 1940er Jahren fast 10 Millionen Mitglieder.80 Um einen allgemeinen Versicherungsschutz und einheitliche Rechte für alle zu gewährleisten, wurde 1945 das derzeitige Sozialversicherungssystem, einschließlich der gesetzlichen Krankenversicherung geschaffen. Angeregt wurde diese Reform durch den britischen „Beveridge-Bericht“ von 1942.

Derzeit gibt es hauptsächlich drei Krankenversicherungssysteme, über die 95 % der Bevölkerung Versicherungsschutz bieten: 1) die allgemeine Krankenversicherung (régime général), über die Beschäftigte in Industrie und Handel und deren Familien versichert sind, 2) das Versicherungssystem für Landwirte (MSA, Mutualité Sociale Agricole) und 3) das nationale Versicherungssystem für nicht in der Landwirtschaft tätige Selbständige (CANAM: Caisse Nationale d'Assurance Maladie des Professions Indépendantes). Wenngleich diese Krankenversicherungen auf sektoralen Vereinbarungen beruhen, übernimmt der Staat die Verantwortung für die finanzielle und operative Verwaltung der Kassen, indem er zum Beispiel die Höhe der Versicherungsbeiträge und der Preise für die Dienstleistungen festlegt.81

Mit dem Inkrafttreten des (im Juni 1999 verabschiedeten) Gesetzes über die universelle Krankenversicherung (Couverture maladie universelle: CMU) im Jahr 2000 wurde das Recht auf gesetzliche Krankenversicherung aufgrund des Wohnsitzkriteriums eingeführt. Darüber hinaus haben Bürger mit einem sehr geringen Einkommen (1,8 % der Bevölkerung) Anspruch auf unentgeltlichen Versicherungsschutz.

Die Gegenseitigkeitsvereine für soziale Fürsorge sind trotz der Einführung des nationalen Systems der sozialen Sicherheit und der gesetzlichen Krankenversicherung eine politische Kraft geblieben, und ein Großteil der Bevölkerung ist nach wie vor über diese Vereine freiwillig krankenversichert. Mehr als 92 % der Bevölkerung haben eine Zusatzversicherung, einschließlich der 7,4 %, die eine ergänzende universelle Krankenversicherung (Couverture maladie universelle complémentaire: CMU-C) abgeschlossen haben, die Menschen mit einem sehr geringen Einkommen einen unentgeltlichen ergänzenden Krankenversicherungsschutz bietet.

Die wichtigsten Finanzierungsquellen der Gesundheitsversorgung sind die staatliche Krankenversicherung, die 2007 für 76,6 % der Ausgaben aufkam, die private Krankenversicherung (13,6 %) und die Betroffenen selbst (Selbstzahlungen), die 8,5 % zu den Gesamtausgaben beitragen. Innerhalb der Kategorie „private Krankenversicherung“ kommen Gegenseitigkeitsgesellschaften für 7,9 % der

80 Sandier S, Paris V, Polton D. Health care systems in transition: France. Kopenhagen, WHO Regionalbüro für Europa im Auftrag des Europäischen Observatoriums für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik, 2004. 81 Sandier S, Paris V, Polton D. Health care systems in transition: France. Kopenhagen, WHO Regionalbüro für Europa im Auftrag des Europäischen Observatoriums für Gesundheitssysteme und Gesundheitspolitik, 2004. 82 Nationales Gesundheitskonto (Gesundheitsministerium), aus: Monique Kerleau, Anne Fretel, Isabelle Hirtzlin, Regulating Private Health Insurance in France: New Challenges for Employer-Based Complementary Health Insurance, Documents de Travail du Centre d’Economie de la Sorbonne, 2009.

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Gesamtausgaben für die Gesundheit auf.82

Im Vergleich zu kommerziellen Versicherern, die ebenfalls auf dem Markt tätig sind, ist die Klientel der Gegenseitigkeitsgesellschaften älter, und der Frauenanteil ist höher. Darüber hinaus handelt es sich überwiegend um Büroangestellte und mittlere Fachkräfte. Andere Berufsgruppen wie Landwirte und Selbständige entscheiden sich eher für kommerzielle Versicherer.

Im Vereinigten Königreich wurde 1948 der National Health Service gegründet; Gegenseitigkeitsgesellschaften sind derzeit zusammen mit kommerziellen Versicherern auf den Märkten für freiwillige Krankenversicherungen tätig.

Vereinigtes Königreich: der National Health Service (NHS) und die private Krankenversicherung

Im Vereinigten Königreich gründeten sich die Konturen des modernen Wohlfahrtsstaats auf den Gegenseitigkeitssystemen des 19. Jahrhunderts, die von Bürgern zur Abfederung von Gesundheits-, Alters- und Arbeitsmarktrisiken geschaffen wurden. Die Gegenseitigkeitsgesellschaften oder die so genannten „Friendly Societies“ wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts weiter ausgebaut, und so umfasste die Gegenseitigkeitsbewegung 1913 etwa 6,78 Millionen Mitglieder.83

Im Jahr 1942 machte William Henry Beveridge den schlechten Gesundheitszustand der Bevölkerung zum Gegenstand seines bahnbrechenden Berichts. Im Ergebnis dieses Berichts wurde ein staatlicher Gesundheitsdienst geschaffen, um die medizinische Versorgung aller Menschen, ungeachtet ihres Einkommens, Alters und ihre familiären Verhältnisse sicherzustellen. Nachdem der National Health Service Act 1946 verabschiedet wurde, nahm der National Health Service (NHS) zwei Jahre später seine Tätigkeit auf. Es handelt sich dabei um ein steuerbasiertes System, für dessen Verwaltung das Department of Health zuständig ist. Mit der Gründung des National Health Service wurde die Beteiligung der Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und der „Friendly Societies“ am (sozialen) Risikomanagement abgeschafft.

Das NHS kommt nicht für Versorgungsleistungen auf, die medizinisch nicht notwendig sind, wie beispielsweise Einzelzimmerkosten im Krankenhaus, Behandlungen in Sanatorien und Kuren, Zahnersatz und Hörgeräte.84 Wie in den meisten Ländern, in denen ähnliche, auf dem Bericht von Beveridge beruhende Strukturen bestehen, stellen die Wartelisten ein Problem dar, d. h. die Patienten müssen in der Regel auf die meisten nicht dringenden medizinischen Behandlungen warten.

Das Gesamtbudget des NHS wird zu 90 % aus Steuermitteln finanziert. Ein Teil der Haushaltsmittel stammt aus Arbeitgeberbeiträgen, die über den National Insurance Funds erhoben werden. Der verbleibende Teil wird über Selbstzahlungen, Einnahmen aus dem Verkauf von Grundstücken und Immobilien, der Tabaksteuer und der Erwirtschaftung von Einnahmen finanziert.

83 Southall, H. R., „Ni Etat ni marché: Les premières prestations sociales en Grande-Bretagne“, in MiRe, Comparer les systèmes de protection sociale en Europe, Band 1: Rencontres d’Oxford, Paris, MiRe, 65–103, 1995.

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Neben dem NHS gibt es Systeme der freiwilligen Versicherung, die vor allem auf die Erbringung zusätzlicher medizinischer Dienstleistungen, die Deckung von Selbstzahlungen und die Umgehung von Wartelisten abzielen. Privatversicherte zahlen über die Einkommensteuer weiterhin für den NHS.

Da es ist nicht möglich ist, aus dem NHS-System auszuscheiden, kommt es teilweise zu Überschneidungen mit den Dienstleistungen der privaten Krankenversicherungen. Insgesamt bietet der NHS etwa 7,3 Millionen Menschen, einschließlich der Familienangehörigen der Versicherten, medizinische Versorgung; das entspricht ungefähr 12,2 % der Bevölkerung.85

Die private Krankenversicherung wird zum Teil von Gegenseitigkeitsgesellschaften bereitgestellt. Im Jahr 2007 gab es im Vereinigten Königreich acht auf dem Gegenseitigkeitsprinzip beruhende und zehn kommerzielle private Krankenkassen. Die wichtigsten Merkmale einer typischen Krankenkasse auf Gegenseitigkeit bestehen darin, dass sie 1) vor Ort angesiedelt ist und oftmals eine starke und mitunter ehrwürdige

örtliche Tradition aufweist; 2) in der Regel von örtlichen Würdenträgern unterstützt wird und 3) mit einer Stiftung des öffentlichen Rechts verbunden ist, an die die Kasse

gemäß einer entsprechenden Vereinbarung oder im Rahmen von Schenkungen Zahlungen leistet und die hauptsächlich im Bereich der Gesundheitsfürsorge und der sozialen Fürsorge tätige örtliche Wohltätigkeitsorganisationen unterstützt.86

Ein anderes Beispiel ist Italien, wo die Gegenseitigkeitsgesellschaften nach den Reformen in den 1970er Jahren, im deren Rahmen ein nationales Gesundheitssystem geschaffen wurde, an Bedeutung verloren haben. Das nationale Gesundheitssystem stellte eine universelle Krankenversicherung für alle Italiener bereit und übernahm Dienstleistungen, die zuvor Gegenseitigkeitsgesellschaften erbracht hatten (siehe unten).

Italien: nachlassende Rolle der Gegenseitigkeitsgesellschaften bei der Krankenversicherung

Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert war das System der sozialen Sicherheit in Italien stark fragmentiert. Die entsprechenden Dienste wurden teilweise vom nationalen Wohlfahrtsstaat erbracht, aber auch die katholische Kirche, Städte und Gemeinden sowie Arbeitgeber stellten in gewissem Umfang Sozialschutzsysteme bereit.

Im Jahr 1878 gab es etwa 2000 Gegenseitigkeitsgesellschaften mit annähernd 330 000 Mitgliedern. Im 20. Jahrhundert entwickelten sich die Krankenkassen zu großen Institutionen, die über eigene Einrichtungen verfügten und Patienten Behandlungskosten erstatteten.

In der Zeit des Faschismus wurden die Krankenkassen schrittweise in das gesetzliche Gesundheitssystem integriert. Verschiedene Gruppen von Arbeitnehmern wurden automatisch bei getrennten Krankenkassen angemeldet, die ihre Behandlungskosten

84 AIM, Health system protection today: structures and trends in 13 countries, 2008. 85 Laing and Buisson’s Healthcare Market Review 2007-8, www.laingbuisson.co.uk. 86 Siehe: http://www.hmrc.gov.uk/manuals/gimanual/GIM9120.htm

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erstatteten. In den 1970er Jahren war fast die gesamte Bevölkerung bei Gegenseitigkeitsgesellschaften versichert. Zu den 7 % der Bevölkerung, die über keinerlei Versicherungsschutz verfügten, zählten die Arbeitslosen.

Mit der Zeit wurde jedoch deutlich, dass das Gesundheitssystem unter schwerwiegenden strukturellen Problemen wie organisatorischer Zersplitterung, Abschottung zwischen den verschiedenen Ebenen der Gesundheitsversorgung, doppelter Erbringung von Leistungen, Bürokratisierung und eines raschen Anstiegs der Ausgaben sowie unter starken Ungleichgewichten litt. Darüber hinaus führten die großen Defizite der Krankenkassen zu einer finanziellen Krise, die die Regierung zum Einschreiten veranlasste. In den Jahren 1974 bzw. 1975 wurde die Verantwortung für den Betrieb von Krankenhäusern mit den Gesetzen Nr. 386/1974 und 382/1975 den Regionen übertragen. Kurze Zeit später wurden die Krankenkassen abgeschafft und der staatliche Gesundheitsdienst (Servizio Sanitario Nazionale: SSN) gegründet.87

Der SSN führte die universelle Krankenversicherung für alle italienischen Bürger ein und beruhte auf den Grundsätzen der Menschenwürde, des Bedarfs an Gesundheitsdienstleistungen und der Solidarität.

Das Ziel bestand darin, einen gleichberechtigten Zugang für alle zu einer Gesundheitsversorgung von gleichwertigem Niveau unabhängig vom Einkommen oder vom geografischen Standort zu gewährleisten, Programme zur Krankheitsvorsorge zu entwickeln, die Ungleichheit bei der geografischen Verteilung der Gesundheitsversorgung zu verringern, den Anstieg der Gesundheitsausgaben zu kontrollieren und die demokratische öffentliche Kontrolle über die Verwaltung des gesamten Systems zu gewährleisten.88

In den 1990er Jahren wurde die Zuständigkeit für die Verwaltung des SSN auf die regionale Ebene übertragen. Die steuerliche Dezentralisierung, die 1997 mit der Einführung einer Finanzierung aus regional erhobenen Steuergeldern begann, führte zu Ungleichgewichten zwischen den Regionen bei der Absicherung. Um die regionalen Unterschiede auszugleichen, wurde ein nationaler Gesundheitsfonds geschaffen. Dieser Fonds, über den die Zentralregierung die Finanzmittel für die Gesundheitsversorgung an die Regionen verteilte, wurde im Jahr 2000 abgeschafft und durch verschiedene regionale Steuern ersetzt.89

Die Absicherung durch den SSN ist im Allgemeinen qualitativ hochwertig und allen italienischen Bürgern zugänglich; für einige Bevölkerungsgruppen mit geringem Einkommen ist der Versicherungsschutz kostenlos. Allerdings bestehen regionale

87 Siehe: Lo Scalzo A, Donatini A, Orzella L, Cicchetti A, Profili S, Maresso A. Italy: Health system review. Health Systems in Transition, 2009; Band 11, Nr. 6, S. 1-216. 88 Siehe: Lo Scalzo A, Donatini A, Orzella L, Cicchetti A, Profili S, Maresso A. Italy: Health system review. Health Systems in Transition, 2009; Band 11, Nr. 6, S. 1-216. 89 Gesetzesdekret Nr. 56/2000. 90 Daten der OECD, 2008, aus: Lo Scalzo A, Donatini A, Orzella L, Cicchetti A, Profili S, Maresso A. Italy: Health system review. Health Systems in Transition, 2009; Band 11, Nr. 6, S. 1-216. 91 Archambault, Edith, Mutual organizations, mutual societies, in: International Encyclopedia of Civil Society, Anheier H. und Toepler S. (Herausg.), 2009. 92 Siehe: Thomson, Sarah, Elias Mossialos, Private health insurance in the European Union, Final report prepared for the European Commission, Directorate General for Employment, Social Affairs and Equal Opportunities, 2009. 93 Lo Scalzo A, Donatini A, Orzella L, Cicchetti A, Profili S, Maresso A. Italy: Health system review. Health Systems in Transition, 2009; Band 11, Nr. 6, S. 1-216. 94 Siehe: ANIA (Associazione Nazionale Imprese Assicuratrici), Italian Insurance 2009-2010, 2010.

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Unterschiede, und ein immer wiederkehrendes Thema betrifft die Wartezeiten beim Zugang zu Gesundheitsleistungen.

Die ergänzende Krankenversicherung bietet die Möglichkeit, Wartelisten zu umgehen und die Kosten für Selbstzahlungen zu decken. Insgesamt werden 76 % der Gesundheitsausgaben durch Steuern, 19 % durch Selbstzahlungen und nur 2 % über die freiwillige Krankenversicherung finanziert (Daten von 2006).90 Dies ändert sich seit einigen Jahren mit der Einführung von immer mehr Zuzahlungen, z. B. für Arzneimittel. Derzeit haben weniger als 20 % der italienischen Bevölkerung eine ergänzende Krankenversicherung.91

Der Markt für ergänzende Krankenversicherungen unterteilt sich in zwei Gruppen92:

betriebliche Versicherungen (Unternehmen bieten ihren Mitarbeitern und oftmals auch deren Familien Versicherungsschutz über eine kollektive Versicherung), die von gewinnorientierten Organisationen, Gesellschaften und berufsständischen Gruppen (Casse di Categoria) angeboten werden;

nicht betriebliche Versicherungen (Einzelpersonen schließen Versicherungen für sich und ihre Familie ab), die von gewinnorientierten Gesellschaften und gemeinnützigen Organisationen auf Gegenseitigkeit (Società di Mutuo Soccorso) angeboten werden können, die jedoch nur eine sehr begrenzte Rolle spielen.

Im Allgemeinen erheben gewinnorientierte Gesellschaften höhere Beiträge für die von ihnen verkauften Einzelverträge als Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, und die Mitglieder dieser Vereine haben ein eher geringeres Einkommen als die Versicherungsnehmer von kommerziellen Versicherern.93 Die betrieblichen Versicherungen bzw. die so genannten Zusatzkrankenkassen können nur von gewinnorientierten Gesellschaften verwaltet werden. Die Krankenkassen speisen sich aus Arbeitgeberbeiträgen und sind mit einigen steuerlichen Vorteilen verbunden.94

In neun Mitgliedstaaten (überwiegend neue Mitgliedstaaten) sind Gegenseitigkeitsvereine nicht im Bereich der Krankenversicherung tätig, weil es sie entweder nicht gibt oder weil sie sich auf andere Versicherungsmärkte konzentrieren. In diesen Ländern wird die freiwillige Krankenversicherung in erster Linie von kommerziellen Anbietern bereitgestellt. So ist zum Beispiel nach dem Versicherungsgesetz der Slowakei von 2008 für slowakische Versicherungsgesellschaften die Rechtsform der Kapitalgesellschaft bzw. der Europäischen Gesellschaften vorgeschrieben. Somit gehören Personen, die Mitglied eines Gegenseitigkeitsvereins sind, entweder einem großen ausländischen Gegenseitigkeitsverein oder einer „Hybridorganisation“ an, der bzw. die auf dem slowakischen Markt tätig ist.95

3.2. Gegenseitigkeitsgesellschaften im Bereich der privaten Rentenversicherung

In der Regel sind Gegenseitigkeitsgesellschaften im Bereich der privaten Rentenversicherung als Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge oder als Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit tätig:

Ungarn kann, was Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge betrifft, als Beispiel dienen. Es bedarf dort zur Gründung von freiwilligen Pensionsfonds

95 AMICE, The market share of Mutual and Cooperative Insurance in Europe 2008, 2009.

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- die als Stiftungen tätig sind - einer Mindestzahl von 15 Personen. Die Fonds sind Eigentum der Mitglieder.96 Ein weiteres Beispiel findet sich in Griechenland, wo von Gewerkschaften gegründete Gesellschaften für gegenseitige Hilfe Altersversorgungsleistungen (und Leistungen bei Krankheit) erbringen, die aus den Beiträgen der Mitglieder und (sofern dies tarifvertraglich festgelegt ist) Arbeitgeberbeiträgen finanziert werden. Die Mitgliedschaft in diesen Vereinen ist freiwillig.97 In Spanien konzentrieren sich die Gegenseitigkeitsgesellschaften auf die private Altersversorgung und halten einen erheblichen Marktanteil.98 In einigen Fällen bieten Gegenseitigkeitsgesellschaften neben der Zahlung von Altersrenten zusätzliche Dienstleistungen, einschließlich speziell auf ältere Menschen abgestimmter Dienstleistungen.

Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit sind auch im Bereich der Rentenversicherung tätig und sind in diesem Zusammenhang in den einzelnen Mitgliedstaaten von unterschiedlich großer Bedeutung. Bei den dänischen und deutschen Pensionsfonds handelt es sich zum Beispiel um Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, und in Finnland gibt es einen großen privaten Rentenversicherungssektor, der von Versicherern auf Gegenseitigkeit beherrscht wird. In den neuen Mitgliedstaaten, wo die Versicherung auf Gegenseitigkeit weniger verbreitet ist, findet sich in diesem Bereich kaum eine Gegenseitigkeitsgesellschaft.

96 OECD, Insurance and private pensions compendium for emerging economies; private pensions: selected country profiles, 2001. 97 Amitsis, Gabriel, Current Policies and Reform Plans for the Greek Benefits Framework, Benefits & Compensation International, Band 31, Nr. 7, März 2002. 98 Anlässlich ihrer Teilnahme an der 2003 von der Europäischen Kommission durchgeführten Konsultation über ein Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft gab die CNEPS (Confederación Española de Mutualidades) an, dass sich der Anteil der spanischen Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge am Markt für private Rentenversicherungen auf 30 % beläuft.

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In Polen beispielsweise sind Rentenprogramme für Beschäftigte gesetzlich zulässig, aber seit 2005 wurde kein Rentenprogramm als Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit eingetragen. In den meisten Mitgliedstaaten werden Privatrenten in Verbindung mit Lebensversicherungen bereitgestellt.

3.3. Schlussbemerkungen

Generell besteht ein eindeutiger Zusammenhang zwischen den Merkmalen des Systems der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten und den Tätigkeiten, die die Gegenseitigkeitsgesellschaften in den betreffenden Ländern ausüben.

Betrachtet man die Faktoren, die dazu beitragen, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften in verschiedenen Mitgliedstaaten eine wichtige Rolle für die soziale Sicherheit spielen, indem man die Ergebnisse dieses Kapitels und des vorangegangenen Kapitels unseres Berichts vergleicht, so lassen sich folgende Bedingungen herausarbeiten:

1. die mangelnde öffentliche/staatliche Bereitstellung der erforderlichen Leistungen: ein begrenztes gesetzliches System der sozialen Sicherheit, das privaten Anbietern Raum lässt, zusätzliche Leistungen anzubieten;

2. eine lange und kontinuierliche Tradition der Gegenseitigkeit: Die Gegen-seitigkeitsgesellschaften sind in der Kultur/Gesellschaft etabliert; die Menschen sind mit der Idee der Gegenseitigkeit vertraut und können Körperschaften/Gesellschaften auf Gegenseitigkeit von anderen Organisationen unterscheiden;

3. eine Sonderstellung der Gegenseitigkeitsgesellschaften in den Rechts-vorschriften: Es reicht nicht aus, lediglich Rechtsvorschriften festzulegen, die die Gründung von Gegenseitigkeitsgesellschaften gestatten; vielmehr müssen weitere Bestimmungen - zum Beispiel zu finanziellen Fragen oder zum Verbraucherschutz - eingeführt werden, die den spezifischen Merkmalen dieser Unternehmensform Rechnung tragen. Darüber hinaus kann es auch sein, dass die Rechtsvorschriften zu den Tätigkeiten, die Gegenseitigkeitsgesellschaften ausführen dürfen, zu restriktiv sind;

4. eine Vorzugsbehandlung für Organisationen, die Dienstleistungen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit erbringen: Wenn Gegenseitigkeitsgesellschaften Sozialdienstleistungen oder andere Dienstleistungen von allgemeinem Interesse erbringen, so können sie unter günstigen Rahmenbedingungen - wie Präferenzsteuerregelungen oder weniger strikte Solvabilitätsvorschriften - arbeiten.

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4. GEGENSEITIGKEITSGESELLSCHAFTEN IM EU-BINNENMARKT

DIE WICHTIGSTEN ERKENNTNISSE

Generell gelten die EU-Binnenmarktvorschriften für Gegenseitigkeitsgesellschaften ebenso wie für alle anderen Wirtschaftsteilnehmer. Der Versicherungssektor wird durch Richtlinien reguliert, die einen integrierten Markt auf europäischer Ebene schaffen.

Die so genannte Solvabilität-II-Richtlinie verlangt von Finanzdienstleistungsanbietern höhere Solvabilitätsspannen und eine Risikodifferenzierung. Da kleinere und mittlere Gegenseitigkeitsgesellschaften oftmals auf ein bestimmtes Risiko ausgerichtet sind, eine homogene Gruppe absichern und größere Schwierigkeiten bei der Beschaffung von (Risiko-)Kapital haben, kann ihnen die Einhaltung der Solvabilität-II-Vorschriften schwerer fallen und möglicherweise erhebliche Auswirkungen für sie haben, die schließlich sogar zu ihrer Auflösung führen können.

In einigen Fällen werden die Tätigkeiten von Gegenseitigkeitsgesellschaften als Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse eingestuft; in diesem Zusammenhang muss eine wichtige Unterscheidung getroffen werden zwischen wirtschaftlichen Tätigkeiten und Tätigkeiten, die als nichtwirtschaftlich betrachtet werden können. Wird eine Dienstleistung von allgemeinem Interesse als wirtschaftliche Tätigkeit eingestuft, so fällt sie unter die EU-Binnenmarkt- und Wettbewerbsvorschriften, wenngleich mit einigen möglichen Ausnahmen. Dagegen sind nichtwirtschaftliche Dienstleistungen vom Anwendungsbereich des Vertrags ausgenommen. Mehrere Fälle wurden durch den Europäischen Gerichtshof entschieden. Gegenseitigkeitsgesellschaften erbringen Sozialdienstleistungen in beiden Bereichen, sodass es mitunter schwierig ist festzustellen, ob die betreffenden Dienstleistungen unter die EU-Vorschriften fallen oder nicht.

Die Meinungen zum Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft gehen auseinander. Es gibt viele Argumente für ein solches Statut, aber es bestehen auch einige Zweifel. Wenn Initiativen zur Schaffung eines Statuts der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft ergriffen werden, dann muss die Frage der Gebrauchsfähigkeit definitiv auf der Tagesordnung stehen.

Gegenseitigkeitsgesellschaften werden als „Gesellschaften“ gemäß der Definition des AEUV angesehen. Somit genießen sie die Rechte im Zusammenhang mit der Niederlassungsfreiheit und der Freiheit zur Erbringung von Dienstleistungen in der gesamten Europäischen Union und unterliegen den EU-Rechtsvorschriften ebenso wie alle anderen Wirtschaftsteilnehmer.

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Darüber hinaus sind Gegenseitigkeitsgesellschaften in Märkten tätig, die in hohem Maße durch sektorspezifische Rechtsvorschriften reguliert sind (insbesondere der Versicherungsmarkt). Gegenseitigkeitsgesellschaften spielen auch eine wichtige Rolle im sozialen Bereich und im Gesundheitswesen, und einige ihrer Tätigkeiten fallen unter die Definition der „Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse“ wirtschaftlicher oder nichtwirtschaftlicher Art und können somit ganz oder teilweise vom Geltungsbereich der EU-Binnenmarkt- und Wettbewerbsvorschriften ausgenommen werden.

In diesem Kapitel werden die Gemeinschaftsvorschriften erörtert, die speziell für Gegenseitigkeitsunternehmen gelten, die Märkte regulieren, auf denen diese tätig sind, und ihre Arbeitsweise betreffen. In Abschnitt 4.1 werden die Binnenmarktrichtlinien für Versicherungen in Bezug auf Gegenseitigkeitsgesellschaften eingehender beschrieben. Anschließend wird in Abschnitt 4.2 das EU-Recht zu „Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse“ erörtert. Im Anschluss daran folgen eine detailliertere Bewertung der Initiative zur Schaffung eines Statuts der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft (Abschnitt 4.3) sowie einige Schlussbemerkungen (Abschnitt 4.4).

4.1. EU-Rechtsvorschriften zu Versicherungsdienstleistungen und Gegenseitigkeitsgesellschaften

In diesem Abschnitt werden drei Arten von Richtlinien erörtert, die sogenannten Richtlinien „Lebensversicherung“, „Schadenversicherung“ und die unlängst verabschiedete Richtlinie über die Solvabilitätsanforderungen für Versicherungsunternehmen, bekannt als „Solvabilität II“.

Die zwei erstgenannten Kategorien von Versicherungsrichtlinien zielen darauf ab, die Regeln festzulegen, nach denen innerhalb der Europäischen Union als einem integrierten Markt Versicherungsdienstleistungen erbracht werden können.99 Mit der „Solvabilität-II-Richtlinie“, die noch nicht in Kraft ist, sollen sehr wichtige Änderungen im EU-Versicherungsmarkt eingeführt werden, die erhebliche Auswirkungen auf Gegenseitigkeitsgesellschaften haben werden.

4.1.1. Lebensversicherung

In einer Reihe von Richtlinien wurden die Regeln festgelegt, nach denen Dienstleistungen im Bereich der Lebensversicherung erbracht werden können. In der Vergangenheit gab es drei Richtlinien über die Lebensversicherung100, die dann mit der Richtlinie 2002/83/EG in einem kohärenten Rechtstext konsolidiert wurden.101

99 Bikker, Jacob A., Janko Gorter, Restructuring of the Dutch nonlife insurance industry: consolidation, organizational form, and focus, in: The Journal of Risk and Insurance, 2011, Band 78, Nr. 1, 163-184. 100 1) Die erste Koordinierungsrichtlinie über die Direktversicherung (Lebensversicherung) (Richtlinie 79/267/EWG) wurde 1979 verabschiedet, um die für die tatsächliche Wahrnehmung des Niederlassungsrechts im Zusammenhang mit Versicherungstätigkeiten erforderlichen Vorschriften festzulegen. 2) Die zweite Koordinierungsrichtlinie über die Lebensversicherung (Richtlinie 90/619/EWG) zielte darauf ab, die tatsächliche Ausübung des Rechts auf Erbringung von Lebensversicherungsleistungen zu erleichtern. 3) Eine Dritte Koordinierungsrichtlinie über die Lebensversicherung (Richtlinie 92/96/EWG) wurde 1992 vom Rat verabschiedet, um den Binnenmarkt für Versicherungstätigkeiten zu vollenden, ausgehend von den Grundsätzen einer einheitlichen Zulassung und der Aufsicht über die Tätigkeit eines Versicherungsunternehmens durch die Behörden des Mitgliedstaats, in dem das Unternehmen seinen Hauptsitz hat. 101 ABl. L 345 vom 19.12.2002, Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen (Neufassung).

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Die Richtlinie 2002/83/EC betrifft „die Aufnahme und Ausübung der selbständigen Tätigkeit der Direktversicherung102 durch Versicherungsunternehmen, die in einem Mitgliedstaat niedergelassen sind oder planen, sich dort niederzulassen“.

Die Erbringung von Sicherungsdienstleistungen hängt von einer einheitlichen Zulassung ab, die von den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats erteilt wird, in dem das Versicherungsunternehmen seinen Sitz hat. Diese Zulassung ist überall in der Europäischen Union gültig und ermöglicht es einem Versicherungsunternehmen, im Rahmen der Niederlassungsfreiheit oder des freien Dienstleistungsverkehrs in allen Mitgliedstaaten Geschäfte zu betreiben. Für die aufsichtsrechtliche Kontrolle gilt der Grundsatz der Aufsicht durch den Herkunftsmitgliedstaat.

