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Faust Magazin der bayerischen Jusos 1 2012 Thema: Soziale Spaltung Chancengleichheit versus Chancengleichheit im Ergebnis Einkommensentwicklung und Vermögensverteilung Prekarisierung der jungen Generation Ausweitung der Kampfzone

Faust (01/2012) Thema im Heft: Soziale Spaltung

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Magazin der bayerischen Jusos

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Page 1: Faust (01/2012) Thema im Heft: Soziale Spaltung

FaustMagazin der bayerischen Jusos 1 2012

Thema: Soziale Spaltung

Chancengleichheit versus Chancengleichheit im Ergebnis

Einkommensentwicklung und Vermögensverteilung

Prekarisierung der jungen Generation

Ausweitung der Kampfzone

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es hat ein bisschen gedauert, aber jetzt haltet ihr die neue Ausgabe der „Faust“ inHänden. Als Thema haben wir diesmal den aktuellen Arbeitsschwerpunkt der Jusos Bayerngewählt, die Frage der sozialen Spaltung der Gesellschaft. Wir haben versucht, die unterschied-lichen Aspekte des Themas zu beleuchten, von eher theoretischen Fragestellungen wie „Was

ist eigentlich soziale Spaltung“ hin zu konkreten Problemen wie der „Gentrifizierung“ vor allem in Großstädten.Und auch die internationale Perspektive kommt nicht zu kurz, hat doch die Spaltung der Gesellschaft im vergan-genen Jahr in vielen Staaten zu Protesten geführt.

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen und freuen uns auch darauf, mit euch bei den Jusos Bayern zu diskutie-ren, wie wir sozialer Spaltung entgegenwirken können. Denn die Probleme nur zu benennen, reicht natürlich nicht.

Eure Faust-Redaktion

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Inhalt

Mephisto 3

Soziale Spaltung –Was heißt das eigentlich? 4

Chancengleichheit versus Gleichheit im Ergebnis 7

Einkommensentwicklung und Vermögensverteilung in Deutschland 12

Prekarisierung der jungen Generation 15

Nicht vomGeldbeutel der Eltern? 20

Ausweitung der Kampfzone 22

Ein revolutionäres Jahr? 26

The Rise of the Indignados 30

Gretchen 32

Impressum:Herausgeber und Redaktionsanschrift: Jusos in der SPD, Landesverband Bayern, Oberanger38/II. Stock, 80331 München,Telefon 089-231711-37, Fax 089-23 1711-39, [email protected]: Maria Deingruber, Landesgeschäftsführerin der bayerischen JusosBildnachweis: Volker Derlath (Titel, Seite 4, 6, 8, 11, 15, 17, 18, 20, 22, 26, 28, 30), Anno Dietz (Seite 24),DGB Bayern/Kerstin Groh (Seite 19), privat (weitere AutorInnenfotos)Gestaltung & Produktion: Konturwerk, Herbert WoykeDruck & Verarbeitung: Meox Druck GmbH

Liebe Genossinnen und Genossen,

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Seit einiger Zeit wabert der Be-griff der „Sozialen Spaltung“ durch diepolitische Landschaft. Beschrieben wirddamit ein Unbehagen darüber, dass sich die Gesell-schaft in Deutschland, aber auch europa- und weltweit,auseinanderentwickelt. Und der Blick auf die Statisti-ken zeigt dies auch: Die Einkommens- und Vermö-gensverteilung wird ungleicher. Die „soziale Mobili-tät“, vor allem die Möglichkeit, von „unten“ nach„oben“ aufzusteigen, hat stark abgenommen.

Aus dieser Beobachtung, die viele auch in ihremtäglichen Leben erfahren, folgt ein Unbehagen, dassich in der (zurecht) weit verbreiteten Meinung zeigt,in der Gesellschaft gehe es nicht mehr gerecht zu.Verstärkt hat dies noch die Finanzkrise, in denen die-jenigen, die viel Geld verspekuliert hatten (was vor-aussetzt, dass sie auch viel Geld hatten), mit Steuer-geld gerettet wurden – und gleichzeitig eine Debattedarüber stattfand, der Hartz-IV-Satz dürfe nicht erhöhtwerden, weil sich das der Staat nicht leisten könne.

Gegen diese zunehmende Spaltung der Gesell-schaft formiert sich öffentlicher Protest. In Deutsch-land eher zaghaft in Teilen der „Occupy“-Bewegungoder in den Sozialforen, die es in vielen Städten gibt.Manchmal auch zahlreich, zum Beispiel, als im Herbst2010 über 100.000 Menschen dem DGB-Aufruf zuKundgebungen unter dem Motto „Gerechtigkeit istetwas anderes – Wir brauchen einen Kurswechsel“folgten. Und in anderen Ländern sind die Protestelängst große Bewegungen geworden, sei es in Chile, inIsrael oder in Spanien.

Die politische Debatte darf aber nicht dabei ste-henbleiben, nur zu artikulieren, was „nicht stimmt“. Siemuss auch deutlich machen, woher die Entwicklungkommt, und was dagegen zu tun ist. Denn die zuneh-mende Spaltung der Gesellschaft ist nicht „naturgege-ben“, sie kommt nicht von selbst. Sondern sie ist her-beigeführt durch zahlreiche politische Maßnahmen,die die Umverteilung von unten nach oben beförderthaben, die Menschen die soziale Sicherheit genommen

haben. Massive Senkungen der Einkommens- undUnternehmenssteuern (erstere gerade für BezieherIn-nen hoher Einkommen), die „Entfesselung“ des Ar-beitsmarktes mit Leiharbeit, Befristungen und Mini-jobs, Hartz IV oder Rente mit 67 – vieles hat zurSpaltung beigetragen oder wird dies, wie die Rentemit 67, noch tun.

Mit dieser Faust wollen wir einen Beitrag zudieser Debatte leisten.Wir gehen der Frage nach, wo-raus soziale Spaltung eigentlich entsteht, was sie istund was sie antreibt.Wir gehen auf die zentralen The-menfelder ein, in denen sie stattfindet, und wir versu-chen, den Blick über Deutschland hinaus auf die inter-nationalen Protestbewegungen des vergangenen Jah-res zu richten. Damit wollen wir einen Einstieg bietenin die Diskussion darum, wie die Spaltung der Gesell-schaft wieder zurückgedrängt werden kann. Dennwenn der Prozess der zunehmenden Spaltung (auch)durch Politik herbeigeführt worden ist – dann ist esauch die Politik, die ihn wieder umkehren kann undmuss. Und es muss vor allem die Sozialdemokratiesein, die dies anpackt. Die SPD hat ihre Daseinsbe-rechtigung vor allem als Partei der Gerechtigkeit – unddiesem Ziel muss sie wieder gerecht werden.

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Philipp DeesLandesvorsitzender Jusos Bayern

Erlangen

mephisto

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Soziale Spaltung –Was heißt das eigentlich?

Bücher, Talkrunden, Fernsehreportagen, öf-fentliche Diskussionen und nicht zuletzt die Occupy-Bewegung – das Thema „Soziale Spaltung der Gesell-schaft“ hat sich in den letzten zwei Jahren fastschon zu einem In-Thema entwickelt. Das ist durch-aus erstaunlich, wenn man sich daran erinnert, dassnoch vor fünf Jahren der damalige SPD-VorsitzendeFranz Müntefering die Feststellung in einer Studie derFriedrich-Ebert-Stiftung, es gebe in Deutschland ein„abgehängtes Prekariat“, eine Unterschicht, die weit-gehend vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossensei, als „Wort lebensfremder Soziologen“ abtat 1. Undnicht viel länger ist es her, dass eine offizielle Publika-tion des Bundesministeriums für Wirtschaft und Ar-beit (unter dem SozialdemokratenWolfgang Clement)mit dem Titel „Vorrang für die Anständigen“ Arbeits-lose vorrangig als „Schmarotzer“ und sogar als „Para-siten“ darstellte 2, während im Fernsehen Reportagenüber „SozialfahnderInnen“ populär waren.

Neu ist die Debatte um eine stärker zunehmen-de Spaltung in der Gesellschaft aber nicht. Seit den1980er Jahren ist sie in der Soziologie präsent, wasauch schon darauf hinweist, woher sie kommt: Derneoliberale Siegeszug seit Ende der 1970er Jahre und

der damit verbundene Rückbau des Sozialstaates sindwesentlich dafür verantwortlich, dass sich Gesellschaftauseinanderentwickelt. Dabei spielt sich dies aber nichtnur auf der Ebene der Einkommen undVermögen ab:Auch der Zugang zu Bildung wird, nach dem Ende derBildungsexpansion der 1970er Jahre, wieder unglei-cher. Im Arbeitsmarkt gibt es immer mehr Erwerbstä-tige, die nicht in reguläre Beschäftigung gelangen, son-dern in prekären Beschäftigungsverhältnissen wieLeiharbeit, Teilzeitarbeit oder Niedriglohnbeschäfti-gung „hängen bleiben“. In den Städten gibt es eine im-mer stärker werdende Aufteilung in Wohnviertel derWohlhabenden und der Armen. Und verbunden mitsozialer Spaltung sind auch Unterschiede beim Zugangzu Kultur- und Freizeitangeboten, zum sozialen undgesellschaftlichen Leben und nicht zuletzt auch bei derTeilhabe an politischen Entscheidungen.

Abstiegsangst der Mittelschicht

Dass die Diskussion um die soziale Spaltungnun breit in der Gesellschaft geführt wird, hat zwei

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wesentliche Ursachen: Zum einen ist sie in der Mit-telschicht angekommen. Die Mittelschicht schrumpft,und dies vor allem nach unten, durch Abstiege in dieUnterschicht. Befördert hat dies in Deutschland leiderauch sozialdemokratische Regierungspolitik, die dasZiel der Lebensstandardsicherung (eine einmal er-reichte Position in der Gesellschaft wird vom Sozial-staat garantiert) aufgegeben und durch das Prinzip derExistenzsicherung ersetzt hat – das deutlichste Beispieldafür ist das Arbeitslosengeld II, aber auch z.B. diver-se Renten- oder Arbeitsmarktreformen waren darauforientiert. Die Erkenntnis, dass der Rückbau desWohl-fahrtsstaates keineswegs nur „die da unten“ betrifft, hatdie politische Debatte verändert. Nicht umsonst heißtder Untertitel eines Buches des Soziologen BertholdVogel „Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen“3.

Zum Zweiten ist die soziale Spaltung in diegesellschaftliche Diskussion gerückt, weil die Finanz-krise zwei Kernaussagen der neoliberalen Ideologie,die gerade zur Rechtfertigung von Sozialabbau dien-ten, widerlegt hat: Erstens die These, es sei kein Geldda: Für die Bankenrettungen war ganz offensichtlichund sehr kurzfristig Geld vorhanden. Und zweitens dieBehauptung, die Entfesselung von Märkten und derRückzug des Staates sorge für einen immerwährendenAufschwung, von dem letztlich auch die Unterschichtprofitiere. Stattdessen hat sich gezeigt, dass es zu einerKonzentration von immer mehr Geld in den Händenweniger kommt, woraus letztendlich Krisen überhaupterst entstehen – für die dann die ganz unten in der Ge-sellschaft bezahlen sollen.

Dieser letzte Punkt macht auch deutlich: Bei so-zialer Spaltung, bezieht man sie auf die Verteilung derEinkommen und Vermögen, geht es keineswegs nurum eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Sondern esgeht auch um wirtschaftliche Stabilität. Denn Gesell-schaften, in denen die Einkommen und Vermögengleich(er) verteilt sind, entwickeln sich langfristigbesser und sind weniger anfällig für Krisen.

Parallelwelt der oberen Schichten

Die Finanzmarktkrise hat auch einen Aspekt inden Blick gerückt, der bei der Diskussion um „SozialeSpaltung“ oft vergessen wird: Es geht nicht nur da-rum, dass am unteren Ende der Gesellschaft eineGruppe vonMenschen entstanden ist, die vom Zugangzum gesellschaftlichen und sozialen Leben abgehängtist. Sondern auch auf der anderen Seite koppelt sichdie Oberschicht – und auch zunehmend die obereMittelschicht – immer stärker von der Gesellschaft

ab und bewegt sich in eine Parallelwelt. Die Gentri-fizierung von Stadtvierteln ist genauso ein Ausdruckdavon wie der Trend zu Privatschulen.

Dabei ist auch hier einiges keineswegs neu. DerOberschicht in Deutschland ist es schon seit langemgelungen, ihren gesellschaftlichen Status zu behauptenund eine Konkurrenz durch AufsteigerInnen aus derMittelschicht zu vermeiden. Die Elitenforschung be-schreibt seit langem, dass sich Führungseliten inDeutschland – besonders, aber keineswegs nur in Un-ternehmen – aus den immer gleichen Personenkreisenrekrutieren. Daran hat auch die Bildungsexpansion der1970er Jahre nichts groß ändern können: Der Zugangzu den Führungseliten erfolgt nämlich nicht vorrangigüber formale Bildungsabschlüsse, sondern vor allemüber „weiche“ Faktoren – bestimmteVerhaltensweisen,die die Zugehörigkeit zur gleichen Gruppe ausdrückenund in der Familie und im Freundeskreis erlernt wer-den; die besuchte Schule und Hochschule; und nichtzuletzt formelle und informelle Netzwerke.

Neu ist aber das Ausmaß, in dem Teile derMittelschicht versuchen, sich vor allem über Bildungvon den „VerliererInnen“ unten in der Gesellschaft ab-zusondern. Dahinter steckt die (legitime) Überlegung,dass es den eigenen Kindern einmal besser oder zu-mindest nicht schlechter gehen soll, als den Eltern.Weil aber der Zugang zum Arbeitsmarkt, über den sichsozialer Status ja wesentlich definiert, immer schwerergeworden ist, versuchen Eltern, ihre Kinder dafür mög-lichst gut auszustatten – mit immer höheren Bildungs-abschlüssen, mit zusätzlichen Ausbildungen (vonSprachkursen bis zur Musikschule), aber auch mit derWahl von Kindertagesstätten, Schulen und Hochschu-len, die ein besonderes Angebot versprechen oder einbesonderes Renommee aufweisen, das sich über denAbschluss hinaus auch bei Bewerbungen einsetzenlässt. Die Frage, an welcher Schule oder Hochschuleman seinen Abschluss gemacht hat, ist längst zum Si-gnal dafür geworden, wo man in der Gesellschaft steht.

Kampffeld Bildung

Um die „bestmöglichen Startchancen“ zu errei-chen, wird der Druck auf die Kinder immer größer,weil die Eltern immer höhere Anforderungen formu-lieren. Familien ziehen mittlerweile sogar in andereStadtviertel, damit die eigenen Kinder „bessere“ Kin-dertagesstätten oder Schulen besuchen können – wo-bei sich „besser“ häufig über weniger MigrantInnenund weniger Kinder aus sozial schwierigenVerhältnis-sen darstellt, weil man diesen zuschreibt, das Niveau

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der Bildungseinrichtung „herunterzuziehen“ und da-mit dem Lernerfolg des eigenen Kindes zu schaden.

Dabei geht es aber nicht nur darum, dass eigeneKind möglichst gut mit Abschlüssen auszustatten. Son-dern es geht natürlich auch darum, dass das eigeneKind besser qualifiziert ist als andere Kinder,mit denenes später um die Stellung auf dem Arbeitsmarkt unddamit in der Gesellschaft konkurrieren wird. Darausfolgt der Bedarf, sich nach unten abzugrenzen. In derDiskussion um die Verlängerung der Grundschulzeitin Hamburg spielte das Argument eine zentrale Rolle,dass es den eigenen Kindern schaden würde, zu langemit „sozialen Problemfällen“ auf die gleiche Schule ge-hen zu müssen. Und es war nicht unwesentlich ein Teilder Mittelschicht, der eigentlich von der Schulreformprofitiert hätte, der gemeinsam mit der Oberschichtdiese schließlich verhinderte.