Damit ein Betreiber die Zulassung für die Erbringung von Lebensversicherungsdienstleistungen erhält, müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein. Erstens muss er eine der im Herkunftsmitgliedstaat geforderten Rechtsformen aufweisen103, zweitens muss er über einen Mindestgarantiefonds verfügen104 und drittens die von den zuständigen Behörden geforderten Angaben vorlegen.

102 Folgende Tätigkeiten fallen in den Anwendungsbereich der Richtlinie (Artikel 2): 1) folgende Versicherungen, falls sie sich aus einem Vertrag ergeben: (a) die Lebensversicherung, d. h. insbesondere die Versicherung auf den Erlebensfall, die Versicherung auf den Todesfall, die gemischte Versicherung, die Lebensversicherung mit Prämienrückgewähr sowie die Heirats- und Geburtenversicherung; (b) die Rentenversicherung; (c) die von den Lebensversicherungsunternehmen betriebenen Zusatzversicherungen zur Lebensversicherung, d. h. insbesondere die Versicherung gegen Körperverletzung einschließlich der Berufsunfähigkeit, die Versicherung gegen Tod infolge Unfalls, die Versicherung gegen Invalidität infolge Unfalls und Krankheit, sofern diese Versicherungsarten zusätzlich zur Lebensversicherung abgeschlossen werden; (d) die in Irland und im Vereinigten Königreich betriebene so genannte „permanent health insurance“ (unwiderrufliche langfristige Krankenversicherung); 2) folgende Geschäfte, falls sie sich aus einem Vertrag ergeben und soweit sie der Kontrolle durch die für die Aufsicht über die Privatversicherungen zuständigen Verwaltungsbehörden unterliegen: (a) Tontinengeschäfte, die die Bildung von Gemeinschaften umfassen, in denen sich Teilhaber vereinigen, um ihre Beiträge gemeinsam zu kapitalisieren und das so gebildete Vermögen entweder auf die Überlebenden oder auf die Rechtsnachfolger der Verstorbenen zu verteilen; (b) Kapitalisierungsgeschäfte, denen ein versicherungsmathematisches Verfahren zugrunde liegt, wobei gegen im Voraus festgesetzte einmalige oder regelmäßig wiederkehrende Zahlungen bestimmte Verpflichtungen übernommen werden, deren Dauer und Höhe genau festgelegt sind; (c) Geschäfte der Verwaltung von Pensionsfonds, d. h. Geschäfte, die für das betreffende Unternehmen in der Verwaltung der Anlagen und insbesondere der Vermögenswerte bestehen, die die Reserven der Einrichtungen darstellen, welche die Leistungen im Todes- oder Erlebensfall oder bei Arbeitseinstellung oder Minderung der Erwerbstätigkeit erbringen; (d) unter Buchstabe c) genannte Geschäfte, wenn sie mit einer Versicherungsgarantie für die Erhaltung des Kapitals oder einer Minimalverzinsung verbunden sind; (e) Geschäfte, die von Versicherungsunternehmen im Sinne des Buches IV Titel 4 Kapitel 1 des französischen „Code des assurances“ (Versicherungsordnung) durchgeführt werden. 3) die im Sozialversicherungsrecht bezeichneten oder vorgesehenen Geschäfte, die von der Lebensdauer abhängen, wenn sie nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats von Versicherungsunternehmen auf deren eigenes Risiko betrieben oder verwaltet werden. 103 In dieser Fußnote sind die Formen genannt, die die Versicherungsunternehmen in den einzelnen Mitgliedstaaten annehmen. Die Bezeichnungen für Gegenseitigkeitsgesellschaften sind unterstrichen. - Im Königreich Belgien: „société anonyme“/“naamloze vennootschap“, „société en commandite par actions“/“commanditaire vennootschap op aandelen“, „association d'assurance mutuelle“/“onderlinge verzekeringsvereniging“, „société coopérative“/“coöperatieve vennootschap“; in der Tschechischen Republik: „akciová společnost“, „družstvo“; - im Königreich Dänemark: „aktieselskaber“, „gensidige selskaber“, „pensionskasser omfattet af lov om forsikringsvirksomhed (tværgående pensionskasser)“; - in der Bundesrepublik Deutschland: „Aktiengesellschaft“, „Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit“, „öffentlich-rechtliches Wettbewerbsversicherungsunternehmen“; - in der Republik Estland: „aktsiaselts“ ; - in der Französischen Republik: „société anonyme“, „société d'assurance mutuelle“, „institution de prévoyance régie par le code de la sécurité sociale“, „institution de prévoyance régie par le code rural“,

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Darüber hinaus sieht die Richtlinie die notwendige Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden des Herkunftsmitgliedstaats und den zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten vor, in denen ein Unternehmen Geschäfte betreibt.

Die Tätigkeiten einiger Gegenseitigkeitsgesellschaften sind ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen105, d. h.:

1) „die Geschäfte der für Versorgungs- und Unterstützungszwecke geschaffenen Einrichtungen, die unterschiedliche Leistungen nach Maßgabe der verfügbaren Mittel erbringen und die die Höhe der Mitgliedsbeiträge pauschal festsetzen“ (eine einheitliche Festgebühr für eine Dienstleistung);

2) „Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, die zugleich folgende Bedingungen erfüllen:

die Satzung sieht die Möglichkeit vor, Beiträge nachzufordern, die Leistungen herabzusetzen oder die Hilfe anderer Personen in Anspruch zu nehmen, die eine diesbezügliche Verpflichtung eingegangen sind;

die jährlichen Beitragseinnahmen für die von dieser Richtlinie erfassten Tätigkeiten übersteigen in drei aufeinander folgenden Jahren nicht den Betrag von 5 Mio. EUR.“

In Griechenland sind Gegenseitigkeitsgesellschaften von Lebensversicherungstätigkeiten ausgeschlossen.106 In anderen Ländern, beispielsweise in Bulgarien, ist die Tätigkeit der Gegenseitigkeitsgesellschaft auf Lebensversicherungen beschränkt.

„mutuelles régies par le code de la mutualité“; - in Irland: „incorporated companies limited by shares or by guarantee or unlimited“, „societies registered under the Industrial and Provident Societies Acts, societies registered under the Friendly Societies Acts“; - in der Italienischen Republik: „società per azioni“, „società cooperativa“, „mutua di assicurazione“; - in der Republik Zypern: „Εταιρεία περιορισμένης ευθύνης με μετοχές ή εταιρεία περιορισμένης ευθύνης με εγγύηση“; - in der Republik Lettland: „apdrošināšanas akciju sabiedrība“, „savstarpējās apdrošināšanas kooperatīvā biedrība“; - in der Republik Litauen: „akcinės bendrovės“, „u˛darosios u˛daroji akcinės bendrovės“; - im Großherzogtum Luxemburg: „société anonyme“, „société en commandite par actions“, „association d'assurance mutuelles“, „société coopérative“; - in der Republik Ungarn: „biztosító részvénytársaság“, „biztosító szövetkezet“, „biztosító egyesület“, „külföldi székhelyű biztosító magyarországi fióktelepe“; - in der Republik Malta: „kumpanija pubblika“, „kumpanija privata“, „fergha“, „Korp ta' l- Assikurazzjoni Rikonnoxxut“; - im Königreich der Niederlande: „naamloze vennootschap“, „onderlinge waarborgmaatschappij“; - im Vereinigten Königreich: „incorporated companies limited by shares or by guarantee or unlimited“, „societies registered under the Industrial and Provident Societies Acts“, „societies registered or incorporated under the Friendly Societies Acts“, „the association of underwriters known as Lloyd's“; - in der Griechischen Republik: „ανώνυμη εταιρία“, - im Königreich Spanien: „sociedad anónima“, „sociedad mutua“, „sociedad cooperativa“; - in der Portugiesischen Republik: „sociedade anónima“, „mútua de seguros“; - in der Republik Polen: „spółka akcyjna“, „towarzystwo ubezpieczeń wzajemnych“; - in der Republik Österreich: „Aktiengesellschaft“, „Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit“; - in der Republik Finnland: „keskinäinen vakuutusyhtiö“/“ömsesidigt försäkringsbolag“, „vakuutusosakeyhtiö“/ „försäkringsaktiebolag“, „vakuutusyhdistys/försäkringsförening“; - im Schwedischen Königreich: „försäkringsaktiebolag“, „ömsesidiga försäkringsbolag“, „understödsföreningar“; - in der Republik Slowenien: „delniška družba“, „družba za vzajemno zavarovanje“;- in der Slowakischen Republik: „akciová spoločnosť“; - in Rumänien: „societăţi pe acţiuni“, „societăţi mutuale“; - in der Republik Bulgarien: „акционерно дружество“, „взаимозастрахователна кооперация“. Das Versicherungsunternehmen kann ferner die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft annehmen, wenn diese geschaffen wird. 104 In Artikel 29 heißt es: „Jeder Mitgliedstaat kann die Ermäßigung des Mindestgarantiefonds bei Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit, bei Versicherungsgesellschaften, die nach dem Gegenseitigkeitsprinzip arbeiten, und bei Tontinengesellschaften um ein Viertel vorsehen.“ 105 Siehe: ABl. L 345 vom 19.12.2002, Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen, Artikel 3. 106 Siehe: Law Decree 400/1970 (Government Gazette 10/Α/17.1.1970) „Regarding Private Insurance Undertakings“.

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Nach dem bulgarischen Versicherungsgesetzbuch dürfen Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit ausschließlich Lebensversicherungen einschließlich Rentenversicherungen anbieten.107

4.1.2. Schadenversicherung

Ähnlich wie beim Lebensversicherungssektor zielen die EU-Richtlinien über Schadenversicherungen darauf ab, ein einheitliches Zulassungsverfahren einzuführen, nach dem Versicherungsunternehmen mit Sitz in einem EU-Mitgliedstaat, denen es nach nationalem Recht gestattet ist, Schadenversicherungsdienstleistungen zu erbringen, in anderen Mitgliedstaaten Zweigniederlassungen errichten und Geschäfte tätigen können.

Während die erste Generation von Versicherungsrichtlinien lediglich den europäischen Markt für Versicherungsdienstleistungen zur Deckung großer Risiken - wie im Bereich der Luftfahrt- und Seetransportversicherung - öffnete, wurde mit der dritten Generation108 ein Binnenmarkt für die Versicherung aller Arten von Risiken geschaffen, die in den Geltungsbereich der Direktversicherung mit Ausnahme der Lebensversicherung109 fallen, einschließlich gesundheitsbezogener Risiken.110

Die Rechtsformen, die die Unternehmen annehmen müssen, um die Zulassung für die Erbringung von Schadenversicherungsdienstleistungen zu erhalten, sind in den meisten Mitgliedstaaten dieselben, die auch in den Lebensversicherungsrichtlinien vorgesehen sind.111

107 Siehe: Republik Bulgarien, Versicherungsgesetzbuch, Amtsblatt Nr. 103 vom 23.12.2005, letzte Änderung: Amtsblatt Nr. 109 vom 20.12.2007. 108 Richtlinie 73/239/EWR wurde durch die Richtlinie 88/357/EWG geändert, in der die notwendigen Regelungen zur Gewährleistung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs im Bereich der Sachversicherung festgelegt wurden. Eine dritte Generation von Richtlinien über Sachversicherungen wurde 1992 mit der Richtlinie 92/49/EWG auf den Weg gebracht. Mit der Richtlinie 2002/13/EG wurde die Richtlinie 73/239/EWG hinsichtlich der Bestimmungen über die Solvabilitätsspanne für Schadensversicherungsunternehmen geändert. Siehe: ABl. L 228 vom 16.8.1973, Erste Richtlinie 73/239/EWG des Rates vom 24. Juli 1973 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung); ABl. L 172 vom 4.7.1988, Zweite Richtlinie 88/357/EWG des Rates vom 22. Juni 1988 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 73/239/EWG; ABl. L 228 vom 11.8.1992, Richtlinie 92/49/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG (Dritte Richtlinie Schadensversicherung) und ABl. L 77 vom 20.3.2002, Richtlinie 2002/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. März 2002 zur Änderung der Richtlinie 73/239/EWG des Rates hinsichtlich der Bestimmungen über die Solvabilitätsspanne für Schadensversicherungsunternehmen. 109 Die Schadensversicherungsrichtlinien erstrecken sich auf folgende Versicherungszweige: Unfall (einschließlich Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten), Krankheit, Landfahrzeug-Kasko, Schienenfahrzeug-Kasko, Luftfahrzeug-Kasko, See-, Binnensee- und Flussschifffahrts-Kasko, Transportgüter, Feuer und Elementarschäden, Sonstige Sachschäden, Haftpflicht für Landfahrzeuge mit eigenem Antrieb, Luftfahrzeughaftpflicht, See-, Binnensee- und Flussschiffahrtshaftpflicht, allgemeine Haftpflicht, Kredit, Kaution, verschiedene finanzielle Verluste, Rechtsschutz, Beistandsleistungen für Reisende. 110 Thomson, Sarah, Elias Mossialos, Private health insurance in the European Union, Final report prepared for the European Commission, Directorate General for Employment, Social Affairs and Equal Opportunities, 2009. 111 In dieser Fußnote sind die Formen genannt, die die Versicherungsunternehmen in den einzelnen Mitgliedstaaten annehmen. Die Bezeichnungen für Gegenseitigkeitsgesellschaften sind unterstrichen. - Im Königreich Belgien: „société anonyme“/“naamloze vennootschap“, „société en commandite par actions“/“commanditaire vennootschap op aandelen“, „association d'assurance mutuelle“/“onderlinge verzekeringsvereniging“, „société coopérative“/“coöperatieve vennootschap“; - im Königreich Dänemark:

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Im Allgemeinen fallen sehr kleine Unternehmen, die in Nischenmärkten tätig sind, nicht in den Geltungsbereich der Schadenversicherungsrichtlinien. Unter bestimmten Umständen sind Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit vom Anwendungsbereich der Richtlinien ausgenommen. Diese Bedingungen haben mit der Art und Weise, in der Beiträge nachgefordert werden, mit der Größe der Gegenseitigkeitsvereine, den Arten von Tätigkeiten und den Regelungen für die Rückversicherung zu tun.112

Wie bei der Lebensversicherung sind die Geschäfte der für Versorgungs- und Unterstützungszwecke geschaffenen Institutionen, deren Leistungen sich nach den verfügbaren Mitteln richten, während die Höhe der Mitgliedsbeiträge pauschal festgesetzt wird, vom Anwendungsbereich der Schadenversicherungsrichtlinien ausgenommen.113

„aktieselskaber“, „gensidige selskaber“; — in der Bundesrepublik Deutschland: „Aktiengesellschaft“, „Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit“, „öffentlich-rechtliches Wettbewerbsversicherungsunternehmen“; - in der Französischen Republik: „société anonyme“, „société d'assurance mutuelle“, „institution de prévoyance régie par le code de la sécurité sociale“, „institution de prévoyance régie par le code rural“, „mutuelles régies par le code de la mutualité“; in Irland: „incorporated companies limited by shares or by guarantee or unlimited“, — in der Italienischen Republik: „società per azioni“, „società cooperativa“, „mutua di assicurazione“; - im Großherzogtum Luxemburg: „société anonyme“, „société en commandite par actions“, „association d'assurance mutuelles“, „société coopérative“; — im Königreich der Niederlande: „naamloze vennootschap“, „onderlinge waarborgmaatschappij“; im Vereinigten Königreich: „incorporated companies limited by shares or by guarantee or unlimited“, „societies registered under the Industrial and Provident Societies Acts“, „societies registered under the Friendly Societies Acts“, the association of underwriters known as Lloyd's; in der Griechischen Republik: „ανώνυμη εταιρία“, „λληλασφαλιστικός συνεταιρισμός“; - im Königreich Spanien: „sociedad anónima“, „sociedad mutua“, „sociedad cooperativa“; - in der Portugiesischen Republik: „sociedade anónima“, „mútua de seguros“; in der Republik Österreich: ‘Aktiengesellschaft’, „Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit“; - in der Republik Finnland: „keskinäinen vakuutusyhtiö —ömsesidigt försäkringsbolag“ - ,“vakuutusosakeyhtiö —försäkringsaktiebolag“ - „vakuutusyhdistys - örsäkringsförening“; - im Königreich Schweden: „försäkringsaktiebolag“, „ömsesidiga försäkringsbolag“, „understödsföreningar“; - in der Tschechischen Republik: „akciová společnost“, „družstvo“; - in der Republik Estland: „aktsiaselts“; - in der Republik Zypern: „Εταιρεία περιορισμένης ευθύνης με μετοχές ή εταιρεία περιορισμένης ευθύνης χωρίς μετοχικό κεφάλαιο“; in der Republik Lettland: „apdrošināšanas akciju sabiedrība’, ‘savstarpējās apdrošināšanas kooperatīvā biedrība“; in der Republik Litauen: „akcinės bendrovės“, „u˛darosios akcinės bendrovės“; in der Republik Ungarn: „biztosító részvénytársaság“, „biztosító szövetkezet“, „biztosító egyesület“, „külföldi székhelyű biztosító magyarországi fióktelepe“; - in der Republik Malta:: „kumpanija pubblika“, „kumpanija privata“, „fergħa“, „Korp ta' l- Assikurazzjoni Rikonnoxxut“; - in der Republik Polen: „spółka akcyjna“, „towarzystwo ubezpieczeń wzajemnych“; - in der Republik Slowenien: „delniška družba“, „družba za vzajemno zavarovanje“; - in der Slowakischen Republik: „akciová spoločnosť“; - in der Republik Bulgarien: „акционерно дружество“; - in Rumänien: „societăţi pe acţiuni“, „societăţi mutuale“. Das Versicherungsunternehmen kann ferner die Rechtsform der Europäischen Aktiengesellschaft annehmen, wenn diese geschaffen wird. 112 ABl. L 228 vom 16.8.1973, Erste Richtlinie 73/239/EWG des Rates vom 24. Juli 1973 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften betreffend die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Direktversicherung (mit Ausnahme der Lebensversicherung). Artikel 3: Diese Richtlinie betrifft nicht die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, die gleichzeitig folgende Bedingungen erfüllen: - deren Satzung die Möglichkeit vorsieht, Beiträge nachzufordern oder die Leistungen herabzusetzen, - deren Tätigkeit weder die Haftpflichtversicherungsrisiken - es sei denn, dass diese zusätzliche Risiken im Sinne von Buchstabe C des Anhangs darstellen - noch die Kredit- und Kautionsversicherungsrisiken deckt; - deren jährliches Beitragsaufkommen für die von dieser Richtlinie erfassten Tätigkeiten den Betrag von 1 Million Rechnungseinheiten nicht übersteigt und - deren Beitragsaufkommen für die von dieser Richtlinie erfassten Tätigkeiten mindestens zur Hälfte von Personen stammt, die Mitglieder des Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit sind. 2. Sie betrifft ferner nicht Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, die mit einem anderen Unternehmen gleicher Art eine Vereinbarung getroffen haben, wonach letzteres alle Versicherungsverträge rückversichert oder hinsichtlich der Erfüllung der Verbindlichkeiten aus den Versicherungsverträgen an die Stelle des zedierenden Unternehmens tritt. In diesem Fall ist jedoch das übernehmende Versicherungsunternehmen dieser Richtlinie unterworfen. 113 Artikel 2 der Richtlinie 73/239/EWG des Rates.

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Darüber hinaus sind die Bestimmungen über den Mindestbetrag des Garantiefonds und die Sonderbehandlung, die in diesem Zusammenhang für Gegenseitigkeitsvereine zulässig ist, ähnlich wie die in der Richtlinie 2008/83/EG festgelegten Bestimmungen.114

Ferner sei darauf hingewiesen, dass Unternehmen das gleichzeitige Betreiben von Lebensversicherung und Schadenversicherung nicht gestattet werden darf. Die Mitgliedstaaten konnten Unternehmen, die vor dem Inkrafttreten der betreffenden Vorschriften in beiden Versicherungszweigen tätig waren, gestatten, ihre Tätigkeit fortzuführen, wenn sie eine getrennte Verwaltung eingerichtet hatten.

4.1.3. Solvabilität II

Die Grundprinzipien der so genannten „Solvabilität-II-Richtlinie“115, die 2009 angenommen wurde und am 1. Januar 2013 in Kraft treten wird, lauten, dass Versicherungsunternehmen in Europa auf einer besseren Risikobewertung, einer besseren Risikoaufteilung und besseren finanziellen Grundlagen beruhen sollten, um die Stabilität des Marktes zu erhöhen und den Verbraucherschutz zu verstärken.

Die wichtigste Neuerung, die mit dieser Richtlinie eingeführt wurde, besteht darin, dass die Richtlinie im Zuge der Schaffung einer solideren Basis für den Versicherungssektor mehr als nur die derzeit bestehenden Solvenzkapitalanforderungen betrifft. Sie legt auch Vorschriften für die gesamte Organisation von Versicherungsunternehmen in Europa fest. So betrifft sie

1) die Aufnahme und Ausübung der selbstständigen Tätigkeiten der Direktversicherung sowie der Rückversicherung in der Gemeinschaft;

2) die Beaufsichtigung von Versicherungs- und Rückversicherungsgruppen;

3) die Sanierung und Liquidation von Direktversicherungsunternehmen.

Das von „Solvabilität II“ geschaffene System basiert auf drei Säulen. Die erste Säule umfasst zwei Kapitalanforderungen, die Solvenzkapitalanforderung und die Mindestkapitalanforderung, die für verschiedene Ebenen der aufsichtlichen Maßnahmen stehen. Die zweite und die dritte Säule umfassen qualitative Anforderungen (wie das Risikomanagement und die Überwachungstätigkeiten) sowie die aufsichtliche Berichterstattung bzw. Offenlegung.

Daher hat die Solvabilität-II-Richtlinie Auswirkungen darauf, wie Versicherungsunternehmen organisiert sind, über welche Art von internen Kontrollmechanismen sie verfügen, wie die Aufsichtsbehörden arbeiten, wie die Versicherungsunternehmen über die Solvabilität und Finanzlage berichten, wie sie andere Finanzunternehmen erwerben können usw.

114 Richtlinie 2002/13/EG, Artikel 1: „Jeder Mitgliedstaat kann vorsehen, den Mindestbetrag des Garantiefonds bei Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit und bei Versicherungsgesellschaften, die auf dem Gegenseitigkeitsprinzip beruhen, um ein Viertel zu ermäßigen.“ 115 ABl. L 335/1 vom 17.12.2009, Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) (Neufassung), Abschnitt 2, Artikel 3.

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Die Richtlinie findet keine Anwendung auf die unter ein gesetzliches System der sozialen Sicherheit fallenden Versicherungen.116 Auch kleine Unternehmen, deren jährliche verbuchte Bruttoprämieneinnahmen unter 5 Mio. EUR liegen, fallen nicht unter den Geltungsbereich der Solvabilität-II-Richtlinie. Die nationalen Aufsichtsbehörden prüfen, ob Unternehmen von der Richtlinie ausgenommen sind.

Für Gegenseitigkeitsgesellschaften kann die neuen Solvabilitätsregelung schwerwiegende Auswirkungen haben. Die höheren Eigenkapital-, Risikodifferenzierungs- und Solvabilitätsanforderungen könnten sich für kleine und mittlere Versicherungsunternehmen und insbesondere für Gegenseitigkeitsgesellschaften als schwer einhaltbar erweisen, da diese oft auf Nischenmärkte ausgerichtet und auf sehr ausgewählte Risikoarten spezialisiert sind. Um der neuen Solvabilitätsregelung gerecht zu werden, könnten kleinere Gegenseitigkeitsgesellschaften sich gezwungen sehen, die von den Mitgliedern zu zahlenden Beiträge anzuheben oder ihre auf Gegenseitigkeit ausgerichteten Werte teilweise aufzugeben und sich in Kapitalgesellschaften umzuwandeln, um zusätzliche Mittel zu erlangen, oder sich mit anderen Unternehmen zusammenzuschließen (was zu einer Demutualisierung, d. h. zur Umwandlung einer Gegenseitigkeitsgesellschaft in eine andere Rechtsform führt).

Zu Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit und zur Art und Weise der Erlangung zusätzlicher Mittel wird in der Richtlinie erwähnt, dass im Falle dieser oder ähnlicher Vereine mit variabler Nachschussverpflichtung die ergänzenden Eigenmittel auch künftige Forderungen umfassen können, die dieser Verein gegenüber seinen Mitgliedern hat, indem er Nachschüsse einfordert.117

Um die Umsetzung von Solvabilität II zu erleichtern, wurde für die Einhaltung der regulatorischen Anforderungen ein Übergangszeitraum von fünf Jahren ausgehandelt. Halten Versicherungsunternehmen die Vorschriften von Solvabilität II nach Ablauf von fünf Jahren nicht ein, sind sie nicht länger berechtigt, den so genannten „einheitlichen Pass“ in Anspruch zu nehmen, mit dem sie auf der Grundlage der im Herkunftsmitgliedstaat erteilten Genehmigung überall in der EU und im EWR Versicherungen verkaufen können.

4.2. Gegenseitigkeitsgesellschaften als Anbieter von Sozial-dienstleistungen von allgemeinem Interesse

4.2.1. Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse

Obwohl es keinen verbindlichen Rechtstext gibt, in dem Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse definiert sind, können diese als Tätigkeiten beschrieben werden, welche staatliche Stellen durchführen oder privatwirtschaftlichen Unternehmen übertragen, die mit Aufgaben von allgemeinem Interesse zum Zwecke der sozialen Sicherheit, des sozialen und territorialen Zusammenhalts, der nationalen Solidarität und der Umsetzung der Grundrechte betraut werden.118

116 Ebenda. 117 Ebenda, Artikel 89. 118 Siehe: Belgischer Vorsitz des Rates der Europäischen Union (Föderaler öffentlicher Dienst soziale Sicherheit), Drittes Forum zum Thema soziale Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, „Social Services of General Interest: At the heart of the European social model: General background note“, 2010.

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Abgesehen von Gesundheitsdienstleistungen umfassen die Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse zwei weitere große Gruppen:119

die gesetzlichen Regelungen und ergänzenden Systeme der sozialen Sicherung zur Absicherung elementarer Lebensrisiken in Bezug auf Gesundheit, Alter, Arbeitsunfälle, Arbeitslosigkeit, Ruhestand, Behinderungen;

persönliche Dienstleistungen. Diese können Dienstleistungen zur Prävention und zur Sicherstellung des sozialen Zusammenhalts umfassen wie zum Beispiel individuelle Hilfe für Einzelpersonen, die von sozialer Ausgrenzung, Arbeitsplatzverlust, Überschuldung usw. bedroht sind.

4.2.2. Die Anbieter von Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse

In modernen Wohlfahrtsstaaten waren soziale Sicherheit und Gesundheitsdienste ausschließlich den staatlichen Stellen vorbehalten. Damit die Systeme bezahlbar bleiben, hat in jüngster Zeit eine spürbare Verlagerung von der staatlichen Regulierung der Programmplanung zur marktbasierten Regulierung stattgefunden. Letztere erfordert in der Regel den Einsatz von Korrekturmechanismen, um Marktversagen aufzufangen.120 In Anbetracht dieses Übergangs zu anderen Verwaltungsmodellen werden Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse nicht mehr nur ausschließlich von staatlichen Stellen, sondern auch von privaten Organisationen bereitgestellt.

Die nachstehend genannten „organisatorischen Bedingungen“ wurden von der Europäischen Kommission als Unterscheidungsmerkmale von privat erbrachten Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse in der EU herausgestellt121:

Funktion nach dem Grundsatz der Solidarität, unter anderem in dem Sinne, dass keine Risikoauswahl und kein Ausgleich zwischen Beiträgen und Leistungen im Einzelfall stattfindet;

flexible und personenbezogene Arbeitsweise mit Lösungen für die verschiedensten Bedürfnisse, um die Achtung der grundlegenden Menschenrechte zu garantieren und die am stärksten benachteiligten Personengruppen zu schützen;

ohne Erwerbszweck, unter anderem im Hinblick auf besonders schwierige Situationen, oft auch historisch bedingt;

freiwillige bzw. ehrenamtliche Mitarbeit, als Ausdruck aktiven Bürgersinns;

starke Verankerung in kulturellen (lokalen) Traditionen. Dies kommt insbesondere in der räumlichen Nähe zwischen dem Dienstleistungserbringer und dem Nutzer zum Ausdruck;

ein asymmetrisches Verhältnis zwischen Anbietern und Nutzern von Sozialdienstleistungen ist nicht vergleichbar mit einem „normalen“ Dienstleister-Verbraucher-Verhältnis, da ein zahlender Dritter beteiligt sein muss.

119 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission „Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft: Die Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse in der Europäischen Union“, KOM(2006)177 endg. 120 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, zweijährlicher Bericht über Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse, 2008. 121 Siehe: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission „Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft: Die Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse in der Europäischen Union“, KOM(2006)177 endg.

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4.2.3. Die Debatte über Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse und die Anwendung der EU-Vorschriften

Die Diskussionen über Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse im EU-Recht betreffen nicht nur die Auslegung der bestehenden Vorschriften, sondern auch das erforderliche Tätigwerden des EU-Gesetzgebers, wenn es darum geht, einen klareren Rechtsrahmen für Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse abzustecken, wie dies von verschiedenen Interessenvertretern wiederholt gefordert wurde.122

Um die anstehenden Fragen zu klären, gilt es zunächst, das Konzept der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse sowie das Konzept der nichtwirtschaftlichen Dienste von allgemeinem Interesse darzulegen. Das Kriterium der wirtschaftlichen Tätigkeit ist in der Praxis von grundlegender Bedeutung, um festzustellen, ob die EU-Wettbewerbs- und Binnenmarktvorschriften gelten.

Nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nehmen die Verträge nun ausdrücklich Bezug auf Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (in Artikel 14 AEUV) sowie auf nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse (im Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse). Insbesondere im Protokoll wird die wichtige Rolle der nationalen, regionalen und lokalen Behörden bei der Erbringung von Diensten für die Bürger unter Wahrung der Grundsätze der Universalität, Zugänglichkeit, Bezahlbarkeit, Bürgernähe und Qualität anerkannt und festgelegt, dass die Verträge in keiner Weise nichtwirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse berühren.123

Wird jedoch eine Dienstleistung von allgemeinem Interesse als wirtschaftlich eingestuft, unterliegt sie dem EU-Recht, insbesondere den Binnenmarkt- und Wettbewerbsvorschriften. In Artikel 106 AEUV ist Folgendes festgelegt: „Für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind [...], gelten die Vorschriften dieses Vertrags, insbesondere die Wettbewerbsregeln, soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe […] verhindert.“

Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse fallen als solche nicht unter die oben genannten Kategorien der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse bzw. der nichtwirtschaftlichen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, sondern schwanken zwischen den beiden Kategorien, je nachdem, ob bei der betreffenden Sozialdienstleistung das Kriterium der wirtschaftlichen Tätigkeit festgestellt wird.124 In einigen Fällen erscheint es schwierig einzuschätzen, ob eine Sozialdienstleistung von allgemeinem Interesse wirtschaftlicher oder nichtwirtschaftlicher Art ist, daher wurden in jüngster Zeit mehrere Fälle dem Europäischen Gerichtshof zur Klärung der Frage vorgelegt, ob die Binnenmarktvorschriften für bestimmte Situationen gelten oder nicht.

122 Europäische Kommission, Zweiter zweijährlicher Bericht über Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse, Oktober 2010. 123 Protokoll Nr. 26, Artikel 2: Die Bestimmungen der Verträge berühren in keiner Weise die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, nichtwirtschaftliche Dienste von allgemeinem Interesse zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu organisieren. 124 Belgischer Vorsitz des Rates der Europäischen Union (Föderaler öffentlicher Dienst soziale Sicherheit), Drittes Forum zum Thema soziale Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, „Social Services of General Interest: At the heart of the European social model: General background note“, 2010.

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Somit hat der Europäische Gerichtshof eine Rechtsprechung über die Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Dienstleistungen begründet, nach der als wirtschaftliche Tätigkeit „jede Tätigkeit [anzusehen ist], die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten“, unabhängig von der Rechtsform des Unternehmens und der Art seiner Finanzierung.125 Wenn jedoch Solidarität und Absicherung für alle das zentrale Ziel einer Sozialdienstleistung darstellen, dann vertritt der Europäische Gerichtshof die Auffassung, dass die Anbieter der Dienstleistung, selbst wenn es sich um private Unternehmen handelt, nicht an einer wirtschaftlichen Tätigkeit beteiligt sind und die Binnenmarktvorschriften nicht zur Anwendung kommen.126 Diese Unterscheidung zwischen wirtschaftlichen und nichtwirtschaftlichen Dienstleistungen stellt jedoch für staatliche Stellen und Anbieter von Sozialdienstleistungen eine Quelle der Ungewissheit dar.

Der Leitfaden der Europäischen Kommission zur Anwendung der Vorschriften der Europäischen Union über staatliche Beihilfen127 nimmt ausdrücklich Bezug auf die obligatorische Krankenversicherung als eine Tätigkeit rein nichtwirtschaftlicher Natur, zu der „gesetzliche Krankenkassen, die ein ausschließlich soziales Ziel verfolgen, auf dem Solidaritätsprinzip basieren und Versicherungsleistungen unabhängig von der Beitragshöhe anbieten“, hinzugerechnet werden können.128 Andere Sozialdienstleistungen, die auf bestimmte Personengruppen beschränkt sind (d. h. auf Personen, die für eine zusätzliche Absicherung zahlen) sind als wirtschaftliche Tätigkeiten einzustufen (wie zum Beispiel ergänzende/zusätzliche Systeme der sozialen Sicherheit).

Die Frage der staatlichen Beihilfen ist für Gegenseitigkeitsgesellschaften ein besonders wichtiger Aspekt. Die Mitgliedstaaten dürfen bestimmte Sozialdienstleistungen subventionieren, sofern diese nichtwirtschaftlicher Art sind, da derartige Tätigkeiten unter die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen.

125 Siehe z. B. verbundene Rs. C-180/98 bis C-184/98, Pavlov u. a. Siehe: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission „Umsetzung des Lissabon-Programms der Gemeinschaft: Die Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse in der Europäischen Union“, KOM(2006)177 endg. 126 Siehe z. B. verbundene Rs. C-159/91 und C-160/91, Poucet und Pistre, Slg. 1993 S. I-637, verbundene Rs. C-264/01, C-306/01, C-351/01 und C-355/01, AOK u. a., Slg. 2004, S. I-2493; Rs. T-319/99, FENIN, Slg. 2003, S. I-357 und Rs. C-205/03P, FENIN, Slg. 2006, S. I-6295 ; Gronden, van de, Johan W., Financing Health Care in EU Law: Do the European State Aid Rules Write Out an Effective Prescription for Integrating Competition Law with Health Care?, in: The competition law review, Band 6, Ausgabe 1, S. 5-29, Dezember 2009. 127 Europäische Kommission, Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen, Leitfaden zur Anwendung der Vorschriften der Europäischen Union über staatliche Beihilfen, öffentliche Aufträge und den Binnenmarkt auf Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse inklusive Sozialdienstleistungen, Brüssel, 7.12.2010, SEK(2010) 1545 endg., 2010. 128 Europäische Kommission, Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen, Leitfaden zur Anwendung der Vorschriften der Europäischen Union über staatliche Beihilfen, öffentliche Aufträge und den Binnenmarkt auf Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse inklusive Sozialdienstleistungen, Brüssel, 7.12.2010, SEK(2010) 1545 endg., 2010. Auf der Grundlage von: Rs. C-159/91, Poucet und Pistre, Slg. 1993, S. I-637; Rs. C-218/00, Cisal und INAIL, Slg. 2002, S. I-691, Rdnrn. 43-48; verbundene Rs. C-264/01, C-306/01, C-354/01 und C-355/01, AOK Bundesverband, Slg. 2004, S. I-2493, Rdnrn. 51-55.

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Nach den EU-Vorschriften sind jedoch auch andere Fälle möglich, in denen Ausgleichszahlungen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen keine staatliche Beihilfe darstellen und mit den EU-Vorschriften im Einklang stehen, oder Fälle, in denen Ausgleichszahlungen zulässig sind, obwohl sie als staatliche Beihilfe gelten.129

Dies wirft jedoch aus einer Reihe von Gründen Probleme auf, vor allem im Zusammenhang mit der Festlegung der angemessenen Höhe der Ausgleichszahlungen für gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen130, der Durchführung der öffentlichen Vergabeverfahren und der richtigen Anwendung der Binnenmarktvorschriften.

In einigen Ländern sind Gegenseitigkeitsgesellschaften historisch gewachsene Anbieter eines breiten Spektrums an Dienstleistungen, von denen einige sozial im engeren Sinne sind, während andere auf wirtschaftlichen Märkten bereitgestellt werden. Daher können staatliche Beihilfen zu einer Verfälschung der Wettbewerbsbedingungen zum Nachteil anderer kommerzieller Unternehmen in wettbewerbsoffenen Märkten führen.

Beispiele für Kontroversen im Zusammenhang mit Gegenseitigkeitsgesellschaften finden sich vor allem in relativ stark regulierten Märkten für die freiwillige Krankenversicherung, wie zum Beispiel in Belgien, Frankreich und Slowenien.131

4.2.4. Vertragsverletzungsverfahren und Rechtsetzung

Kontroversen treten insbesondere im Zusammenhang mit Fragen der Solvabilitätsanforderungen und der (steuerlichen) Vorzugsbehandlung von Gegenseitigkeitsgesellschaften auf. Im nationalen Recht wird hinsichtlich der Solvabilitätsanforderungen oftmals zwischen gemeinnützigen und gewinnorientierten Organisationen unterschieden und ersteren eine Vorzugsbehandlung gewährt, während gemäß den EU-Vorschriften innerhalb des Versicherungsgeschäfts unabhängig von der Organisationsart des Versicherungsunternehmens gleiche Voraussetzungen herrschen sollten.

129 Europäische Kommission, Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen, Leitfaden zur Anwendung der Vorschriften der Europäischen Union über staatliche Beihilfen, öffentliche Aufträge und den Binnenmarkt auf Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse inklusive Sozialdienstleistungen, Brüssel, 7.12.2010, SEK(2010)1545 endg., 2010. 1301) Das begünstigte Unternehmen ist tatsächlich mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut, und diese Verpflichtungen sind klar definiert worden; 2) Die Parameter, anhand deren der Ausgleich berechnet wird, sind zuvor objektiv und transparent aufgestellt worden; 3) Der Ausgleich geht nicht über das hinaus, was erforderlich ist, um die Kosten der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und eines angemessenen Gewinns aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen ganz oder teilweise zu decken; 4) Die Höhe des erforderlichen Ausgleichs, wenn die Wahl des Unternehmens, das mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut werden soll, nicht im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge erfolgt, ist auf der Grundlage einer Analyse der Kosten bestimmt worden, die ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen bei der Erfüllung der betreffenden Verpflichtungen hätte, wobei die dabei erzielten Einnahmen und ein angemessener Gewinn aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen zu berücksichtigen ist. Siehe: Rs. C-280/00 Altmark Trans GmbH und Regierungspräsidium Magdeburg gegen Nahverkehrsgesellschaft Altmark GmbH, Urteil vom 24. Juli 2003, und: Gronden, van de, Johan W, Financing Health Care in EU Law: Do the European State Aid Rules Write Out an Effective Prescription for Integrating Competition Law with Health Care?, in: The competition law review, Band 6, Ausgabe 1, S. 5-29, Dezember 2009. 131 Thomson, Sarah, Elias Mossialos, Private health insurance in the European Union Final report prepared for the European Commission, Directorate General for Employment, Social Affairs and Equal Opportunities, 2009.

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Für Frankreich bedeutete dies letztendlich, dass eine überarbeitete Fassung des „Code de la Mutualité“ mit strengeren Solvabilitätsanforderungen angenommen werden musste, um den rechtlichen Anforderungen der Schadenversicherungsrichtlinie zu entsprechen.132

Ein weiteres Land, das sich mit Problemen bei der Umsetzung der Richtlinie konfrontiert sah, war Belgien, wo Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge sowohl für die obligatorische gesetzliche Krankenversicherung als auch für die ergänzende Krankenversicherung zuständig waren (siehe unten).

Belgien

Die Europäische Kommission hat Belgien kürzlich aufgefordert, seine Vorschriften über die Zusatzkrankenversicherung durch Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge, die auch für die Verwaltung des obligatorischen Krankenversicherungs-systems zuständig waren, dahingehend zu ändern, dass für alle Anbieter (sowohl die Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge als auch andere Versicherungsunternehmen) die gleichen Regelungen gelten.133

Am 20. September 2009 beschloss die Europäische Kommission, beim Europäischen Gerichtshof Klage gegen Belgien wegen seiner nationalen Vorschriften über die Zusatzkrankenversicherung durch Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge einzureichen.

Nach Ansicht der Kommission wurden mit der gesetzlichen Regelung für die betreffenden Gesellschaften (Gesetz vom 6. August 1990) die einschlägigen Bestimmungen der Ersten und der Dritten Richtlinie über Schadenversicherungen in Bezug auf die Tätigkeiten der Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge auf dem Gebiet der Zusatzkrankenversicherungen nicht korrekt und vollständig umgesetzt, vor allem was die Aufsichts- und Kontrollvorschriften betrifft.134

Der Kommission ging es nicht darum, den Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge zu untersagen, Zusatzkrankenversicherungen anzubieten; sie vertrat jedoch die Auffassung, dass bei diesen Tätigkeiten die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinien über Schadenversicherung zu beachten sind.

Dies führte letztendlich dazu, dass den Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge für die Bereitstellung von Zusatzkrankenversicherungen neben den obligatorischen Krankenversicherungen Beschränkungen auferlegt wurden. Deshalb mussten die Gesellschaften gesonderte Rechtsträger für den Zugang zum Markt für Zusatzkrankenversicherungen schaffen - die Gesellschaften für gegenseitige Hilfe (maatschappijen van onderlinge bijstand/sociétés mutualistes).135

Eine Gesellschaft für gegenseitige Hilfe darf nur denjenigen Krankenkassenmitgliedern

132 Weitere Einzelheiten siehe Europäischer Gerichtshof, Rs. C-239/98, Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Französische Republik; Thomson, Sarah, Elias Mossialos, Private health insurance in the European Union, Final report prepared for the European Commission, Directorate General for Employment, Social Affairs and Equal Opportunities, 2009. 133 Siehe: IP/09/1756, Binnenmarkt: Kommission bringt Belgien wegen Gesetz für private Zusatzkrankenversicherung vor den Gerichtshof, 20. November 2009. 134 Corens, Dirk, Health Systems in Transition, Belgium Health system review, Band 9 Nr. 2 (2007). 135 De Wet van 26 april 2010 houdende diverse bepalingen inzake de organisatie van de aanvullende ziekteverzekering (I) / Loi du 26 Avril 2010 portant des dispositions diverses en matière de l’organisation de l’assurance maladie complémentaire (I).

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Versicherungsschutz bieten, die der betreffenden Gegenseitigkeitsgesellschaft für soziale Fürsorge, angehören – Einzelpersonen können nicht direkt Mitglied einer Gesellschaft für gegenseitige Hilfe werden.

Auch Slowenien sieht sich bei der Anwendung der EU-Vorschriften auf seine Krankenversicherungssysteme mit Schwierigkeiten konfrontiert. Die Regierung unterwirft den Markt für Zusatzkrankenversicherungen einer starken Regulierung, was einige Schwierigkeiten in Bezug auf die EU-Vorschriften mit sich bringt (siehe unten).

Slowenien

Am 30. September 2010 beschloss die Europäische Kommission, Slowenien aufzufordern sicherzustellen, dass seine Vorschriften für die Zusatzkranken-versicherung voll und ganz mit den Schadenversicherungsrichtlinien und mit den Vorschriften der EU über den freien Kapitalverkehr und den freien Dienstleistungsverkehr im Einklang stehen. Nach Ansicht der Kommission waren drei Aspekte des slowenischen Systems nicht mit dem EU-Recht vereinbar - 1) die Anforderung an ausländische Krankenversicherungsunternehmen, einen Vertreter für die Kontakte mit den slowenischen Behörden zu benennen, 2) die Tatsache, dass die Versicherungsunternehmen ihre Gewinne nur eingeschränkt an Anteilseigner ausschütten dürfen, und 3) die Bestimmung, dass die Versicherungsunternehmen verpflichtet sind, der slowenischen Aufsichtsbehörde ihre Versicherungsbedingungen mitzuteilen, die einen unabhängigen zugelassenen Versicherungsmathematiker mit einer weiteren Untersuchung beauftragen und je nach Ausgang der Untersuchung weitere Maßnahmen gegen das Versicherungsunternehmen einleiten kann.

Im Ergebnis des von der Europäischen Kommission eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahrens wird derzeit in Slowenien darüber diskutiert, das Zusatzversicherungssystem in das slowenische Krankenversicherungsinstitut136 zu integrieren und durch Steuern zu finanzieren. Das würde bedeuten, dass die einzige bestehende Gegenseitigkeitsgesellschaft, Vzajemna, abgeschafft und ihre Aufgaben vom slowenischen Krankenversicherungsinstitut übernommen würden. Eine solche Maßnahme würde umfassende Steuerreformen mit erheblichen finanziellen Folgen für den Staatshaushalt nach sich ziehen.

Bei einem weiteren, Frankreich betreffenden Fall aus der jüngeren Zeit ging es um das Thema Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse und staatliche Beihilfen.

Frankreich

In Frankreich wird Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit seit 1945 eine steuerliche Vorzugsbehandlung gewährt. Da die Organisationen, die unter die Versicherungsordnung fallen, und die Organisationen, für die der „Code de la Mutualité“ gilt, auf denselben Märkten tätig sind, ergaben sich Fragen hinsichtlich der Vereinbarkeit einer solchen Vorzugsbehandlung mit den EU-Vorschriften über staatliche Beihilfen.

Aus diesem Grund reichte der Französische Verband der Versicherungsgesellschaften (Fédération Française des Sociétés d'Assurances (FFSA)) 1992 wegen dieser

136 Slowenisches Krankenversicherungsinstitut (Zavod za zdravstveno zavarovanje Slovenije: ZZZS).

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angeblich diskriminierenden Steuerpolitik zwei Beschwerden gegen die französische Regierung ein und machte geltend, dass diese Politik gegen die EU-Vorschriften über staatliche Beihilfen verstoße. Im Jahr 2001 forderte die Europäische Kommission die französische Regierung auf, die Steuerbefreiung abzuschaffen oder sicherzustellen, dass der Zuschuss nicht über die Kosten für die Bereitstellung der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse hinausgeht. Darüber hinaus stellte die Kommission fest, dass die Bereitstellung privater Versicherungen durch Vereine auf Gegenseitigkeit nicht als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betrachtet werden kann, wie in der Satzung ausdrücklich vorgesehen.

Um der Aufforderung der Kommission nachzukommen, schaffte die Französische Regierung den Steuervorteil ab und plante die Einführung neuartiger, auf den Grundsätzen der Solidarität bzw. der Eigenverantwortung basierender Krankenversicherungsverträge („contrats solidaires“ und „contrats responsables“), für deren Abschluss keine vorherige ärztliche Untersuchung und auch kein anderer Nachweis über das Krankheitsrisiko der betreffenden Personen erforderlich ist, und die privaten Krankenversicherer sagten zu, keine neuen Zuzahlungen abzudecken, die Patienten ermutigen, sich zur Behandlung an einen Facharzt überweisen zu lassen, und die Protokolle für die Behandlung chronischer Erkrankungen einzuhalten.

Die Anbieter von Krankenversicherungen – unabhängig davon, ob es sich um Vereine auf Gegenseitigkeit oder um private Versicherungsunternehmen handelt – würden somit Steuervorteile in Abhängigkeit von der Anzahl und dem Anteil der abgeschlossenen „contrats solidaires“ und „contrats responsables“ erhalten. Zunächst hatte es den Anschein, dass die Europäische Kommission die Einführung dieser Art von Verträgen als ausreichend erachtete. 2007 leitete sie jedoch das förmliche Prüfverfahren ein, um zu klären, ob diese Praxis tatsächlich als nichtdiskriminierend betrachtet werden kann und inwiefern die den Versicherungsunternehmen gewährten Vorteile wirklich den Verbrauchern zugutekommen.137 Am 26. Januar 2011 beschloss die Kommission, dass die angemeldeten Maßnahmen staatliche Beihilfen darstellen, die nicht mit den EU-Vorschriften vereinbar sind.

Die Kommission stellte fest, dass nicht nachgewiesen werden konnte, dass der Vorteil der Steuerermäßigung an die Verbraucher weitergegeben wird. Darüber hinaus erachtete sie die Regelung für diskriminierend, da sie bestimmte Versicherungsträger wie Gegenseitigkeitsgesellschaften begünstigt, die an diese Art von Verträgen gebunden sind.

Der jüngste Beschluss der Europäischen Kommission über „contrats solidaires“ und „contracts responsables“ im Zusammenhang mit dem EU-Recht über staatliche Beihilfen wird Auswirkungen auf die künftige Organisation der freiwilligen Krankenversicherung in Frankreich haben. In welche Richtung dies gehen wird, steht bislang noch nicht fest.

137 Thomson, Sarah, Elias Mossialos, Private health insurance in the European Union Final report prepared for the European Commission, Directorate General for Employment, Social Affairs and Equal Opportunities, 2009.

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4.3. Ein Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft

4.3.1. Ziel und Inhalt des Statuts

Der Inhalt der EU-Binnenmarktvorschriften, die generell für die Akteure im Versicherungssektor gelten, ist vorwiegend auf gewinnorientierte Gesellschaften abgestimmt, und es wird allgemein anerkannt, dass diese Vorschriften der besonderen Lage anderer Gesellschaftsformen nicht immer Rechnung tragen.138

Im Rahmen der Vollendung des Binnenmarktes und zur Ermöglichung des freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs bei gleichen Wettbewerbsbedingungen für unterschiedliche Akteure und Rechtsformen auf ein und denselben Märkten schlug die Europäische Kommission 1992 eine Verordnung über das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft139 sowie eine Verordnung über das Statut der Europäischen Genossenschaft140 und eine Verordnung über das Statut des Europäischen Vereins141 vor, um die Sozialwirtschaft rechtlich besser in der Europäischen Gemeinschaft zu verankern. Jeder Vorschlag für eine Verordnung wurde ergänzt durch einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Rolle der Arbeitnehmer.142

Nach Ansicht der Europäischen Kommission sollten Gegenseitigkeitsgesellschaften und alle anderen Organisationen in der Sozialwirtschaft vom Binnenmarkt ebenso profitieren können wie andere Gesellschaften, ohne ihre spezifischen Merkmale ablegen zu müssen. Daher gelangte man zu der Einschätzung, dass ein Europäisches Statut dazu beitragen würde, die rechtlichen und verwaltungstechnischen Schwierigkeiten zu überwinden, die ihre grenzübergreifenden und transnationalen Tätigkeiten und die Zusammenarbeit im Binnenmarkt behindern.

Der Vorschlag für eine Verordnung von 1992, der 1993 geändert wurde, sollte den Regulierungsrahmen für die Schaffung von Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaften bereitstellen und es bestehenden Gegenseitigkeitsgesellschaften ermöglichen, sich auf europäischer Ebene zu organisieren.

138 AIM/AMICE, European Mutual Society, AMICE / AIM Draft Regulation 2007, Explanatory Memorandum, 2008. 139 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, KOM(91)273 endg., Brüssel, 5. März 1992, SYN 390, Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft. Die Rechtsgrundlage für den Vorschlag für die Statuten war ursprünglich Artikel 100a, dann Artikel 95 EGV; jetzt ist es Artikel 114 AEUV. Dieser Artikel räumt dem Rat die Möglichkeit ein, Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu erlassen, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben. 140 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, KOM(91)273 endg., Brüssel, 5. März 1992, SYN 388, Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über das Statut de Europäischen Genossenschaft. 141 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, KOM(91)273 endg., Brüssel, 5. März 1992, SYN 386, Vorschlag für eine Verordnung (EWG) des Rates über das Statut des Europäischen Vereins. 142 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, KOM(91)273 endg., Brüssel, 5. März 1992, - SYN 387, Vorschlag für eine Richtlinie (EWG) des Rates zur Ergänzung des Statuts des Europäischen Vereins hinsichtlich der Rolle der Arbeitnehmer; SYN 391, Vorschlag für eine Richtlinie (EWG) des Rates zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft hinsichtlich der Rolle der Arbeitnehmer; SYN 389, Vorschlag für eine Richtlinie (EWG) des Rates zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Genossenschaft hinsichtlich der Rolle der Arbeitnehmer.

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Inhalt des Vorschlags für ein Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft (geänderte Fassung von 1993)143

Die Verordnung bietet die Grundlage für die Errichtung einer Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft und legt die Vorschriften fest, nach denen diese ihre Geschäfte tätigen kann. Der Vorschlag für ein Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft enthält sechs Kapitel, die Folgendes betreffen:

1. Gründung der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft (Gründungsmittel, Anzahl der beteiligten Mitgliedstaaten, Satzung der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft, Sitz der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft (und Verlegung des Sitzes), anwendbares (nationales) Recht, Veröffentlichung von Dokumenten);

2. Organisation der Generalversammlung (Befugnisse der Generalversammlung, Häufigkeit der Sitzungen, Einberufung der Sitzungen, Tagesordnung und Teilnahme, Stimmrecht);

3. Leitungs-, Aufsichts- und Verwaltungsorgan (Struktur der Leitung (monistisches/dualistisches System));

4. Finanzierungsformen, Jahresabschluss, konsolidierter Abschluss, Prüfung und Offenlegung;

5. Auflösung und Liquidation sowie

6. Zahlungsunfähigkeit und Zahlungseinstellung.

In dem Vorschlag für ein Statut ist unter anderem festgelegt, dass eine Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaft (EUGGES) entweder von mindestens zwei juristischen Personen (die in Frage kommenden Rechtsformen sind im Anhang zu dem Statut aufgeführt) oder wenigstens 500 natürlichen Personen, die ihren Wohnsitz in mindestens zwei Mitgliedstaaten haben, gegründet werden kann. Der Betriebsfonds muss mindestens 100 000 ECU betragen. Bei den Generalversammlungen haben ausschließlich Mitglieder Rede- und Stimmrecht, und jedes Mitglied hat eine Stimme. Allerdings können Mitglieder mit bestimmten Einschränkungen auch mehr als eine Stimme haben. Beschlüsse werden mit der Mehrheit der Stimmen gefasst. Darüber hinaus sind ein Leitungsorgan und ein Aufsichtsorgan (dualistisches System) oder ein Verwaltungsorgan (monistisches System) zu bilden. Für Angelegenheiten, die nicht durch das Statut geregelt werden, gelten das einzelstaatliche Recht oder die EU-Vorschriften (das umfasst zum Beispiel Bestimmungen über die Beteiligung der Arbeitnehmer am Beschlussfassungsprozess, das Arbeitsrecht, Steuerrecht und Wettbewerbsrecht, das Recht des geistigen und gewerblichen Eigentums sowie die Rechtsvorschriften in Bezug auf Zahlungsunfähigkeit und Zahlungseinstellung). Von besonderer Bedeutung ist die Frage, was bei der Auflösung einer Gegenseitigkeitsgesellschaft mit dem Reinvermögen geschieht. Nach dem Statut sind hierfür die nationalen Rechtsvorschriften maßgeblich (in Frankreich muss das

143 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, KOM(93)252 endg., Brüssel, 6. Juli 1993. Der Vorschlag wurde geändert, um dem Standpunkt des Europäischen Parlaments Rechnung zu tragen.

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Reinvermögen einer ähnlichen Organisation (d. h. einer Gegenseitigkeitsgesellschaft) übertragen werden; im Vereinigten Königreich wird das Reinvermögen an die Mitglieder verteilt).

Im Entwurf des Textes wird unterschieden zwischen EUGGES, die im Bereich der sozialen Fürsorge tätig sind, und EUGGES, die in einem anderen Tätigkeitsbereich aktiv sind.

Vom Geltungsbereich der vorgeschlagenen Verordnung ausgenommen war die von Gegenseitigkeitsgesellschaften in den Mitgliedstaaten verwaltete obligatorische Mindestsozialversicherung.

Die Mitgliedstaaten können nach wie vor selbst entscheiden, ob die betreffenden Systeme von Gegenseitigkeitsgesellschaften oder von anderen Organisationen verwaltet werden.

Ab 1996 wurde der Rechtsetzungsprozess zu dem Statut für mehrere Jahre im Rat blockiert, vor allem wegen unterschiedlicher Auffassungen über die Richtlinie hinsichtlich der Rolle der Arbeitnehmer.

Im Jahr 2003 führt die Europäische Kommission eine Konsultation zum Thema „Gegenseitigkeitsgesellschaften in einem erweiterten Europa“ durch144, um die Arbeit an dem Statut wieder aufzunehmen. In ihrem Konsultationsdokument wies die Kommission auf die besonderen Schwierigkeiten hin, denen sich Gegenseitigkeitsgesellschaften gegenübersehen, wenn sie grenzübergreifend tätig werden wollen. So unterliegen Gegenseitigkeitsgesellschaften, die ihren Sitz in zwei Mitgliedstaaten haben, unterschiedlichen nationalen Rechtsvorschriften und können ihre Zusammenarbeit in den meisten Fällen nicht auf eine Art und Weise organisieren, die ihren Grundsätzen - wie demokratische Führung, je Mitglied eine Stimme - gerecht wird. Außerdem gibt es, wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln erwähnt, in einigen Mitgliedstaaten kaum Gegenseitigkeitsgesellschaften (in Ermangelung von Rechtsvorschriften für diese Rechtsform oder wegen der unzureichenden Sensibilisierung für die Möglichkeiten der Gründung einer Gegenseitigkeitsgesellschaft).

Das Statut könnte eine Grundlage für die rechtliche Organisation von Gegenseitigkeitsgesellschaften in diesen Mitgliedstaaten bieten und für die Möglichkeit der Gründung einer Gegenseitigkeitsgesellschaft sensibilisieren. In Anbetracht der in den einzelnen Ländern der EU sehr unterschiedlichen Rechtsvorschriften für Gegenseitigkeitsgesellschaften könnte es ferner als Ausgangspunkt für Initiativen zur Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften dienen. Schließlich würde es sicherstellen, dass die besonderen Merkmale der Gegenseitigkeitsgesellschaften von den EU-Gesetzgebern und Regulierungsbehörden anerkannt werden. In dem Dokument berichtet die Kommission auch über Entwicklungen im Entscheidungsprozess, die sich seit der Vorlage des Vorschlags ergeben haben, und erinnert an die Aspekte, zu denen ein Konsens zwischen den Mitgliedstaaten erzielt wurde, wie zum Beispiel die Abschaffung der Unterscheidung zwischen Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge und Gegenseitigkeitsgesellschaften, die in einem anderen Bereich tätig sind, oder das Inbetrachtziehen zusätzlicher Möglichkeiten für die Gründung einer Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft.

144 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Konsultationsdokument: Gegenseitigkeitsgesellschaften in einem erweiterten Europa, 3.10.2003.