Die Absonderung zwischen gesellschaftlichenSchichten zeigt sich in der Bildung besonders deutlich,auch deshalb, weil die Bedrohung der gesellschaftli-chen Position nicht nur für die Elterngeneration, son-dern noch stärker für deren Kinder wahrgenommenwird (und auch tatsächlich existiert, wie sich an derArbeitsmarktsituation junger Menschen in Deutsch-land und noch stärker in anderen EU-Staaten zeigt).Bildung ist aber nicht das einzige Themenfeld. In dergesellschaftlichen Debatte gibt es eine starke Tendenz,bei der Unterschicht Gründe zu finden, warum diesean ihrer Situation selbst schuld sei:Weil die Eltern dieBildung ihrer Kinder vernachlässigten; weil sie nichtgut genug Deutsch sprächen; weil sie sich falsch er-nährten, rauchten und Alkohol tränken; weil sie denganzen Tag nur vorm Fernseher säßen usw. Darausfolgt dann im Umkehrschluss: Weil man selbst dieseFehler nicht macht, droht man auch nicht abzusteigen.

Die soziale Spaltung der Gesellschaft ist Reali-tät, und sie zeigt sich an vielen Stellen, unter anderem

bei der Wohnortwahl, auf dem Arbeitsmarkt und imBildungssystem. Entsprechend vielfältig muss Politikdarauf reagieren, wenn sie diesen Trend umkehrenwill. Vor allem aber muss es gelingen, die Mitte der Ge-sellschaft „mitzunehmen“. Diese darf eine bessere In-tegration der unteren Schichten nicht als Bedrohungempfinden, weil sie sonst gegen diese Politik opponie-ren würde – womit sie wohl nicht mehr durchsetzbarwäre, vergleiche Schulstreit in Hamburg. Deshalb isteine Absicherung der sozialen Lage der Mittelschicht,vor allem durch eine Reform des Arbeitsmarktes, diediesen wieder „sicher“ macht, Voraussetzung für einePolitik, die soziale Spaltung beseitigt. Und dann darfdie Politik noch eines nicht vergessen: Dass es nichtnur darum geht, denen „unten“ in der Gesellschaft bes-sere Möglichkeiten zu verschaffen – sondern auch da-rum, von denen „oben“ in der Gesellschaft einen Bei-trag zu mehr Gerechtigkeit zu verlangen.

Anmerkungen1 Rita Müller-Hilmer (2006): Gesellschaft im Reformprozess.Berlin, Friedrich-Ebert-Stiftung

2 Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (2005):Vorrang für die Anständigen –Gegen Missbrauch,„Abzocke“ und Selbstbedienung im Sozialstaat. Berlin

3 Berthold Vogel (2009): Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen,die aus der Mitte kommen. Hamburg, Hamburger Edition

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Philipp DeesLandesvorsitzender Jusos Bayern

Erlangen

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Chancengleichheit versusGleichheit im Ergebnis

Die Gründungsfahne des Allgemeinen Deut-schen Arbeitervereins, dem Vorläufer der SPD, ziertder Schriftzug „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ei-nigkeit macht stark“. Dieser Tradition fühlt sich nichtnur die SPD verpflichtet, sondern auch wir Jusos.

Heute ist Gleichheit aus den drei Grundwertenund auch aus den zentralen politischen Forderungenverschwunden. Nicht mehr Gleichheit, sondern Ge-rechtigkeit (Grundwerte) und Chancengleichheit (zen-trale politische Forderung) werden angestrebt.

Seit den 1970er Jahren wird nicht mehr vonGleichheit als politischer Forderung und gesellschaft-lichem Ideal gesprochen, sondern von Chancengleich-heit als seinem vermeintlichen Äquivalent. Der libera-le Allrounder hat seitdem die Deutungshoheit gewon-nen und steht für das vermeintlich Gerechte – über al-le politische Couleur hinweg. Wer Chancengleichheitverwirklicht, schafft das gerechte System. Doch ist demwirklich so? Wir wollen uns im Folgenden damit be-schäftigen, zu untersuchen, wo die Unterschiede zwi-schen Gleichheit und seinen vermeintlichen Äquiva-lenten liegen; und wie es um Gleichheitspostulate undihre tatsächlichen Ergebnisse bestellt ist. An den Bei-spielen Bildung, Arbeit, Geschlecht und Interkulturali-tät wollen wir dies überprüfen.

Leistung muss sich wieder lohnen?

Ein entscheidender Unterschied zwischen denForderungen nach Chancengleichheit gegenüberGleichheit im Ergebnis ist die Rolle der Leistung.

Bei Chancengleichheit werden Ungleichheitenund Diskriminierungen an jeweiligen Startpunktenausgeglichen: bei der frühkindlichen Bildung, zurSchuleinführung, im Übergang von Grund- zu weiter-führender Schule, zwischen Hochschulreife und Hoch-schule, Ausbildungsplatzsuche ... Doch was zwischendiesen Anfängen – also während des Prozesses – pas-siert, wird unzureichend beachtet. Hierauf wird keinAugenmerk gelegt, in diesen ist das Individuum aufsich selbst gestellt. Auch der sozialdemokratischeWegbeschreibt dies: Dass Chancengleichheit immer anden jeweiligen Startpunkten gewährt wird, indem die

Unterschiede durch Förderung der Benachteiligtenausgeglichen werden, doch weder dazwischen nochdarüber hinaus. Die sogenannten Chancen auf demLebensweg werden somit individualisiert, die Personhat die Aufgabe, sich eigenständig durchzusetzen.

Verfolgt man hingegen das Ideal der Gleichheitim Ergebnis, spielen diese Startpunkte zwar ebenfallseine wichtige Rolle, Steuerungsmechanismen zumAusgleich von Ungleichheiten und Diskriminierungenwerden aber auch während der Prozesse genutzt. Dieshat den entscheidendenVorteil, dass kein Ende festge-legt ist. Insbesondere was Ungleichheiten im Erwach-senenalter wie etwa im Beruf (Stichwort Frauen inFührungspositionen) anbelangt, besteht in der Kon-zeption Chancengleichheit keine Möglichkeit derSteuerung. Aber auch „Leistung“ als Element ist beider Gleichheit im Ergebnis keinesfalls ausgeschlossen(wir müssen aber einen linken Begriff von Leistung de-finieren). Vielmehr müssen aber Menschen ihr ganzesLeben über aktiv begleitet und unterstützt werden, an-statt das Recht dem/r Stärkeren zu überlassen.

Chancengleichheit in der Bildung –ein gebrochenes Versprechen

Nach Chancengleichheit sollen gleiche Rah-menbedingungen und gleiche Aufstiegschancen zurgerechten Gesellschaft führen. Diese Prämisse hat ei-nen ganz entscheidenden Haken: Sie übersieht, dassviele Menschen auch zwischendurch Unterstützungbenötigen. Im System der Chancengleichheit würdeeine derartige Unterstützung jedoch wettbewerbsver-zerrend wirken und ist demnach nicht erwünscht. Manübersieht dabei (bewusst!), dass Menschen einenRucksack mit sich tragen, der nicht mit dem Schussder Startkanone, bei dem allen die gleichen Möglich-keiten suggeriert werden, abgeworfen werden kann. Sokann man sich schnell vor Augen führen, dass bei-spielsweise gute frühkindliche Bildung entscheidendund unverzichtbar ist, sie aber letztlich aufgrund desfamiliären Hintergrundes, der finanziellen Situationund vieler anderer Faktoren nicht der alleinige Wegsein kann. Doch dieses eindimensionale Denken, eine

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Sache anzustoßen und dann andere zu übersehen oderbewusst als unnötig zu betrachten, finden wir auch inder eigenen Partei.

Ein gutes Analysesystem für den angesproche-nen Rucksack bieten die Kapitalformen von PierreBourdieu. Demnach gibt es vier Sorten von Kapital:soziales, ökonomisches, kulturelles und symbolisches.In der Welt der Chancengleichheit werden im Bil-dungssystem nur die ökonomischen Kapitalvorräte be-rücksichtigt, indemMaßnahmen ergriffen werden, dassdiese nicht zum Tragen kommen: kein Schulgeld, Ab-schaffung von Studiengebühren, Lehrbuchmittelfrei-heit etc. Nicht berücksichtigt werden jedoch die eben-falls sehr relevanten Kapitalsorten des sozialen undkulturellen Kapitals. Unter sozialem Kapital wird vonBourdieu die Summe der sozialen Netze verstanden –sowohl der aktuellen als auch der möglichen.

Mit kulturellem Kapital wird Bildung erfasst –Bildung des/r Einzelnen und der Familie; und auchhier sowohl der aktuelle Bildungsstand als auch dermögliche. Damit einher geht die Konstitution eines„Habitus“. Bourdieu spricht hier unter anderem von„freiwillig besetzten Unterscheidungen“. So wird –selbst wenn es gelänge, ökonomische Faktoren auszu-gleichen – ein Kind aus einer Familie mit akademi-scher Tradition alleine durch den gelernten Habitusnoch klare Vorteile im Sinne von kulturellem und so-zialem Kapital ziehen.

Ein Beispiel: Zwei Menschen werden zu einemAuswahlgespräch für den letzten Studienplatz eines

Studienfaches eingeladen. Eines ist ein Kind aus einerAkademikerInnenfamilie, in dessen Umkreis es Nor-malität war, dass ProfessorInnen in der Familie zu Gastwaren; in dessen Familie fachliche Diskussionen amEssenstisch dazu gehörten und dem schon früh sug-geriert wurde, dass ein Studium Teil der Ausbildungist. Der andere Mensch entstammt einer Familie, in derbisher niemand studierte und in der Geldsorgen unddas abendliche Fernsehprogramm das Tischgesprächprägten. Beide besitzen einen Habitus, der stark durchdie familiären Strukturen und das Umfeld geprägt sind.Nun – wer von beiden wird wohl im universitärenKontext besser bestehen können? Allein derWissens-vorsprung (= das kulturelle Kapital), dass man Profes-sorInnen nicht mit Herr/Frau ProfessorIn ansprichtoder wie man sich in Hochschulen kleidet, führt dazu,dass die beiden BewerberInnen keinesfalls gleich sindund gleich wahrgenommen werden. Und dadurch wirdauch das symbolische Kapital, womit unter anderemdie gesellschaftliche Anerkennung gemeint ist, starkbeeinflusst. Dies tritt etwa in der systematischen, wennauch teilweise unterbewussten Ungleichbehandlungvon SchülerInnen durch LehrerInnen hervor.

Schon heute kämpfen verschiedene politischeLager darum, „am meisten Chancengleichheit“ zu ge-währen. Dahinter verbirgt sich die Erkenntnis, dassausgeweitete Bildungsmöglichkeiten notwendig sind,um denWohlstand und die Industrialität unserer Ge-sellschaft auch bei rückläufiger Bevölkerungszahl zu si-chern. Die humanistisch anmutende Forderung ist

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letztlich also eine wirtschaftliche – was sich auch anden Ergebnissen zeigt. Noch heute erreichen von 100AkademikerInnenkindern 71 die Hochschulreife. BeiKindern aus sozial schlechter gestellten Schichten sindes hingegen nur 24. Noch deutlicher wird dies, wennman sich die soziale Herkunft von Studierenden anUniversitäten anschaut:Während 2009 64 Prozent derStudierenden eine hohe oder gehobene Herkunft auf-wiesen, stammten 24 Prozent aus mittleren und nur 13Prozent aus niedrigen sozialen Schichten.

Wir sehen: Zu Beginn scheinen alle die gleichenStartmöglichkeiten zu haben; es herrscht Chancen-gleichheit. Im Ergebnis spiegelt sich dies jedoch nichtwider. Auch die Politik der Chancengleichheit durchdie Sozialdemokratie der vergangenen Jahrzehnte hatdiese Entwicklung nicht signifikant ändern können.Fragt man (neo-)liberale und konservative Kräfte,warum dem so ist, so erhält man meist die sozialdar-winistisch anmutende Antwort, dass diese Menschendem (selbstredend erwünschten und akzeptierten)Wettbewerb nicht standhalten konnten. Damit er-scheint der Untergang im System als hinreichend le-gitimiert.

Arbeit als Grundlage der Gleichheit

Der zentrale Punkt im Streben nach Gleichheitmuss die Bemühung darstellen, dass alle Menschenüber genügend ökonomisches Kapital verfügen. Frag-los sind alle Kapitalformen wichtig und müssen ge-meinsam betrachtet und beachtet werden. Dennocherübrigt sich dieVerbesserung der Lebensumstände imSinne der Gleichheit im Bezug auf die anderen Kapi-talformen, wenn das ökonomische Kapital nicht aus-reichend vorhanden ist. Bildungsprogramme, kosten-freie Kindertagesstätten und vieles mehr sind demnachvor allem dann wirklich zielführend, wenn das ökono-mische Kapital eine solide Grundlage bildet. Das Ein-heitsfrontlied fasst dies recht passend zusammen:„Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum brauchter was zum Essen bitte sehr. Es macht ihn kein Ge-schwätz nicht satt, das schafft kein Essen her.“

Doch es wäre dennoch nicht zielführend, nunvon staatlicher Seite mit einer allumfassenden und un-gefragten Grundversorgung zu agieren.Wir dürfen unsnicht scheuen, einen linken Begriff von Leistung zuprägen und zu definieren. Denn unabhängig, ob unsder Begriff der Leistung passt oder nicht, große Teileder Gesellschaft definieren sich darüber. Und es mussauch klar sein, dass für uns die Zentralität von Er-werbsarbeit nicht in Frage gestellt wird. Ein progressiv-

linker Leistungsbegriff stellt dabei nicht den ökono-mischen Erfolg, sondern die gesellschaftliche Ent-wicklung und Solidarität in den Mittelpunkt. Dabeimuss der Bezug zwischen dem, was individuell „geleis-tet“ wird und wie diese Leistung „vergütet“ wird, klarund nachvollziehbar sein. Das bedeutet im Sinne derGleichheit vor allem dreierlei:

Zum einen müssen wir versuchen, Hürden soweit wie möglich zu minimieren. Das heißt Qualifizie-rung, Weiterbildung, Wiedereingliederungsmaßnah-men, Instrumente in den Betrieben (siehe auch Teil zuGleichstellung) und vieles mehr.

Zweitens müssen wir definieren, welche Arbeitwir als welche Leistung anerkennen und wie viel je-mand im wahrsten Sinne des Wortes für diese Arbeitverdient. Dabei muss am Ende nicht der gleiche Lohnfür jede Arbeit herauskommen. Aber es bedeutet glei-cher Lohn für gleichwertige Arbeit und es bedeutet,dass manche absurd hohen Einkommen der Vergan-genheit angehören müssen. Beispielsweise muss füruns klar sein, dass es eine große Leistung ist, mit denHänden etwas zu erschaffen, wie beispielsweise Hand-werkerInnen, oder StahlarbeiterInnen. Auch die Pflegeund die Arbeit mit Menschen mit Behinderung, altenoder kranken Menschen ist eine Leistung, die eine gu-te Entlohnung unbedingt voraussetzt. Geld aus-schließlich über Spekulation und Kapital zu erhalten,wie beispielsweise Hedgefonds-Manager, ist keine Lei-stung in unserem Sinne.

Drittens müssen wir für diejenigen, die trotz Be-mühungen keine Arbeit finden, sicherstellen, dass siestaatlich so unterstützt werden, dass sie gut leben kön-nen und auch – siehe alle vier Kapitalformen – am ge-sellschaftlichen Leben teilhaben können. Auch dieSchaffung von Arbeitsplätzen durch den Staat (Stich-wort ÖBS) kann in diesem Zusammenhang eine, wennauch nicht die dominierende, Rolle spielen.