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4.3.2. Zurücknahme des Verordnungsentwurfs und Wiederaufgreifen der Initiative

Trotz positiver Reaktionen auf die Konsultation und die generell bekundete Unterstützung für die Initiative145, wurde der Entwurf einer Verordnung über das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft 2006 von der Europäischen Kommission zurückgenommen.146

Die Europäische Kommission begründete ihre Entscheidung damit, dass über mehrere Jahre hinweg keine Fortschritte im Gesetzgebungsverfahren erzielt wurden, weshalb der Vorschlag weitgehend veraltet sei und daher unter Berücksichtigung der neuen politischen und wirtschaftlichen Prioritäten neu bewertet werden müsse.147

Der Vorschlag für ein Statut wurde jedoch seit 2006 nicht vergessen. Das Europäische Parlament hat mehrfach sein Bedauern über die Zurücknahme des Verordnungsvorschlags für das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft und des Vorschlags für das Statut des Europäischen Vereins geäußert und die Kommission aufgefordert, neue Entwürfe für Statuten vorzulegen.148 Kürzlich hat das Europäische Parlament eine schriftliche Erklärung zur Einführung eines Europäischen Statuts für Gesellschaften auf Gegenseitigkeit, Verbände und Stiftungen angenommen.149 Auch der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat die Kommission aufgefordert, die Arbeit an gesonderten europäischen Satzungen für Verbände und Vereinigungen auf Gegenseitigkeit aufzunehmen.150

145 Siehe: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, GD Unternehmen, Promotion of entrepreneurship and SMEs Crafts, small businesses, cooperatives and mutuals Overview of the contributions: http://ec.europa.eu/enterprise/policies/sme/files/mutuals/summary-replies_en.pdf. 146 Zusammen mit 67 weiteren Vorschlägen, Siehe: ABl. C 64/3 vom 17.3.2006, Vorschläge der Kommission, die auf ihre allgemeine Relevanz, auf ihre Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit sowie auf sonstige Folgen überprüft und daraufhin zurückgezogen wurden (2006/C 64/03). Alle Einzelheiten zu dem Verfahren siehe: European Parliament, the legislative observatory, Procedure file: Statute for a European mutual society, reference number: COD/1991/0390, Entnommen von: http://www.europarl.europa.eu/oeil/index.jsp: März 2011. 147 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, MEMO/05/340, Brüssel, 27. September 2005. 148 Einen Überblick siehe: AMICE, List of Parliamentary reports mentioning the need for a European statute for mutual societies, 2010: Bericht des Ausschusses für konstitutionelle Fragen über das Ergebnis der Überprüfung von Vorschlägen, die sich derzeit im Gesetzgebungsverfahren befinden: P6_TA(2006)0206; Bericht des Rechtsausschusses über die jüngsten Entwicklungen und die Perspektiven des Gesellschaftsrechts: P6_TA(2006)0295; Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Währung über Maßnahmen zur weiteren Konsolidierung der Finanzdienstleistungsindustrie: P6_TA (2006)0294; Bericht des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten über ein Europäisches Sozialmodell für die Zukunft: P6_TA(2006)0340; Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Währung über das Grünbuch über Finanzdienstleistungen für Privatkunden im Binnenmarkt: P6_TA(2008)0261; Bericht des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten über die Sozialwirtschaft: P6_TA(2009)0062. 149 Europäisches Parlament, Schriftliche Erklärung zur Einführung eines Europäischen Statuts für Gesellschaften auf Gegenseitigkeit, Verbände und Stiftungen, WD 84/2010. 150 ABl. C 318/22 vom 23.12.2009, Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Unterschiedliche Unternehmensformen“ (Initiativstellungnahme) (2009/C 318/05).

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In den jüngsten Dokumenten über die Vollendung des Binnenmarktes hat die Europäische Kommission auf diese Forderungen reagiert, d. h. sie hat sich verpflichtet, für eine bessere Qualität der Rechtsvorschriften für sozialwirtschaftliche Organisationen (einschließlich Gegenseitigkeitsgesellschaften) zu sorgen151, und betont, dass Gegenseitigkeits-gesellschaften in die Lage versetzt werden sollten, grenzübergreifend tätig zu sein, um auf diese Weise die Anstrengungen der EU „zur Förderung von Wachstum und Vertrauen“ innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums zu unterstützen.152

4.3.3. Vorschlag europäischer Vertretungsorganisationen für ein Statut

Nach der Zurücknahme des Verordnungsentwurfs durch die Europäische Kommission brachten einige Interessenvertreter Initiativen auf den Weg, um das Europäische Statut wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Im November 2007 veröffentlichten die Dachverbände, die Gegenseitigkeitsgesellschaften und Organisationen mit Gegenseitigkeitsmerkmalen auf europäischer Ebene vertreten, einen gemeinsamen Vorschlag für eine Verordnung über das Statut der Europäischen Gegenseitigkeits-gesellschaft (EUGGS) als Arbeitsdokument des europäischen Gegenseitigkeitssektors.153

Zu der Zeit wurden die Gegenseitigkeitsgesellschaften auf EU-Ebene im Wesentlichen von drei Dachverbänden vertreten154: AIM (Association Internationale de la Mutualité)155, AISAM (Association Internationale des Sociétés d'Assurance Mutuelle) und ACME (Association of European Cooperative and Mutual Insurers).156 Wenngleich die Mitglieder der Dachverbände in der Vergangenheit nicht einhellig für das Statut waren und zudem nach wie vor interne Debatten zwischen den Mitgliedern der Europäischen Verbände über den Bedarf und die Notwendigkeit für ein Statut stattfinden, ist nunmehr allgemein anerkannt, dass das Statut für den Sektor der Gegenseitigkeitsgesellschaften insgesamt von Vorteil wäre.

151 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen: Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte - für eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft - 50 Vorschläge, um gemeinsam besser zu arbeiten, zu unternehmen und Handel zu treiben, Brüssel, 27.10.2010 - KOM(2010)608 endg. 152 Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen „Binnenmarktakte - Zwölf Hebel zur Förderung von Wachstum und Vertrauen - ‚Gemeinsam für neues Wachstum’“, KOM(2011) 206 endg., 2011. 153AIM/AISAM/ACME, Final Proposal for a Regulation on the Statute of the European Mutual Society (EMS) A Working Document from the European mutual sector, November 2007; http://www.amice-eu.org/ems.aspx. 154 In diesem Zusammenhang ist auch der CEA, der Europäische (Rück-)Versicherungsdachverband zu nennen, dem die nationalen Versicherungsverbände von 33 europäischen Ländern angehören. 155 Die AIM ist ein Zusammenschluss nationaler Verbände oder Vereinigungen eigenständiger Kranken- oder Sozialversicherungsträger, die nach den Grundsätzen der Solidarität und Gemeinnützigkeit ausgerichtet sind. Sie vertritt die Interessen ihrer Mitglieder, setzt sich für deren gemeinsame Werte ein und ist bestrebt, einen ständigen Informationsaustausch zwischen den Mitgliederorganisationen zu organisieren und sie über die Entwicklungen auf dem Gebiet des Sozialschutzes und der Gesundheitsversorgung auf europäischer und internationaler Ebene auf dem Laufenden zu halten. Der AIM gehören 38 nationale Verbände oder Vereinigungen autonomer Gegenseitigkeitsgesellschaften des Gesundheits- und Sozialwesens aus 23 Ländern an. Siehe: http://www.aim-mutual.org/index.php. 156AISAM und ACME haben sich 2008 zur AMICE zusammengeschlossen (Association of Mutual Insurers and Insurance Cooperatives in Europe). Die AMICE ist ein Dachverband für Versicherungen auf Gegenseitigkeit und Versicherungsgenossenschaften. Das Hauptziel der AMICE ist es sicherzustellen, dass die Stimme der Mitglieder gehört wird und dass den Interessen der Mitglieder durch die Schaffung gleicher Voraussetzungen für alle Versicherer, unabhängig von ihrer Rechtsform, Rechnung getragen wird. Die AMICE hat mehr als 100 direkte Mitglieder und vertritt indirekt mehr als 1 600 Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und genossenschaftliche Versicherungsvereine in Europa.

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Das von den europäischen Dachverbänden vorgeschlagene Statut lehnt sich an das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE) und an das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE) an, wurde jedoch auf die besonderen Merkmale von Gegenseitigkeitsgesellschaften zugeschnitten. Es ist „tätigkeitsneutral“, d. h. es ermöglicht die Ausübung jeder Art von Tätigkeiten. Im Wesentlichen enthält der Vorschlag der europäischen Vertretungsorganisationen dieselben Elemente wie der zurückgenommene Vorschlag der Kommission und stellt eine aktuelle Fassung des zwanzig Jahre alten Vorschlags dar. Darüber hinaus wird darin auf die Möglichkeit von Verschmelzungen von Gegenseitigkeitsgesellschaften hingewiesen.

Gemäß dem Statut können Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaften auf verschiedene Weise errichtet werden, so zum Beispiel:

durch Gründung auf Beschluss von mindestens zwei Gegenseitigkeitsgesellschaften, einschließlich ihrer Tochtergesellschaften oder ohne diese, die dem Recht mindestens zweier verschiedener Mitgliedstaaten unterliegen, bzw. von mindestens fünf natürlichen Personen, deren Wohnsitze in mindestens zwei Mitgliedstaaten liegen;

durch Umwandlung einer bestehenden Gegenseitigkeitsgesellschaft, einschließlich ihrer Tochtergesellschaften oder ohne diese;

durch den Zusammenschluss von Gegenseitigkeitsgesellschaften, einschließlich ihrer Tochtergesellschafen oder ohne diese, die ihren satzungsmäßigen Sitz und ihre Hauptverwaltung in der Europäischen Union haben und von denen mindestens zwei Gesellschaften dem Recht zweier verschiedener Mitgliedstaaten unterliegen;

durch den Zusammenschluss von mindestens einer Gegenseitigkeitsgesellschaft mit einer anderen Rechtsperson, sofern es sich bei der aufnehmenden Rechtsperson um die Gegenseitigkeitsgesellschaft handelt, die ihren satzungsmäßigen Sitz und ihre Hauptverwaltung in der Europäischen Union hat, und mindestens zwei der Rechtspersonen dem Recht zweier verschiedener Mitgliedstaaten unterliegen.

Ein deutlicher Unterschied zwischen dem Verordnungsentwurf der Kommission und dem Vorschlag der Europäischen Verbände betrifft die Art und Weise, in der das Reinvermögen bei Liquidation der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft aufgeteilt wird. Im Text der Kommission war festgelegt, dass „das Reinvermögen der EUGGES […] vorbehaltlich anderslautender Bestimmungen der Satzung entweder an andere EUGGES oder an andere Gegenseitigkeitsgesellschaften, die dem Recht eines der Mitgliedstaaten unterstehen, oder an eine oder mehrere Organisationen, die die Unterstützung und Förderung von Gegenseitigkeitsgesellschaften zum Ziel haben, übertragen“ wird.157

157 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, KOM(91)273 endg., Brüssel, 5. März 1992.

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Gemäß dem Vorschlag der Europäischen Verbände soll das Reinvermögen bei der Liquidation einer Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft nach dem Grundsatz einer nicht gewinnorientierten Übertragung (der in einer späteren Phase des Rechtsetzungsprozesses von der Kommission akzeptiert worden war) oder - sofern nach dem Recht des Sitzstaates der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft zulässig - nach einer anderen, in der Satzung vorgesehenen Regelung übertragen werden.158

Eines der wichtigsten Merkmale des Entwurfs eines Statuts der EUGGES ist die Möglichkeit der Gründung einer Europäischen Gruppengesellschaft auf Gegenseitigkeit. Dabei geht es darum, auf vertraglicher Grundlage finanzielle Beziehungen zwischen zwei oder mehr Rechtspersonen zu koordinieren oder zu knüpfen. In diesem Fall muss die Gruppe von zwei oder mehr Rechtspersonen gegründet werden, die ihren Sitz in zwei oder mehr Mitgliedstaaten haben.

Insgesamt ist das von den europäischen Vertretungsorganisationen vorgeschlagene Statut im Vergleich zu dem Verordnungsentwurf der Kommission eher auf bestehende Gegenseitigkeitsgesellschaften anwendbar, die die Möglichkeit haben, sich mit im gleichen Bereich tätigen ausländischen Gesellschaften zu verschmelzen und zusammenzuschließen, indem sie die zwischen ihnen bestehenden Vereinbarungen formalisieren und de facto auf einer klaren Rechtsgrundlage kooperieren.

4.3.4. Erfahrungen mit dem Statut der Europäischen Genossenschaft

Bei den Diskussionen über das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft können frühere Erfahrungen mit ähnlichen europäischen Statuten, insbesondere mit dem 2003 angenommenen Statut der Europäischen Genossenschaft von Bedeutung sein.159 Die Verordnung über das Statut der Europäischen Genossenschaft wurde durch die Richtlinie 2003/72/EG des Rates hinsichtlich der Rolle der Arbeitnehmer ergänzt.160 Mit dem Statut der Europäischen Genossenschaft fördert die Europäische Union die Entwicklung der länderübergreifenden Tätigkeiten der Genossenschaften unter Berücksichtigung ihrer besonderen Merkmale und stellt dazu geeignete Rechtsinstrumente bereit. Sie schafft Möglichkeiten für natürliche oder juristische Personen zur Gründung neuer Genossenschaften auf europäischer Ebene und wahrt die Unterrichtungs-, Anhörungs- und Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer in einer Europäischen Genossenschaft (SCE).161 Das Statut der SCE enthält Kapitel über allgemeine Vorschriften, Gründung, Gründung durch Verschmelzung, Umwandlung einer bestehenden Genossenschaft in eine SCE, Aufbau der SCE, den Umgang mit finanziellen und verwaltungstechnischen Angelegenheiten und über die Auflösung der SCE. In der Verordnung wird an vielen Stellen auf die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats Bezug genommen, in dem die SCE eingetragen ist.162

2010 wurde eine von der Europäischen Kommission finanzierte Studie zur Bewertung der Funktionsweise der SCE-Verordnung durchgeführt. 158 AIM/AISAM/ACME, Final Proposal for a Regulation on the Statute of the European Mutual Society (EMS) A Working Document from the European mutual sector, November 2007; http://www.amice-eu.org/ems.aspx. 159 Verordnung (EG) Nr. 1435/2003 des Rates vom 22. Juli 2003 über das Statut der Europäischen Genossenschaft (SCE). 160 ABl. L 207/25 vom 18.8.2003, Richtlinie 2003/72/EG des Rates vom 22. Juli 2003 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Genossenschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, 2003. 161 ABl. L 207/25 vom 18.8.2003, Richtlinie 2003/72/EG des Rates vom 22. Juli 2003 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Genossenschaft hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer, 2003. 162 Siehe: Cooperative Europe, Study on the implementation of the Regulation 1435/2003 on the Statute for European Cooperative Society (SCE), 2010, S. 36.

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Im Rahmen der Studie wurde unter anderem geprüft, ob und wie viele Europäische Genossenschaften gegründet wurden und welche rechtlichen und administrativen Hindernisse für die Gründung von SCE bestehen.163 Da die Rechtsvorschriften zu Genossenschaften beispielgebend für europäische Statuten für andere Organisationsformen innerhalb der Sozialwirtschaft sein können, ist diese Studie auch für die Zukunft der zurückgenommenen Vorschläge für Gegenseitigkeitsgesellschaften und Vereine von besonderem Interesse.164 Aus der Studie ergeben sich folgende Schlussfolgerungen:165

1) In Anbetracht der geringen Zahl von SCE-Gründungen war die SCE-Verordnung nur in begrenztem Maße erfolgreich.166

2) Es gibt mehrere ungelöste Probleme, die zu Widersprüchen und Schwierigkeiten führen. Erstens ist das Problem des Verhältnisses zwischen dem europäischen Recht und dem nationalen Recht über Genossenschaften zu nennen.

Wie bereits erwähnt, nimmt das Statut an vielen Stellen Bezug auf die nationalen Rechtsvorschriften, und da die diese von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat sehr unterschiedlich sind, führt dies zu rechtlichen Abweichungen zwischen Europäischen Genossenschaften, je nachdem, auf welche nationalen Rechtsvorschriften das Statut Bezug nimmt. Zweitens muss die Frage des tatsächlichen Mehrwerts der SCE-Verordnung geklärt werden (eine europäische Rechtsform, die mit nationalen Rechtsformen in Konkurrenz steht, oder eine eher symbolische Wirkung der Anerkennung des Werts von Genossenschaften). Nach Ansicht vieler Interessenvertreter ist die SCE-Verordnung für das europäische Image, das sie Genossenschaften verleiht, von größerer Bedeutung als für die praktischen Vorteile, die sie gegenüber dem für nationale Genossenschaften geltenden Rechtsrahmen mit sich bringt.

3) Der indirekte Einfluss in Richtung auf eine Angleichung der nationalen rechtlichen Rahmenvorschriften für Genossenschaften hält sich bislang stark in Grenzen167, und ein solcher Prozess wäre, sofern er überhaupt stattfände, zweifellos langwierig und komplex.

Alles in allem wird der wichtigste Nutzen des Statuts für den Genossenschaftssektor gemäß den Schlussfolgerungen dieser Bewertung jedoch im Wesentlichen als symbolischer Nutzen betrachtet, denn es wird eingeräumt, dass diese Unternehmen eine Schlüsselrolle in der europäischen Wirtschaft spielen.

163 Cooperative Europe, Study on the implementation of the Regulation 1435/2003 on the Statute for European Cooperative Society (SCE), 2010. 164 Siehe: Bericht der hochrangigen Gruppe von Experten auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über moderne gesellschaftsrechtliche Rahmenbedingungen in Europa, Brüssel, 4. November 2002, S. 24. Bestätigt wird dies durch eine kürzlich veröffentlichte Mitteilung der Europäischen Kommission „Auf dem Weg zu einer Binnenmarktakte - Für eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft - 50 Vorschläge, um gemeinsam besser zu arbeiten, zu unternehmen und Handel zu treiben“, Brüssel, 27.10.2010 - KOM(2010)608 endg. 165 Zitiert aus: Cooperative Europe, Study on the implementation of the Regulation 1435/2003 on the Statute for European Cooperative Society (SCE), 2010. 166 Mit Stand vom 8. Mai 2010 wurden im Rahmen der Studie 17 bestehende SCE ermittelt. 167 Dies wird durch die Feststellung gestützt, dass es in Italien die größte Zahl von SCE gibt, obwohl das Land die SCE-Verordnung gar nicht umgesetzt hat. Cooperative Europe, Study on the implementation of the Regulation 1435/2003 on the Statute for European Cooperative Society (SCE), 2010.

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Es sei daran erinnert, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften das Statut auch genutzt haben, um ihre grenzübergreifenden Tätigkeiten zu organisieren; so haben die französische Gegenseitigkeitsgesellschaft „Harmonie Mutualité“ und die italienische Gegenseitigkeitsgesellschaft „Cesare Pozzo“ eine grenzübergreifende Organisation in Form einer SCE gegründet.

4.3.5. Derzeitige Diskussionen über das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft

Über den Bedarf und die Notwendigkeit für ein Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft gehen die Meinungen auseinander. Im Rahmen der Konsultation 2003-2004 gab es viele positive Reaktionen, aber es gingen auch Beiträge ein, die die Idee eines Europäischen Statuts nicht unterstützten oder entschieden ablehnten. Ohne ein entscheidendes Argument für oder gegen das Statut oder eine vollständige Liste aller möglichen Gründe anzuführen, die für oder gegen die Einführung eines solchen Rechtsinstruments in das EU-Recht sprechen, werden nachstehend die wichtigsten Themen und Argumente analysiert, die während der Befragungen von Interessenvertretern168 für diese Studie genannt wurden.

a) Der praktische Nutzen

Argumente in Bezug auf den praktischen Nutzen, die für das Statut sprechen, betreffen die Möglichkeit, Gegenseitigkeitsgesellschaften in die Lage zu versetzen, ebenso wie Kapitalgesellschaften, mit denen sie im Wettbewerb stehen, grenzübergreifend tätig zu werden:

Gegenseitigkeitsgesellschaften sollten ebenso wie andere Unternehmensarten die Möglichkeit haben, auf europäischer Ebene zu arbeiten und sich zu organisieren, ohne ihre spezifischen Merkmale zu verlieren. Gegenseitigkeitsgesellschaften sind im Hinblick auf die grenzübergreifende Zusammenarbeit mit anderen Gegenseitigkeitsgesellschaften im Nachteil, da sie in vielen Fällen gezwungen sind, für diese Zwecke eine Holding-Gesellschaft mit Strukturen einer Aktiengesellschaft zu gründen. Somit verlieren sie durch die grenzübergreifende Tätigkeit ihren mutualistischen Charakter. In vielen Mitgliedstaaten der EU ist es Gegenseitigkeitsgesellschaften zudem nicht erlaubt, Vereinigungen zu bilden. Mit einem Europäischen Statut könnte das Rechtsinstrument zur Überwindung dieses Problems bereitgestellt werden.

Aus dem Wunsch nach einer grenzübergreifenden Tätigkeit ist für einige Gegenseitigkeitsgesellschaften eine Notwendigkeit geworden, um ihr Geschäfte auszuweiten und zugleich ihre Grundsätze der Gegenseitigkeit beizubehalten. Aufgrund der höheren Solvabilitätsspannen und Anforderungen sind Gegenseitigkeitsgesellschaften gezwungen, Skaleneffekte zu nutzen. Wenngleich dies auf verschiedene Weise erreicht werden kann, sollten Gegenseitigkeitsgesellschaften auch die Möglichkeit haben, dies grenzübergreifend innerhalb des Binnenmarktes zu tun.

Darüber hinaus sind die Risiken in den einzelnen Ländern ähnlich, und es gibt keinen Grund, warum Personen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten, die sich mit denselben Risiken konfrontiert sehen, nicht die Möglichkeit haben sollten, diese Risiken nach dem Gegenseitigkeitsprinzip abzusichern. Daher muss es problemlos möglich sein, Gegenseitigkeitsstrukturen zu schaffen.

168 Siehe Verzeichnis der Befragten in Anhang 2.

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Die Argumente, die auf praktische Hemmnisse für die Nutzung des Statuts in den Mitgliedstaaten ausgerichtet sind, betreffen das Verhältnis zwischen dem Statut und den nationalen Rechtsvorschriften:

Die Erfahrungen mit der Umsetzung des Statuts für die Europäische Genossenschaft zeigen, dass die vielen Verweise auf die nationalen Rechtsvorschriften zu komplizierten Verfahren bei der Anwendung des Statuts und zu großen Unterschieden bei seiner Anwendung in den einzelnen Mitgliedstaaten führen. Ebenso wie die nationalen Rechtsvorschriften über Genossenschaften weichen auch die Rechtsvorschriften über Gegenseitigkeitsgesellschaften in den einzelnen Mitgliedstaaten stark voneinander ab. Daher müsste ein Europäisches Statut Verweise auf die nationalen Rechtsvorschriften beinhalten, was in der Praxis zu 27 unterschiedlichen Statuten für die Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaft führen würde. Die Erstellung eines Statuts der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft wäre also praktisch nutzlos, wenn sie nicht mit einer Angleichung der nationalen Rechtsvorschriften über Gegenseitigkeitsgesellschaften einherginge, durch die die Unterschiede zwischen den Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaften begrenzt würden.

Eine der Stärken von Gegenseitigkeitsgesellschaften besteht darin, dass sie auf lokalen Märkten tätig sind und somit die Nähe zu ihren Mitgliedern gegeben ist. Die Organisation auf europäischer Ebene würde eine Distanz zwischen dem Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit und den Mitgliedern schaffen und dem Hauptvorteil eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit nicht gerecht werden.

Einige Mitgliedstaaten, wie Deutschland und Frankreich, haben bereits gute nationale Rechtsvorschriften für die Verschmelzung, den Zusammenschluss und die Zusammenarbeit von Gegenseitigkeitsgesellschaften auf nationaler Ebene.

b) Anerkennung der Gegenseitigkeit

Häufig wird auch geltend gemacht, dass die besonderen Merkmale von Gegenseitigkeitsgesellschaften bei der Politikgestaltung auf europäischer Ebene besser berücksichtigt/anerkannt werden müssen:

Gegenseitigkeitsgesellschaften spielen in der Europäischen Gesellschaft eine wichtige Rolle. Diese sollte auf europäischer Ebene anerkannt und gefördert werden.

Das Statut gewährleistet, dass das Gegenseitigkeitsprinzip bei der künftigen (europäischen) Politikgestaltung nicht außer Acht gelassen wird.

Das Hauptargument, mit dem der Bedarf für das Statut in Frage gestellt wird, lautet, dass es Gegenseitigkeitsgesellschaften so lange geben wird, wie dies aus geschäftlicher Sicht sinnvoll ist. Es gibt diese Gesellschaften seit mehr als einem Jahrhundert, sie haben sich als konkurrenzfähig gegenüber Kapitalgesellschaften erwiesen und Menschen eine Alternative für die Absicherung sozialer und anderer Risiken geboten, auch ohne ein Europäisches Statut. Gegenseitigkeitsgesellschaften sind auch ohne ein Europäisches Statut in der Lage, künftigen Mitgliedern ihre Aufgaben und ihre Werte zu vermitteln.

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c) Weitere rechtliche/politische Argumente

Die rechtlichen/politischen Argumente für das Statut stellen darauf ab, dass die Entwicklung von Gegenseitigkeitsgesellschaften in Europa durch eine Rechtslücke in einigen Mitgliedstaaten verhindert wird. Das Statut könnte eine Rechtsgrundlage für die Erbringung von Dienstleistungen auf Gegenseitigkeit durch Versicherungsunternehmen bieten oder nationale Gesetzgebungsinitiativen begünstigen:

In einigen Ländern werden die Bürger durch das Fehlen von Rechtsvorschriften für Gegenseitigkeitsgesellschaften in der freien Wahl der von ihnen bevorzugten Art des Anbieters beschränkt. Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaften würden diese Lücke schließen.

Das Statut könnte entsprechende politische Maßnahmen auf nationaler Ebene anregen und somit die europaweite Verbreitung von Gegenseitigkeitsgesellschaften fördern. Es könnte eine europäische Bezugsgrundlage bieten und für die Möglichkeit der Schaffung von Gegenseitigkeitsstrukturen sensibilisieren.

Der Grundsatz der Gegenseitigkeit entspricht der derzeitigen sozioökonomischen Agenda der Europäischen Union für ein „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wirtschaftswachstum“.

Gegenseitigkeitsgesellschaften haben eine andere Vorgehensweise. In Anbetracht der durch unverantwortliche Geschäftspraktiken verursachten Kreditverknappung spricht in der Tat einiges dafür, die Gegenseitigkeit und die Diversifizierung der Finanzinstitute zu fördern.

Ein Argument, das gegen das Statut spricht, betrifft die unterschiedlichen Traditionen im Hinblick auf Gegenseitigkeitsgesellschaften. Die Einstellung gegenüber der Gegenseitigkeit ist kulturell in den Mitgliedstaaten verankert, und daher ist die Gestaltung der Gegenseitigkeit gegebenenfalls eng mit den Präferenzen verknüpft, die in dem betreffenden Mitgliedstaat vorherrschen. Daher würde ein einheitliches Konzept und somit auch ein Europäisches Statut nicht funktionieren.

4.4. Schlussbemerkungen

Die Aktivitäten von Gegenseitigkeitsgesellschaften unterliegen weitgehend den Gemeinschaftsvorschriften für den Binnenmarkt und den Wettbewerb.

Deshalb müssen Gegenseitigkeitsgesellschaften auch die Solvabilitätsvorschriften erfüllen. „Solvabilität II“ verlangt von Anbietern von Versicherungsdienstleistungen höhere Solvabilitätsspannen und eine Risikodifferenzierung. Viele Gegenseitigkeitsgesellschaften könnten Schwierigkeiten haben, die strengeren Anforderungen von „Solvabilität II“ zu erfüllen und gleichzeitig ihre Leistungen bei wettbewerbsfähigen Beiträgen zu erbringen.

In Zukunft wird sich der Versicherungsmarkt wahrscheinlich einheitlicher gestalten, was unter anderem auch auf die Gemeinschaftsvorschriften zu Versicherungen und Finanzinstitutionen, die weitgehend von den Unternehmensmodellen der Kapitalgesellschaft ausgehen, zurückzuführen ist. Dadurch werden Gegenseitigkeitsgesellschaften möglicherweise gezwungen, immer stärker wie Kapitalgesellschaften zu handeln oder sich vom Gegenseitigkeitsgrundsatz zu entfernen.

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Abhängig von den jeweiligen Aktivitäten und dem rechtlichen/organisatorischen Rahmen, innerhalb dessen diese realisiert werden, können die Leistungen einiger Gegenseitigkeitsgesellschaften unter die Definition der „Sozialdienstleistungen von allgemeinem Interesse“ entweder „nicht gewerblicher“ oder „gewerblicher“ Natur gemäß dem EU-Recht fallen, weshalb sich nicht immer leicht feststellen lässt, ob und wie die Binnenmarkt- und Wettbewerbsregeln für sie gelten, insbesondere da Gegenseitigkeitsgesellschaften häufig Dienstleistungen in anderen, ergänzenden Bereichen erbringen. In den letzten Jahren wurden einige Streitfälle im Zusammenhang mit Gegenseitigkeitsgesellschaften vor den Europäischen Gerichtshof gebracht, so dass inzwischen eine relativ umfangreiche Rechtsprechung in diesem Bereich vorliegt.

Die Argumente zugunsten eines Statuts für die Europäische Gegenseitigkeitsgesellschaft sind nachvollziehbar. Das Statut könnte es den Gegenseitigkeitsgesellschaften ermöglichen, Skaleneffekte zu nutzen, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben. Darüber hinaus würde es die Anerkennung des Stellenwerts von Gegenseitigkeitsgesellschaften in der europäischen Politik stärken. Das Europäische Parlament, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und die Europäische Kommission haben kürzlich ihren Willen bekundet, das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft erneut auf die Tagesordnung zu setzen.

Bei der Ausarbeitung eines neuen Statuts sollten allerdings alle einschlägigen Kritikpunkte berücksichtigt werden.

Insbesondere sollte die Gebrauchstauglichkeit vorab geprüft werden, wobei auch den Erfahrungen mit dem Statut der Europäischen Genossenschaft Rechnung getragen werden sollte. Das betrifft zum Beispiel die Frage, welche Angelegenheiten durch das Statut und welche durch nationale Vorschriften geregelt werden sollen. Die Anwendung des Statuts der Europäischen Genossenschaft, das auf einem ähnlichen Konzept beruht, wird durch die Komplexität der Bezugnahme auf die nationalen Rechtsvorschriften erschwert. Wenn Initiativen zur Schaffung eines Statuts der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft ergriffen werden, dann müssen diese Themen auf der Tagesordnung stehen.

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5. GEGENSEITIGKEITSGESELLSCHAFTEN IN EINEM SICH VERÄNDERNDEN WIRTSCHAFTLICHEN UMFELD

DIE WICHTIGSTEN ERKENNTNISSE

Es spricht einiges dafür, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften in der derzeitigen Krise widerstandsfähiger sind als im gleichen Bereich tätige Kapitalgesellschaften. Allerdings ist zu betonen, dass es hierfür keine empirischen Belege gibt, die auf verlässlichen Langzeitstudien beruhen.

Wenngleich vergleichende Studien über Effizienz, Effektivität und Kunden-/ Mitgliederfreundlichkeit der Unternehmenstätigkeit von Gegenseitigkeitsgesellschaften und Kapitalgesellschaften nicht zu einheitlichen Schlussfolgerungen gelangen, so zeigen sie doch, dass beide Formen miteinander vergleichbar sind und dass die Kapitalgesellschaften den Gegenseitigkeitsgesellschaften im Allgemeinen nicht überlegen sind. In ein und demselben Markt haben sowohl Gegenseitigkeitsgesellschaften als auch Kapitalgesellschaften ihre Daseinsberechtigung. Ihre speziellen Wettbewerbsvorteile (-nachteile) hängen von den jeweiligen Organisationsstrukturen, der Art und Weise der Kapitalbeschaffung, den abgesicherten Risiken und dem Kundenkreis ab.

Eine starke Präsenz von Gegenseitigkeitsgesellschaften im Versicherungssektor bietet den Vorteil, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften in der Regel zu weniger riskanten Geschäftspraktiken neigen, und dass gemischte Märkte, in denen es sowohl Gegenseitigkeitsgesellschaften als auch Kapitalgesellschaften gibt, zu einem systemischen Vorteil für eine nachhaltige, stabile und integrative Wirtschaft führen. Für die Bereitstellung unterschiedlicher Produkte und die Betreuung unterschiedlicher Kunden gibt es kein einheitliches Konzept, und das gilt auch für Unternehmensmodelle und Eigentumsverhältnisse. Mit Blick auf die Vielfalt auf den Finanzmärkten wird auf Gegenseitigkeit beruhenden Unternehmensformen ein hoher Stellenwert beigemessen.

Wie in den vorangegangenen Kapiteln festgestellt, sind die Gegenseitigkeitsgesellschaften in hohem Maße von der Art und Weise, in der die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit organisiert sind, sowie von den auf sie anwendbaren nationalen und EU-Rechtsvorschriften betroffen. Darüber hinaus sind diese Gesellschaften aus wirtschaftlicher Sicht in offenen Märkten tätig, und ihre Entwicklung wird von der Struktur und der Dynamik bestimmt, die in dem Umfeld herrschen, in dem sie ihre Geschäfte tätigen.

In diesem Kapitel analysieren wir die Stellung der Gegenseitigkeitsgesellschaften im Versicherungsmarkt der EU und vergleichen sie mit ihren Hauptwettbewerbern. Darüber hinaus versuchen wir zu ermitteln, wie die Gegenseitigkeitsgesellschaften die Wirtschafts- und Finanzkrise bewältigt haben und welche Belege es dafür gibt, dass sie mehr oder weniger krisenresistent sind. Bevor wir uns eingehender mit diesen Fragen befassen, ist es wichtig, einen umfassenderen Blick auf die Wirtschaftskrise im Allgemeinen sowie auf ihre spezifischen Auswirkungen auf die relevanten Märkte zu werfen.

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5.1. Der Versicherungssektor und die Krise

5.1.1. Gegenseitigkeitsgesellschaften im Versicherungsmarkt

Der International Cooperative and Mutual Insurance Federation (ICMIF) zufolge belief sich der Anteil der Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und genossenschaftlichen Versicherungsvereine am gesamten Versicherungsmarkt in Europa im Jahr 2008 auf 23,9 %.169 Auf sie entfallen 22 % des Lebensversicherungsmarktes und beinahe 30 % des Schadenversicherungsmarktes. Abbildung 1 bietet einen Überblick über den Anteil von Gegenseitigkeitsgesellschaften und Genossenschaften am Versicherungsmarkt in Europa (Lebens- und Schadenversicherung).

Abbildung 1: Der Anteil der Gegenseitigkeitsgesellschaften und Genossenschaften am Versicherungsmarkt (Marktanteil Lebens- und Schadenversicherung insgesamt) in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten (2008)170

73%

60%

44% 42%39% 39%

33%29%

25% 24% 21% 20% 19% 19%15% 14% 13% 13%

6% 5% 4% 3% 2%

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

FI AT DE DK FR SK NL ES CZ SE RO EE HU BE IT LU SI BG PL UK EL PT IE

Total market share

Life

Non-life

Quelle: ICMIF Annual Mutual Market Share und Global 500 für 2007–2008, 2010, Berechnungen

der Verfasser.171 Die Werte stellen den gesamten Marktanteil dar.

169 ICMIF Annual Mutual Market Share & Global 500 for 2007–2008, 2010. 170 Es sei darauf hingewiesen, dass diese Zahl neben Gegenseitigkeitsgesellschaften und Genossenschaften auch Organisationen umfasst, die nicht den Rechtsstatus einer Gegenseitigkeitsgesellschaft haben, deren Struktur und Werte jedoch als mutualistisch oder genossenschaftlich betrachtet werden können (d. h. sie befinden sich im Eigentum der Versicherten, die zugleich Mitglieder sind, und werden in deren Interesse verwaltet und betrieben). Da international vergleichbare Daten über Gegenseitigkeitsgesellschaften im engeren Sinne leider nicht verfügbar sind, ist es gerechtfertigt, auf diese Daten zurückzugreifen, um Einblick in den Marktanteil von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit und Genossenschaften zu erhalten. Hinzu kommt, wie schon erwähnt, dass einige Mitgliedstaaten keine strikte Unterscheidung zwischen Gegenseitigkeitsgesellschaften und ähnlichen Organisationen treffen, sodass es schwierig ist, Informationen einzuholen, die ausschließlich Gegenseitigkeitsgesellschaften betreffen. Ferner sei darauf hingewiesen, dass die Daten der ICMIF auch die Geschäftstätigkeit der Tochtergesellschaften ausländischer Gegenseitigkeitsgesellschaften und Genossenschaften umfassen, was teilweise erklärt, warum der Marktanteil von Gegenseitigkeitsgesellschaften in der Slowakei relativ hoch ist, obwohl diese Rechtsform nach slowakischem Recht für Versicherungsunternehmen gar nicht zugelassen ist. Möglicherweise kann dies auch darauf zurückgeführt werden, dass es sich bei den Versicherungsunternehmen, auf die sich die Zahlen beziehen, um Genossenschaften handelt. 171 CY, LV, LT und MT sind nicht in der Zahl enthalten, da der Marktanteil von Gegenseitigkeitsgesellschaften in diesen Ländern 0 % betrug.

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82

Den Daten der ICMIF (siehe Abbildung 1) zufolge reicht der Marktanteil von Gegenseitigkeitsgesellschaften und Genossenschaften von null (wie in Zypern, Malta, Litauen und Lettland) bis zu fast drei Vierteln des Marktes wie in Finnland (73 %). Neben Finnland weisen auch Österreich, Deutschland, Dänemark, Frankreich und die Slowakei einen hohen Marktanteil auf. Abgesehen von den Mitgliedstaaten, in denen keine entsprechenden Unternehmen am Markt vertreten sind (die nicht in die Abbildung aufgenommen wurden), ist der Marktanteil auch in Irland, Portugal, Griechenland, dem Vereinigten Königreich und Polen gering.

Allerdings sind diese Daten mit Vorsicht zu betrachten. Während die ICMIF beispielsweise für Finnland einen Marktanteil von 73 % angibt, beläuft sich der Marktanteil der betreffenden Gesellschaften im Bereich der Lebens- und Schadenversicherung in Finnland anderen Quellen zufolge lediglich auf ein Viertel.172 Diese großen Unterschiede sind darauf zurückzuführen, dass die von Gegenseitigkeitsgesellschaften verwalteten gesetzlichen Rentensysteme entweder in die Daten einbezogen oder davon ausgenommen wurden.

Ein Vergleich der Ergebnisse in Bezug auf Lebens- und Schadenversicherungen ergibt, dass - abgesehen von Finnland - auch in Deutschland, Dänemark und Österreich relativ hohe Marktanteile im Lebensversicherungssektor zu verzeichnen sind. Dagegen sind die betreffenden Marktanteile in Irland, Portugal und Griechenland relativ gering.

Im Schadenversicherungssektor reicht der Marktanteil von Gegenseitigkeitsgesellschaften und Genossenschaften von null (in Zypern, Malta, Litauen und Lettland) bis 69 % in Österreich. Relativ große Marktanteile sind auch in Schweden, Frankreich und Finnland zu verzeichnen. In Estland, Luxemburg und Irland sind die Marktanteile in diesem Sektor besonders gering.

Vergleicht man die von der ICMIF angegebenen Marktanteile von 2008 und 2007, so ist in den meisten Mitgliedstaaten ein Anstieg zu verzeichnen, wie zum Beispiel in den Niederlanden (7,1 %), Bulgarien (5,8 %), Estland (4,4 %) und Finnland (2,2 %). Der einzige Mitgliedstaat, in dem in diesem Zeitraum eine deutlich rückläufige Entwicklung zu verzeichnen war, ist Luxemburg (6,4 %).173

Den Statistiken der ICMIF zufolge haben die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und die genossenschaftlichen Versicherungsvereine die Versicherungsbeiträge im Jahr 2008 insgesamt um 2,3 % erhöht 2008.174

5.1.2. Die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise auf die Versicherungsmärkte

Der Versicherungsmarkt in Europa hat bei den direkten Prämieneinnahmen ein Wachstum von 648 Mrd. EUR im Jahr 1999 auf mehr als 1 000 Mrd. EUR im Jahr 2008 erzielt.175 Es bestehen jedoch große Unterschiede zwischen den nationalen Märkten. In einigen Mitgliedstaaten war aufgrund der reifen Märkte in den letzten Jahrzehnten nur ein begrenztes Wachstum zu verzeichnen (z. B. in Deutschland, Schweden und dem Vereinigten Königreich), während die Versicherungsmärkte in anderen Mitgliedstaaten ein rasches Wachstum aufweisen (vor allem in den neuen Mitgliedstaaten).

172 Tapiola Group, Answers to the questions raised in European Commission's consultation document mutual societies in an enlarged Europe, 2004. 173 Siehe Anhang 5: Overview of ICMIF data on mutual and cooperative market share in 2008. 174 A.M. Best, Mutuals Under the Microscope As Market Share Grows, 2009; ICMIF Annual Mutual Market Share & Global 500 für 2007–2008, 2010. 175 CEA, European Insurance in Figures, 2009.

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Wie in Abbildung 2 dargestellt, kam es 2008 in einigen Ländern zu einem Markteinbruch (z. B. in Belgien, Estland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Ungarn, Irland, Italien, Litauen, Malta und - in geringerem Maße - Schweden).

Abbildung 2: Direkte Prämieneinnahmen insgesamt im europäischen Versicherungsmarkt (indexiert (1999=100))

0

100

200

300

400

500

600

1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008

AT BE BG CY

CZ DE DK EE

ES FI FR UK

GR HU IE IT

LT LU LV MT

NL PL PT RO

SE SI SK

Quelle: CEA, European Insurance in Figures, 2009. Berechnungen der Verfasser.

Mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Herbst 2008 gerieten die Finanzmärkte in eine schwere Krise. Einer der Gründe für die Krise war das Platzen der Immobilienblase aufgrund der unerschwinglich hohen Hypothekensätze. Alle großen Banken waren betroffen und hatten Schwierigkeiten, ihre Stellung zu halten.

Die Krise brachte die Finanzinstitutionen in ernsthafte Schwierigkeiten, und in einer erheblichen Anzahl von Fällen mussten die nationalen Regierungen vom Zusammenbruch bedrohten Finanzinstitutionen staatliche Beihilfen gewähren. Weltweit sahen sich Regierungen gezwungen, auf staatliche Mittel zurückzugreifen, um angeschlagene Banken zu retten, da diese oftmals zu groß waren, um in Konkurs zu gehen. Hätte man diese Banken in Konkurs gehen lassen, dann hätte dies noch schädlichere Auswirkungen auf die Realwirtschaft gehabt.

Alle Finanzmärkte einschließlich des Versicherungsmarktes waren in erheblichem Maße von dem finanziellen und wirtschaftlichen Abschwung in den Jahren 2008 und 2009 betroffen und spüren die Auswirkungen noch heute. Der Banken- und der Versicherungssektor sind miteinander verbunden und bieten oftmals, wie im Fall der Allfinanzbanken, gemeinsame Produkte an, wobei die Versicherungsgesellschaften die Vertriebskanäle der Banken nutzen (so ist beispielsweise eine Hypothek von der Bank oft - wenn auch nicht immer - mit einer Lebensversicherung gekoppelt).

Innerhalb des Versicherungsmarktes sind jedoch einige Segmente wesentlich härter von der Rezession betroffen als andere. Der Bereich der Schadenversicherung gehört zu den am wenigsten betroffenen Märkten.

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Nach zwei schwierigen Jahren mit sehr verhaltenem Wirtschaftswachstum war 2010 wieder ein robustes Wachstum zu verzeichnen.176 Gleichzeitig litt der Bereich der Lebensversicherung erheblich unter der Finanzkrise, aber auch hier fand 2010 eine Rückkehr zum positiven Wachstum statt. Beim Gesamtbetrag der Lebensversicherungsprämien in Europa war 2008 ein nominaler Rückgang um 11 % zu konstanten Wechselkursen (-16 % zu laufenden Wechselkursen) zu verzeichnen, d. h. es wurden 644 Mrd. EUR eingenommen, gegenüber 766 Mrd. EUR im Jahr 2007.177 Die weltweiten Prämieneinnahmen sind 2010 um 4,4 % gestiegen, während sich in den Industrieländern ein moderates Wachstum von 2,7 % abzeichnete.178

5.2. Gegenseitigkeitsgesellschaften und Kapitalgesellschaften im Vergleich

Wie aus den vorangegangenen Kapiteln zu ersehen ist, sind Gegenseitigkeitsgesellschaften hauptsächlich in offenen Versicherungsmärkten tätig, wo sie der Konkurrenz durch andere Wirtschaftsteilnehmer ausgesetzt sind, bei denen es sich überwiegend um Kapitalgesellschaften handelt.

Im Vergleich zu den Kapitalgesellschaften, mit denen sie im Wettbewerb stehen, handelt es sich bei Gegenseitigkeitsgesellschaften oftmals um kleine, ortsansässige Organisationen, die sich auf eine begrenzte Zahl von Geschäftsbereichen konzentrieren.179 Es gibt jedoch auch sehr große Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, etwa in Frankreich (z. B. MAIF, MACIF, MGEN).180 In diesem Abschnitt vergleichen wir Gegenseitigkeitsgesellschaften und Kapitalgesellschaften im Hinblick auf ihren Kundenkreis, die von ihnen abgesicherten Risiken, die verschiedenen Kanäle, die sie für die Kapitalbeschaffung nutzen, und die Effizienz und Effektivität der jeweiligen Unternehmensform.

5.2.1. Homogenität und Heterogenität des Kundenkreises der Versicherungsunternehmen und der von ihnen abgesicherten Risiken

Es drängt sich die Frage auf, warum so unterschiedliche Unternehmensformen wie die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und gewöhnliche Kapitalgesellschaften auf ein und demselben Markt miteinander konkurrieren.

Als eine wirtschaftstheoretische Erklärung des Nebeneinanders dieser beiden Unternehmensformen auf dem Versicherungsmarkt sei erwähnt, dass jede der Eigentumsstrukturen einen komparativen Vorteil bei der Vermeidung verschiedener Arten von Agenturproblemen bietet.

176 Swiss Re, Global Insurance review 2010 and outlook 2011/12, 2010. 177 CEA, European Insurance in Figures, 2009. 178 Swiss Re, Global Insurance review 2010 and outlook 2011/12, 2010. 179 Best’s Special Report – Global Mutual Insurance. Market Review October 5 2009. Mutuals Under the Microscope As Market Share Grows. 180 MAIF : Mutuelle d'assurance des instituteurs de France; MACIF: Mutuelle d'Assurance des Commerçants et Industriels de France, MGEN: Mutuelle Générale de l'Éducation Nationale.

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Während Gegenseitigkeitsgesellschaften beispielsweise den Vorteil aufweisen, dass es keine Konflikte zwischen Anteilseignern und Versicherungsnehmern gibt (da es sich um ein und dieselben Personen handelt), sind Kapitalgesellschaften besser in der Lage, ihre Führungskräfte zu kontrollieren und in die gewünschte Richtung zu lenken.181

Von anderer Seite wird hervorgehoben, dass jede der Unternehmensformen einen anders gearteten Kundenkreis hat und andersgeartete Risiken absichert.182 Untersuchungen deuten darauf hin, dass es eine Vielfalt an Risikostrategien gibt und dass das Nebeneinander verschiedener Risikostrategien der Heterogenität der Verbraucherschaft geschuldet ist.183 Im Allgemeinen ist für Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit eher die Homogenität des Risikos kennzeichnend, während Kapitalgesellschaften eher heterogene Risiken absichern. So besteht, wenn es Personengruppen mit gleich hohem Risikoniveau zu versichern gilt, eine größere Wahrscheinlichkeit, dass sich Versicherungsgesellschaften als Vereine auf Gegenseitigkeit organisieren. Diese allgemeine Regel hat auch Einfluss auf die Größe der Gesellschaften. Auf Homogenität beruhende Gesellschaften sind in der Regel kleiner, während auf Heterogenität beruhende Gesellschaften größer sind.184

Außerdem ist der Versicherungsmarkt, wie bereits erwähnt, ein von großer Vielfalt gekennzeichneter Markt, der sich auf viele verschiedene Risikoarten sowie auf viele verschiedene Personengruppen erstreckt, die alle jeweils eigene Forderungen, Wünsche und Präferenzen geltend machen. Diese Vielfalt rechtfertigt das Vorhandensein verschiedener Arten und Kategorien von Anbietern. Somit deutet die Heterogenität der Institutionen und Märkte auf eine Heterogenität der Kunden hin.185 Es gibt kein einheitliches Konzept, und sowohl die Kapitalgesellschaften als auch die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit haben eine eigene spezifische Marktposition.

181 Mayers, D. und C. Smith, Ownership Structure across Lines of Property-Casualty Insurance, in: Journal of Law and Economics, 31, 351-78, 1988, zitiert aus: Bourlès, Renaud, On the emergence of private insurance in presence of mutual agreements, 2009. 182 Doherty and Dionne (Doherty, N.A., G. Dionne, Insurance with Undiversifiable Risk: Contract Structure and Organizational Form of Insurance Firms, in: Journal of Risk and Uncertainty, 1993, 6, p. 187—203.) weisen nach, dass es unterschiedliche Arten von Risiken gibt (auf besondere Merkmale einer Einzelperson oder Gruppe zurückzuführende (idiosynkratische) oder nicht auf besondere Merkmale einer Einzelperson oder Gruppe zurückzuführende (nicht idiosynkratische) Risiken) und dass dieser Unterschied ausschlaggebend dafür ist, ob auf ein Versicherungsunternehmen in Form einer Kapitalgesellschaft (nicht-partizipative Politik) oder eine Gegenseitigkeitsgesellschaft (partizipative Politik) zurückgegriffen wird. Smith und Stutzer (Smith, B. and M. Stutzer, Adverse Selection, Aggregate Uncertainty, and the Role of Mutual Insurance Contracts, in: Journal of Business, 63(4), S. 493-510, 1990) zeigen ebenfalls, unter Verwendung einer Variante eines adversen Selektionsmodells von Rothschild und Stiglitz (Rothschild, Michael, Stiglitz, Joseph E, Equilibrium in Competitive Insurance Markets: An Essay on the Economics of Imperfect Information, in: The Quarterly Journal of Economics, MIT Press, vol. 90(4), p. 630-49, 1976), dass Gegenseitigkeitsgesellschaften aufgrund ihres partizipativen Charakters Einzelpersonen anziehen, die ein geringes Risiko anstreben und ihre Art signalisieren wollen. Zitiert aus: Bourlès, Renaud, On the emergence of private insurance in presence of mutual agreements, 2009. 183 Ligon, James A., Paul D. Thistle, The Formation of Mutual Insurers in Markets with Adverse Selection, in: The Journal of Business, Vol. 78, No. 2 pp. 529-556 Year: 2005. 184 Andererseits haben Untersuchungen über neuseeländische Lebensversicherungsgesellschaften (Kapitalgesellschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften) entgegen den Erwartungen ergeben, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften größer sind als die Kapitalgesellschaften, und es konnte kein empirischer Beleg dafür gefunden werden, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften dazu tendieren, die Unternehmensgröße zu begrenzen, um den unternehmerischen Ermessensspielraum einzuschränken (Siehe: Adams, Mike, Mahmud Hossain, Choice of organizational form in the life insurance industry: New Zealand evidence, in: Asia Pacific Journal of Management Vol 13, No 1, S. 19-35, 2005). 185 Ligon, James A., Paul D. Thistle, The Formation of Mutual Insurers in Markets with Adverse Selection, in: The Journal of Business, Vol. 78, No. 2 pp. 529-556 Year: 2005.

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5.2.2. Zugang zu Kapital

Ein wichtiger Unterschied zwischen einer Kapitalgesellschaft und einem Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit ist die Art und Weise der Beschaffung von Risikokapital. Kapitalgesellschaften beschaffen zunächst Kapital von Anlegern (Anteilseignern) und verkaufen dann Versicherungspolicen. Dagegen beschaffen Gegenseitigkeitsgesellschaften ihr Kapital über die Versicherungsbeiträge. Im letztgenannten Fall ist das Risikokapital unmittelbar an den Verkauf von Versicherungsverträgen gebunden.

Die Zeitreihenuntersuchung (unter Berücksichtigung des Zeitraums 1984-1999) zeigt, dass Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit für die Beschaffung neuen Kapitals im Allgemeinen höhere Kosten aufwenden müssen als Kapitalgesellschaften.186

Dies bringt Gegenseitigkeitsgesellschaften in eine ungünstigere Position (auch in Anbetracht der neu festgelegten Solvabilitätsanforderungen). Während Kapitalgesellschaften besseren Zugang zu Kapital haben, wird dieser Nachteil bei Gegenseitigkeitsgesellschaften offenbar durch ihre Verbindung mit den Versicherungsnehmern/Eigentümern ausgeglichen, die ein gemeinsames Interesse haben und eine weniger heterogene Eigentümergemeinschaft bilden.187 Sie können ihre Mitglieder erforderlichenfalls auffordern, zusätzliches Kapital bereitzustellen.

Darüber hinaus kann es sich für Kapitalgesellschaften im Zusammenhang mit der Kapitalbeschaffung als schwierig erweisen, dass sie in hohem Maße von externem Kapital abhängig sind. Problematisch wird dies, wenn die Anleger im Falle einer Finanzmarktkrise ihre Gelder abziehen oder wenn sich der Wert der Anlagen verringert. In diesem Fall reichen die eigentlichen Versicherungsbeiträge der Versicherten nicht aus, um die Risiken abzusichern. Dieses Problem haben Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit dank der Verbindung zwischen Risikokapital und Versicherungsverträgen nicht, sodass sie in unsicheren Zeiten eine sicherere und nachhaltigere Unternehmensform darstellen.188

Die Tatsache, dass sie nicht ähnlich wie Kapitalgesellschaften Zugang zu (Risiko-) Kapital haben, ist für Gegenseitigkeitsgesellschaften insofern von Nachteil, als sie dadurch gezwungen sind, erforderlichenfalls andere Wege zur Kapitalaufstockung zu finden. So können Gegenseitigkeitsgesellschaften, um ihr Kapital aufzustocken, ihr Geschäft durch den Verkauf von Versicherungsverträgen an eine größere Zahl von Personen, durch den Verkauf von Versicherungsverträgen auf neuen Märkten oder durch die Erweiterung ihrer Produktpalette ausbauen. Darüber hinaus können sie ihre Aktivitäten kosteneffektiver organisieren und/oder Skaleneffekte nutzen. Zusätzlich können sie Skaleneffekte erzielen, indem sie mit anderen Gegenseitigkeitsgesellschaften - auch grenzübergreifend - fusionieren oder Bündnisse eingehen.

Allerdings bestehen häufig rechtliche und administrative Hindernisse für solche Erweiterungen.

Zum Beispiel dürfen Gegenseitigkeitsgesellschaften, wie in den vorangegangenen Kapiteln dargelegt, in vielen Mitgliedstaaten nur bestimmten geschäftlichen Aktivitäten nachgehen und können deshalb nicht immer zusätzliche Leistungen anbieten.

186 Harrington, Scott E., Greg Niehaus, Capital Structure Decisions in the Insurance Industry: Stocks versus Mutuals, in: Journal of Financial Services Research 21: 1/2 145-163, 2002. 187 Laux, Christian, Alexander Muermann, Financing risk transfer under governance problems: Mutual versus stock insurers, in: Journal of Financial Intermediation 19 (2010), S. 333–354, 2010.

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Eine weitere Beschränkung ergibt sich aus der Tatsache, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften daran gehindert werden, bei grenzübergreifenden Tätigkeiten ihre Grundsätze der Gegenseitigkeit (im Hinblick auf die grenzübergreifende Eigentumsstruktur, demokratische Führung usw.) beizubehalten.189 Daher wird argumentiert, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften für grenzübergreifende Bündnisse die Form einer Kapitalgesellschaft annehmen müssen.

5.2.3. Leistungsfähigkeit im Vergleich

Wenngleich im Allgemeinen davon ausgegangen wird, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften aufgrund der Tatsache, dass die Versicherungsnehmer zugleich auch die Eigentümer sind, effizienter arbeiten und sich durch größere Kunden-/Mitgliederfreundlichkeit auszeichnen, ergibt die Auswertung verschiedener Studien über die (Kosten-) Effizienz von Versicherungsgesellschaften kein einheitliches Bild:

Studien, z. B. in den Niederlanden, zeigen, dass die Unterschiede, die bei der Kosteneffizienz zwischen Kapitalgesellschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften bestehen, von Geschäftsbereich zu Geschäftsbereich erheblich schwanken. Am größten ist der Kostenvorteil für Versicherungsnehmer von Gegenseitigkeitsgesellschaften bei der Unfall- und Krankenversicherung. Dies ist - gemessen am Marktanteil - der erfolgreichste Geschäftsbereich der auf Gegenseitigkeit beruhenden Eigentumsform.190

Der französischen Autorité de contrôle des assurances et des mutuelles (ACAM) zufolge können Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, da sie keine Anteilseigner haben, mehr Dienste und Leistungen für ihre Mitglieder bereitstellen als Kapitalgesellschaften. Gegenseitigkeitsgesellschaften haben im Allgemeinen geringere Verwaltungskosten. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass es aufgrund der unterschiedlichen Bereiche und Tätigkeiten von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit und Kapitalgesellschaften schwierig ist, Vergleiche anzustellen.191

In anderen Studien konnten offenbar keine wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Eigentumsformen im Hinblick auf Leistung und Produktqualität festgestellt werden. Beide Formen sind bei der Verwaltung der Stückkosten und der Erzielung hoher Renditen gleichermaßen effizient.192

188 Siehe: Laux, Christian, Alexander Muermann, Financing risk transfer under governance problems: Mutual versus stock insurers, in:Journal of Financial Intermediation 19 (2010), S. 333–354, 2010. 189 Wie in Kapitel 4 dargelegt, ist die grenzüberschreitende Fusion und Zusammenarbeit eines der Argumente, die bei Debatten über das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft ins Feld geführt werden. Als ein Beispiel für ein Instrument auf Mitgliedstaatenebene, das Gegenseitigkeitsgesellschaften eine Ausweitung der Geschäftstätigkeit und die Nutzung von Skalenvorteilen ermöglicht, kann das französische SGAM-Modell (Société de Groupe d’Assurance Mutuelle) betrachtet werden, das in Kapitel 2 dieses Berichts kurz beschrieben wird. 190 Bikker, Jacob A., Janko Gorter, Restructuring of the Dutch nonlife insurance industry: consolidation, organizational form, and focus, in: The Journal of Risk and Insurance, 2011, Band 78, Nr. 1, S. 163-184. 191 Siehe: Autorité de Contrôle des Assurances et des Mutuelles, Rapport d’activité, 2009. 192 Shinozawa, Yoshikatsu, Mutual versus proprietary ownership: an empirical study from the UK unit trust industry with a company-product measure, Annals of Public and Cooperative Economics, Band 81, Ausgabe 2, S. 247–280, Juni 2010.

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Vergleichende Studien über die Entwicklung und Leistung von britischen „Building Societies“ und Gesellschaften, die um 1997193 in eine andere Rechtsform überführt (demutualisiert) wurden, widersprechen der Idee, dass Gegenseitigkeits-gesellschaften leistungsfähiger sind als Kapitalgesellschaften. Andererseits wird in derselben Studie, die zu diesem Ergebnis kommt, die Frage aufgeworfen, ob „Gegenseitigkeitsgesellschaften“ als eine homogene Gruppe betrachtet werden können, d. h. es können auch zwischen den verschiedenen Arten von Gegenseitigkeitsgesellschaften Unterschiede bei der Leistungsfähigkeit bestehen.194

Eine kürzlich durchgeführte Umfrage über die Zufriedenheit der Kunden mit britischen Versicherungsgesellschaften zeigt nicht nur, dass Gegenseitigkeits-gesellschaften in der Regel bessere Dienstleistungen erbringen, sondern auch, dass Kunden/Mitglieder von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit, obwohl sie sich der Tatsache, auf Gegenseitigkeit versichert zu sein, gar nicht bewusst sind, eine positivere Einstellung gegenüber dem Versicherungsgewerbe im Allgemeinen haben.195

Was den letztgenannten Punkt betrifft, sei jedoch darauf hingewiesen, dass von Wissenschaftlern häufig betont wird, dass die Frage der Kunden-/Mitgliederfreundlichkeit oft nicht direkt mit der Rechtsform, sondern mit der Größe der Organisation zusammenhängt. Da kleinere Versicherungsgesellschaften in der Regel kundennah arbeiten, bieten sie oft einen besseren Service. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei diesen kleineren Gesellschaften oftmals um Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit handelt, ergibt sich daraus indirekt die Feststellung, dass letztere ihre Dienstleistungen tendenziell besser auf die Bedürfnisse ihrer Kunden/Mitglieder abstimmen.

Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass die Ergebnisse der Studien durch ihre starke Ausrichtung auf die jeweiligen nationalen Gegebenheiten beeinflusst sind. Keine der Studien wurde europaweit durchgeführt oder basiert auf einer anderen Vergleichsebene.