Männer und Frauen sindgleichberechtigt – wer’s glaubt!

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ –so steht es in Artikel 3, Absatz 2 des Deutschen Grund-gesetzes. Wir alle wissen, dass diesem Satz ein langerKampf vorausging und auch im Anschluss viele Frau-en und Männer für die Gleichstellung der Geschlech-ter kämpften. Ein weiterer Höhepunkt stellte für So-zialdemokratInnen das Jahr 1988 dar, in dem eine Ge-schlechterquote von 40 Prozent in den organisations-politischen Statuten beschlossen wurde – und dennochist das gesellschaftliche Ziel, sie langfristig überflüssig

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zu machen, bisher nicht erreicht! Dennoch müssenFrauen sich in unserer Gesellschaft stets noch mit Ste-reotypen herumschlagen und werden strukturell sowieökonomisch benachteiligt.Wie kann das sein?

Auch hier sehen wir wieder die Diskrepanz zwi-schen Anspruch undWirklichkeit. Die formelle Gleich-stellung ist durch das Grundgesetz erreicht, von dergesellschaftlichen Gleichstellung jedoch sind wir nochweit entfernt. Schafft eine Frau es nicht, den entspre-chenden Posten zu besetzen, die entsprechende An-stellung zu erhalten, die gewünschte Lohnerhöhung zuverhandeln, so liegt es an ihr selbst als Person – undnatürlich nicht daran, dass sie eine Frau ist!

Doch Zahlen sprechen manchmal auch für sich:In fast allen Wirtschaftszweigen und Berufen sindFrauen bei den angestellten Führungskräften unterre-präsentiert, Frauen verdienen für gleiche oder gleich-wertige Arbeit im Schnitt 24 Prozent weniger als ihremännlichen Kollegen und Frauen besetzen im über-proportionalen Schnitt soziale Berufe, die durch-schnittlich schlechter bezahlt werden. Zudem liegtnoch heute zu zwei Dritteln die Hauptlast in punktoHaushalt und Kindererziehung bei den Frauen.

Neue Hoffnung – Interkulturalität

Ein ähnlicher, jedoch noch neuer und damithoffnungsbesetzter Bereich ist die Interkulturalität.Auch hier sehen wir, dass mit steigenden gesellschaft-lichen Anforderungen (schrumpfende Bevölkerung,gesteigertes technologisches Know-how etc.) das Zu-trauen in Menschen mit Migrationsbiografie zunimmt.Gibt es auch heute noch negative Beispiele (Stichwort:„Sarrazin“) und rassistisch besetzte Debatten (Stich-wort: „Dönermorde“), so erkennt ein beachtlicher Teilder politischen Akteure den Bedarf und die berei-chernden Chancen eines Einwanderungslandes mitt-lerweile an.* Für die Frage „Chancengleichheit oderGleichheit im Ergebnis“ ist bedeutend, dass sich heu-te vermehrt in Politik,Wirtschaft und Gesellschaft derThematik umMenschen mit Migrationsbiografie undeines guten Zusammenlebens angenommen wird.

Verkürzte Diskussionen aber bilden oft ein res-triktives Bild: Geht es um Chancengleichheit im Bil-dungssystem ist man schnell bei Deutschpflicht undverpflichtenden Prüfungen vor Einschulungszusage.

Spricht man von Chancengleichheit im Beruf, geht esgleich um Dumpinglöhne durch die Öffnung der EUnach Osteuropa. Möchte man über Chancengleichheitder Geschlechter sprechen, findet man sich schnellerals erwartet in einer Kopftuchdebatte wieder. Und beiall diesen Beispielen ist stets ersichtlich: die Verant-wortung für das Gelingen oder Misslingen von Gleich-heit liegt beim Individuum, nicht bei der Gesellschaft.Diese Debatten werden stets mit Pflichten, Verbotenund Zielen geführt. Egal ob konservative Leitkulturoder der Einbürgerungstest: Menschen mit Migrati-onsbiografie sollen stets einem gewissen Standard ent-sprechen. Sie sollen sich die Gleichheit erarbeiten.

Und auch hier sprechen die Zahlen für sich: Beieinem guten Schulabschluss nehmen die mit Migrati-onshintergrund im Laufe eines Jahres zu 56 Prozenteine vollqualifizierende Ausbildung auf, von denjeni-gen ohne 75 Prozent. Nach drei Jahren sind 78 Pro-zent der Jugendlichen aus Familien mit Migrationser-fahrung und 92 Prozent der Jugendlichen aus Famili-en ohne Migrationshintergrund in eine Ausbildung ge-langt (vgl. WISO direkt, Oktober 2009). Bei gleicherEignung erreichen also Menschen mit Migrationsbio-grafie schlechtere Übergangsquoten.

Abgrenzung zur Gerechtigkeit

Wir sehen, dass Chancengleichheit zu Beginnnicht zwingend zu Gleichheit im Ergebnis führt. Alseine Erklärung dafür, warum dem so ist, kann dieNichtbeachtung wichtiger Kategorien dienen. Chan-cengleichheit betrachtet alle Menschen als zunächstformell gleich und gewährt ihnen von diesem Punktaus die gleichen Chancen. Ihr humanitärer Charakterergibt sich daraus, dass sie diesen Punkt schützen willund keine negativen Ausprägungen durch Diskrimi-nierung oder ähnliches zulassen möchte.

Klingt der Begriff „Chancengleichheit“ zunächsthumanistisch und egalitär, versteckt sich dahinter abergleichzeitig ein Mechanismus, Selektionen vorzuneh-men und die kapitalistischen Maxime zu initialisieren.Allen Menschen werde die gleiche Chance auf Auf-stieg suggeriert, man müsse sich im System behaup-ten.Wer jedoch der Konkurrenz nicht standhält,mussquasi untergehen: „Die natürliche Auslese, ‚nature se-lection‘, bewährt sich im Kapitalismus.“ (Heydorn1972/2004, S. 96; hierzu auch Heydorn 1973b/2004, S.158f.) Es ist dieser Sozialdarwinismus, der der Chan-cengleichheit diesen faden Beigeschmack verleiht.Wirkliche Egalität wird dadurch nicht hergestellt, imGegenteil ist sie nicht einmal erwünscht; Auflehnung

* Dass wir stets noch keine Einwanderungsgesellschaft sind, dass vieledieser Diskussionen unter rassistischen Vorzeichen geführt werden unddass Assimilationsforderungen noch immer nicht verstummen, wollenwir hier als negatives Faktum wissend nicht behandeln.

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gegen das Prinzip der Chancengleichheit hieße Auf-lehnung gegen gesellschaftliche Gerechtigkeit, wobeiauch dieser Begriff kapitalistisch gedeutet wird.

Nicht ohne Grund war das Ziel sozialistischerOrganisationen, Gleichheit im Ergebnis zur erreichen.Diese benötigt mehr als gleiche Startchancen. Sie be-nötigt eine fortwährende Unterstützung der Schwä-cheren in der Gesellschaft. Damit ist keine Gleichma-cherei gemeint. Natürlich werden im Ergebnis nichtalle Menschen exakt gleich sein oder das Gleiche ver-dienen. Die Korrektive zu Gunsten der Schwächerenmüssen jedoch permanent wirken und es muss offen-siv gegen eine deutliche Ungleichheit vorgegangenwerden. Nur so können wir unserem Ideal einer Ge-sellschaft von Freien und Gleichen näher kommen.

Der bereits beschriebene Rucksack der Men-schen ist bedeutender als zugestanden. Die Gesell-schaft trägtVerantwortung für jedes Individuum, das inihr lebt. Die Individuen tragen wiederum Verantwor-tung für das gesellschaftliche Ganze. Es ist ein Gebenund Nehmen, das im Idealfall zum Ausgleich der In-teressen führt. Die Prämisse Chancengleichheit ver-schiebt die Verantwortung einseitig. Sie setzt einenimaginären Startpunkt, zu diesem die GesellschaftGleichheit zu gewährleisten hat; anschließend ist esder Verantwortung des/r Einzelnen überlassen, waser/sie daraus macht. Doch so funktioniert Gesellschaftnicht. Die Summe unserer Kapitelvorräte führt zu un-terschiedlichen Möglichkeiten im Nutzen der gleichenStartchancen. Kulturelles und Soziales Kapital führenzur Etablierung eines bestimmten Habitus, welcherwiederum die Möglichkeiten des/r Einzelnen im Ge-sellschaftlichen miteinander vorbestimmt.

Politische Schlussfolgerungen

Was können wir daraus schließen? Eine wichti-ge Erkenntnis sollte sein, dass wir Jusos uns von demliberalen Mainstream lösen sollten. Es zeigte sich, dassChancengleichheit zwar nett und humanitär erscheint,im Ergebnis jedoch nicht zu Gleichheit führt. Dahersollten wir uns auf die sozialistische Forderung derGleichheit im Ergebnis rückbesinnen, um alle Mög-lichkeiten der Förderung nutzen zu können. Gleich-zeitig müssen wir der Gesellschaft klar machen, dassdie neoliberale Schutzbehauptung, Gleichheit wäreGleichmacherei, nicht zutrifft. Nur wenn das Erreichenvon Gleichheit im Ergebnis oberste Priorität genießt,können wir auch wirkliche Freiheit und Gleichheit inunserer Gesellschaft erreichen.

Jana HeinzeReferentin beim

SPD-Parteivorstand, Berlin

Veith LemmenVorsitzender der

Jusos NRW, Münster

11

Page 12: Faust (01/2012) Thema im Heft: Soziale Spaltung

DieWirtschaft boomt, die Arbeitslosigkeit er-reicht Monat für Monat neue Tiefststände. Die Kriseist überwunden, Deutschland geht gestärkt daraus her-vor – so der Tenor vieler Kommentare. Ist das wirk-lich so?Wer profitiert vom angeblichen „Boom“?

Zeitgleich zum so gepriesenen Aufschwung vonWirtschaft und Arbeitsmarkt sind die Ersparnisse derDeutschen so hoch wie nie zuvor.Das Geldvermögenstieg im Jahr 2010 auf 4,88 Billionen Euro. Damitverfügte jeder Deutsche im Schnitt über knapp60.000 Euro. Doch wo liegt dieses ganze Geld?

Falsche Einkommensentwicklungund Vermögensverteilung

Fakt ist: Die Verteilung von Einkommen undVermögen wird in Deutschland immer ungleicher.

Schlimmer noch: Beides verstärkt sich wechselseitig:Je höher das Einkommen ist, desto mehr Geld stehtzumVermögensaufbau zurVerfügung. Umgekehrt be-deuten hohe Vermögen auch neue Einkommen – inForm von Zinsen, Dividenden oder Spekulationsge-winnen. Einkommensentwicklung undVermögensver-teilung können daher auch nicht losgelöst voneinan-der betrachtet werden.

In den letzten Jahrzehnten hat eine dramati-sche Umverteilung von unten nach oben das Problemder ungleichenVerteilung weiter verschärft. Heute ver-fügen die reichsten 10 Prozent der Bevölkerungüber 60 Prozent des Vermögens in Deutschland.Gleichzeitig haben rund zwei Drittel der Bevölkerunggar kein oder nur ein sehr geringes Vermögen – unddie Kluft zwischen Arm und Reich nimmt weiterhinzu.

Bei der Einkommensentwicklung kann man be-obachten, dass die These der wechselseitigen Verstär-

Einkommensentwicklungund Vermögensverteilungin Deutschland

10.

Vermögensverteilung in DeutschlandErwachsene Bevölkerung nach Zehnteln, Anteile am Gesamtvermögen in Prozent, 2002 und 2007(individuelles Nettovermögen, Personen in privaten Haushalten im Alter ab 17 Jahren)

Quelle: SOEP; Berechnungen des DIW Berlin

Zehntel9.8.7.6.5.4.3.2.1.

Zehntel mitdem höchsten

Vermögen70

Prozent

60

50

40

30

20

10

0

-10

20072002

61,1

19,9

11,111,8

2,82,81,21,30,40,40,00,0

-1,6-1,2

Zehntel mit dem niedrigsten Vermögen

0,00,0

57,9

19,0

6,07,0

12

Page 13: Faust (01/2012) Thema im Heft: Soziale Spaltung

kung leider stimmt. Der Anteil der Löhne an denEinkommen nimmt in Deutschland schon seit Jahr-zehnten ab – und der Trend hält bis in die Gegenwartan. So lag die Nettolohnquote 1960 noch bei 55,8 Pro-zent (Westdeutschland) und 1991 immerhin noch bei49,3 Prozent (Gesamtdeutschland; Westdeutschland1990 48,5 Prozent). Für das erste Halbjahr 2011 wirddie Nettolohnquote auf nur noch 42 Prozent ge-schätzt. Im Umkehrschluss bedeutet diese Entwick-lung, dass Gewinn- und Kapitaleinkommen einen im-mer größeren Anteil ausmachen.

Auch die Entwicklung der Haushaltseinkom-men im Einzelnen zeigt, dass die These stimmt:Hoheund niedrige Einkommen entwickeln sich immerweiter auseinander. Betrug das Einkommen des un-tersten Fünftels der Haushalte im Jahr 2000 noch 28,6Prozent des Einkommens im obersten Fünftel, so wa-ren es 2010 nur noch 22,2 Prozent. Deutschland weistdabei eine deutlich schlechtere Entwicklung auf als an-dere Staaten in der Europäischen Union.

Die Lohnentwicklung in Deutsch-land ist katastrophal schlecht

Neben der wechselseitigenVerstärkung von un-gleicher Vermögens- und Einkommensverteilung hatdie sinkende Nettolohnquote in Deutschland noch ei-nen weiteren Grund: Die schlechte Entwicklung der

Löhne insgesamt. Dies zeigt sich besonders anschau-lich imVergleich mit anderen Volkswirtschaften.Zusammengefasst lässt sich also feststellen:• Die Vermögen konzentrieren sich immer mehr imreichsten Teil der Gesellschaft.

• Parallel dazu entwicklen sich hohe und niedrigeEinkommen immer weiter auseinander.

• Der Anteil der Gewinn- und Kapitaleinkommenwächst, die Reallöhne stagnieren oder sinken.

• Die Lohnentwicklung in Deutschland ist auch iminternationalen Vergleich besonders schlecht.

Ursachen der Fehlentwicklung

Uns als SozialdemokratInnen muss diese Ent-wicklung zu denken geben. Die SPD trägt ganz offen-sichtlich mit ihrer Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- undSteuerpolitik in der Zeit von Rot-Grün und GroßerKoalition einen entscheidenden Anteil an dieser Fehl-entwicklung.

Richtig ist, dass schon während der Zeit der Re-gierung Kohl eine Trendwende in der Lohnentwick-lung einsetzte. Gründe dafür gibt es viele: Massenar-beitslosigkeit, eine schwindende Macht der Gewerk-schaften einhergehend mit einer rückläufigen Tarif-bindung, aber auch falsche politischeWeichenstellun-gen, wie beispielsweise die forcierte Herausbildung ei-nes wachsenden Niedriglohnsektors.

Einkommen des untersten Fünftels der Haushaltein Prozent des Einkommens des obersten Fünftels

Quelle: Eurostat/EU-SILC

2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 201017,5

19,5

21,5

23,5

25,5

27,5

29,5

31,5

Europäische Union (15 Länder) Deutschland Frankreich Finnland Schweden

13

Page 14: Faust (01/2012) Thema im Heft: Soziale Spaltung

ZurWahrheit gehört, dass die neoliberale Agen-da-Politik die Ausweitung der Niedriglöhne stark ge-fördert hat, beispielsweise durch die weitere Förderungvon Mini- und Midi-Jobs, die Verschärfung der Zu-mutbarkeitskriterien im Zuge der Hartz-Gesetzgebungoder die Erleichterungen für die Leiharbeitsbranche.