5.3. Das Abschneiden der Gegenseitigkeitsgesellschaften in der jüngsten Finanzkrise

In den vorangegangenen Abschnitten haben wir eine Reihe von Unterschieden zwischen Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit und Kapitalgesellschaften aufgezeigt. In diesem Abschnitt soll die Frage erörtert werden, ob Gegenseitigkeitsgesellschaften in der Finanzkrise widerstandsfähiger sind als im gleichen Bereich tätige Kapitalgesellschaften. Zu diesem Zweck werden einige aktuelle Analysen zu diesem Thema diskutiert.

193 Die erste Demutualisierung erfolgte bereits 1989, aber die wichtigste Episode in diesem Prozess fand im Jahr 1997 statt, als vier der sehr großen Building Societies umgewandelt wurden. Siehe: Shiwakoti, Radha K., Kevin Keasey, Robert Hudson, Comparative performance of UK mutual building societies and stock retail banks: further evidence, in: Accounting & Finance, Band 48, Ausgabe 2, S. 319–336, Juni 2008, S. 320. 194 Shiwakoti, Radha K., Kevin Keasey, Robert Hudson, Comparative performance of UK mutual building societies and stock retail banks: further evidence, in: Accounting & Finance, Band 48, Ausgabe 2, p. 319–336, Juni 2008. 195 Siehe: Association of British Insurers (ABI), Industry report 2007/08 Customer impact survey, 2008. Calculation on the difference between mutuals and stock holding companies: Association of Financial Mutuals: http://www.financialmutuals.org/index.php?option=com_content&view=article&id=93.

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In einem kürzlich von der Ratingagentur Moody’s veröffentlichten Bericht wird festgestellt, dass im Lebensversicherungsmarkt tätige Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit in Krisenzeiten eine höhere Kreditwürdigkeit aufweisen als im gleichen Bereich tätige Kapitalgesellschaften.196 Nachstehend sind die aufgeführten typischerweise bestehenden Hauptunterschiede zwischen den im Lebensversicherungsgeschäft tätigen Kapitalgesellschaften und Gegenseitigkeitsgesellschaften aufgelistet, die deren Kreditwürdigkeit in diesem schwierigen Umfeld beeinflussen.197 Die meisten dieser Faktoren, wie die weniger riskanten Geschäftsaktivitäten, wurden bereits in den vorangegangenen Abschnitten dieses Berichts erörtert:

Gegenseitigkeitsgesellschaften haben eine stärkere Kapitalausstattung. Die meisten Gegenseitigkeitsgesellschaften verfügen über mehr und qualitativ hochwertigeres Kapital (ihre Kapitalstruktur weist im Allgemeinen einen geringeren Fremdkapitalanteil auf), das es ermöglicht, unerwartete Schocks abzufedern.

Sie konzentrieren sich auf weniger riskante Geschäftsaktivitäten und Produkte;

Sie haben ein geringeres finanzielles/Offenlegungs- und Schlagzeilenrisiko (d. h. die Tatsache, dass sie nicht börsennotiert und somit in geringerem Maße abhängig von den ständigen Schwankungen an den Börsen sind, macht sie weniger angreifbar gegenüber Negativschlagzeilen oder kurzfristig schlechter Presse, die die Geschäftsposition und Finanzkraft eines Unternehmens schwächen können).

Sie sind aufgrund des erschwerten Zugangs zu den Kapitalmärkten auch weniger von diesen abhängig.

Die Interessen von Eigentümern und Gläubigern/Versicherungsnehmern stimmen stärker überein und sind auf einen längeren Zeitraum ausgerichtet.

Andere Ratinginstitutionen, wie AM Best, berichten, dass die Gegenseitigkeitsgesellschaften vor dem Hintergrund der derzeitigen finanziellen und wirtschaftlichen Rezession offenbar besonders gut abschneiden. Aus den Daten von 2008 bis Mitte April 2010 (einschließlich Daten über Genossenschaften, Friendly Societies, und gemeinnützige Unternehmen) geht hervor, dass sich die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit im Vergleich zu anderen Arten von Versicherungsgesellschaften als relativ stabil erwiesen haben. Ihr Erfolg beruht offenbar darauf, dass sie nicht unter dem Druck stehen, Anteilseignern Kapital zurückzahlen zu müssen, sowie auf der Loyalität ihrer Kunden.198

196 Zitiert aus: Moody’s insurance, Revenge of the Mutuals Policyholder-Owned U.S. Life Insurers Benefit in Harsh Environment, Summary Opinion, 2009. 197 Zitiert aus: Moody’s insurance, Revenge of the Mutuals Policyholder-Owned U.S. Life Insurers Benefit in Harsh Environment, Summary Opinion, 2009.

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In einem Dokument, das dem Britischen Parlament von der Building Societies Association vorgelegt wurde, wird darauf hingewiesen, dass die Gegenseitigkeitsgesellschaften zwar von der Finanzkrise und der Rezession betroffen waren, jedoch im Allgemeinen besser abgeschnitten haben als die mit ihnen im Wettbewerb stehenden AG199 und dass sie vergleichsweise wenig Unterstützung seitens der Regierung in Anspruch genommen haben. Die Gegenseitigkeitsgesellschaften seien den Herausforderungen der Finanzkrise auf verschiedene Weise begegnet. Sehr viele große und kleine Building Societies hätten sich angesichts der Schwierigkeiten der letzten Jahre gut behauptet.200

Allerdings muss ungeachtet der interessanten Beobachtungen, die darauf hindeuten, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften in der derzeitigen Krise widerstandsfähiger sind als im gleichen Bereich tätige Kapitalgesellschaften, betont werden, dass es hierfür keine empirischen Belege gibt, die auf verlässlichen Langzeitstudien beruhen.

5.4. Schlussbemerkungen

Abgesehen von dem Argument, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften in Krisenzeiten wahrscheinlich widerstandsfähiger sind als Kapitalgesellschaften, spricht ein weiteres Argument dafür, das Gegenseitigkeitsprinzip im Finanzsektor zu fördern. Es besteht ein breiter Konsens darüber, dass der Finanzsektor - und die Wirtschaft im weiteren Sinne - von einer Vielfalt an Eigentumsstrukturen und Unternehmensformen profitieren.201 Diese Vielfalt ermöglicht Sektoren die Anpassung an ein sich veränderndes Umfeld. Während Kapitalgesellschaften in Zeiten steigender Börsenkurse bei ihrer Geschäftstätigkeit gegenüber Gegenseitigkeitsgesellschaften im Vorteil sind, ist in Krisenzeiten möglicherweise eher eine längerfristige Perspektive angebracht, wie sie für das Geschäft von Gegenseitigkeitsgesellschaft kennzeichnend ist.

Da nicht vorhergesagt werden kann, welche Rechtsform für eine neue besondere Lage, in einem unsicheren, sich verändernden Marktumfeld am geeignetsten ist, hat eine Vielfalt an Unternehmensstrukturen den Vorteil, sich unvorhergesehenen Ereignissen und Entwicklungen flexibel anpassen zu können.202 Durch die Vielfalt verringern sich die institutionellen Risiken, die definiert sind als Abhängigkeit von einer einheitlichen Sichtweise, bei der die Gefahr besteht, dass sie unter unerwarteten Bedingungen wie der derzeitigen Krise ernsthafte Mängel an den Tag legt.203 Es wird auch geltend gemacht, dass die Vielfalt in den Finanzsystemen das Wirtschaftswachstum fördert und die Armut verringert, und dass ein Finanzmarkt, in dem unterschiedliche Eigentumsverhältnisse herrschen, stärker wettbewerbsorientiert und weniger risikobehaftet ist als einer, in dem ausschließlich Gegenseitigkeitsgesellschaften oder ausschließlich Kapitalgesellschaften tätig sind.204

198 A.M. Best, Mutuals Maintain Momentum, But Challenges Mount, 2010. 199 Aktiengesellschaft. 200 Written evidence submitted by the Building Societies Association, September 2010. 201 Michie, Jonathan, David T. Llewellyn, Converting Failed Financial Institutions into Mutual Organisations, in: Journal of Social Entrepreneurship, Band 1, Ausgabe 1, März 2010, S. 146 – 170, 2010. 202 Michie, Jonathan, David T. Llewellyn, Converting Failed Financial Institutions into Mutual Organisations, in: Journal of Social Entrepreneurship, Band 1, Ausgabe 1, März 2010, S. 146 – 170, 2010. 203 Ayadi, Rym, Reinhard H. Schmidt, Santiago Carbó Valverde (Centre for European Policy Studies), Investigating diversity in the Banking Sector in Europe, the performance and role of savings banks, 2009, preface, S. iii. 204 Cuevas C.E., Fischer K.P., Cooperative Financial Institutions, Issues in Governance, Regulation, and Supervision, World Bank Working Paper n°82, 2006.

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Ausgehend von diesem Plädoyer für die Diversifizierung wird in einer vor kurzem durchgeführten Studie geltend gemacht, dass die Idee der Gegenseitigkeit aus drei Gründen weiter gefördert werden sollte:

Gegenseitigkeitsgesellschaften tendieren weniger zu riskanten spekulativen Aktivitäten;

ein gemischtes System verleiht dem Finanzsektor in Krisenzeiten größere Stabilität, und

ein stärkerer Gegenseitigkeitssektor belebt den Wettbewerb.205

In vielen Ländern hat sich die Vielfalt der Finanzinstitutionen in den 1990er Jahren verringert, was darauf zurückzuführen ist, dass dem Renditestreben und dem Risikomanagement ein höherer Stellenwert beigemessen wurde. Die Verfolgung kurzfristiger Renditeziele ließ alle Finanzinstitute demselben Ziel nachjagen - der Maximierung ihrer Gewinne. Der Schwerpunkt verlagerte sich vom traditionellen Banken- und Versicherungsgeschäft (mit einer langfristigen Strategie) zu gewinnträchtigeren und riskanteren Geschäften und Produkten (häufig mit einer kurzfristigen Strategie). Diese Bewegung, die die Auflösung von Gegenseitigkeitsgesellschaften einschloss, führte zu einer finanziellen Monokultur.206

Es ginge zu weit, die Finanzmarktkrise auf die mangelnde Vielfalt an institutionellen Formen zurückzuführen, aber es steht außer Frage, dass die mangelnde Vielfalt die Krise verschärft und den Sektor insgesamt weniger widerstandsfähig gegenüber einem sich radikal verändernden Umfeld gemacht hat.207 Daher könnte die Förderung einer Diversifizierung der Gesellschaftsformen als ein Mittel angesehen werden, um künftige Krisen zu vermeiden oder ihre voraussichtlichen Auswirkungen einzudämmen.

205 Michie, Jonathan, David T. Llewellyn, Converting Failed Financial Institutions into Mutual Organisations, in: Journal of Social Entrepreneurship, Band 1, Ausgabe 1, März 2010, S. 146 – 170, 2010. 206 Infolgedessen wurde das Finanzsystem, wie zuvor die Pflanzen, Tiere und Ozeane, weniger resistent gegen Krankheiten. Als sich die Umweltfaktoren verschlechterten, verschärfte die Homogenität der finanziellen Ökosysteme die Wahrscheinlichkeit ihres Zusammenbruchs ganz erheblich. Zitiert aus: Michie, Jonathan, David T. Llewellyn, Converting Failed Financial Institutions into Mutual Organisations, in: Journal of Social Entrepreneurship, Band 1, Ausgabe 1 März 2010, S. 146 – 170, 2010. Siehe: Haldane, Andrew G., Rethinking the Financial Network, Speech delivered at the Financial Student Association, Amsterdam, 2009. 207 This analysis is supported by the European Parliament stating: “the diversity of legal models and business objectives of the financial entities in the retail banking sector (banks, savings banks, co-operatives, etc) is a fundamental asset to the EU’s economy which enriches the sector, corresponds to the pluralist structure of the market and helps to increase competition in the internal market”. (Entschließung des Europäischen Parlaments, 5. Juni 2008), zitiert aus: Michie, Jonathan, David T. Llewellyn, Converting Failed Financial Institutions into Mutual Organisations, in: Journal of Social Entrepreneurship, Band 1, Ausgabe 1, März 2010, S. 146 – 170, 2010.

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6. DIE GEGENWÄRTIGE UND DIE KÜNFTIGE ROLLE VON GEGENSEITIGKEITSGESELLSCHAFTEN IN DER EU

DIE WICHTIGSTEN ERKENNTNISSE

Aufgrund des demografischen Wandels (alternde Gesellschaft) werden die öffentlichen Ausgaben für die soziale Sicherheit voraussichtlich unter Druck geraten. Dies könnte zu einer Verlagerung der sozialen Absicherung vom obligatorischen gesetzlichen Sozialschutz zur freiwilligen Komponente führen.

Infolge des Wettbewerbs und des verstärkten Konvergenzdrucks durch die EU-Binnenmarktvorschriften werden Gegenseitigkeitsgesellschaften möglicherweise gezwungen, im Interesse einer gesunden und nachhaltigen Geschäftstätigkeit in immer stärkerem Maße die Merkmale und Managementtechniken der Kapitalgesellschaften (wie Risikoselektion und Prämiendifferenzierung) zu übernehmen.

Wenn Risikoselektion und Prämiendifferenzierung von den Versicherungsunternehmen einheitlich angewandt werden, um gesunde Risikoportfolios zu unterhalten, dann werden diejenigen, die ein höheres Risiko haben, immer höhere Versicherungsbeiträge für die freiwillige Sozial- und Krankenversicherung zahlen müssen, und es besteht in Anbetracht der voraussichtlichen künftigen Entwicklungen bei den Systemen der sozialen Sicherheit die Gefahr, dass es für die am stärksten benachteiligten Gruppen unerschwinglich wird, ausreichenden Versicherungsschutz zu erhalten.

Die potenziellen Ergebnisse dieser Entwicklung stellen in Anbetracht des europäischen Ziels eines integrativen und nachhaltigen Wachstums eine Herausforderung dar. Gegenseitigkeitsgesellschaften könnten unter bestimmten Bedingungen dazu beitragen, dieser Herausforderung wirksam zu begegnen. Dazu wäre es erstens erforderlich, gleiche Voraussetzungen wie für Versicherungsunternehmen zu schaffen, die die Rechtsform der Kapitalgesellschaft haben, und zweitens eine Marktregulierung für freiwillige Gesundheits- und Sozialversicherungsdienste einzuführen.

In diesem Kapitel werden die absehbaren künftigen Veränderungen in Bezug auf die Systeme der sozialen Sicherheit dargestellt und die voraussichtlichen Entwicklungen analysiert, von denen die Tätigkeitsbereiche der Gegenseitigkeitsgesellschaften betroffen wären (Abschnitt 6.1). In Abschnitt 6.2 wird ausgehend von den dargelegten Entwicklungen der Systeme der sozialen Sicherheit näher auf die mögliche künftige Rolle der Gegenseitigkeitsgesellschaften eingegangen. Abgeschlossen wird das Kapitel mit Abschnitt 6.3, der einige Schlussbemerkungen und Überlegungen zu der Frage enthält, wie die Gegenseitigkeitsgesellschaften dazu beitragen können, die bevorstehenden Herausforderungen zu meistern.

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6.1. Die Nachhaltigkeit und Bezahlbarkeit der Systeme der sozialen Sicherheit

In den EU-Ländern entfällt der größte Teil der Staatsausgaben auf soziale Sicherungsmaßnahmen. Die wichtigsten Finanzierungsquellen für die Sozialausgaben sind Steuereinnahmen (auf Einkommen, Ausgaben und Vermögen), Beitragszahlungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern (Sozialversicherung) und private Zahlungen (Selbstzahlungen und Zuzahlungen). Die Art und Weise, in der die Länder ein Gleichgewicht zwischen diesen Finanzierungsquellen finden, hängt von den jeweiligen historischen und kulturellen Entwicklungen ab.

In den letzten zehn Jahren sind die Sozialschutzausgaben als Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den Mitgliedstaaten gleich geblieben (etwa 25 %). Allerdings sind die Gesamtausgaben für den Sozialschutz in Europa von 2000 bis 2008 um 35 % gestiegen (von 2 433 Mrd. EUR auf 3 293 Mrd. EUR).208

Eine weitere Analyse der Ausgaben der einzelnen Mitgliedstaaten zeigt, dass der größte Teil der Sozialleistungen in der EU auf die Alters- und Hinterbliebenenversorgung entfällt. In der EU27 werden durchschnittlich 11,5 % des BIP für die Altersversorgung bereitgestellt. Insbesondere in den südeuropäischen Ländern ist der Anteil noch höher; so werden zum Beispiel in Italien mehr als 16 % des jährlichen BIP für Altersruhegelder ausgegeben.209

Während der letzten Jahrzehnte hat das Bewusstsein für die Tatsache zugenommen, dass die Bevölkerungsalterung schwerwiegende Auswirkungen auf die Systeme der sozialen Sicherheit in allen EU-Mitgliedstaaten und in der ganzen Welt haben wird.210 Wenn die geburtenstarken Jahrgänge im kommenden Jahrzehnt das Rentenalter erreichen, wird die Zahl der Erwerbstätigen sinken, und die steigenden Kosten für die Bereitstellung von Altersruhegeldern und Einrichtungen der Gesundheitsversorgung für eine alternde Bevölkerung werden von einem wesentlich geringeren Anteil von erwerbstätigen Mitgliedern der Gesellschaft zu tragen sein.

Den Bevölkerungsprojektionen von Eurostat zufolge wird der durchschnittliche Altersabhängigkeitsquotient einen deutlichen Anstieg von seinem derzeitigen Stand von 25,9 % auf 53,5 % im Jahr 2060 verzeichnen.211 Das bedeutet, dass 2060 jeweils zwei Personen im erwerbsfähigen Alter (15-64 Jahre) das Einkommen von einer Person zu finanzieren haben, die älter als 65 Jahre ist.

208 Siehe: Eurostat, Social protection expenditure, main results. Von den Verfassern erstellter Auszug, 27.4.2011. 209 Ein detaillierterer Überblick über die Ausgaben findet sich in Anhang 2, einschließlich eines Überblicks über die Ausgaben (in Prozent des BIP) für die kostenträchtigsten Sozialschutzleistungen. 210 Siehe: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission, Die demografische Zukunft Europas - Von der Herausforderung zur Chance, KOM(2006)571 endg., 2006; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Arbeitspapier der Kommissionsdienststellen – Demography Report 2008: Meeting Social Needs in an Ageing Society, SEC(2008)2911, 2008; European Commission, Demography Report 2010, Older, more numerous and diverse Europeans, 2011. 211 Giannakouris, Konstantinos, Ageing characterises the demographic perspectives of the European societies, Population and social conditions, Eurostat Statistics in focus, 72/2008.

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In einigen Ländern, wie in Polen und der Slowakei, wird sich das Verhältnis im Jahr 2060 auf 68 % belaufen. In anderen Ländern, z. B. in Dänemark und im Vereinigten Königreich, wird im Jahr 2060 ein gesünderes Verhältnis von etwa 42 % herrschen.

Im Zusammenhang mit der alternden Gesellschaft geraten die öffentlichen Haushalte infolge der steigenden Sozialschutzausgaben unter Druck. Berechnungen zufolge werden die öffentlichen Gesundheitsausgaben in den meisten Mitgliedstaaten von 2007 bis 2060 um durchschnittlich 0,7 bis 3,8 Prozentpunkte des BIP steigen.212 Es wird angenommen, dass sich die Ausgaben für die gesetzliche Altersrente in Europa (EU25) von 10,3 % des BIP im Jahr 2010 auf 12,8 % im Jahr 2050 erhöhen werden.213 Darüber hinaus wird sich das jährliche BIP-Wachstum bis 2050 voraussichtlich um etwa 1 % verringern.214

Auch die technologischen und medizinischen Entwicklungen werden Auswirkungen auf die Gesundheitsausgaben haben. Technische Neuerungen können dazu beitragen, die Bereitstellung von Gesundheitsleistungen effizienter zu gestalten, und dazu führen, dass immer mehr Menschen ein umfangreicheres Angebot an Behandlungen zur Verfügung steht, was sich wiederum auf die Höhe der Gesundheitsausgaben auswirkt.215

Abbildung 3: Altersabhängigkeitsquotient für die EU und für ausgewählte Mitgliedstaaten (Zahl der über 65-Jährigen im Verhältnis zur Zahl der 15-64-Jährigen)

25.9%31.1%

38.0%

45.4%50.4%

53.5%

0.0%

10.0%

20.0%

30.0%

40.0%

50.0%

60.0%

70.0%

80.0%

2010 2020 2030 2040 2050 2060

LU

UK

DK

EU27

LT

SK

PL

212 Przywar, Bartosz, Projecting future health care expenditure at European level: drivers, methodology and main results, In: Economic Papers 417, Juli 2010. 213 Ausschuss für Wirtschaftspolitik und Europäische Kommission (GD ECFIN), The impact of ageing on public expenditure: projections for the EU25 Member States on pensions, health care, longterm care, education and unemployment transfers (2004-2050), 2006. 214 Mink, Reimund, General government pension obligations in Europe, in: IFC Bulletin, No 28, 2008. 215 Siehe: Bodenheimer, Thomas, High and Rising Health Care Costs. Part 2: Technologic Innovation, in: Annuals of Internal Medicine, Band 142 Nr. 11, 2005, S. 932-937.

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Quelle: Eurostat, EUROPOP2008 „convergence scenario“, Berechnungen der Verfasser. Abbildung 4: Gesamtüberblick über die Sozialschutzausgaben in der EU27 (in Prozent des BIP) im Jahr 2008, aufgeschlüsselt nach den vier wichtigsten Systemen (Invalidität, Alter und Hinterbliebene, Krankheit und Gesundheitsvorsorge sowie Arbeitslosigkeit)

2.0 11.5 7.5 1.3

0.0 5.0 10.0 15.0 20.0 25.0 30.0

LatviaRomaniaEstonia

BulgariaLithuaniaSlovakiaCyprus

LuxembourgCzech Republic

MaltaIrelandPoland

HungarySlovenia

United KingdomSpain

FinlandPortugal

European Union (27 countries)Greece

NetherlandsGermany (including former

BelgiumDenmark

AustriaSw eden

ItalyFrance

Disability

Old age and survivors

Sickness/Health care

Unemployment

Quelle: Eurostat: Expenditure: main results, Auszug, 17.4.2011, Berechnungen der Verfasser. Höhere Kosten für die Gesundheits- und Altersversorgung werden voraussichtlich schwerwiegende Folgen für die Nachhaltigkeit und Bezahlbarkeit der derzeitigen Systeme der sozialen Sicherheit haben. Aus diesem Grund soll in vielen Ländern ein Umbau der Sozialschutzsysteme erfolgen bzw. ist bereits eingeleitet worden, um die künftige Tragfähigkeit dieser Systeme zu gewährleisten. Neben anderen Methoden216, wie der Anhebung des Rentenalters, besteht eine Methode, die Bezahlbarkeit der Sozialschutzsysteme zu wahren, darin, immer mehr Leistungen, die derzeit von den obligatorischen und gesetzlichen Systemen abgesichert werden, auf freiwillige Sozial- und Krankenversicherungssysteme und private Altersvorsorgesysteme zu übertragen.217

Hinsichtlich der Frage, ob das gesetzliche System in Zukunft ausreichenden Schutz für alle bieten wird, und ob die zusätzlichen/ergänzenden Systeme tatsächlich notwendig sein werden, um eine ausreichende Absicherung gegen alle sozialen Risiken aufrechtzuerhalten, kann es Zweifel geben. Diese Fragen sind besonders für Menschen mit einem geringen Einkommen, ältere Menschen und andere, besonders benachteiligte Bevölkerungsgruppen wichtig, da sie eher von diesen Entwicklungen betroffen sind.

216 Zu den verschiedenen Arten von Rentenreformen, einschließlich des Übergangs von öffentlichen Leistungen zu privaten Systemen, siehe: OECD, Renten auf einen Blick, 2007.

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Aufgrund der genannten Entwicklungen werden sich in den Tätigkeitsbereichen, in denen Gegenseitigkeitsgesellschaften aktiv sind, voraussichtlich die folgenden Veränderungen ergeben:

A) Gesetzliche Systeme der sozialen Sicherheit: Die Anforderungen an die gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit werden steigen. Dies wird in Verbindung mit der Notwendigkeit, die Staatsausgaben zu begrenzen, zu einer Verringerung der Absicherung mit Diensten und Leistungen führen.

B) Freiwillige Systeme (ergänzende und zusätzliche Kranken-versicherung, private Rentenversicherung). Mit der Verringerung der Absicherung durch das gesetzliche System der sozialen Sicherheit wird die Nachfrage nach zusätzlicher/ergänzender Absicherung steigen. Da es mehr Leistungen abzusichern gilt, werden die Versicherungsgebühren voraussichtlich generell steigen. Außerdem werden die Versicherungsunternehmen im Zuge der Marktexpansion durch den verschärften Wettbewerb gezwungen sein, die Kosten zu senken und gesunde Risikoportfolios zu unterhalten. Dies führt letztendlich dazu, dass ein stärkeres Gewicht auf Risikoselektion und Prämiendifferenzierung für unterschiedliche Risikogruppen gelegt wird. Um zu verhindern, dass Bürger nur über einen unzureichenden Versicherungsschutz verfügen, könnten obligatorische zusätzliche/ergänzende Systeme eingeführt werden.

C) Sonstiger Versicherungsschutz. Es wird davon ausgegangen, dass der Markt für die Absicherung anderer als sozialer Risiken, der in vielen Mitgliedstaaten eine hohe Reife erreicht hat, keine nennenswerte Expansion oder Schrumpfung infolge der demografischen Entwicklungen durchlaufen wird.

D) Weitere Dienstleistungen von öffentlichem Interesse: Angesichts knapper öffentlicher Mittel könnte dazu übergegangen werden, mehr Leistungen, die traditionell vom öffentlichen Sektor erbracht wurden, privaten Organisationen zu übertragen. Wenn es entsprechende rechtliche Rahmenvorschriften gibt, wie dies im Vereinigten Königreich der Fall ist, könnten Gegenseitigkeitsgesellschaften in diesem neu aufkommenden Bereich eine Alternative zu Kapitalgesellschaften bieten.

„Big Society“: Großbritannien setzt auf Gegenseitigkeit218 In den letzten Jahren hat der Gegenseitigkeitssektor im Vereinigten Königreich zunehmend an politischer Aufmerksamkeit gewonnen. Die Tatsache, dass der britische Finanzsektor schwer von der Krise getroffen wurde, hat darüber hinaus das Vertrauen in die Bereitstellung von Finanzdienstleistungen nach dem Gegenseitigkeitsprinzip gestärkt. Aus diesem Grund liegt ein Antrag vor, die ehemaligen „Building Societies“,

217 Thomson, Sarah, Foubister, Thomas, Mossialos, Elias, Health care financing in the context of social security, European Parliament, 2008. 218 Siehe: Michie, Jonathan, Promoting Corporate Diversity in the Financial Sector, Oxford Centre for Mutual and Employee-owned Business, 2010.

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die staatliche Beihilfen erhalten haben, um der Finanzkrise zu widerstehen, wieder in Gegenseitigkeitsgesellschaften zu überführen.219

Die derzeitige Koalitionsregierung im Vereinigten Königreich hat offen ihre Unterstützung für Gegenseitigkeitsgesellschaften bekundet, die sie als einen Teil des Programms „Big Society“220 betrachtet, das Initiativen für die Befähigung zivilgesellschaftlicher Organisationen zur Gestaltung und Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen beinhaltet.221 In den letzten Jahren gab es Initiativen zur Gründung neuer Gegenseitigkeitsgesellschaften nicht nur im Finanzsektor, sondern auch in den Bereichen Gesundheitswesen (NHS Trusts), Sport (Football Supporters Trusts) Wohnungswirtschaft und kommunale Freizeitdienste.222 Viele der neuen Gegenseitigkeitsgesellschaften erbringen Dienstleistungen, die zuvor von Körperschaften des öffentlichen Rechts bereitgestellt wurden. Es wurde sogar vorgeschlagen, die Post in eine Gegenseitigkeitsgesellschaft umzuwandeln.223

Andererseits führt diese politische Aufmerksamkeit nicht zu besseren rechtlichen Rahmenvorschriften für den Schutz und die Förderung der Gegenseitigkeit im Vereinigten Königreich. So sehen sich beispielsweise Gegenseitigkeitsgesellschaften im Versicherungsgeschäft Problemen gegenüber, weil die Regulierungsbehörde das Konzept, nach dem die Mitglieder zugleich Eigentümer sind, und das Konzept der generationenübergreifenden Verantwortung nicht in vollem Umfang anerkennt. Es wird jedoch auch darauf hingewiesen, dass der Mangel an Rechtsvorschriften den Gegenseitigkeitsgesellschaften die entsprechende Flexibilität bietet, in verschiedenen Märkten tätig zu werden, und aus diesem Grund als Vorteil angesehen wird.

Alles in allem werden wir es wahrscheinlich in Zukunft mit einem größeren Markt für zusätzliche und/oder ergänzende Systeme der sozialen Sicherheit zu tun haben, und zwar sowohl im Bereich der Krankenversicherung als auch im Bereich der Rentenversicherung. Gleichzeitig laufen einige benachteiligte Gruppen möglicherweise Gefahr, sich die für eine ausreichende Absicherung erforderlichen Beitragszahlungen für ihre Krankenversicherung und für ihre zukünftige Rente nicht leisten zu können.

6.2. Die künftige Rolle von Gegenseitigkeitsgesellschaften

Während die Herausforderungen für die künftigen Systeme der sozialen Sicherheit relativ klar sind, ist es schwierig vorauszusagen, wie Gegenseitigkeitsgesellschaften in der Lage sein werden, sich an ein im Wandel befindliches Umfeld anzupassen. Zuverlässige Hypothesen sind in erster Linie deshalb so schwer aufzustellen, weil es - wie im ersten Teil dieses Berichts dargelegt - eine Vielzahl unterschiedlicher Gegenseitigkeitsorganisationen, nationaler Rechtsvorschriften und besonderer Gegebenheiten in den Mitgliedstaaten gibt.

219 Ebenda. 220 Ebenda. 221 UK Cabinet Office, Building the Big society, 2010. 222 Mutuo, Public services: Made Mutual, 2010; http://www.mutuo.co.uk/wp-content/shared/mutuals-public-service-4.pdf. 223 Mutuo, Post Office: Made Mutual, A publicly owned, co-operative post office, 2010; http://www.mutuo.co.uk/wp-content/shared/Mutuals-post-office-3.pdf.

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Ein zweiter Grund besteht in der Tatsache, dass der EU-Versicherungsmarkt unmittelbar vor großen Veränderungen steht, die Auswirkungen auf seine wichtigsten Akteure haben könnten.

Wenngleich die voraussichtlichen Folgen der neuen Vorschriften für die Finanzaufsicht noch nicht umfassend untersucht wurden, kann man mit Sicherheit sagen, dass sich der Druck in Richtung auf eine Vereinheitlichung des Marktes und eine Angleichung des Verhaltens von Gegenseitigkeitsgesellschaften und Kapitalgesellschaften möglicherweise verstärken wird.

Vertreter von Gegenseitigkeitsgesellschaften kritisieren häufig, dass die EU-Rechtsvorschriften für Versicherungsdienstleistungen von der Rechtsform der Kapitalgesellschaft ausgehen - mit dem Ergebnis, dass diese Unternehmensstruktur als Blaupause für alle Versicherungsunternehmen dient. Folglich müssen Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit strenge Regeln einhalten, die ausgehend von der Arbeitsweise von Aktiengesellschaften festgelegt wurden, was eine Vereinheitlichung bei der Art und Weise der Geschäftsdurchführung nach sich ziehen wird.224

Von dieser Entwicklung werden sowohl die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit als auch die Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge betroffen sein und sind dies auch jetzt schon. Für die Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge wird dies wahrscheinlich zur Folge haben, dass sie, sofern sie nicht vom Geltungsbereich der EU-Versicherungsrichtlinien ausgenommen werden, gezwungen sein könnten, sich nach und nach in Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit umzuwandeln. Wenn sie diese Binnenmarktvorschriften einhalten müssen, dann haben sie zwei Optionen: Entweder sie geben bestimmte Dienstleistungen, die nicht unmittelbar mit dem Versicherungsgeschäft zusammenhängen, auf, oder sie splitten ihre verschiedenen Geschäftstätigkeiten in verschiedene Rechtsformen auf (indem sie zum Beispiel die reine Versicherungstätigkeit von der Verwaltung ihrer Gesundheitseinrichtungen bzw. die obligatorische Versicherung von der freiwilligen Versicherung trennen).

Zur Wahrung ihrer Wettbewerbsfähigkeit können Gegenseitigkeitsgesellschaften auch ihre Geschäftstätigkeit ausweiten, indem sie mehr Menschen Versicherungsverträge verkaufen, Versicherungen auf neuen Märkten vertreiben oder die Produktpalette erweitern. Zusätzlich können sie ihre Aktivitäten kosteneffektiver organisieren und/oder Skaleneffekte nutzen. Zu diesem Zweck könnten sie gegebenenfalls mit anderen Gegenseitigkeitsgesellschaften fusionieren oder Bündnisse eingehen, auch grenzübergreifend, was zur Erhöhung ihrer Eigenkapitalausstattung beitragen kann.

Gegenseitigkeitsgesellschaften können auch Geschäftsprinzipien übernehmen, wie sie für kommerzielle Versicherer typisch sind, zum Beispiel die Risikoselektion. Das kann dazu beitragen, das Risikoportfolio des Versicherungsanbieters zu verbessern, und es diesem ermöglichen, kostengünstige Versicherungspolicen anzubieten und mit Kapitalgesellschaften zu konkurrieren.

224 Michie, Jonathan, David T. Llewellyn, Converting Failed Financial Institutions into Mutual Organisations, in: Journal of Social Entrepreneurship, Band 1, Ausgabe 1, März 2010, S. 146 – 170, 2010.

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Die Entwicklung von Gegenseitigkeits-gesellschaften, die sich die Geschäftsprinzipien von Kapitalgesellschaften zu eigen machen, ist bereits zu beobachten, und zwar im Zusammenhang mit den Diskussionen über Solidarität zwischen den Generationen versus Solidarität innerhalb der Generationen. In der freiwilligen Krankenversicherung ist das Alter eine dominante Variable bei der Risikoberechnung, da ältere Menschen ein höheres Risiko aufweisen, was die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen betrifft.

Daher müssen Versicherer auch jüngere Menschen in ihre Portfolios aufnehmen, um die Preise niedrig zu halten. Je mehr junge Menschen ein Versicherer in seinem Portfolio hat, umso niedriger kann er seine Beiträge halten. In einigen Ländern besteht dieses Problem im Zusammenhang mit betrieblichen Kranken- oder Rentenversicherungen, die ausschließlich Arbeitnehmern offenstehen, sodass die betreffenden Personen bei Eintritt in den Ruhestand oder bei Verlust des Arbeitsplatzes eine andere (d. h. teurere) Kranken- oder Rentenversicherung abschließen müssen.

In Märkten, in denen sowohl Gegenseitigkeitsgesellschaften als auch Kapitalgesellschaften tätig sind, besteht die Gefahr der Risikoselektion durch Kapitalgesellschaften, die bestrebt sind, eine privilegierte Gruppe von jüngeren, weniger risikobehafteten Kunden in ihre Portfolios aufzunehmen und den Gegenseitigkeits-gesellschaften, die eine Risikoselektion ablehnen, ungünstige Portfolios mit einem hohen Anteil an älteren Versicherungsnehmern mit geringem Einkommen zu überlassen. In diesem Zusammenhang sind bereits Entwicklungen von der Gegenseitigkeit auf der Grundlage der Solidarität zwischen den Generationen hin zur Gegenseitigkeit auf der Grundlage der Solidarität innerhalb der Generationen im Gange. Das bedeutet, dass sich die Risikoabsicherung zunehmend auf Mitglieder ein und derselben Generation erstrecken wird, was voraussichtlich zu geringeren Beiträgen für jüngere Menschen und zu steigenden Beiträgen für ältere Bürger und Menschen mit einem höheren Risiko führen wird.

Dies hat die nachstehend genannten, vorhersehbaren Auswirkungen auf die verschiedenen Arten von Gegenseitigkeitsgesellschaften:

1) Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge: In Systemen, in denen Gegenseitigkeitsgesellschaften an der Bereitstellung des gesetzlichen Sozialschutzes beteiligt sind, wird sich der Tätigkeitsbereich der Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge von den obligatorischen Systemen weiter auf die freiwilligen Systeme verlagern. Außerdem werden die nicht zum Versicherungsbereich zählenden Dienstleistungen aufgrund der Tatsache, dass der regulatorische Schwerpunkt stärker auf der Tätigkeit als auf der Rechtsform liegt, in zunehmendem Maße vom Versicherungsgeschäft getrennt. Die Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge in ihrer heutigen Form werden große Schwierigkeiten haben.

2) Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit: Für die Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit werden sich größere Märkte für die freiwillige Krankenversicherung und die private Altersvorsorge erschließen.

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Aufgrund des Wettbewerbs und der Vorschriften zu Versicherungen werden sie in zunehmendem Maße wie gewinnorientierte Gesellschaften agieren. Voraussichtlich wird eine stärkere Differenzierung der Versicherungsbeiträge nach Risikogruppen stattfinden.

3) Gegenseitigkeitsgesellschaften, die andere Dienstleistungen erbringen, werden möglicherweise eine Zunahme der Geschäftstätigkeit verzeichnen können, wenn sie in mehr Mitgliedstaaten die Möglichkeit erhalten, andere als Versicherungsdienstleistungen zu erbringen. In Anbetracht der Engpässe bei den öffentlichen Haushalten könnten Gegenseitigkeitsorganisationen in der Lage sein, in verschiedenen Bereichen eine wünschenswerte Alternative zu privaten kommerziellen Unternehmen zu bieten.

6.3. Schlussbemerkungen

Nunmehr stellt sich die Frage, ob die dargelegten Trends wünschenswert sind in Anbetracht des strategischen Ziels der EU, ein integratives Wachstum mit Zugang zu grundlegenden Zuwendungen, Rechten und Sozialdienstleistungen für alle sowie zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung und Langzeitpflege zu sichern und dafür zu sorgen, dass der Bedarf an zusätzlicher Pflege für ältere Menschen nicht zu Armut und finanzieller Abhängigkeit führt.225 Die Antwort auf diese Frage lautet eindeutig „nein“, denn die oben aufgezeigten Trends bringen für die gegenwärtige und zukünftige Politik auf europäischer und nationaler Ebene ernsthafte Probleme mit sich.

Wenn der private Sektor aufgefordert wird, an der Suche nach Lösungen für diese Herausforderungen mitzuwirken, dann liegt es in der Natur der Sache, dass die Sozialwirtschaft und insbesondere die Gegenseitigkeitsgesellschaften eine wichtige Rolle spielen. Mit ihren Grundsätzen wie Solidarität, demokratische Führung und Verzicht auf Anteilseigner wirken Gegenseitigkeitsgesellschaften zum Nutzen ihrer Mitglieder und handeln somit ihrem Wesen nach sozial verantwortlich. Daher könnten Gegenseitigkeitsgesellschaften in Anbetracht der Herausforderungen, denen sich die Regierungen bei der Gewährleistung der sozialen Sicherheit gegenübersehen, dazu beitragen, ein bezahlbares Sicherheitsnetz für Risikogruppen bereitzustellen – so wie sie es vor hundert Jahren getan haben.

Wenngleich Gegenseitigkeitsgesellschaften keine allumfassende Lösung für die Europa bevorstehenden Herausforderungen darstellen, können sie doch an deren Lösung mitwirken. Um dieser Rolle gerecht werden zu können, müsste zunächst einmal die Gleichbehandlung von Gegenseitigkeitsgesellschaften sichergestellt werden, damit sie unter gleichen Bedingungen mit anderen privaten Unternehmen konkurrieren können.

225 Siehe: zu Europa 2020: Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission: EUROPA 2020 Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, Brüssel, 3.3.2010, KOM(2010)2020; und zur OKM zur sozialen Eingliederung: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen - Zusammenarbeiten, zusammen mehr erreichen - Ein neuer Rahmen für die offene Koordinierung der Sozialschutzpolitik und der Eingliederungspolitik in der Europäischen Union, KOM(2005)706 endg., 2005. Auf der Grundlage dieses Dokuments verabschiedete der Europäische Rat im März 2006 ein neues Rahmenwerk für den Koordinierungsprozess in den Bereichen Sozialschutz und soziale Eingliederung. Siehe: http://ec.europa.eu/social/main.jsp?catId=755&langId=de.

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Zweitens wäre es wünschenswert, die Risikoselektion und „Rosinenpickerei“ auf nationaler Ebene zu beschränken und Risikoausgleichssysteme auf den (Sozial-) Versicherungsmärkten einzuführen, um Kapitalgesellschaften, Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und auch alle anderen Marktteilnehmer zu ermutigen, gesunde Risikoportfolios zu unterhalten.

Hinsichtlich der ersten Frage könnte das Statut der Europäischen Gegenseitigkeitsgesellschaft von Nutzen sein, weil es einen speziellen rechtlichen Rahmen für Gegenseitigkeitsgesellschaften und ihre grenzübergreifende Tätigkeit schaffen und das Bewusstsein für Gegenseitigkeitsgesellschaften in der künftigen (europäischen) Politikgestaltung erhöhen würde.

Was die zweite Frage betrifft, so sind nationale und/oder europäische Vorschriften erforderlich, die eine gewisse Marktregulierung der sozialen Absicherung - zusätzlich oder ergänzend zu den gesetzlichen Bestimmungen - einschließen. In einigen Ländern gibt es bereits Beispiele für die Regulierung ergänzender Dienstleistungen, so zum Beispiel in Slowenien, wo 2005 ein Risikoausgleichssystem226 eingeführt wurde, das gleiche Beiträge für alle Versicherten unabhängig vom Alter gewährleistet.

226 Gesetz über Änderungen und Ergänzungen zum Gesetz über Gesundheitsfürsorge und Krankenversicherung, Amtsblatt der Republik Slowenien, 100/05.

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7. SCHLUSSFOLGERUNGEN In den vorangegangenen Kapiteln wurden die Entwicklungen im Hinblick auf die spezifischen Merkmale von Gegenseitigkeitsgesellschaften in den EU-Mitgliedstaaten und deren Rolle in den einzelnen (sich entwickelnden) Sozialschutzsystemen dargestellt. Darüber hinaus wurde beschrieben, wie Gegenseitigkeitsgesellschaften auf die Rezession reagiert haben, und wie sich ihre mögliche zukünftige Rolle in Anbetracht der Ausrichtung der EU-Politik, aber auch der Herausforderungen gestalten wird, die sich ihnen stellen.

Ausgehend von den vorangegangenen Kapiteln ist festzustellen, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften in einigen Mitgliedstaaten historisch, wirtschaftlich und kulturell tief verwurzelt sind, während sie sich zugleich entsprechend den verschiedenen nationalen Gegebenheiten hinsichtlich ihrer Form und Rolle unterscheiden. Es zeichnete sich auch deutlich ab, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften eine wichtige Rolle in Europa spielen und einem Großteil der EU-Bürger Gesundheits-, Sozial- und Versicherungsleistungen bereitstellen.

Trotz ihrer Bedeutung und der wertvollen Grundsätze, denen im Rahmen ihrer Organisationsform Rechnung getragen wird, sehen sich Gegenseitigkeitsgesellschaften in einigen Mitgliedstaaten und in der EU im Allgemeinen einem starken Druck ausgesetzt.

Unter den Interessenvertretern herrscht die Befürchtung, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften durch den sich verschärfenden Wettbewerb mit Kapitalgesellschaften und durch strengere Bedingungen für Anbieter von Versicherungsdienstleistungen „gezwungen“ werden, einige der Merkmale aufzugeben,. die sie zu einer eigenständigen und einzigartigen Organisationsform machen. Diese Entwicklungen könnten folgende Auswirkungen haben:

1) Gleichförmigkeit des Marktes: Gegenseitigkeitsgesellschaften könnten sich, um wettbewerbsfähig zu bleiben, immer stärker ihren kommerziellen Mitbewerbern angleichen. So könnten sie beispielsweise die Risikoselektion oder strengere Voraussetzungen für die Mitgliedschaft einführen oder sich sogar von ihren auf Gegenseitigkeit ausgerichteten Werte abkehren und Aktien ausgeben, um ihre Solvabilitätsspanne zu erhöhen.

2) Marktkonzentration: Vor allem mittlere Gegenseitigkeitsgesellschaften sind gezwungen, Teil einer größeren Organisation zu werden - bei der es sich sogar um eine Aktiengesellschaft handeln kann (Demutualisierung) - und auf diese Weise die Distanz zwischen der Organisation und den Versicherungsnehmern zu vergrößern.

3) Entwicklung hin zu Nischenmärkten: Gegenseitigkeitsgesellschaften engagieren sich zunehmend in Nischenmärkten und sind für homogene Gruppen mit besonderen Ansprüchen und Erwartungen tätig.

Trotz der reichen Traditionen und der wichtigen Rolle, die Gegenseitigkeitsgesellschaften nach wie vor in der europäischen Gesellschaft spielen, kann mit Sicherheit gesagt werden, dass diese Befürchtungen in Anbetracht der dargelegten Entwicklungen nicht ignoriert werden dürfen, da der Stellenwert der Gegenseitigkeit in der künftigen europäischen Gesellschaft voraussichtlich sinkt, wenn nichts dagegen unternommen wird.

Im Rahmen dieser Untersuchung haben wir Argumente gefunden, die dafür sprechen, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften gegenüber ihren kommerziellen Mitbewerbern einen Mehrwert in kultureller, politischer, aber auch politischer Hinsicht aufweisen:

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1) Erstens gibt es der Fachliteratur zufolge vernünftige volkswirtschaftliche Gründe, Gesellschaften auf Gegenseitigkeit zu fördern. Es wird für eine Diversifizierung im Versicherungssektor plädiert und betont, dass Gegenseitigkeitsgesellschaften gegenüber den in diesem Bereich tätigen Kapitalgesellschaften eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, den Sektor insgesamt wettbewerbsfähiger, weniger risikobehaftet und widerstandsfähiger gegenüber sich verändernden finanziellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten zu machen. Aus diesem Grund könnte die Förderung einer größeren Vielfalt an Unternehmensformen ein Weg sein, um künftigen Krisen vorzubeugen oder die Auswirkungen künftiger unvorhergesehener Ereignisse abzuschwächen. Darüber hinaus ist die Förderung der Vielfalt ein Kernstück des europäischen Gesellschaftsmodells, und die fortschreitende Vollendung des Binnenmarktes bedeutet nicht unbedingt, dass Europa zu einem gleichförmigen Markt wird.227

2) Zweitens spricht auch aus geschäftlicher Sicht vieles für Gegenseitigkeits-gesellschaften, da ein Großteil der EU-Bürger bewusst diese Art von Gesellschaft wählt, um Zugang zu hochwertigen Gesundheits- und Sozialdienstleistungen zu erlangen, um sich gegen soziale Risiken und Sachrisiken abzusichern, oder auch um optimale Lösungen für andere Bedürfnisse zu finden.

3) Schließlich wird es Analysen zufolge möglicherweise in Zukunft im Hinblick auf den Erhalt von nachhaltigen und erschwinglichen Systemen der sozialen Sicherheit im Einklang mit den strategischen Zielen der Europäischen Union einen wachsenden Bedarf an Unternehmen geben, in denen die soziale Verantwortung bereits tief in der Organisationsstruktur verwurzelt ist.

Doch wie können wir sicherstellen, dass die Idee der Gegenseitigkeit in Zukunft gewahrt wird, oder anders gesagt, dass den Gegenseitigkeitsgesellschaften Chancengleichheit gegenüber Kapitalgesellschaften oder anderen Arten von Wirtschaftsteilnehmern eingeräumt wird, damit sie ihre Rolle und Stellung innerhalb der europäischen Gesellschaft und Wirtschaft der Zukunft beibehalten können?

Zunächst müssen die Gegenseitigkeitsgesellschaften selbst aktiv werden, d. h. sie müssen ihre Produkte verbessern und die Idee der Gegenseitigkeit als einen Grundwert ihrer Organisation verbreiten und künftige Mitglieder davon überzeugen, dass es sich um eine kostengünstige und nachhaltige Alternative zu kommerziellen Diensteanbietern handelt. Darüber hinaus können Gegenseitigkeitsgesellschaften die EU-Bürger dafür sensibilisieren, dass ihnen bei der Wahl des Versicherungsmodells mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen.

Darüber hinaus ist es wichtig, gleiche Voraussetzungen zu schaffen und die Faktoren, die Gegenseitigkeitsgesellschaften im Wettbewerb mit den im selben Bereich tätigen Kapitalgesellschaften behindern (was ihre Tätigkeit, den Marktzugang, Zusammenschlüsse und grenzübergreifende Aktivitäten betrifft), nach Möglichkeit auszuräumen.

227 Expert Group on insurance and pensions, Financial services action plan: progress and prospects, 2004.

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Schließlich muss den Gegenseitigkeitsgesellschaften auf europäischer Ebene als eigenständigen und wichtigen Akteuren innerhalb der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft größere Anerkennung entgegengebracht werden. Hierfür könnte ein Statut der Europäischen Gegenseitigkeit, wie es vom Sektor selbst, vom Europäischen Parlament, vom Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und kürzlich auch von der Europäischen Kommission vorgeschlagen wurde, ein geeignetes Instrument darstellen.

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8. ANHANG 1: NATIONALE RECHTSVORSCHRIFTEN ZU GEGENSEITIGKEITSGESELLSCHAFTEN

Anhang 1A: Definition der Gegenseitigkeitsgesellschaften in den 27 Mitgliedstaaten

Definition der Gegenseitigkeitsgesellschaften in den 27 Mitgliedstaaten

AT Ein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit wird definiert als ein Verein, der die Versicherung seiner Mitglieder nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit betreibt. (Quelle: Glossar Finanzmarktaufsicht). Ein Mitglied eines Versicherungsvereins auf Gegenseitigkeit ist zugleich Versicherungsnehmer des betreffenden Vereins. Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit können jedoch auch Nichtmitgliedern Versicherungsschutz bieten (Quelle: The Separation of Ownership and Control: An Austrian Perspective). Kleine Versicherungsvereine, die örtlich eingeschränkt sind und denen nicht mehr als 20 000 Mitglieder angehören, haben im österreichischen Recht einen besonderen Status (Quelle: Versicherungsaufsichtsgesetz)

BE Eine Krankenkasse (ziekenfonds/mutualité) wird definiert als ein Zusammenschluss von Einzelpersonen, der das körperliche, geistige und soziale Wohlbefinden im Geiste der Vorsorge, gegenseitigen Hilfe und Solidarität fördert und nicht gewinnorientiert arbeitet (Quelle: Krankenkassengesetz). Neben den Krankenkassen gibt es auch Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (onderlinge verzekeringsvereniging/association mutuelle d’assurance), d. h. Zusammenschlüsse von Personen, die vereinbart haben, sich gegenseitig zu versichern und gemeinsam für entstandene Schäden aufzukommen. Zu diesem Zweck gründen sie einen Fonds, der sich aus ihren Beiträgen speist. Jedes Mitglied ist sowohl Versicherer als auch Versicherungsnehmer; es gibt kein Anteilskapital und keine Aktionäre (BIJZONDERE COMMISSIE BELAST MET HET ONDERZOEK NAAR DE FINANCIËLE EN BANKCRISIS: Rapport préliminaire du collège d’experts).

BG Gegenseitigkeitsgesellschaften werden definiert als „Versicherungsgenossenschaften auf Gegenseitigkeit“ (Взаимозастрахователна кооперация). Eine Versicherungsgenossenschaft auf Gegenseitigkeit ist eine Genossenschaft, der eine Genehmigung für das Betreiben der Versicherungstätigkeit erteilt wurde. Die Mitgliedschaft bei einer Versicherungsgenossenschaft auf Gegenseitigkeit beginnt bzw. endet mit dem Beginn oder der Beendigung des Versicherungsvertrags gemäß den allgemeinen Geschäftsbedingungen (Quelle: Versicherungsordnung).

CY Es gibt offenbar keine Gegenseitigkeitsgesellschaften.

CZ Es gibt offenbar keine Gegenseitigkeitsgesellschaften.

DK Gegenseitigkeitsgesellschaften („gensidige selskaber“) sind Versicherungsgesellschaften, die sich im Eigentum ihrer Versicherungsnehmer befinden, welche auch als Mitglieder bezeichnet werden (http://www.finanstilsynet.dk/upload/Finanstilsynet/publik/publikationer/forsikring97/dn28_ord.html)

EE Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und genossenschaftliche Versicherungen sind in Estland nicht bekannt (Quelle: AMICE); nach dem Gesetz über die Versicherungstätigkeit darf ein Versicherungsunternehmen, sofern gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nur als Aktiengesellschaft oder Europäische Gesellschaft gegründet werden. (http://www.legaltext.ee/text/en/X90004.htm)

FI Die finnischen Rechtsvorschriften unterscheiden zwischen kleinen Gegenseitigkeitsgesellschaften (in höchstens 40 Gemeinden tätig), die als Versicherungsvereine („vakuutusyhdistys/ försäkringsförening“) bezeichnet werden, und größeren Gegenseitigkeitsgesellschaften, die als Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit („keskinäinen vakuutusyhtiö/ ömsesidigt försäkringsbolag“) bezeichnet werden. Nach dem Gesetz über Versicherungsvereine ist ein Versicherungsverein eine Versicherungsgesellschaft, die auf der gegenseitigen Haftung ihrer Mitglieder beruht und in nicht mehr als 40 Gemeinden auf einem einzigen Gebiet bzw. ausschließlich auf dem Gebiet der Versicherung von Fischereiausrüstungen tätig ist. Dem Versicherungsgesetz zufolge besteht der Zweck von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit darin, den Mitgliedern Gewinne oder andere wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen, sofern die Satzung nichts anderes vorsieht. Die Versicherungsnehmer von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit sind zugleich auch Mitglieder. (http://www.finlex.fi/sv/laki/ajantasa/2008/20080521).

FR In Frankreich gibt es zwei Arten von Gegenseitigkeitsgesellschaften, die „sociétés d’assurance mutuelle“, die unter die Versicherungsordnung („Code des Assurances“) fallen, und die „mutuelles“, die

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Definition der Gegenseitigkeitsgesellschaften in den 27 Mitgliedstaaten

unter den „Code de la Mutualité“ fallen. Der Hauptunterschied zwischen beiden besteht darin, dass die Gesellschaften, für die der „Code des Assurances“ maßgeblich ist, Risikoselektion betreiben dürfen (http://www.assufrance.com/mutuelle_de_sante_en_france.php). Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit sind Eigentum der Versicherungsnehmer. Sie arbeiten nicht gewinnorientiert und haben kein Anteilskapital (http://www.senat.fr/rap/r98-0452/r98-0452132.html). Nach Artikel L 111 Absatz 1 des Code de la Mutualité sind Gegenseitigkeitsgesellschaften privatrechtliche Körperschaften, die nicht auf Gewinnerzielung ausgerichtet sind. Mit den Beiträgen ihrer Mitglieder und in deren Interesse ergreifen sie Maßnahmen der Vorsorge, der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe, um zur kulturellen, moralischen, intellektuellen und körperlichen Entfaltung ihrer Mitglieder und zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen beizutragen (AIM).

DE Ein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit ist ein privates Versicherungsunternehmen auf der Basis eines rechtsfähigen Vereins, dessen Mitglieder die Versicherungsnehmer sind. (http://www.versicherungsnetz.de/onlinelexikon/VersicherungsvereinaufGegenseitigkeit.html). Träger der gesetzlich vorgeschriebenen Insolvenzsicherung der betrieblichen Altersversorgung ist der Pensions-Sicherungs-Verein auf Gegenseitigkeit (PSVaG). Seine Gründung beruht auf dem Gesetz zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung – Betriebsrentengesetz (BetrAVG) -, das am 1. Januar 1975 in Kraft trat. Als Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit unterliegt der PSVaG der Aufsicht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Finanziert wird der Verein durch Pflichtbeiträge der Arbeitgeber (http://www.uni-mannheim.de/edz/pdf/sek/2008/sek-2008-0475-en.pdf).

EL „Versicherungsgenossenschaften auf Gegenseitigkeit“ oder „Versicherungsfonds auf Gegenseitigkeit“ versichern ausschließlich Versicherungsnehmer, die zugleich auch Mitglieder sind (www.bankofgreece.gr/Pages/en/deia/PrivateInsuranceFirms.aspx#mutual). Nach dem Gesetz über private Versicherungsunternehmen muss die Bereitstellung von Versicherungen auf Gegenseitigkeit für ihre Mitglieder der einzige Zweck von Versicherungsgenossenschaften auf Gegenseitigkeit sein. Die wichtigsten Merkmale der Versicherungsfonds auf Gegenseitigkeit sind die Versicherungssolidarität, die demokratische Verwaltung auf Gegenseitigkeit und die Gemeinnützigkeit (http://www.oatye.gr/index-en.php). Diese Versicherungsfonds auf Gegenseitigkeit sind von Arbeitnehmerverbänden gegründete private Rechtspersonen („Vereinigungen“ nach dem griechischen Zivilgesetzbuch). Sie werden nicht als Sozialversicherungsinstitutionen betrachtet, denn private Einrichtungen sind nach der griechischen Rechtsordnung vom Bereich der Sozialversicherung ausgeschlossen, d. h. sie sind Teil der zweiten Säule. (http://www.isi.org.gr/GR/files/Greek%20Benefits.pdf). Die Mitgliedschaft ist freiwillig. Die Leistungen werden aus den Beiträgen der Mitglieder finanziert, aber den Arbeitgebern steht es ebenfalls frei, in die Fonds einzuzahlen (http://www.isi.org.gr/GR/files/Greek%20Benefits.pdf, siehe auch: http://www.mzes.uni-mannheim.de/eurodata/newsletter/no7/feature.html).

HU Nach dem Gesetz LX von 2003 über Versicherungsunternehmen und das Versicherungsgeschäft ist ein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (biztosító egyesület) ein freiwilliger gemeinnütziger Verein auf Gegenseitigkeit, der seinen Mitgliedern Versicherungsschutz bietet: http://net.jogtar.hu/jr/gen/getdoc.cgi?docid=a0300060.tv&dbnum=62. Nach dem Gesetz XCVI von 1993 über freiwillige Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge wird ein freiwilliger Versicherungsfonds auf Gegenseitigkeit (önkéntes kölcsönös biztosító pénztár) freiwillig von natürlichen Personen auf der Grundlage von Unabhängigkeit, Gegenseitigkeit und Solidarität gegründet, um zusätzliche (substitutive oder supplementäre) Dienstleistungen des Sozialschutzes bereitzustellen. (http://net.jogtar.hu/jr/gen/hjegy_doc.cgi?docid=99300096.TV)

IE „Friendly Societies“ werden zu verschiedenen Zwecken gegründet, meist jedoch zur Bereitstellung kleiner Lebensversicherungen, Krankenversicherungen und Sterbeversicherungen für Mitglieder, für die Bereitstellung von Versicherungen für Nichtmitglieder oder für die Förderung bestimmter Aktivitäten oder Interessen (http://www.cro.ie/ena/business-registration-friendly-society.aspx). Eine Building Society hat unter anderem den Zweck, Finanzmittel für die Gewährung von Wohnungsbaudarlehen aufzubringen. Jede Person, die einen oder mehrere Anteile an einer Building Society hält, ist Mitglied der betreffenden Society. (http://www.irishstatutebook.ie/1989/en/act/pub/0017/print.html#sec9)

IT Nach dem Zivilgesetzbuch (Codice Civile) sind die Mitglieder einer Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit (società di mutua assicurazione) zugleich auch Versicherungsnehmer und umgekehrt. Es gibt auch Gesellschaften für gegenseitige Hilfe (Società Operaie di Mutuo Soccorso), die in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Soziales, Freizeit- und kulturelle Aktivitäten tätig sind und Leistungen für ihre Mitglieder erbringen; diese beruhen auf Gegenseitigkeit (die Mitgliedschaft ist kostenlos und freiwillig; die Gegenseitigkeitsgesellschaft kann ihre Mitglieder nicht auswählen; Gesellschaften für gegenseitige Hilfe führen ihre Aktivitäten ausschließlich für die und mit den Mitgliedern durch),

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Definition der Gegenseitigkeitsgesellschaften in den 27 Mitgliedstaaten

demokratischer Teilhabe (Personen, die einer Gesellschaft für gegenseitige Hilfe angehören, sind Mitglieder und keine Kunden; das Mitglied ist ein aktiver Teil eine Zusammenschlusses und beteiligt sich durch die Teilnahme an den Versammlungen der Gesellschaft an all ihren Entscheidungen) und Solidarität (die Solidarität wird durch die Befriedigung der sich verändernden sozialen und gesundheitsbezogenen Bedürfnisse gestärkt; die Gegenseitigkeit ist eine Alternative zum staatlichen und zum privaten Sektor) (www.fimiv.it/default.asp?modulo=pages&idpage=26).