Die Auswirkungen lassen sich an den oben auf-geführten Statistiken ablesen.

Einkommensentwicklung und Ver-mögensverteilung sind steuerbar!

Doch wenn wir zur Einsicht kommen, dass die-se Entwicklung von der Politik mitverschuldet wurde,dann ist sie auch politisch umkehrbar.Wir Jusos setzenuns daher unter anderem für die folgenden Maßnah-men ein:

Mindestlöhne einführen,Niedriglohnsektor austrocknen!Ein Mindestlohn behebt sicher nicht alle Probleme –er ist aber notwendig, um zumindest die schlimmstenAuswüchse den Lohndumpings wieder zurückzudrän-gen.Wer arbeitet,muss dafür auch gerecht bezahlt wer-den und von seinem Lohn leben können. Dies ist der-zeit bei weitem nicht überall der Fall. Hungerlöhnevon sechs, fünf oder vier Euro sind leider keine Sel-tenheit – hier muss einMindestlohn von mindestens8,50 Euro ein erster Schritt sein, um diese moderneSklaverei wieder rückgängig zu machen!

Zur Austrocknung des Niedriglohnsektors sindaber noch zahlreiche weitere Schritte notwendig, bei-spielsweise die Regulierung und die Einführung vonEqual Pay in der Leiharbeitsbranche.

Vermögensteuer jetzt!Die Ungleichverteilung vonVermögen ist nicht nur so-zial ungerecht – sie ist auch ein volkswirtschaftlichesProblem und hat mit zur derzeitigen Finanz- undWirtschaftskrise beigetragen. GroßeVermögen werdenvor allem an den Finanzmärkten eingesetzt, um durchSpekulation möglichst hohe Renditen zu erzielen. Die-se Gier hat die riesigen Kosten der Finanz- undWirt-schaftskrise mit verursacht – jetzt müssen die Verur-sacher an den Kosten beteiligt werden!

Der Staat steht in der Sozialpolitik vor großenAufgaben. Das neoliberale Dogma, dass der Staat im-mer weiter sparen müsse und das Niveau unseres So-zialstaats nicht zu halten sei, hat zu einer dramatischensozialen Spaltung geführt. Der Neoliberalismus ist zumwiederholten Mal gescheitert – tot ist er aber noch im-mer nicht.

Für uns Jusos ist klar: Nicht die Sozialausgabenunseres Staates sind zu hoch, sondern die Einnahmenzu gering. An der Finanzierung unseres Staatswesensmüssen auch endlich die großen Vermögen beteiligtwerden – dies ist ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit.

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Dominik Brüttingstellvertretender

Juso-Landesvorsitzender,Weiden

Entwicklung der Reallöhne pro Kopf in Europavon 2000 bis 2008

Quelle: Hans-Böckler-Stiftung

331,7 %Rumänien

188,5 %Lettland

132,5 %Estland

104,4 %Litauen

66,7 %Ungarn

51,9 %Bulgarien

49,1 %Tschechien

48,1 %Slowakei

40,3 %Slowenien

39,6 %Griechenland

30,3 %Irland

26,1 %Großbritannien

19 %Dänemark

19 %Polen

18,9 %Finnland

17,9 %Schweden

12,8 %Zypern

12,4 %Niederlande

9,6 %Frankreich

8,1 %Luxemburg

7,9 %Malta

7,5 %Italien

7,2 %Belgien

4,6 %Spanien

3,3 %Portugal

2,9 %Österreich

Deutschland -0,8 %

Page 15: Faust (01/2012) Thema im Heft: Soziale Spaltung

Die Prekarisierung der jungen Generationnimmt zu. Fehlende Berufsausbildung und fehlendeÜbernahme nach der Ausbildung führen dazu, dass diejunge Generation zunehmend befristet, verliehen undschlecht bezahlt wird. Die Auswirkungen liegen auf derHand: Beschäftigungs- und Einkommensunsicherheitzerstören jede vernünftige Lebensplanung jungerMenschen. Alles verschiebt sich auf eine bessere Zu-kunft.

Die erste Schwelle: Die Ausbildung

Die Prekarisierung der jungen Generation hateine Vorgeschichte. Wenn junge Menschen das ersteMal direkt mit dem Arbeitsmarkt in Kontakt treten, istdies häufig die Suche nach einem Ausbildungsplatz.Denn rund die Hälfte aller SchulabgängerInnen möch-te mit einer Berufsausbildung ins Erwerbsleben ein-steigen. 41 Prozent der SchulabgängerInnen in Bay-ern beginnen eine Berufsausbildung, 8 Prozent be-finden sich im sogenannten Übergangssystem zwi-schen Schule und Ausbildung (Bundesinstitut für

Berufsbildung, Integrierte Ausbildungsstatistik2010).*

Der Ausbildungsstellenmarkt ist ein geschlosse-nes System, das statistisch und politisch vom Arbeits-markt getrennt ist. Hier geht es nicht um die Erwerbs-tätigkeit, sondern um die Erlangung der beruflichenHandlungskompetenz, die dann in der Regel zu einerbesseren Position auf dem Arbeitsmarkt führen soll.Deshalb muss er gesondert betrachtet werden.

Der bayerische Ausbildungsstellenmarkt hattejahrelang mehr BewerberInnen als gemeldete Ausbil-dungsstellen aufzuweisen. Auch wenn sich das Ver-hältnis BewerberInnen zu Ausbildungsstellen diesesJahr deutlich gedreht hat, bleiben zwei Strukturpro-bleme erhalten:1. Nicht alle BewerberInnen bei der Bundesagentur fürArbeit erhalten auch einen Ausbildungsplatz. Das istbei lediglich 65 Prozent der Fall. Alleine für das ak-

Prekarisierungder jungen GenerationBeschäftigungs- und Einkommensunsicherheit zerstören die Lebensplanung junger Menschen.

15

* Die Zahlen sind einer Antwort der Bundesregierung auf die KleineAnfrage der Fraktion DIE LINKE zur Entwicklung von Niedriglöhnenin den Regionen entnommen. Die Daten, auf denen die Antwort derBundesregierung basiert, stammen von der Bundesagentur für Arbeit(Drucksache 7/5316)

Page 16: Faust (01/2012) Thema im Heft: Soziale Spaltung

tuelle Ausbildungsjahr hatten über 8.000 Bewerbe-rInnen keinen Ausbildungsvertrag, aber weiterhinein Interesse, eine Ausbildung aufzunehmen (Bun-desagentur für Arbeit, RD Bayern, 2011). Die meis-ten von ihnen entschließen sich dazu, eine weiter-führende Schule zu besuchen. Die in den letztenJahren steigenden Schülerzahlen bei Fachoberschu-len u. a. bestätigen dies. Die schulische Laufbahnwird immer mehr zu einer Alternative zur beruf-lichen Erstausbildung.

2. Schließlich landen jährlich einige Tausend Bewer-berInnen sowie Jugendliche ohne Bewerberstatusim sogenannten „Übergangssystem“ zwischen Schu-le und Ausbildung. In Bayern gibt es für sie soge-nannte „Brückenangebote“ an Berufsschulen (Be-rufsvorbereitende Bildungsmaßnahme, Berufsvor-bereitungsjahr, Berufsintegrationsjahr, Berufsein-stiegsjahr und Klassen für Jugendliche ohne Ausbil-dungsplatz), um die Schulpflicht abzuleisten. ImSchuljahr 2010/11 nahmen an diesen Angeboten ca.12.000 Jugendliche teil (Staatsministerium für Un-terricht und Kultus, 2011). Aus Vergleichsstudienwissen wir, dass die Verweildauer in Übergangs-maßnahmen hoch, die Übertrittsrate in eine Ausbil-dung niedrig ist. Zudem ist das „Übergangssystem“aufgrund der vielfältigen Trägerstrukturen äußerstunübersichtlich – und letztlich wenig zielführend.

AusbildungsabbrecherInnen

Haben Jugendliche erst einmal die erste Hürdegeschafft und einen Ausbildungsvertrag in der Tasche,ist das ein guter Start. Aber nicht alle Auszubildendenerhalten die Ausbildung, die ihnen zusteht.

Der Ausbildungsreport der DGB-Jugend legtjährlich den Finger in die Wunde: Ein von zehn Aus-zubildenden verrichten ausbildungsfremde Tätigkei-ten und werden nicht während ihrer Ausbildungstä-tigkeit angeleitet. Vier von zehn Auszubildenden leis-ten regelmäßig Überstunden, wovon jeder fünfte we-der einen finanziellen noch einen Freizeitausgleich er-hält. Dass es Auszubildende gibt, die mit diesen Rah-menbedingungen nicht zufrieden sind und ihre Aus-bildung abbrechen, ist durchaus verständlich. Fakt ist,dass etwa jeder Sechste nach Zählung des Bundesins-tituts für Berufsbildung seine Ausbildung abbricht. Be-sonders hoch sind die Abbrecherquoten im Hotel- undGaststättengewerbe sowie bei Bäckereien und Kondi-toreien. Dies bestätigt auch der Abschlussbericht derBund-Länder-Arbeitsgruppe zur Überprüfung des Ju-gendarbeitsschutzes.Viele AusbildungsabbrecherInnen

beginnen wieder mit einer Ausbildung oder gehen aufeine weiterführende Schule. Einige aber bleiben aufder Strecke – und damit ausbildungslos.

Die zweite Schwelle:Die Übernahme

Eine Berufsausbildung sollte eigentlich eine si-chere Perspektive nach der Ausbildung vermitteln. Dasist aber nicht immer so. In den letzten Jahren sind et-wa 60 bis 70 Prozent der Auszubildenden in Bayernübernommen worden (IAB-Betriebspanel 2010), vieledavon befristet für 6 oder 12 Monate. In einigen Bran-chentarifverträgen gibt es Übernahmeregelungen, soin der Metall- und Elektroindustrie, in der Chemie-industrie oder in der bayerischen Milchwirtschaft.

Vor dem Hintergrund des steigenden Fachkräf-tebedarfs ist es nicht nachvollziehbar, dass die Über-nahmequote nach erfolgreich abgeschlossener Ausbil-dung nach wie vor so niedrig ist. Die IG-Metall-Jugendfordert für die nächste Tarifrunde deshalb die unbe-fristete Übernahme in der Metall- und Elektroindu-strie. In der Stahlbranche ist sie bereits Wirklichkeit.Und doch bleibt die fehlende Übernahme der Dreh-und Angelpunkt für den Anstieg der atypischen Be-schäftigung bei jungen ArbeitnehmerInnen.

Atypische Beschäftigung

Atypische Beschäftigungsformen nehmen seit10 Jahren kontinuierlich zu. Das Reservoir dafür sinddie nicht oder nur befristet übernommenen Ausge-lernten, die AusbildungsabbrecherInnen und diejeni-gen, die gar keine Berufsausbildung haben. Zwischen30 Prozent und 40 Prozent der ArbeitnehmerInnenunter 30 Jahren sind atypisch beschäftigt (DGB-IndexGute Arbeit: Arbeitsqualität aus der Sicht junger Be-schäftigter 2009; Mikrozensus 2007).

Neben Teilzeitbeschäftigung und Praktika sindes vor allem diese atypischen Beschäftigungsformen,die zugenommen haben:•Minijobs: In Bayern nahm die Zahl der ausschließ-lich in Minijobs beschäftigten Jugendlichen und jun-gen Erwachsenen bis 25 Jahren von 114.246 (Bun-desagentur für Arbeit, RD Bayern, 2006) auf 122.518(dito, 2010) zu. Minijobber sind Geringverdiener undnicht sozialversicherungspflichtig.

• Leiharbeit: Rund 23.000 LeiharbeitnehmerInnen inBayern sind unter 25 Jahre alt. Sie stellen 21 Prozent

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Page 17: Faust (01/2012) Thema im Heft: Soziale Spaltung

aller LeiharbeitnehmerInnen in Bayern dar, währendbei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten dieunter 25jährigen nur einen Anteil von 13,8 Prozentausmachen (Report Leiharbeit, DGB Bayern, 2011).Mit anderen Worten: In der Leiharbeit sind über-proportional Jüngere beschäftigt.

• Befristung: Der Anteil befristet Beschäftigter istkaum über Daten der Arbeitsagentur herauszube-kommen. Basierend auf verschiedenen Untersuchun-gen (IAB-Betriebspanel, DGB-Index Gute Arbeit) istjedoch davon auszugehen, dass ca. ein Viertel allerBeschäftigten unter 25 Jahren befristet beschäftigtist. Das wären in Bayern geschätzte 150.000.

Bei etwa 660.000 Beschäftigten unter 25 Jahren(ohne Auszubildende, MaßnahmenteilnehmerInnenund PraktikantInnen) in Bayern ist nach dieser Schät-zung davon auszugehen, dass etwa 225.000, also jede/rdritte ArbeitnehmerIn in Bayern atypisch beschäftigtist. Nicht eingerechnet sind hier die Teilzeitbeschäf-tigten.

Niedriglohnsektor

Nicht alle atypisch Beschäftigten verdingen sichim Niedriglohnbereich, aber die meisten. Leiharbeit-nehmerInnen verdienen bis zu 40 Prozent weniger alsvergleichbare Beschäftigte im gleichen Betrieb (Report

Leiharbeit, DGB Bayern, 2011). Minijobber sind perDefinition im Niedriglohnbereich angesiedelt, undauch viele befristet Beschäftigtee beziehen Niedrig-löhne. Der DGB-Jugendindex hat deutschlandweit2009 bei Beschäftigten unter 30 Jahren festgestellt,dass 34 Prozent ein Bruttomonatseinkommen von we-niger als 1.500 Euro haben und weitere 22 Prozentzwischen 1.500 Euro und 2.000 Euro monatlich ver-dienen. Ähnliche Ergebnisse erzielt man, wenn manDaten der Bundesagentur für Arbeit auswertet. Dortlässt sich u. a. feststellen, dass 40 Prozent aller Voll-zeitbeschäftigten unter 25 Jahren in Bayern unterhalbder Niedriglohngrenze (2/3 des Medianentgelts allersozialversicherungspflichtigen Beschäftigten) fürWest-deutschland arbeiten, kurzum:Weniger als 1.870 Eurobrutto im Monat verdienen. Oder es lässt sich heraus-finden, dass die Zahl der sogenannten Zweitjobber, diealso neben einer Hauptbeschäftigung nochmals mit ei-nem Minijob Geld hinzuverdienen, in Bayern bei denunter 25jährigen bei über 50.000 liegt. Gleichfalls indieser Höhe liegt die Zahl der jungen Beschäftigten,die ihr Monatseinkommen mit Arbeitslosengeld II auf-stocken, um über die Runden zu kommen.

Wie man auch diese Zahlen bewertet, sie zeigenjedenfalls eines: Im wachstumsstarken, wohlhabendenFreistaat Bayern arbeiten 4 von 10 Vollzeitbeschäftig-ten unter 25 Jahren zu Niedriglöhnen. Der Skandal ist,dass dies von der offiziellen Regierungspolitik igno-riert wird.

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Page 18: Faust (01/2012) Thema im Heft: Soziale Spaltung

Politische Ursachen

Diese Entwicklung kommt nicht überraschend.Sie ist politisch indiziert. Es waren die Arbeitsmarkt-reformen der rot-grünen Bundesregierung – mit tat-kräftiger Mithilfe der damaligen Opposition – die denArbeitsmarkt flexibler machen und damit Arbeitsplät-ze schaffen sollten. Mit der Änderung des Arbeitneh-merüberlassungsgesetzes 2003 und den sogenanntenHartz-Reformen 2003/04 nahm die Zahl atypischerBeschäftigter zu. Die Zahl der sozialversicherungs-pflichtigen Beschäftigten nahm ab – und stagniert seitJahren.Wenn neue Jobs geschaffen werden, sind diesein aller Regel atypische Beschäftigungsformen.

Mit der Etablierung der Hartz-Gesetze gehtauch die Entwicklung eines Niedriglohnbereichs ein-her. Ein-Euro-Jobs und Mini- und Midijobs haben ei-neVielfalt an Möglichkeiten geschaffen, die neben denniedrigen ALG-II-Sätzen und den verkürzten Zeitenfür den Erhalt des Arbeitslosengeldes zusätzlich Druckauf die Löhne am Arbeitsmarkt herstellen. Die Folgeist eine massive Ausweitung des Niedriglohnsektors.

Der Mechanismus

Wie kommen gerade junge Leute in den Strudelaus Niedriglöhnen, Leiharbeit und Befristungen? EineAntwort darauf ist, dass sie die schwächste Position aufdem Arbeitsmarkt haben. Sie haben kaum Berufser-fahrung (deshalb ist die Übernahme so wichtig). Dasallein muss nicht zwingend ein Problem darstellen,

wenn nicht von Zeit zu Zeit dieWirtschaft von Krisenerfasst würde und in deren Folge die Arbeitslosigkeitsteigt. Junge Beschäftigte sind die ersten, die entlassenwerden. Und hier beginnt der Mechanismus der Pre-karisierung der jungen Generation. Die Jugendarbeits-losigkeit ist dafür der Katalysator, wie wir in der Krise2008/09 gesehen haben. Denn nach einer kurzen Pha-se der Jugendarbeitslosigkeit schließt sich häufig eineatypische Beschäftigung mit schlechter Bezahlung an,aus der die Betroffenen gar nicht oder erst nach vie-len Jahren wieder herauskommen.

Die Folgen

Die Folgen der Prekarisierung der jungen Ge-neration spüren nicht nur die Betroffenen, sondernauch diejenigen, die in sicherer Beschäftigung arbei-ten. Der Druck, der von der Prekarisierung ausgeht, hatschon längst die Mitte der Gesellschaft erreicht:• Für die Betroffenen bedeutet das zunächst eine per-manente Unsicherheit darüber, wie ihre beruflicheZukunft aussehen wird. Die Zahl der Leiharbeitneh-merInnen, die in eine unbefristete Vollzeitanstellungkommen, liegt bei weniger als 15 Prozent (ReportLeiharbeit, DGB Bayern, 2011). Atypisch Beschäftig-te haben geringere Aufstiegschancen und kaum dieMöglichkeit, sich weiter zu qualifizieren. Unterbro-chene Erwerbsbiografien häufen sich deshalb geradebei jungen Beschäftigten.

• Die Unsicherheit bezieht sich nicht nur auf die Ar-beit. Die ganze Lebensplanung wird unsicher. Wermorgen nicht weiß, wie er sein Leben finanzieren

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soll, reduziert zwangsläufig seine Ansprüche. Und ermuss es auch. Denn wenn man eine eigeneWohnunganmieten will oder einen Kredit bei einer Bank be-antragen möchte, braucht man Sicherheiten. Aty-pisch und prekär Beschäftigte haben da keine Chan-ce. Ihnen fehlt dieVertrauenswürdigkeit. Mehr noch:Ist ein Kind unterwegs, steigt das Armutsrisiko. Nichtumsonst sind die ALG-II-AufstockerInnen in der Re-gel junge Familien oder Alleinerziehende unter 25Jahren. Dass sich viele erst mit über 30 Jahren ent-scheiden, eine Familie zu gründen, hängt wohl auchmit den unsicheren Berufs- und Lebensumständender jungen Generation zusammen. Die ganze Le-bensplanung verschiebt sich einfach um ein Jahr-zehnt nach hinten, bis man im Beruf auf einigerma-ßen festen Boden angekommen ist.

• Geringe Entlohnung heißt langfristig auch Altersar-mut. Jetzt bedeutet es aber vor allem Jugendarmut.Und die wächst. Der Prozentsatz Jugendlicher undjunger Erwachsener, die unterhalb der Armutsgrenzeleben, liegt unterschiedlichen Studien zufolge zwi-schen 21 Prozent und 28 Prozent. Alle Aufforderun-gen aus der Versicherungswirtschaft, sich auf das Al-ter mit einer privaten Altersvorsorge vorzubereiten,müssen bei den Betroffenen wie Hohn wirken.

• Schlechte Arbeit macht krank. Gerade Arbeitneh-merInnen in unsicheren Beschäftigungsverhältnissensind gefährdet. Die Zunahme psychischer Erkran-kungen bei jungen Beschäftigten, zunehmendeSchlafprobleme und -störungen sowie die steigendeNeigung, sich bei Krankheit zu dopen und dann indie Arbeit zugehen, treffen vor allem auf jüngere Ar-beitnehmerInnen zu. Es darf vermutet werden, dassdies mit dem Druck zusammenhängt, den unsichereBerufs- und Lebenslagen bei jungen Menschen er-zeugen.

Was tun?

Es gilt, die Prekarisierung zu stoppen und fürBeschäftigungs- und Einkommenssicherheit, beson-ders für junge Beschäftigte zu sorgen. Leider gibt esdafür nicht die goldene Königsmaßnahme, aber im-merhin ein Bündel empfehlenswerter politischer For-derungen, die so neu auch nicht sind. Um den Wie-derholungsfaktor so kurz wie möglich zu halten, inaller Kürze die wichtigsten Forderungen:•Wenn über 8.000 BewerberInnen dieses Jahr nochkeinen Ausbildungsvertrag in der Tasche haben undjährlich Tausende Jugendliche im „Übergangssystem“hängen bleiben,muss die zentrale Forderung bleiben:

Arbeitgeber in diesem Land, schafft zusätzliche Aus-bildungsplätze! Im Hinblick auf den prognostizier-ten Fachkräftebedarf auch eine ökonomisch sinnvol-le Forderung.

•Hinzu kommt, dass junge Menschen möglichst ohneWarteschleifen in eine berufliche Erstausbildungkommen. Wir wollen – orientiert am HamburgerAusbildungsmodell – den Übergang von der Schulein die Ausbildung klarer strukturieren: Mit regiona-len Übergangsmanagements und einer stärkeren so-zialpädagogischen Begleitung.

•Mindeststandards in der Berufsausbildung sind ein-zuhalten, um Ausbildungsabbrüche zu minimieren.Denn zufriedene Auszubildende schmeißen nichthin. DieVerantwortung dafür liegt bei den zuständi-gen Kammern. Sie müssen dieseVerantwortung auchernsthaft umsetzen!

• Die Leiharbeit muss reguliert werden. Der Grund-satz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ muss endlichumgesetzt werden. Das Synchronisationsverbot istwiedereinzuführen und auch an betriebliche Höchst-quoten an LeiharbeitnehmerInnen ist zu denken.

• Befristungen müssen in den Griff bekommen wer-den.Wir sprechen uns für die Abschaffung der sach-grundlosen Befristung aus. Die Übernahme nachAusbildung sollte unbefristet sein – Fachkräfte wer-den ja in den nächsten Jahren dringend benötigt.

•Niedriglöhne bekämpfen geht nicht mit Kombilöh-nen, sondern mit einem gesetzlichen Mindestlohn.Sogar die CDU hat dies in Ansätzen verstanden.

• Sozialversicherungspflicht für Minijobs nach demGrundsatz: Keine Erwerbsarbeit ohne Sozialver-sicherungspflicht.

Beschäftigungs- und Einkommenssicherheitsind keine Forderung einer verwöhnten, (spätrömisch)dekadenten Jugend. Alle Jugendstudien wissen von ei-ner jungen Generation zu berichten, die ihre Zukunftdurchaus optimistisch sieht – außer im Hinblick aufBeschäftigung und Einkommen. Die sozialen Protestein anderen Ländern handeln ebenfalls von dieser Un-sicherheit. Soweit muss es bei uns nicht kommen.Wir können noch handeln.

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Mario PatuzziDGB-Jugendsekretär Bayern,

München

Page 20: Faust (01/2012) Thema im Heft: Soziale Spaltung

Nicht vomGeldbeutel der Eltern?In Deutschland hängt der Bildungserfolg vor allem von der sozialen Herkunft ab.

In der politischen Debatte wird von allen Sei-ten betont, wie wichtig die Bildung sei, um soziale Ge-rechtigkeit zu schaffen. Alle Kinder müssten die best-mögliche Bildung bekommen, unabhängig von ihremsozialen Hintergrund.

Die Wirklichkeit siehtaber anders aus: Soziale Se-lektion zieht sich durch un-ser gesamtes Bildungssystem.Schon im frühkindlichen Be-reich machen sich deutlicheUnterschiede zwischen Kin-dern aus unterschiedlichensozialen Schichten bemerk-bar. Kinder, die im frühkind-lichen Bereich keine Einrich-tung wie eine Kindertages-stätte oder einen Kindergar-ten besuchen, haben einendeutlichen Nachteil gegen-über Kindern, denen ein sol-cher Besuch ermöglicht wird.Insbesondere für Kinder mitMigrationshintergrund wärees wichtig, bereits früh eineBildungseinrichtung zu be-suchen.

Kinderbetreuung kostet jedoch Geld. Für vieleEltern ist sie einfach zu teuer. Das Kinder aus finan-ziellen Gründen keine KiTas besuchen können, fördertdie soziale Spaltung im Bildungssystem, weil dadurchKinder bereits mit unterschiedlichenVoraussetzungenin die Schule kommen.

Dort geht die soziale Selektion dann weiter.Da noch immer nicht alle Schulen Ganztagsbetreuunganbieten, ist ein Großteil der Schulleistung auch wei-terhin von der Unterstützung durch das Elternhausabhängig, zum Beispiel über die Hilfe bei den Haus-aufgaben. Durch Noten, das Instrument des Sitzen-bleibens und durch Leistungsdruck, welcher bereits inder Grundschule anfängt, bleiben viele Kinder bereitsin diesem Alter auf der Strecke. Nach der vierten Klas-se wird die soziale Selektion dann gezielt noch weitergetrieben, wenn die Schülerinnen und Schüler auf un-terschiedliche Schulformen aufgeteilt werden. DieserSchritt zementiert die soziale Spaltung im Bildungs-

bereich. Die SchülerInnen, die aus einer bildungsna-hen Schicht kommen, gehen auf ein Gymnasium, dieSchülerInnen aus bildungsferneren Schichten besten-falls auf eine Realschule, in vielen Fällen aber auf die

Hauptschule. Auch die vieldiskutierte Zusammenlegungvon Haupt- und Realschulewird diese soziale Spaltungnicht aufheben. Ganz imGegenteil – das Gymnasiumwird noch stärker zur Elite-Schule werden. Ein zweiglied-riges Schulsystem wäre andieser Stelle nicht ausrei-chend, um der sozialen Spal-tung entgegenzuwirken. Imschlimmsten Fall wird eszu einer noch deutlicherenZweiteilung im Bildungssys-tem kommen.

Meist in der Grund-schule schon „aussortiert“werden außerdem die Schüle-rInnen mit Beeinträchtigun-gen. Diese werden häufig mitdem Hinweis auf den „son-

derpädagogischen Förderbedarf“ auf gesonderte Schu-len geschickt. Durch die Förderschulen haben wirnicht nur ein dreigliedriges, sondern mindestens einviergliedriges Schulsystem. Das Aussortieren vonMenschen mit Beeinträchtigung hat weitreichendeFolgen für die soziale Spaltung in unserer Gesellschaft,da diese Menschen nur selten auf den allgemeinen Bil-dungsweg zurückkommen und auch nur in den sel-tensten Fällen am allgemeinen Arbeitsmarkt teilhaben.Ein Großteil der sogenannten FörderschülerInnenkommt zudem aus dem bildungsfernen Milieu.

Für die SchülerInnen, die nicht bereits zuvor aufdie Förderschulen aussortiert wurden, geht die Spal-tung an den weiterführenden Schulen weiter. Ein gro-ßer Anteil der Schülerinnen und Schüler braucht heu-te Nachhilfe, weil die Inhalte im Unterricht nicht aus-reichend genug vermittelt werden können. DieseNachhilfe können sich aber einige Familien nicht leis-ten. Auch hier ist die Bildung also vom Geldbeutel derEltern abhängig. Dabei sollte eigentlich die Schule al-

20

Page 21: Faust (01/2012) Thema im Heft: Soziale Spaltung

le Fördermöglichkeiten bieten und SchülerInnen nichtdarauf angewiesen sein, dass Eltern Defizite ausglei-chen oder notwendige Förderung für viel Geld zukau-fen müssen.

Die sozialen Hürden im Bildungssystem lassensich auch in Zahlen ausdrücken: Laut Erhebung desdeutschen Studentenwerks erreichen nur etwa 51 Pro-zent der Deutschen und BildungsinländerInnen* dasGymnasium und auf demWeg zum Abitur bleiben wei-tere 5 Prozent auf der Strecke. Nur 45 Prozent errei-chen also die Studienzugangsberechtigung, an die sicheine weitere Hürde anschließt: Nicht alle jungen Men-schen, die studieren wollen, können dies auch tun. Nur34 Prozent der jungen Menschen nehmen ein Hoch-schulstudium auf, was auch im internationalen Ver-gleich wenig ist.

Ein Großteil derjenigen, die kein Studium auf-nehmen, obwohl sie die formale Berechtigung dazuhätten, gibt an, dies aus finanziellen Gründen nichtzu tun. Zum einen werden in Niedersachsen undBayern noch immer Studiengebühren erhoben. Zumanderen ist aber auch der Lebensunterhalt für einigenicht zu stemmen. Das BAföG, das diese jungen Men-schen unterstützen soll, reicht hierfür beiWeitem nichtaus. Es ist schon lange keinVollzuschuss mehr, was be-deutet, dass sich junge Menschen, die von ihren Elternnicht ausreichend unterstützt werden können, für ihrStudium verschulden und mit Eintritt in die Berufstä-tigkeit erst einmal einen Berg Schulen abbezahlenmüssen. Allein diese Aussicht hält viele von einem Stu-dium ab. Außerdem ist das BAföG alters-, eltern- undzeitabhängig. Wer zu alt ist, aus irgendeinem Grundlänger studiert oder auch nur das Fach wechselt, wirdvon dieser Förderung ausgeschlossen und muss sichum eine andere Finanzierungsmöglichkeit kümmern,was nicht immer einfach ist.

All diese Punkte sorgen dafür, dass auch bei derAufnahme eines Hochschulstudiums keine Chancen-gleichheit zwischen den Menschen besteht, die eineHochschulzugangsberechtigung besitzen – von denanderen, die bereits vorher aussortiert wurden, ganz zuschweigen. Für eine wentliche Verbesserung ist eineBAföG-Reform notwendig, die sich an den individuel-len Lebensumständen orientiert. Ein elternunabhän-giges BAföG ist allein deswegen dringend erforderlich,weil damit dieWahlfreiheit bezüglich des Studienfachsgewährleistet wird. Jeder junge Mensch muss unab-hängig vomWillen der Eltern ein Studium seinerWahlaufnehmen können.

Die soziale Selektion beim Zugang zum Studi-um wird unter anderem durch Studiengebühren weiterverschärft. Zusätzlich zu den ohnehin bestehenden Se-lektionsmechanismen bewirken diese eine weitereSpaltung der Gesellschaft in jene, die sich ein Studiumleisten können, und alle anderen, die die finanziellenMittel nicht aufbringen können. Die Abschaffung derStudiengebühren auch in Bayern ist daher (und ausvielen weiteren Gründen) unbedingt notwendig.