LV Versicherungsgenossenschaften auf Gegenseitigkeit haben Mitglieder, während Versicherungsgesellschaften Anteilseigner haben.

LT Es gibt offenbar keine Gegenseitigkeitsgesellschaften.

LU Ein Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (association d’assurances mutuelles) wird definiert als ein Zusammenschluss von natürlichen oder juristischen Personen, der gegründet wird, um seine Mitglieder auf gemeinnütziger Basis gegen Risiken abzusichern. (https:/www.rcsl.lu/mjrcs/webapp/static/mjrcs/pdf/forms/note_pmor_ASSMUT.pdf). Eine Gesellschaft für gegenseitige Hilfe (société de secours mutuel) ist ein gemeinnütziger Zusammenschluss natürlicher Personen, der Maßnahmen der Vorsorge, Solidarität und gegenseitigen Hilfe im sozialen Bereich durchführt, mit denen die sozialen Auswirkungen der Risiken, denen die Mitglieder ausgesetzt sind, ausgeglichen werden. Diese Gesellschaften haben kein Kapital. Sie stehen unter der Aufsicht des Ministers für soziale Sicherheit und arbeiten beim Sozialschutz mit den Sozialversicherungsträgern zusammen (http://fnml.lu/ssm.htm).

MT Gemäß den Vorschriften für das Versicherungsgeschäft (Vermögenswerte und Verbindlichkeiten) bedeutet „Gegenseitigkeitsgesellschaft“ eine Versicherungsgesellschaft, bei der es sich um eine juristische Person ohne Anteilskapital handelt (mit Ausnahme einer hundertprozentigen Tochtergesellschaft ohne Anteilskapital, aber mit beschränkter Nachschusspflicht). Die maltesische Finanzdienstleistungsbehörde definiert eine Gegenseitigkeitsgesellschaft als eine Gesellschaft, die sich im Eigentum ihrer Versicherungsnehmer befindet (http://mymoneybox.mfsa.com.mt/pages/glossary.aspx?l=M).

NL Eine Gegenseitigkeitsgesellschaft ist ein Verein, der mit seinen Mitgliedern Versicherungsverträge abschließt. (http://www.kvk.nl/wetten_en_regels/rechtsvormen/overzicht_rechtsvormen/de_cooperatie_en_onderlinge_ waarborgmaatschappij/).

PL Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit bieten ihren Mitgliedern Versicherungsschutz auf der Grundlage der Gegenseitigkeit und Gemeinnützigkeit (Towarzystwa ubezpieczeń wzajemnych w Polsce report).

PT Eine Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit (mutua de seguros) ist ein Versicherungsunternehmen, das aus einem Zusammenschluss von Einzelpersonen besteht, welche sowohl Versicherer als auch Versicherte sind. Die Gegenseitigkeitsgesellschaft häuft keine Gewinne an. In Portugal hat eine Gegenseitigkeitsgesellschaft die Form einer Genossenschaft mit begrenzter Haftung, die aus Angehörigen ein und desselben Berufs besteht, welche sich gegen die Risiken im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit versichern möchten. Verträge mit einer Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit können ausschließlich von Mitgliedern abgeschlossen werden: (http://ww5.generali.pt/generali/servicos-cliente/glossario.html?task=list&glossid=1&letter=M) (Versicherungsgesetz von 1998). Vereine auf Gegenseitigkeit (Associações Mutualistas) sind gemeinnützige Vereine, die ergänzende Maßnahmen in den Bereichen soziale Sicherheit, Gesundheit, Sozialarbeit und Förderung der Lebensqualität vorzugsweise für ihre Mitglieder und deren Familien durchführen. Gemäß dem Gesetzeswerk für Gegenseitigkeitsvereine muss der Hauptzweck darin bestehen, Leistungen der sozialen Sicherheit und Gesundheitsleistungen bereitzustellen, aber sie können auch andere Ziele im Zusammenhang mit Sozialschutz und Förderung der Lebensqualität verfolgen (d. h. soziale Hilfsdienste, Sozialarbeit, kulturelle Aktivitäten): (http://www.3sector.net/equalificacao/src_cdroms/novos_conceitos_praticas/recursos_complementares/Mutualismo.pdf).

RO Das Gesetz Nr. 32/2000 über Versicherungsgesellschaften und die Versicherungsaufsicht definiert Gegenseitigkeitsgesellschaften als Rechtspersonen, deren Mitglieder sowohl Versicherungsnehmer als auch Versicherer sind.

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Definition der Gegenseitigkeitsgesellschaften in den 27 Mitgliedstaaten

SK In der Slowakei gibt es offenbar keine Gegenseitigkeitsgesellschaften.

SI Nach dem Versicherungsgesetz (Amtsblatt der Republik Slowenien Nr. 13 vom 17. Februar 2000 und Berichtigung. veröffentlicht in Nr. 91 vom 6. Oktober 2000) ist eine Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit eine Rechtsperson, die entsprechend dem Gegenseitigkeitsprinzip für ihre Mitglieder Versicherungsgeschäfte tätigt.

ES Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (mutuas de seguros) sind gemeinnützige private Organisationen, deren Zweck darin besteht, die Risiken ihrer Mitglieder abzusichern. Die Versicherungsnehmer sind zugleich auch Mitglieder (Gesetz zur Regelung und Beaufsichtigung privater Versicherungen). Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge (mutualidades de previsión social) sind gemeinnützige private Organisationen, die ergänzend zum obligatorischen Sozialversicherungssystem freiwillige Versicherungen anbieten. Auch bei diesen Gesellschaften sind die Versicherungsnehmer zugleich Mitglieder (Verordnung über Gegenseitigkeitsgesellschaften auf dem Gebiet der Sozialversicherung).

SE Versicherungen auf Gegenseitigkeit (ömsesidiga försäkringsbolag) sind Interessengemeinschaften, die für ihre Versicherungsnehmer tätig sind, welche zugleich auch Mitglieder sind. Ein Versicherungsverein (försäkringsförening, ehemals understödsförening – Wohltätigkeitsverein -) ist ein Verein, der das Ziel hat, durch Versicherungsdienstleistungen die wirtschaftlichen Interessen der Mitglieder zu fördern. Nach dem alten Gesetz über Wohltätigkeitsvereine (das für Gesellschaften, die noch keine Zulassung nach dem neuen Versicherungsgesetz erhalten haben, bis Ende 2014 gilt), sind Wohltätigkeitsvereine in erster Linie für Angestellte eines bestimmen Unternehmens oder mehrer bestimmter Unternehmen, Angehörige eines bestimmten Berufs o. ä. bestimmt und bieten Rentenversicherungen, Erlebensfallversicherungen oder Krankenversicherungen an (in der Regel handelt es sich um Pensionskassen, Krankenkassen, Sterbekassen oder Kranken- und Sterbekassen) (http://www.sweden.gov.se/content/1/c6/03/08/43/ed3eccd6.pdf).

UK Eine Gegenseitigkeitsgesellschaft ist eine Gesellschaft ohne Anteilseigner, die ihre Geschäftstätigkeit auf Gegenseitigkeit betreibt, d. h die Versicherungsnehmer haben Anspruch auf die sich aus der Geschäftstätigkeit ergebenden Überschüsse. Allerdings können einige Gesellschaften, bei denen es sich um Gegenseitigkeitsgesellschaften in dem Sinne handelt, dass sie keine Anteilseigner haben, ihre Geschäftstätigkeit ganz oder teilweise so ausüben, dass sie nicht unter den Rechtsbegriff der Gegenseitigkeit fällt, weil zum Beispiel die Versicherungsnehmer keine Mitglieder sind. (http://www.hmrc.gov.uk/manuals/gimanual/gim1180.htm). Im Vereinigten Königreich gibt es verschiedene Rechtsnormen, die dem Gegenseitigkeitsprinzip entsprechen: Friendly Societies, Building Societies, Industrial und Provident Societies sowie Credit Unions: (http://www.fsa.gov.uk/Pages/Doing/small_firms/MSR/index.shtml).

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Anhang 1B: Die wichtigsten Rechtsquellen

Institutionelle Maßnahmen und Gesetze (Gesetze über die Gründung, Statuten,

allgemeine oder spezifische Rechtsvorschriften)

AT Gegenseitigkeitsgesellschaften fallen – wie alle Versicherungsgesellschaften – unter das Versicherungsaufsichtsgesetz, das Versicherungsvertragsgesetz und andere allgemeine Versicherungsgesetze. (Quelle: VVO Kleine Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit). Die Paragrafen 26 bis 73 des Versicherungsaufsichtsgesetzes enthalten Sondervorschriften über Gründung, Organisation, Finanzen, Auflösung, Verschmelzung und Demutualisierung von Gegenseitigkeitsgesellschaften. Darüber hinaus gibt es Sondervorschriften für Tochtergesellschaften ausländischer Gegenseitigkeitsgesellschaften und für kleine Gegenseitigkeitsgesellschaften.

BE Krankenkassen fallen unter das „Wet betreffende de ziekenfondsen en de landsbonden van ziekenfondsen/Loi relative aux mutualites et aux unions nationales de mutualites“ (Gesetz über Krankenkassen und Krankenkassenverbände). Dieses Gesetz enthält Bestimmungen über Gründung, Organisation, von den Krankenkassen zu erbringende Leistungen, Finanzen (einschließlich staatlicher Zuweisungen), Verschmelzungen, Auflösung und Beaufsichtigung der Krankenkassen. Andere Gegenseitigkeitsgesellschaften fallen unter das „Wet betreffende de controle der verzekeringsondernemingen/Loi relative au contrôle des enterprises d’assurances“ (Versicherungsaufsichtsgesetz). Dieses Gesetz gilt nicht für Gegenseitigkeitsgesellschaften (oder Versicherungsgenossenschaften), die ihre Tätigkeit auf eine Gemeinde oder eine Gruppe benachbarter Gemeinden beschränken. Dem Gesetz zufolge haben diese dieselben Pflichten wie Aktiengesellschaften. Das Gesetz enthält Sondervorschriften über Gründung, Finanzen, Demutualisierung und Verschmelzungen von Gegenseitigkeitsgesellschaften.

BG Versicherungsgenossenschaften auf Gegenseitigkeit fallen unter die Versicherungsordnung. Abschnitt II der Versicherungsordnung enthält Sondervorschriften für diese Art von Versicherern in Bezug auf Gründung, Organisation und Finanzen. Darüber hinaus beschränkt das Gesetz die Tätigkeit der Versicherungsgenossenschaften auf Gegenseitigkeit auf den Bereich der Lebensversicherung. Wenn in der Versicherungsordnung nicht anders festgelegt, gelten die Bestimmungen des Genossenschaftsgesetzes auch für Versicherungsgenossenschaften auf Gegenseitigkeit.

CY -

CZ Das Gesetz untersagt die Gründung von Gesellschaften auf Gegenseitigkeit (abgesehen von Krankenkassen) (Quelle: Equal Theme D: Thematic Update).

DK Gegenseitigkeitsgesellschaften fallen unter das Gesetz über Finanzgeschäfte (lov om finansiel virksomhed), das einige Sondervorschriften für Organisation und Finanzen von Gegenseitigkeitsgesellschaften enthält.

EE -

FI Versicherungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit fallen unter das Versicherungsgesetz (Försäkringsbolagslag 18.7.2008/521), das Sondervorschriften für Gründung, Organisation, Finanzen, Verschmelzungen, Demutualisierung und Auflösung von Gegenseitigkeitsgesellschaften enthält. Für Versicherungsvereine ist das Gesetz über Versicherungsvereine (Lag om försäkringsföreningar 31.12.1987/1250) maßgeblich, das Bestimmungen über Gründung, Finanzen, Organisation, Verschmelzungen, Auflösung und Prüfung dieser Art von Gegenseitigkeitsgesellschaften enthält.

FR Die „Sociétés d’assurance mutuelle“ fallen unter die Versicherungsordnung („Code des Assurances“). Diese enthält Sondervorschriften für Gründung, Organisation und Finanzen der Versicherung auf Gegenseitigkeit. Der „Code de la Mutualité“ enthält Vorschriften für Gründung, Organisation und Finanzen. Er umfasst gesonderte Abschnitte für im Versicherungsbereich tätige Gegenseitigkeitsgesellschaften und für Gegenseitigkeitsgesellschaften, die in der Prävention und im sozialen Bereich tätig sind bzw. andere gesundheitsbezogene/soziale/kulturelle Tätigkeiten ausüben.

DE Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit fallen unter das Versicherungsaufsichtsgesetz – VAG). Die Paragrafen 15 – 53b dieses Gesetzes enthalten Sondervorschriften für Gründung, Organisation, Finanzen und Auflösung von Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit. Darüber hinaus gibt es Sonderbestimmungen für kleinere Vereine in Artikel 53 – 53b. Außerdem gelten einzelne Vorschriften des Aktiengesetzes, des Handelsgesetzbuches, des

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Institutionelle Maßnahmen und Gesetze (Gesetze über die Gründung, Statuten, allgemeine oder spezifische Rechtsvorschriften)

Drittbeteiligungsgesetzes, des Genossenschaftsgesetzes und des Bürgerlichen Gesetzbuches ebenfalls für Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (http://www.arge-vvag.de/fsets/fthemen.htm).

EL Gegenseitigkeitsgesellschaften fallen unter das Gesetz für private Versicherungsunternehmen (Νομοθετικό Διάταγμα 400/1970 «Περί Ιδιωτικής Επιχειρήσεως Ασφαλίσεως»), das Sonderbestimmungen für diese Art von Gesellschaften in Bezug auf Gründung, Prüfung und Finanzen enthält. Darüber hinaus begrenzt dieses Gesetz die Tätigkeit von Gegenseitigkeitsgesellschaften auf Schadenversicherungen (Englisch: http://www.eaee.gr/cms/eng/uploads/nd400-70en.pdf).

HU Das Gesetz XCVI von 1993 über freiwillige Versicherungsfonds auf Gegenseitigkeit stellt den Rechtsrahmen für die Gründung freiwilliger gemeinnütziger Gesundheits-, Renten- und Eigenvorsorgeversicherungen bereit (http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0006/80826/E68317.pdf). Dieses Gesetz regelt Tätigkeitsbereich, Organisation, Verwaltung, organisatorische Veränderungen und Beaufsichtigung dieser Fonds (Quelle: Information on the major benefit regulations and organisational structure of the pension insurance system in Hungary). Das Versicherungsgesetz LX von 2003 gilt nicht für freiwillige Versicherungsfonds auf Gegenseitigkeit.

IE Die wichtigsten Rechtsvorschriften zu auf der Grundlage der Friendly Societies Acts eingetragenen Gesellschaften sind: • Friendly Societies Acts, 1896-1977 • Insurance Act, 1989 • Electoral Act 1997 (in der geänderten Fassung) (Quelle: Register of Friendly Societies Annual Report, 2009) Für Building Societies gelten die Building Societies Acts (1989-2006).

IT Gegenseitigkeitsgesellschaften fallen unter die Artikel 2546 - 2548 des Zivilgesetzbuchs (Codice Civile); ferner gelten dem Zivilgesetzbuch zufolge für diese Gesellschaften auch bestimmte (ebenfalls im Zivilgesetzbuch enthaltene) Vorschriften für Genossenschaften. Gesellschaften für gegenseitige Hilfe unterliegen nach wie vor dem Königlichen Erlass Nr. 3818 vom 15. April 1886. Darin sind genaue Grenzen für die Tätigkeitsbereiche festgelegt, in denen diese Gesellschaften tätig sein dürfen, insbesondere in Bezug auf den Gesamtwert der Erstattungen, die an die Mitglieder ausgezahlt werden (AIM).

LV Für Gegenseitigkeitsgesellschaften ist das Versicherungsgesetz und das Versicherungsaufsichtsgesetz maßgeblich.

LT -

LU Für Gegenseitigkeitsgesellschaften gilt das Gesetz über den Versicherungssektor vom 6. Dezember 1991 (Loi modifiée du 6 décembre 1991 sur le secteur des assurances), das Sondervorschriften für Gegenseitigkeitsgesellschaften enthält, die die Gründung und Organisation betreffen. Gesellschaften für gegenseitige Hilfe fallen unter das Gesetz vom 7. Juli 1961 über Gegenseitigkeitsgesellschaften (loi du 7 juillet 1961 concernant les sociétés de secours mutuels) und das großherzogliche Reglement vom 31. Juli 1961 über die Tätigkeit der auf Gegenseitigkeit beruhenden Gesellschaften für gegenseitige Hilfe (règlement grand-ducal du 31 juillet 1961 déterminant le fonctionnement des sociétés de secours mutuels).

MT Der Insurance Business Act und die Insurance Business Regulations enthalten Sondervorschriften für Gegenseitigkeitsgesellschaften.

NL Für Gegenseitigkeitsgesellschaften (und Genossenschaften) gelten die Artikel 53 – 63 von Buch 2 des Zivilgesetzbuchs (Burgerlijk Wetboek). Da Gegenseitigkeitsgesellschaften und Genossenschaften als besondere Vereine definiert sind, gelten die Bestimmungen für Vereine (Artikel 26 - 52) grundsätzlich auch für Gegenseitigkeitsgesellschaften, sofern in den Artikeln über Gegenseitigkeitsgesellschaften und Genossenschaften nichts anderes festgelegt ist.

PL Gegenseitigkeitsgesellschaften fallen unter das Gesetz vom 22. Mai 2003 über die Versicherungstätigkeit, das Sondervorschriften über Gründung, Organisation, Finanzen, Auflösung, Verschmelzungen und Demutualisierung von Gegenseitigkeitsgesellschaften beinhaltet. Darüber hinaus sind in dem Gesetz Sondervorschriften für kleine Gegenseitigkeitsgesellschaften enthalten.

PT Für Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit sind die Versicherungsgesetze von 1998 und 2009 sowie die Bestimmungen des Genossenschaftskodex maßgeblich, sofern letztere nicht im Widerspruch zu den Versicherungsgesetzen stehen. Die Versicherungsgesetze enthalten Sondervorschriften für Gegenseitigkeitsgesellschaften in Bezug auf die Gründung; in den meisten

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Institutionelle Maßnahmen und Gesetze (Gesetze über die Gründung, Statuten, allgemeine oder spezifische Rechtsvorschriften)

Fällen gelten jedoch die Bestimmungen für Aktiengesellschaften auch für Gegenseitigkeitsgesellschaften. Für Gegenseitigkeitsvereine gilt der das einschlägige Gesetzeswerk („Código das Associações Mutualistas“).

RO Gegenseitigkeitsgesellschaften fallen unter die Gesetze 32/2000 und 403/2004 über Versicherungsgesellschaften, die einige Bestimmungen enthalten, welche dem besonderen Charakter von Gegenseitigkeitsgesellschaften Rechnung tragen, aber in den meisten Fällen sind die Vorschriften für Aktiengesellschaften auch auf Gegenseitigkeitsgesellschaften anwendbar.

SK -

SI Gegenseitigkeitsgesellschaften fallen unter das Versicherungsgesetz, das Sondervorschriften für Gründung, Organisation, Finanzen, Auflösung, Verschmelzungen und Demutualisierung von Gegenseitigkeitsgesellschaften enthält. Gegenseitigkeitsgesellschaften im Bereich der Zusatzkrankenversicherung müssen darüber hinaus dem Gesundheitsvorsorge- und Krankenversicherungsgesetz entsprechen. Die einzige in diesem Bereich tätige Gegenseitigkeitsgesellschaft, Vzajemna, wurde gemäß dem Gesetz zur Änderung des Gesundheitsvorsorge- und Krankenversicherungsgesetzes (Amtsblatt der Republik Slowenien Nr. 29/98) durch Abspaltung von der slowenischen Krankenversicherungsanstalt (die für die gesetzliche Krankenversicherung zuständig ist) gegründet. Das Gesetz über die Neugestaltung des Status der Krankenversicherung Vzajemna regelt die Bedingungen für eine mögliche Demutualisierung dieser Gegenseitigkeitsgesellschaft.

ES Für Gegenseitigkeitsgesellschaften sind das Gesetz über die Organisation und Beaufsichtigung privater Versicherungen (Ley de ordenación y supervisión de los seguros privados) (2004) und die Verordnung über die Organisation und Beaufsichtigung privater Versicherungen (Reglamento de Ordenación y Supervisión de los Seguros Privados) (1998) maßgeblich, die Sondervorschriften für Organisation, Finanzen, Verschmelzungen und Demutualisierung enthalten. Sondervorschriften für Gründung, Tätigkeiten, Organisation und Finanzen von Gegenseitigkeitsgesellschaften, die im Bereich des Sozialschutzes tätig sind, finden sich in der Verordnung über Gegenseitigkeitsgesellschaften für soziale Fürsorge (Reglamento de mutualidades de previsión social) (2002).

SE Gegenseitigkeitsgesellschaften (sowohl Versicherungsgesellschaften als auch Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit) fallen unter das Versicherungsgesetz (Försäkringsrörelselag), das Sonderbestimmungen für beide Arten von Gegenseitigkeitsgesellschaften (unterschiedliche Vorschriften für jede der beiden Kategorien) in Bezug auf Gründung, Organisation, Finanzen, Auflösung und Verschmelzungen umfasst. In diesem Gesetz wird mehrfach auf das Gesetz über wirtschaftliche Vereinigungen (Genossenschaften) (lag om ekonomiska föreningar) verwiesen, das Bestimmungen enthält, die für Gegenseitigkeitsgesellschaften gelten, sofern nicht im Versicherungsgesetz etwas anderes festgelegt ist (das ist neu - das alte Versicherungsgesetz enthielt keine Verweise auf das Gesetz über wirtschaftliche Vereinigungen). Das neue Versicherungsgesetz zur Aufhebung des Versicherungsgesetzes von 1982 und des Gesetzes über Wohltätigkeitsvereine von 1972 tritt am 1. April 2011 in Kraft, aber Versicherungsvereine fallen nach wie vor so lange unter das alte Gesetz über Wohltätigkeitsvereine (lag om understödsföreningar), bis ihnen die Zulassung nach dem neuen Gesetz erteilt wurde. Diese muss bis Ende 2014 beantragt werden (http://www.riksdagen.se/webbnav/index.aspx?nid=3322&rm=2010/11&bet=FiU8) (http://www.sweden.gov.se/sb/d/13416/a/152060).

UK Bei den eingetragenen Friendly Societies handelt es sich um Gesellschaften ohne eigene Rechtspersönlichkeit, die gemäß den Vorschriften des Friendly Societies Act 1974 und früherer ähnlicher Rechtsvorschriften gegründet wurden und die Geschäftstätigkeiten gemäß den in diesen Rechtsvorschriften genannten Zielen ausüben. Mit dem Friendly Societies Act 1992 wurde der Weg für eine neue Art von Friendly Society bereitet und eingetragenen Gesellschaften die Möglichkeit der Umwandlung in eine solche neuartige Gesellschaft ohne eigene Rechtspersönlichkeit gegeben. Die meisten „Richtliniengesellschaften“, d. h. diejenigen, die groß genug sind, um unter die EU-Versicherungsrichtlinien zu fallen, wurden als Kapitalgesellschaften gegründet (http://www.hmrc.gov.uk/manuals/gimanual/GIM1200.htm). Building Societies unterliegen gemäß den Vorschriften des Building Societies Act 1986 dem FSA. Der Building Societies Act 1986 wurde mehrfach geändert und durch den Building Societies Act 1997 und das Financial Services and Markets Act 2000 inhaltlich überarbeitet

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Institutionelle Maßnahmen und Gesetze (Gesetze über die Gründung, Statuten, allgemeine oder spezifische Rechtsvorschriften)

(http://www.bsa.org.uk/policy/policyissues/bslegislation/bslegislation.htm).

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9. ANHANG 2: VERZEICHNIS DER BEFRAGTEN Name Organisation Apostolos Ioakimidis GD Unternehmen und Industrie, Direktion F - Tourismus,

Soziale Verantwortung der Unternehmen, Verbrauchsgüter und Internationale regulatorische Übereinkommen, Referat F2 - Kleine Unternehmen, Genossenschaften, Gegenseitigkeitsgesellschaften und Soziale Verantwortung der Unternehmen

Antonia Carparelli GD Beschäftigung, Soziales und Integration, Direktion D:

Europe 2020: Sozialpolitik Ulf Lindner GD Binnenmarkt, Direktion F – Freier Kapitalverkehr,

Gesellschaftsrecht und Unternehmensführung. Referat F2 – Gesellschaftsrecht, Corporate Governance und Finanzkriminalität

Gregor Pozniak Caterine Hock Helen Sheppard

AMICE (Association of Mutual Insurers and Insurance Cooperatives in Europe)

Rita Kessler Philippe Swennen Cristina Vallina Magdalena Machalska Willi Budde

AIM (Association Internationale de la Mutualité)

Bernard Thiry CIRIEC/Ethias (Belgien) Lieve Lowet ICODA European Affairs (Belgien) Serge Jacobs VVOV/UAAM (Verbond van Verenigingen van Onderlinge

Verzekering/Union des Associations d'Assurances Mutuelles) (Belgien)

Mike Aiken Open Univeristy UK (Vereinigtes Königreich) Cornélia Federkeil Giroux Mutualité Française (Frankreich) Arielle Pieron Garcia Mutualité Française (Frankreich) Luc Roger Harmonie Mutuelles (Frankreich) Bill McPate Selbstständiger Berater/Benenden Health care

(Vereinigtes Königreich)

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Name Organisation Martin Shaw AFM (Association of Financial Mutuals) (Vereinigtes

Königreich) Loredana Vergassola FIMIV (Federazione Italiana della Mutualità Integrativa

Volontaria) (Italien)

Frederik Andersson Universität Lund, Institut für Wirtschaftsforschung (Schweden)

Gunnar Andersson Folksam (Schweden) Mihael Perman AZN (Agencija za zavarovalni nadzor/Agentur für

Versicherungsaufsicht) (Slowenien) Dusan Kidric Vzajemna (Slowenien) François Daue Itinera Institute (Belgien) Isabelle Hirtzlin Université de Paris 1 (Panthéon-Sorbonne) (Frankreich) Manuela Krütt Gothaer Finanzholding AG (Deutschland) Ed Mayo Co-operatives UK (Vereinigtes Königreich) Ellen Bramness Arvidsson Sveriges Försäkringsförbund/Schwedischer

Versicherungsverband (Schweden) Marie-Hélène Kennedy ROAM (Reunion des Organismes d’assurance mutuelle)

(Frankreich) Claudio Travaglini Università di Bologna (Universität Bologna) (Italien) Rado Bohinc Univerza na Primorskem (Universität Primorska)

(Slowenien) Marcel Smeets The European Business and Health Care Forum

(Niederlande)228

228 Die Befragung erfolgte in der Endphase der Studie.

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10. ANHANG 3: ICMIF: MARKTANTEIL DER GEGEN-SEITIGKEITSGESELLSCHAFTEN UND GENOSSENSCHAFTEN 2008

Tabelle 2: Marktanteil der Gegenseitigkeitsgesellschaften und Genossenschaften 2008

Markt-anteil insg. Leben

Nicht-Leben

Verän-derung Markt-anteil 2007-2008

Markt-anteil in Mio. $ Leben

Nicht-Leben

Beschäf-tigte

Vermö-gen in Mio. $

FI 73.20% 79.60% 48.00% 2.20% 17,224 14,915 2,310 6,038 117,532

AT 59.80% 48.80% 69.00% -0.40% 14,269 5,283 8,986 13,834 68,217

DE 43.90% 60.80% 29.70% -0.10% 106,124 67,001 39,123 86,647 751,788 DK 42.40% 54.40% 19.30% 0.80% 13,728 11,575 2,153 4,080 188,464

FR 38.70% 32.10% 51.70% 0.60% 106,807 58,741 48,065 83,754 759,120

SK 38.50% 35.20% 41.30% 0.30% 1,131 484 647

NL 33.10% 29.80% 34.80% 7.10% 37,905 11,568 26,337 18,684 191,807

ES 29.40% 16.30% 40.70% 0.60% 25,513 6,554 18,959 16,394 99,458 CZ 25.10% 15.10% 32.00% 0.40% 2,057 503 1,553 4,668 3,405

SE 23.50% 11.10% 52.60% 0.30% 8,644 2,887 5,757 4,694 86,770

RO 21.30% 9.50% 24.40% 1.20% 756 69 687 1,280

EE 19.50% 13.30% 4.00% 4.40% 101 16 16 12

HU 18.90% 17.80% 20.10% 1.30% 948 475 473 4,025 3,079 BE 18.60% 16.60% 22.30% -1.20% 8,420 4,841 3,579 4,249 64,618

IT 15.10% 11.20% 20.70% 1.10% 21,265 9,222 12,043 6,079 89,297

LU 13.90% 16.50% 1.80% -6.50% 2,683 2,622 61

SI 13.40% 3.80% 17.90% -0.50% 399 36 363

BG 13.40% 22.10% 12.00% 5.80% 181 41 140 153

PL 5.80% 3.50% 9.20% 0.80% 1,421 505 915 60 103

UK 5.30% 3.50% 9.90% 1.40% 20,902 10,055 10,847 26,703 187,725 EL 3.90% 0.10% 8.00% -0.10% 273 4 268 486 73

PT 3.00% 1.10% 7.50% -0.60% 671 187 484 1,048 2,371

IE 1.60% 1.60% 1.50% 0.30% 837 677 160 667 9,253 Europa229 23.90% 21.50% 27.30% 2.10% 405,700 214,353 191,277 282,110 2,699,550

Quelle: ICMIF Annual Mutual Market Share & Global 500 für 2007–2008, 2010; von den Verfassern erstellte Tabelle.

229 Die Gesamtdaten der ICMIF für Europa umfassen auch Drittstaaten wie die Schweiz, Liechtenstein und Island.

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