Zu den direkten Kosten eines Studiums kom-men noch weitere Ausgaben wie die immer weiter stei-genden Mietpreise hinzu. Wer einen der teils sehr be-gehrten Studienplätze ergattert hat, muss mit vielenanderen um den ebenfalls knappenWohnraum kämp-fen. Wer eine Wohnung oder ein Zimmer bekommt,hat oft keine andere Wahl und muss auf das Angeboteingehen. Dadurch können VermieterInnen hoheMietpreise durchsetzen, die sich einige „Studierwilli-ge“ nicht leisten können und daher auf ein Studiumverzichten müssen. Neben der längst überfälligen Ab-schaffung der Studiengebühren muss also auch genü-gend bezahlbarerWohnraum geschaffen werden.

Auch die Infrastruktur an den Hochschulen undderen Ausstattung darf nicht vergessen werden. Werstudiert muss auch essen und in Bibliotheken lernenund arbeiten können.Wenn zum Beispiel Studierendeviele Bücher selbst kaufen müssen, weil diese nichtoder nicht in ausreichender Zahl in den Bibliothekenvorhanden sind, wird finanziell schlechter gestelltenStudierenden ein zusätzlicher Stein in denWeg gelegt.

Das Bildungssystem trägt somit einen entschei-denden Teil zur sozialen Spaltung unserer Gesellschaftbei. Vom gleichen Zugang für alle Menschen sind wirweit entfernt. Im Grunde sollte Bildung das zentraleInstrument sein, um sozialer Spaltung entgegenzuwir-ken. Dies in die Tat umzusetzen, ist die Aufgabe einergerechten Bildungspolitik.

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* BildungsinländerInnen sind Menschen, die in Deutschland eineSchule oder eine deutsche Schule im Ausland besuchen, aber keinedeutsche Staatsbürgerschaft haben.

Laura HoffmannLandeskoordinatorin der

Juso-Hochschulgruppen Bayern,Würzburg

Veronika KopfLandeskoordinatorin der

Juso-Hochschulgruppen Bayern,Eichstätt

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Ein Bestandteil zunehmender sozialer Spaltungunserer Gesellschaft ist die fortschreitende soziale Ent-mischung, die wir in vielen Städten beobachten kön-nen. Sie ist räumliche Manifestation der sozialen Spal-tung. Viertel wie Berlin-Prenzlauer Berg, Hamburg-Schanzenviertel oder München-Haidhausen sind Syn-onyme geworden für Aufwertung, Verdrängung undEntmischung von ganzen Stadtquartieren.

In den Zentren ungebremsten Zuzugs und da-mit verbundenen Bodenpreisanstiegs sind die Entmi-schungsprozesse nicht zu übersehen. Im Zuge der Fi-nanzkrise flossen ungeheure Geldströme aus risiko-behafteten spekulativen Anlagen in wertstabile Immo-bilienmärkte. München beispielsweise rangierte zeit-weise in der Attraktivität als Anlagestandort für Im-mobilienvermögen vor Städten wie New York oderParis. Denn in München scheint das eherne Gesetzzu gelten, dass Mieten nur steigen. So hieß dann dieFrage für viele InvestorInnen im Angesicht der Fi-nanzkrise wohl: „Gehe ich in Gold oder kaufe ichWohnungen in München.“

„Verdrängungsdruck in Städten gab es schonimmer.“ Das ist häufig die Antwort auf die Kritik ander fortschreitenden sozialen Entmischung der Städ-te. Besonders Findige wollen Gentrifikation sogar bis

in die griechisch-römische Antike zurückverfolgenkönnen. Wenn das auch übertrieben ist, so bleibtdennoch festzustellen, dass es Verdrängungsprozesseschon vor der heutigen, fast schon zur Mode gewor-denen Debatte um Gentrifikation gab.

Doch die Entwicklungen, deren Ansätze wir seitden 1970er Jahren in Deutschland beobachten könnenund die sich zusehends beschleunigen, besitzen eineneue Qualität, die den Gentrifikationsprozess von denVerdrängungsprozessen früherer Jahre unterscheidet.

Reurbanisierung der Wunschbilder

Bis Anfang der 70er Jahre war das Eigenheim inder Vorstadt das gängige Ideal der Lebensvorstellun-gen vieler Menschen. Wer es sich leisten konnte, ver-ließ die oft vom Krieg schwer beschädigten Innen-städte und zog in die neu entstehenden Reihenhaus-oder Einfamilienhaussiedlungen an den Grenzen derStädte. Eine starke Tendenz zur Suburbanisierung derStädte setzte ein, die Innenstädte blieben aufgegebenzurück, nur wer sich den Auszug nicht leisten konnteblieb. Ganze Gebiete sackten ab und erwarben bald

Ausweitung der KampfzoneGentrifikation als räumliche Manifestation sozialer Spannung.

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den Ruf der Glasscherbenviertel, Wohnorte des städ-tischen Proletariats.

Ab Anfang der 70er Jahre kam es zu einem all-mählichen Paradigmenwechsel in den Präferenzen ge-rade der jungen und akademisch gebildeten Kinder derMittelschicht und des Bürgertums, die aus der Engeder Vorstadthecken zu entfliehen suchten und diegründerzeitlichen Viertel als Ort urbanen Lebens ent-deckten. Man spricht von der Reurbanisierung derräumlichen Lebensvorstellungen. Es war die Wieder-entdeckung der Stadt und der urbanen Lebensquali-tät, aber auch der Ideale des großbürgerlichen städti-schen Lebensstils. DieseWiederentdeckung der Stadtals Wohnumfeld ist Grundlage für die Verdrängungs-prozesse in ihrer heutigen Ausprägung und Schärfe.

Ökonomisierungdes Wohnungsmarktes

In den vergangenen Jahren hat auf den Immo-bilienmärkten ein grundlegender Wandel stattgefun-den. Galt in Deutschland bis vor wenigen Jahren nochder fast unbestrittene allgemeine Wertekonsens, dassWohnungen einen Doppelcharakter sowohl als Wirt-schafts- als auch Sozialgüter besitzen, so hat sich diesvöllig gewandelt. Im Zuge einer allgemeinen Ökono-misierung und Professionalisierung wandelte sich derWohnungsmarkt von einer besonderen Marktform mitlangfristigen Bindungen und sozialen Dimensionenhin zu einem mobilen und liberalisierten Anlagemarkt,auf demWohnungen als Wirtschaftsgüter wie alle an-deren Handelswaren auch betrachtet werden. Immo-bilien werden trotz ihrer physischen Standortbindungund ihrer sozialen Funktion als Lebensmittelpunkt fürMenschen zu beliebig disponierbaren Anlageproduk-ten und Investitionsoptionen umgeformt. Sie werdendabei bewusst aus den ideellen und sozialen Bezügenherausgelöst.

FinanzinvestorInnen erwarben allein in großenVerkäufen ab 800Wohneinheiten einer Studie des In-stituts für Stadtforschung und Strukturpolitik (IfS) zu-folge in den Jahren 1999 bis 2006 mehr als 1,4 Mio.Wohneinheiten. Das entspricht bezogen auf den ge-samten Wohnungsbestand etwa 6 Prozent aller Miet-wohnungen in Deutschland. Gerade auf den ange-spanntenWohnungsmärkten agieren diese InvestorIn-nen konsequent „marktgerecht“. Hier ist es primäresZiel, Bodenpreissteigerungen zu kapitalisieren und inRenditen zu realisieren.

Dazu werden alle Mieterhöhungsspielräume ge-nutzt. Modernisierungen werden auch mit dem Ziel

eingesetzt, einkommensschwächere Haushalte zu ver-drängen und den aufgewerteten Wohnraum an kapi-talstärkere MieterInnen zu vermieten. Umwandlungenvon Miet- in Eigentumswohnungen und damit die Pri-vatisierung und Kapitalisierung von Wohnraum neh-men stark zu. Damit wird die Ökonomisierung desWohnungsmarktes und die professionelleWohnraum-bewirtschaftung im Rahmen von Anlagespekulationzum Motor der innerstädtischen Verdrängung.

Fünf Stadtregionen

In Deutschland sind es derzeit fünf große Stadt-regionen, die noch Zuzug erfahren. Spricht man in an-deren Regionen von „shrinking cities“, schrumpfendenStädten, so gehört München neben Berlin, Hamburg,dem Raum Köln/Düsseldorf und Frankfurt zu dendeutschen Großstadtgebieten ab 500.000 Einwohnern,die einen positiven Wanderungssaldo aufzuweisenhaben und weiter wachsen. Neuerdings schließt auchDresden in diese Gruppe auf.

Die innerdeutschenWanderungsströme, die denZuzug in den fünf Städten verursachen, sind ebenfallsals ein Prozess sozialer Entmischung auf räumlicher,in diesem Fall regionaler Ebene zu sehen. Währendeinige Regionen wirtschaftlich prosperieren und inFolge dessen starken Zuzug von gut ausgebildetenArbeitssuchenden erfahren, bleiben andere zurück. Dassind die Regionen, die mit „shrinking cities“ und da-mit zu kämpfen haben, die jetzt häufig überdimensio-nierte Infrastruktur zu erhalten oder zurückzubauen.

München mit dem bundesweit größten Zu-wachs tut sich mit dem prognostizierten Zuzug von125.000 Menschen schwer, da anders als in Städtenwie Berlin oder Hamburg keine ausreichenden Flä-chenreserven im Stadtgebiet mehr vorhanden sind.Das vorhandene Flächenpotential für Neubautenreicht in München gerade einmal mehr für 50.000Wohnungen, die in den nächsten 15 bis 20 Jahrenerschlossen werden können. Aus diesem Grund istauf dem Münchner Wohnungsmarkt der Verdrän-gungsdruck durch steigende Mieten sehr hoch.

Gerade die Lebensbedingungen der gering bzw.normal verdienenden Haushalte sind massiv von derSteigerung der Mieten betroffen. Haushalte mit Ein-kommen bis 1.500 Euro zahlen in München Mietenim Durchschnitt von etwa 11 Euro/m2 nettokalt unddamit imVergleich einen überproportional großen An-teil ihrer Einkommens. Viele können die üblichenMietpreise nicht mehr bezahlen und werden aus denteuren Stadtgebieten verdrängt.

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Prozess der Entmischung

Grundsätzlich lassen sich zwei Verdrängungs-mechanismen im städtischen Umfeld unterscheiden.Zum einen der Prozess des rapiden Absinkens des so-zialen Status einesViertels durch den massiven Zuzugeiner statusminderen Bevölkerungsgruppe. Dieser Pro-zess wird häufig auch als „Verelendung“ eines Stadt-viertels qualifiziert. Hier ist es der sinkende Lebens-standard, das zunehmende Gefühl der Unsicherheitund der damit absinkende soziale Status derWohnge-gend, die zu einer Abwanderung der statushöheren Be-völkerungsgruppen und zu einer sozialen Entmischungder Bevölkerungsstruktur imViertel führen.

Solche „verelendete“ Stadtviertel finden sich inDeutschland selten. Zwar gibt es Viertel, die als sozia-le Brennpunkte bezeichnet werden. Kennzeichen sindmassive Probleme mit einer einseitigen Sozialstrukturund der zunehmenden Isolation der sozial abgeschrie-benen BewohnerInnen.Vollständig isolierte Stadtvier-tel und großflächige abgehängte Stadtgebiete aber, wieetwa die Banlieus der französischen Großstädte, sinduns hier glücklicherweise noch fremd. In Deutschlandherrscht eher der Trend zur ökonomischen Verdrän-gung aus den gut erschlossenen Lagen und attraktivenWohnvierteln der Großstädte vor. Die Aufwertungs-impulse, die zu den starken Bodenpreisgradienten unddem daraus resultierenden starkenVerdrängungsdruck

führen konnten, entstanden maßgeblich im Zuge vonGentrifizierungsprozessen.

Der Begriff „Gentrifizierung“ wurde 1964 vonder britischen Stadtsoziologin Ruth Glass geprägt undfand in der stadtsoziologischen Debatte im Amerikader 70er Jahre großen Anklang. In den letzten Jahrenhat er sich zum Synonym für alle Verdrängungspro-zesse entwickelt. Der Begriff leitet sich ab vom engli-schen „gentry“ für niederen Adel und bezeichnet dieAufwertungs- und Verdrängungsprozesse, die in ehe-mals abgehängten innenstadtnahenVierteln, durch denZuzug von jungen, akademisch gebildeten und urbanorientierten AnwohnerInnen in Gang gesetzt werden.

Diese sogenannten Pioniere der Gentrifizierungnutzen den bezahlbarenWohnraum in attraktiver städ-tischer Lage. Auch sie ersetzen und verdrängen bereitsTeile der alteingesessenen Bevölkerung, erschließenaber auch neuen, bisher ungenutztenWohnraum. Mitdem Zuzug der kulturell aktiven, subkulturell interes-sierten und urban orientierten neuen BewohnerInnenentstehen oftmals neue kulturelle Schwerpunkte, al-ternative Bars und Kneipen und kreative Büros undProjekte. Der Stadtteil wird zum Szene- und Künstler-viertel. Damit steigt die Attraktivität des Viertels, dasjetzt zunehmend in den Ruf eines trendigen und an-gesagtenWohnviertels kommt. Für immer mehr Men-schen ist es eine Frage des Lebensgefühls, in den an-gesagten Szenevierteln zu wohnen – die Mieten stei-gen, angestammte BewohnerInnen werden auf ökono-

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mischer Ebene verdrängt, die Entmischung des Vier-tels schreitet voran.

Die neuen BewohnerInnen gestalten das Vier-tel um. PionierInnen, die als Studierende in dasViertelgezogen sind, steigen in das Berufsleben ein und grün-den Familien. Langsam wandelt sich das Viertel in einmodernes Familienviertel. Auch auf politischemWegwerden die Weichen für eine Erneuerung gestellt.Stadtsanierung und Stadtviertelumbau kommen inGang. Durch Sanierung und Umgestaltung der altenBausubstanz entsteht attraktiver und begehrterWohn-raum. Verkehrsberuhigung und Begrünung sorgen fürdie Verwirklichung hoher Lebensqualität in zentralerLage. Die Mieten steigen weiter.

Die Lebensqualität und Attraktivität des Vier-tels zieht einen neuen Typ BewohnerInnen an. Auf derSuche nach hochqualitativemWohnraum im angesag-ten städtischen Umfeld ziehen verstärkt einkommens-starke sogenannte GentrifiziererInnen zu. Sie ent-stammen meist höheren gesellschaftlichen Schichten,haben akademische Bildung und pflegen einen geho-benen Lebensstil. Die GentrifiziererInnen verdrängensowohl die ursprünglichen BewohnerInnen als auchdie vor Ihnen zugezogenen PionierInnen, die dasVier-tel erst für sie attraktiv gemacht haben.

Im Zuge des Umbaus der Sozialstruktur erfährtauch das Viertel einen grundlegendenWandel. Immermehr Wohnungen werden in luxuriösen, hochpreisi-gen Wohnraum, häufig in Eigentumswohnungen um-gewandelt. Das Viertel wird immer weiter veredelt.Störende Elemente wie so genannte „Wohnungsflüch-ter“ werden kriminalisiert und in andere Viertel ver-trieben. Auch im Hinblick auf die ethnischen Hinter-gründe wird das Viertel homogenisiert. Der Anteil anEinwohnerInnen mit Migrationshintergrund sinkt ra-pide. Das Viertel wird wohlhabend und „weiß“.

Auch Läden und Gewerbe werden durch diesteigenden Mieten verdrängt. Normale oder auch al-ternative Läden, Kneipen und kreative Projekte wer-den zunehmend durch Architekturbüros, Kanzleienund lifestylekonforme Accessoire-Ausrüster ersetzt.Gewerbe im klassischen Sinne verschwindet fast ganz.

Man spricht bei dem oben dargestellten Pha-senmodell der Gentrifikation auch von einem soge-nannten doppelten Invasions- und Sukzessionszyklus.Zusätzlich spricht man heute auch von einer anschlie-ßenden Phase der Hyper- oder Supergentrifikationoder auch einer zweiten Welle, bei der die Gentrifi-ziererInnen wiederum verdrängt werden durch denZuzug noch finanzkräftigerer GentrifiziererInnen oderden Aufkauf und die anschließende Umwandlung derMietwohnungen durch Immobilienfirmen. Jetzt wirddas Viertel endgültig vergoldet.

Unser Bild der Stadt

Stadt bedeutet für uns immer mehr, als bloßerRaum zu sein für Verwahrung und Reproduktion derArbeitskraft, sondern eine Qualität an sich. Sie erzeugtRaum für Begegnungen und ermöglicht Kommunika-tion, sie ist Bühne des öffentlichen Lebens einer Stadt-gemeinschaft. Sie ermöglicht erst Gemeinschaft. Zurzivilisatorischen Leistung der Stadt gehört es seit je-her, unterschiedlichste Lebensstile verschiedensterHerkunft in ihrem Gefüge zu integrieren – gerade ander Verschiedenheit der BewohnerInnen entwickeltsich die Qualität und Besonderheit der Stadt.

Wir wollen eine heterogene Stadt, die geprägtist durch dieVielfalt und dieVerschiedenheit der Men-schen, die in ihr wohnen und arbeiten. Unser Ziel istdie Schaffung einer ausgewogenen Mischung zwischenallen verschiedenen Einkommensgruppen, sozialenund kulturellen Hintergründen und derVielfalt der Le-benssituationen und Lebensentwürfe, die die Stadtprägen.Wir wollen keine geteilten Städte, keine privi-legierten Stadtquartiere für die BesserverdienendenundWohnspeicher für die Massen an der Grenze zurPeripherie. Wir wollen die gemeinsame Stadt für alleBewohnerinnen und Bewohner.

Dagegen verstetigen und zementieren Entmi-schung und Segregation die soziale Spaltung auf Dau-er. Es entstehen geschlossene und in sich homogene„Milieublasen“ im städtischen Raum, sich nicht mehrüberschneidende Enklaven, bis hin im Extrem zu einervollständigen Zonierung der Stadt nach sozialer Her-kunft. Diese Aufspaltung in geschlossene städtischeMilieus verfestigt die Gräben sozialer Spaltung undverschlechtert die Chancen sozialen und gesellschaft-lichen Aufstiegs zusätzlich. Räumliche Entmischungverfestigt soziale Spaltung.

Was kann progressive Kommunalpolitik unter-nehmen, um der zunehmenden Entmischung der Stadtentgegenzutreten und sie wirksam zu bekämpfen?Das ist die zentrale Frage, über die wir diskutierenmüssen, wenn wir unser Ideal einer Stadt für alleverwirklichen wollen.

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Anno DietzMünchen

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Sprach jemand in den letzten Jahren von derrevolutionären Jugend, dann konnte man sich sichersein, dass es um die Vergangenheit ging. Meist um ei-nen Rückblick auf 1968. Und in vielen Fällen wardies eine reine Geschichtsklitterung, getrimmt aufRTL-Format.

Eins stimmte daran: In den letzten Jahren ge-lang es Jugendlichen nicht, die Themen, die ihren All-tag wirklich prägen, in die politische Diskussion ein-zubringen. Über die Jugend wurde vielmehr gespro-chen: Über ihren Alkoholmissbrauch, ihre Computer-abhängigkeit und Jugendgewalt. Und als man sichschon damit abgefunden hatte, dass nur noch Senio-rInnen als WutbürgerInnen die Straßen stürmen, dawar sie plötzlich wieder da: DIE JUGEND.

Es macht keinen Sinn, alle Proteste des Jahres2011 über einen Kamm zu scheren. Deshalb will dieserArtikel nur die wichtigsten Punkte der Proteste 2011herausstellen und der Frage nachgehen:Welche Rollenahm die soziale Frage ein und was bedeutet dies fürdie Jusos?

Die soziale Frageals gemeinsames Thema

Die soziale Frage prägte jeden Protest. In Ägyp-ten sahen vor allem Jugendliche keine Zukunft fürsich. Berufliche Perspektiven hängen dort nur vonpersönlichen Beziehungen oder hohen Bestechungs-geldern ab. Mubaraks Partei hat den Staat zum Selbst-bedienungsladen erklärt. Wer nicht die richtigen Be-kanntschaften hatte, blieb auf der Strecke. Abschlüsseund Zeugnisse spielen bei der Bewerbung kaum eineRolle. Wer über Geld verfügt kann den Verantwortli-chen bestechen, um an den Job zu kommen, die Mehr-heit der Jugendlichen kann sich dies nicht leisten. DieJugendarbeitslosigkeit liegt laut Weltbank bei über 30Prozent. Die meisten halten sich mit Gelegenheitsjobsüber Wasser und verdienen im Durchschnitt 50 Euroim Monat. Dies reicht nicht, um von zu Hause auszu-ziehen und eine eigene Familie zu gründen. Deshalbforderten viele junge Menschen nicht nur mehr De-

Ein revolutionäres Jahr?Das Jahr 2011 war auch von internationalen Jugendprotesten geprägt –Was haben diese politisch verändert?

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mokratie in den Institutionen, sondern auch eine De-mokratisierung des Zugangs zu Arbeit.

Sehr ähnlich ist die Situation in Tunesien, demLand, in dem die Demonstrationen in Nordafrika be-gannen. Der Auslöser der Proteste war der Selbstmordeines jungen Mannes, Mohamed Bouazizi. Nach zahl-reichen gescheiterten Versuchen nach Europa zu flie-hen und in den Touristenorten Tunesiens Geld zu ver-dienen, versuchte er sich als Gemüsehändler ohne Li-zenz durchzuschlagen. Nach einer weiteren Kontrolledurch die Polizei sah er für sich keine Zukunft mehrund nahm sich das Leben. Mit seiner Situation konn-ten sich viele junge Menschen identifizieren. Und mitdiesen fehlenden Zukunftsaussichten wollten sie sichnicht mehr abfinden.

In Chile protestierten ab Ende April 2011 Schü-ler und Studierende für ein hochwertiges und kosten-loses Bildungssystem. Die konservative Regierung gabsich unversöhnlich, sie lehnte ein kostenloses Bil-dungssystem ab und versuchte, die Proteste zu krimi-nalisieren. Doch die Proteste gehen weiter. Beginnendmit Augusto Pinochet wurde auch das BildungssystemStück für Stück privatisiert, inzwischen sind 60 Pro-zent der Schulen und Universitäten privat. Der Staatträgt nur einen geringen Teil der Bildungskosten, denRest müssen die Familien über horrende Studien- undSchulgebühren selbst aufbringen, so dass viele Ju-gendliche mit hohen Schulden ins Arbeitsleben star-ten. Dabei ist die Qualität der öffentlichen wie der pri-vaten Institutionen schlecht. Die Jugendlichen wollenweiter kämpfen, bis ihre Forderungen erfüllt werden.

In Spanien gingen am 15. Mai 2011 Tausendevon jungen Menschen für ihre Zukunft auf die Straße.In der Folge richteten die jungen Menschen auf derPuerta de Sol ein Protestcamp ein, um echte Demo-kratie zu leben und ihre Forderungen durchzusetzen.Auslöser waren die immer schlechter werdenden Zu-kunftsaussichten für Jugendliche. Fast jeder zweite Ju-gendliche ist arbeitslos und wenn jemand einen Jobhat, dann ist dieser meistens befristet, oftmals nur für3 Monate. Gleichzeitig nahm das Gefühl zu, dass diePolitik sich nicht um die Probleme kümmert. Ganz imGegenteil: Die Kosten der Finanzmarktkrise wurdenauf die Allgemeinheit abgewälzt und die Sozialausga-ben weiter gekürzt.

In Israel stellte Mitte Juli 2011 eine 25jährigeFrau aus Protest gegen die hohen Mieten auf der teu-ersten Straße Tel Avivs, dem Rothschild Boulevard,ihr Zelt auf. Sie hatte zuvor vergeblich versucht, eineneue, bezahlbare Wohnung zu finden. Die Mieten inTel Aviv sind für viele unbezahlbar. Vor allem jungeMenschen können es sich nicht leisten, von zu Hauseauszuziehen. Die soziale Spaltung hat in den letzten

Jahren zugenommen, dies bestätigen die Zahlen desNationalenVersicherungsinstituts. Etwa einViertel derIsraelis lebt unterhalb der Armutsgrenze und die Mit-telschicht hat seit den 1980er Jahren um 20 Prozentabgenommen. Diese tatsächlicheVerschlechterung derLebensbedingungen nährt den Protest. Aber die Ak-tionen beschränken sich nicht auf einen reinen Ver-braucherprotest gegen hohe Preise. Das Schlagwortin den Protestcamps, die sich über ganz Israel auswei-teten, war „Soziale Gerechtigkeit“. Sie forderten Um-verteilung ein und dass die Politik neue Prioritätensetzt, auf die Bereiche Wohnen, Gesundheit und Bil-dung. Getragen wurde dieser Protest von den Studie-renden und der Mittelschicht. Doch wie viel Unter-stützung sie damit fanden, zeigte im August die größ-te Demonstration in der israelischen Geschichte. Inden ganzen Demonstrationen spielte der Israel-Paläs-tina-Konflikt fast keine Rolle. Und doch sind vieleFriedensaktivistInnen davon überzeugt, dass die Is-raelis mit den Protesten ihre Lethargie überwundenhaben und dies auch positive Auswirkungen auf denFriedensprozess haben wird. Es ist zu hoffen, dass sierecht haben.

Als Jugendliche im August 2011 in Großbri-tannien Läden plünderten, gingen sie nicht auf dieStraße für eine gerechtere Welt, sondern sie wollteneinen Teil vom Kuchen. Der Stein des Anstoßes fürdie Proteste war der Tod des 29-jährigen Mark Dug-gans. Er wurde von der Polizei während seiner Ver-haftung erschossen. Die Demonstrationen gegen dieempfundene Willkür weiteten sich in „riots“ aus. Vorallem junge MigrantInnen hatten die Hoffnung auf-gegeben, dass der Staat ihre Lage verbessert. Auch inGroßbritannien hat die soziale Spaltung zugenommen.DieWelt des Finanzmarktdistrikts hat keinerlei Über-schneidungspunkte mehr mit der Welt der „workingpoor“ oder der Menschen, die auf Sozialhilfe angewie-sen sind. Sie existieren als Parallelwelten in ein- undderselben Stadt. Die Plünderer hatten keine politischeBotschaft, auf die sie aufmerksam machen wollten.Und doch zeigten die riots ein politisches Problem auf,auf welches die Tories mit juristischer Härte reagierten,anstatt sich die Ursachen anzusehen.

Kurz nachdem sich die Lehman-Pleite zumdritten Mal jährte, besetzen Menschen im September2011 in New York die Wallstreet. Die Occupy-Bewe-gung war geboren und fand in vielen Städten weltweitNachahmer. In New York besetzte sie den Zucotti-Park in der Nähe der Wallstreet, bis der Park am 15.November geräumt wurde. „Wir sind die 99 Prozent“wurde zu ihrem Leitspruch. Überall wollten es Men-schen nicht mehr hinnehmen, dass die Geschäfte derBanken weitergingen, als wäre nichts passiert. Die Po-

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litik hat kapituliert. Die Regierungen beschränken sichdarauf, das Staatsdefizit, das in Folge der Rettung derBanken und derWirtschaft entstanden ist, abzubauen,indem sie immer mehr Sozialprojekte kürzen und dieAusgaben für Bildung und Gesundheit zurückfahren.Dabei steigen die Kosten für die alltäglichen Dinge desLebens immer weiter. Die Spaltung zwischen Arm undReich nimmt weiter zu, während die Mittelschicht ero-diert. An dieser Tatsache knüpfte der Slogan „Wir sinddie 99 Prozent!“ an. Das Parlament solle nicht weiterPolitik für die reichsten 1 Prozent der Bevölkerungmachen.

Die Occupy-Bewegung war auch die Antwortauf eine andere Bewegung, die sich erfolgreich in Ame-rika etabliert hat: Die Tea Party („tax enough alrea-dy“). Die Tea-Party-Bewegung hat keinen Vorstand,sondern ist ein Netzwerk von lose verbundenen Grup-pen. Doch so unabhängig, wie sie sich gerne gibt, istsie nicht: Die Bewegung ist eng verbunden mit derRepublikanischen Partei. Auch sie gründete sich alsReaktion auf die Finanzmarktkrise. Sie rief im Feb-ruar 2009 zum ersten Mal zu Protesten auf, um ge-gen die Unterstützung vonVerlierern durch den Staatöffentlich vorzugehen. Mit dem „mortage plan“ hattedie Regierung Obama ein Programm aufgelegt, dasHauseigentümerInnen unterstützte, die im Zuge derFinanzmarktkrise ihre Raten nicht mehr zahlen konn-

ten. Dies war aus der Sicht der Tea Party eine Fehlin-vestition, damit würde das schlechte Verhalten derSchwachen belohnt und die Leistungsstarken bestraft.Die Tea Party verbindet christlichen Konservatismusund Marktliberalismus. Sie sammelte die Unzufriede-nen, die sich von der Politik vernachlässigt fühlen, dieglaubten, der Staat kümmere sich zu viel um Minder-heiten und Arme. Bis jetzt ist die Tea Party erfolg-reicher als die Occupy-Bewegung, wenn es um dieDurchsetzung ihrer Interessen geht.

Wenig Revolutionäres

Der Artikel trägt die Überschrift „Ein revolu-tionäres Jahr?“, doch wenn man sich die Forderungender Bewegungen ansieht, dann findet man dort wenigRevolutionäres. In Nordafrika weigerten sich Men-schen, dieWillkür totalitärer Regime weiter zu akzep-tieren und forderten für sich eine positive Zukunft ein.In Chile wollten Jugendliche den Zugang zu Bildung,die nicht Schrott ist. In Spanien brachten die Indigna-dos Forderungen auf, die auch in jedem sozialdemo-kratischen Programm hätten stehen können. In Israelwollten Menschen wieder bezahlbarenWohnraum, ei-ne vernünftige Gesundheitsversorgung und ein Bil-

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dungssystem, das nicht chronisch unterfinanziert ist.In Großbritannien wollten viele einfach teilhaben amKonsum, ihnen reichte oftmals ein Flachbildschirm-fernseher und die Gewissheit, dass die Straßen in die-semMoment ihnen gehörten. Und die Occupy-Bewe-gung forderte das ein, was die Politik seit drei Jahrenversprach: Neue Spielregeln für die Finanzmärkteund dass die VerursacherInnen sich an den Kostender Krise beteiligen.

Dieser Fakt machte die Proteste um so bitterer.In den meisten Fällen geht es um Forderungen, dieschon mal erkämpft wurden, Errungenschaften, die wirverloren haben und die nun neu erkämpft werdenmüssen. Die langen Jahre, in denen der Sozialstaat nurein Wettbewerbshindernis war, sind vorbei. Dies zei-gen die Proteste. Dies ist ein positiver Punkt, an demwir Jusos ansetzen können. In allen Protesten ging esdarum, soziale Rechte einzuklagen und eine Umver-teilung einzufordern. Auch in Nordafrika wurde dieForderung nach einem Ende der Diktatur mit sozialenForderungen verbunden.

Sind wir damit zurück auf Null in Europa, Is-rael und den USA? Nein. Die letzten Jahrzehnte ha-ben ihre Spuren hinterlassen. Die Demonstranten for-derten einen Politikwechsel ein, glaubten aber nicht,dass die Politik dies umsetzen werde. Bei vielen De-monstrationen waren unerwünscht. Die Finanz- undWirtschaftskrise wurde auch zu einer Demokratiekrise.Die Politik wird sich das Vertrauen zurückerkämpfenmüssen. Es ist richtig, darauf hinzuweisen, dass wir alsParteien das Vertrauen der Menschen nur zurückge-winnen, wenn wir unsere Forderungen auch umsetzen.Doch der gerade auf dem Parteitag eingeschlageneWeg, deshalb unsere Forderungen einzuschränken,weil die Angst vor einer Niederlage uns lähmt, ist ge-nauso falsch, wie einen Wunschzettel an den Weih-nachtsmann aufzustellen, den niemand ernsthaft um-setzen will.

Und die Tea Party hat gezeigt, dass es auch dieGegenseite schafft, Menschen hinter ihren Forderun-gen zu sammeln; dass derWeg aus der Krise auch or-ganisierte Unsolidarität sein kann oder zumindest wiein Europa eingeschränkte Solidarität. Der Kampf umdie Meinungsführerschaft ist nicht gewonnen.

Wie erfolgreich waren die Proteste?

Mubarak steht im Moment in Ägypten vor Ge-richt, ihm droht die Todesstrafe. Aus denWahlen sinddie Muslimbrüder als Sieger hervorgegangen. In Tu-nesien hat sich eine Koalition aus Linken und der

islamischen Partei „ennahdha“ zusammengefunden.Wie sich die Länder weiterentwickeln wird sich zei-gen. In Chile kämpfen die SchülerInnen, Studierendeund LehrerInnen weiter. Inzwischen ist schon derzweite Bildungsminister zurückgetreten, doch zu einerBildungsreform kam es nicht. In Spanien regiert in-zwischen die konservative Partido Popular und diesozialdemokratische PSOE befindet sich in einer tie-fen Krise. Die Forderungen der Proteste wurden bishernicht umgesetzt. In Israel setzte die Regierung dieVorschläge der Protestbewegung in homöopathischenDosen um. So sollen Gutverdienende ab diesem Jahr4 Prozent mehr Steuern zahlen, die Unter- undMittelschicht 2 Prozent weniger. Auch soll staatlichesBauland für 200.000Wohnungen freigegeben werden.Großbritannien reagierte mit law und order auf dieAusschreitungen. Es wurde sogar Familien von verur-teilten Straftätern der Mietvertrag für Sozialwohnun-gen gekündigt. In Amerika dominiert der Vorwahl-kampf für die Präsidentschaftswahlen alles. BarakObama hat angekündigt, dass die Präsidentschafts-wahlen eine Abstimmung über die Frage der Solidari-tät werden. Doch seine bisherige Bilanz als Präsidentist durchaus zwiespältig.

Diese Auflistung zeigt, dass die großen Erfolgeausgeblieben sind. Trotz aller Medienpräsenz hat diePolitik die Forderungen nicht aufgenommen. Noch istdie Euphorie über die Massenproteste groß, doch esist unklar, ob bzw. wann die fehlenden Ergebnisse inFrust umschlagen werden oder ob die Proteste über-haupt weitergehen. Es ist die Aufgabe der Jusos, dieForderungen in die Partei zu tragen und dort für siezu werben. Damit sich was bewegt.

Und was ist mit Deutschland? Es bleibt wei-terhin ruhig. Immer wieder gab es Hoffnungen, dassdie Proteste auch nach Deutschland überschwappen.Doch nichts passierte, occupy Frankfurt blieb eine klei-ne Versammlung. Wir können aber zumindest dafürsorgen, dass es innerhalb der SPD nicht ruhig bleibt.Dass sich die Jusos aktiv für die Interessen jungerMenschen einsetzen und dabei nicht bei der traditio-nell definierten Jugendpolitik stehen bleiben.

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Simône BurgerMitglied im Landesvorstand

der BayernSPD, München

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On the 20th of No-vember, the Partido Popular(PP) won a convincing ma-jority in Spain’s general elec-tions. The socialists (PSOE)suffered their worst defeatsince the return of democra-cy to Spain. With only a fewexceptions, the Spanish rightnow possesses strong majori-ties at all levels of governmentand an almost total mono-poly on institutional power inSpain. And this has happenedin spite of any tremendoussurge of enthusiasm for thePP; they only increased theirvotes by about 550,000, ob-taining a total lower than thevotes Zapatero won in 2008.The biggest factor in the 2011Spanish election was the col-lapse in the PSOE vote, whichfell from over 11 million to under 7 million. PSOE lostmore than one in three voters. Some of these voterswent over to smaller parties on the left (~700,000 tothe United Left, ~200,000 to the new Green party,Equo), but most stayed home. The progressive majo-rity in Spain has broken down, and the indignados arethe maximum expression of this reality.

There are good reasons to be angry in Spain,starting with the fact that the country has the highestrates of unemployment in Europe and the highest ra-te of youth unemployment (now ~50%). Before theindignados appeared, many commentators mockedSpanish youth for being an excessively passive genera-tion in the face of a terrible crisis of unemployment.

There were already many rumblings of discon-tent, but the indignados made their definite appearan-ce in a series of protests called by the group Demo-cracia real YA (Real Democracy NOW – DRY) on the15th of May, spawning the 15-M Movement. Theseprotests transformed into the occupations of publicsquares across Spain, most notably in the case of theAcampada Sol in the Puerta del Sol in Madrid, crea-ting a series of popular assemblies across the country.

DRY presented a ma-nifesto and a series of demandthat can be divided into twoblocs. DRY called for a seriesof socio-economic changes:more jobs, more access tohousing, better public ser-vices, a reduction in milita-ry spending, progressive taxreform, and a greater controlover the banks and the finan-cial sector. They also calledfor an elimination of the pri-vileges of the “political class”,more direct democracy, di-gital liberties, and an endto Spain’s electoral system,which heavily favours the twolarge parties. They mobilizedagainst bankers and politi-cians simultaneously.

The participants in thevarious assemblies comprised

an incredible diversity. They included members ofnewer organized groups (DRY, Juventud Sin Futuro,No LesVotes), collectives associated with the anti-waror anti-globalization coalitions, more established poli-tical actors (anarchists, communists, etc.), trade unionactivists, as well as a smattering of socialist votersthere in an independent capacity. But in large part theassemblies were notable for their spontaneous com-position, testament to the incredible mobilizing capa-city of social media. It is worth noting that while theprotesters occupying the squares had their own par-ticular social characteristics, the movement enjoyedwidespread support on the part of the Spanish popu-lation, especially amongst the PSOE electorate. Angerat the economy and the political system is generalized,as undemocratic austerity policies take their toll.

On May 20th, the Acampada Sol approved itsfirst list of proposals, which largely echoed the de-mands of DRY. It is relevant that their first demandwas for a change in the electoral law so as to create asingle national electoral circumscription and open par-ty lists. Spain’s electoral system is biased against smal-ler parties (most notably the Communists who now

The Rise of the IndignadosYouth protest in Spain and the Collapse of Spain’s progressive majority.

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lead United Left) and favours regional nationalistparties. Again, the demands of the Assembly could belargely divided into those of a socio-economic natureand those calling for democratic renewal and an endto corruption.

On May 22nd, the Partido Popular swept to po-wer at the regional and municipal level in Spain, as for-mer PSOE voters displayed the same behaviour theywould in the general elections in November. On May25th, the Acampada Sol approved its consensus of mi-nimums around four points: 1) Electoral reform, 2) thefight against corruption, 3) the separation of publicpowers, and 4) the creation of new mechanisms of ci-tizen control. The Assembly was not able to agree onan economic programme and other questions (themonarchy, the federal nature of Spain, the relationshipbetween Church and State).

After a summer filled with incidents, notablylarge demonstrations against the Pact for the Euro, thenext big success for the indignados were the protestsof the 15th of October (15-O), where they proposedtaking their struggle to the global level. This forms partof a successful interplay of movements in what hasbeen called the global democratic uprising, of whichthe Arab Spring, the indignados, the Occupy Move-ment, the protesters in Syntagma square, the Chileanstudents, etc. all form a part.

In the immediate future, it is unlikely that theindignados achieve either their socio-economic goalsor their goals for democratic renewal. In the place of aPSOE that reluctantly carried out cuts and a neolibe-ral agenda imposed from Europe, they get a PP thatwill pursue this agenda wholeheartedly. Those thatwanted an end to austerity will see its intensification.The already underfunded Spanish welfare state (a con-sequence of low levels of tax collection with respect tothe European average) is at risk of being privatized.

The PSOE candidate attempted a slight leftturn, but it was too late. The socio-economic demandsof the youth protesters were much more social demo-cratic than revolutionary, and in this sense the PSOEwas punished for not delivering on its previous pro-mises. One bright spot in an otherwise lacklustre cam-paign was the open recognition that the economicsituation requires a change at the European level: arelaxation of the growth and stability pact, a changeat the European Central Bank, and a coordinated in-vestment plan. In this sense, the Spanish election wasin part a sideshow to a broader continental struggle.

On the democratic front, instead of a two-partyhegemony, Spain now moves to the hegemony of oneparty. The Partido Popular can be expected to embedits partisans in the public broadcasting services, mani-

pulate the judiciary, and largely turn a blind eye towidespread corruption amongst its own ranks. Theyare at risk of Berlusconizing the country, but withoutBerlusconi.

With regard to the basic demand for a changein the Electoral Law, the movement runs into evengreater obstacles. This change would require a changein the Constitution, which would have to be supportedby the two major parties – the parties that most be-nefit from the current law. It is difficult to see howthis might be brought about, and this will only furtherexacerbate Spanish democracy’s crisis of legitimacy.

A negative feedback loop has emerged wheredisenchantment with PSOE and the indignados haveplayed off one another and led to a fragmentation ofthe Spanish left. In the short run, neither the indigna-dos nor PSOE will see Spain evolve in the directionthey would like. The PSOE is in a weakened position(as it lacks almost all institutional ability to act as acounterweight) and has a rather tarnished record ofgovernment over the course of the last mandate. Itruns the risk that true opposition to the PP will mate-rialize in the streets, as the social cuts deepen. There isthe possibility of PSOE’s already tattered credibilitydisappearing for a generation, especially in a contextwhere the country is on the brink of requiring a bail-out and with the remote possibility of the break-up ofthe euro and the return of the peseta on the horizon.

It is essential that the party undergos a thought-ful renewal, complicated though this will be, focusedon the goal of recovering the progressive majority inSpain. 2011 does not represent a cultural triumph forthe Spanish right – they hardly grew in the midst ofa terrible crisis, but it certainly has been a short rundisaster for the Spanish left, and concretely for PSOE.

We have to work together to open up the partyto the energy, ideas, ambition and activists that the in-dignados represent, or perish. Again, this will be com-plicated. But in the wake of the drastic failure associa-ted with PSOE’s neoliberal turn, there is no choice butto recover social democratic values if we wish to re-build a social-democratic majority.

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David LizoainInternationaler Sekretär

der Joventut Socialista de Catalunya,Spanien

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Mut zur Lücke –Die Frauenpolitikvon Schwarz-Gelb

Entsprechenden Humor vorausgesetzt, kannman die Frauenpolitik, die Schwarz-Gelb betreibt,zumindest unterhaltsam finden. Alleine schon, weil siees schafft, „Wir tun nichts“ viel schöner auszudrücken:„Gesetzliche Pflicht zur Selbstverpflichtung“ heißt das,wenn die Frauenministerin darüber redet. ObwohlKristina Schröder diese Funktionsbezeichnung sicherzurückweisen würde – sieht sie sich doch eher als Hü-terin der Familie und als Kämpferin gegen Linksextre-mismus. Frauenpolitik ist das, um das sie sich auchnoch kümmern muss – oder eben auch nicht.

Danke, emanzipiert sind wir selber?

Dabei gibt immerhin die Union bei der Frage„Frauen in Führungspositionen“ manchmal Anlass zurHoffnung. Auch in der CDU gibt es Stimmen, vorallem von Frauen, die es nicht mehr akzeptieren wol-len, dass Frauen kaum die Chance bekommen, in dieFührungsetagen von Unternehmen aufzusteigen. Undbei einigen hat sich auch die Erkenntnis durchgesetzt,dass es ohne gesetzliche Regelung zur Frauenquotenicht geht. Durchgesetzt hat sich aber in der Union,mit Unterstützung der Kanzlerin, Kristina Schrödermit ihrer „freiwilligen Selbstverpflichtung“.

Mit dieser hat sich schon die SPD blamiert:2001 verfügte Gerhard Schröder den Verzicht auf dasvon Rot-Grün vereinbarte Gleichstellungsgesetz fürdie Privatwirtschaft. Freiwillige Zielvorgaben seien aus-reichend, um die Unternehmen zur Verbesserung derKarrierechancen von Frauen zu bewegen. Passiert ist:Nichts. Die SPD hat das mittlerweile – leider zu spät– erkannt und fordert nun verbindlicheVorgaben. Beider CDU dämmert die Erkenntnis immerhin bei ei-nigen. Bei der FDP dämmert, wie so oft, nichts.

Auch ansonsten herrscht in der Frauenpolitikvon Schwarz-Gelb Mut zur Lücke. Die Entgeltun-gleichheit zwischen Männern und Frauen – immerhin23 Prozent bei gleichwertiger Arbeit – wird zwar be-dauert, konkret vorgeschlagen, wie man dagegen an-gehen kann, wird aber nichts. Dass Frauen von der

Prekarisierung des Arbeitsmarktes besonders betrof-fen sind, Minijobs und Teilzeitarbeit überwiegendweiblich sind und Frauen damit auch kaum Ansprü-che für die Altersrente erwerben, ist dann schon garkein Thema mehr.

Das nun wiederum ist konsequent bei einerUnion, für die – vor allem auf Seiten der CSU –Frauen vor allem eines sind: Mütter, die sich um ihreFamilie kümmern sollen. Und auch hier kämpft dieFrauenministerin wieder an vorderster Front, vereintmit dem bayerischen Ministerpräsidenten, gegen er-reichte Fortschritte. Das Betreuungsgeld soll Frauendazu bewegen, sich nicht für ihren Beruf, sondern„für die Familie“ zu entscheiden. Und daran, dass Kin-der irgendwann aus dem Haus sind, hat die findige Mi-nisterin auch schon gedacht: Wer keine „Erziehungs-zeit“ mehr braucht, soll in die „Pflegezeit“ wechseln.Denn wo keine Kinder zu versorgen sind, werden si-cherlich Eltern aufzutreiben sein, die gepflegt werdenmüssen. Und in der Pflege Menschen zu beschäftigen,die das gelernt haben, am Ende auch noch zu fairenLöhnen, ist für Kristina Schröder ganz sicher keineAlternative zur ehrenamtlichen, mit Lohn- und Ren-teneinbußen verbundenen Pflegeleistung durch Töch-ter und Schwiegertöchter. Denn dann würde Pflegeja Geld kosten!

Und so lässt einen die schwarz-gelbe Frauen-politik vor allem mit einer großen Frage zurück: Istes nicht doch besser, dass sie nichts tun, anstatt Rück-schritte durchzusetzen? Ein Buchtitel „Danke, eman-zipiert sind wir selber!“ jedenfalls wirkt beim Blickauf die Frauenpolitik der Union wie Satire.

Philipp DeesLandesvorsitzender Jusos Bayern

Erlangen