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Finkelstein Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern

Finkelstein Der Konflikt zwischen Israel und den ... · Die Eroberung der Erde, die meistens darauf hinaus-läuft ... also der Wechselbeziehung zwischen Juden und Nichtjuden, die

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  • Finkelstein Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern

  • Meinen geliebten Eltern,

    Maryla Husyt Finkelstein,Überlebende des Warschauer Gettos

    und des Konzentrationslagers Maidanek

    und

    Zacharias Finkelstein,Überlebender des Warschauer Gettos

    und des Konzentrationslagers Auschwitz.

    Möge ich nie vergessen oder entschuldigen,was ihnen angetan wurde.

  • NORMAN G. FINKELSTEIN

    Der Konflikt zwischenIsrael und den Palästinensern

    D i e d e r i c h s

    Mythos und RealitätAus dem Amerikanischen von Lilli Herschhorn und Andrea Panster

  • Die Originalausgabe erschien unter dem TitelImage and Reality of the Israel-Palestine Conflictbei Verso, London/New York© der aktualisierten und erweiterten Ausgabe Verso 2002

    Die Deutsche Bibliothek – CIP-EinheitsaufnahmeFinkelstein, Norman G.:Der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern : Mythos und Realität / Norman G. Finkelstein. Aus dem Amerikan. von Lilli Herschhorn und Andrea Panster. – Kreuzlingen ; München : Hugendubel, 2002(Diederichs)Einheitssacht.: Image and reality of the Israel-Palestine conflict ISBN 3-7205-2368-3

    © der deutschen Ausgabe Heinrich Hugendubel Verlag,Kreuzlingen/München 2002Alle Rechte vorbehalten

    Redaktion: Gernot Häublein, AltfraunhofenUmschlaggestaltung: Zembsch’ Werkstatt, MünchenProduktion: Maximiliane SeidlSatz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, GermeringDruck und Bindung: GGP Media, PößneckPrinted in Germany

    ISBN 3-7205-2368-3

  • Inhalt

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

    Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

    1 Zionistische Grundeinstellungen – Theorie und Praxis des jüdischen Nationalismus . . . . . . . . . . 45

    2 Ein Land ohne Volk – Joan Peters’Mythos von der »Wildnis« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

    3 »Kriegsbedingt, nicht planmäßig« – Benny Morris’Mythos von der »goldenen Mitte« . . . . . . . . . 109

    4 Besiedlung, nicht Eroberung – Anita Shapiras Mythos von den »guten Absichten« . . . . . . . 169

    5 Überleben oder zu Grunde gehen – Abba Eban »rekonstruiert« den Junikrieg 1967 . . . . . . . . . . . 221

    6 Die Sprache der Gewalt – Die wahre Bedeutung des Oktoberkriegs und seiner Folgen . 261

    Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

    Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

    Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

    Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397

  • Die Eroberung der Erde, die meistens darauf hinaus-läuft, daß man sie denen wegnimmt, die eine andereHautfarbe oder etwas flachere Nasen als wir haben,ist keine hübsche Sache, wenn wir ein bißchen genauer hinsehen.

    JOSEPH CONRAD, HERZ DER FINSTERNIS

  • Vorwort

    Hintergrund

    Die zionistische Bewegung strebte im späten 19. Jahrhundert die Er-richtung eines jüdischen Staates mit überwiegend, wenn nicht sogarrein jüdischer Bevölkerung in Palästina an. Dies war als Lösung derso genannten jüdischen Frage gedacht, also der Wechselbeziehungzwischen Juden und Nichtjuden, die von Zurückweisung (oder Anti-semitismus) und Anziehung (oder Assimilation) geprägt war1. Alsdie zionistische Bewegung nach der Veröffentlichung der Balfour-Er-klärung2 durch Großbritannien erst einmal in Palästina Fuß gefassthatte, stellte die einheimische arabische Bevölkerung das größteHindernis bei der Schaffung eines solchen Staates dar. Denn unmit-telbar vor der zionistischen Besiedlung war der überwiegende Teilder Bevölkerung Palästinas nicht jüdisch, sondern muslimisch- undchristlich-arabisch.3

    Den wichtigsten Gruppen quer durch das zionistische Spektrumwar von Anfang an klar, dass die einheimische arabische Bevölke-rung Palästinas ihre Enteignung nicht stillschweigend hinnehmenwürde. »Der Zionismus war nicht, wie häufig behauptet wird, blindgegenüber der Anwesenheit von Arabern in Palästina«, bemerktZeev Sternhell. »Zionistische Intellektuelle und Politiker schenktendem ›arabischen Dilemma‹ vor allem deshalb keine Beachtung, weilsie wussten, dass es innerhalb des zionistischen Weltbildes keineLösung für dieses Problem gab. … Im Allgemeinen durchschauten

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  • beide Seiten einander recht gut und wussten, dass die Verwirkli-chung des Zionismus nur auf Kosten der palästinensischen Arabermöglich war.« Moshe Shertok (später Sharett) tat die Überzeugungderjenigen, die von »›beiderseitigen Missverständnissen‹ zwischenuns und den Arabern, von ›gemeinsamen Interessen‹ [und] von›der Möglichkeit von Einheit und Frieden zwischen zwei Bruder-Völkern‹« sprachen, verächtlich als »trügerische Hoffnungen« ab.»Die Geschichte kennt kein einziges Beispiel«, fasste David Ben-Gurion das Kernproblem prägnant in Worte, »dass ein Volk die Toreseines Landes nicht aus der Notwendigkeit heraus öffnet, … son-dern weil das Volk, das Einlass begehrt, seinen Wunsch nach diesemLand deutlich gemacht hat.« 4

    »Die Tragödie des Zionismus war«, so Walter Laqueur in seinemhistorischen Standardwerk, »dass er auf der internationalen Bühneerschien, als es keine weißen Flecken mehr auf der Weltkarte gab.«Das ist nicht ganz richtig. Es war wohl eher so, dass es politisch nichtmehr haltbar war, derartige Flecken zu schaffen: Die Möglichkeit ei-ner Eroberung durch die Vernichtung eines Volkes war nicht mehr ge-geben. Im Grunde hatte die zionistische Bewegung lediglich die Wahlzwischen zwei Strategien, um ihr Ziel zu erreichen: dem, was BennyMorris »den Weg Südafrikas« nannte – »die Schaffung eines Apart-heidstaates, in dem sich eine Minderheit von Siedlern zu Herrenüber eine große, ausgebeutete einheimische Mehrheit aufschwingt«–, oder »dem Weg des Transfers« – »wenn man alle oder die meistenAraber um- oder aussiedeln würde, könnte man einen homogenenjüdischen Staat oder zumindest einen Staat mit einer überwältigen-den jüdischen Mehrheit schaffen«.5

    Phase eins – »Der Weg des Transfers«

    In der ersten Phase der Eroberung fasste die zionistische Bewegungden »Weg des Transfers« ins Auge. Trotz der öffentlichen Beteuerun-gen, man wolle »mit den Arabern in Einheit und gegenseitigem Res-pekt leben und zusammen die gemeinsame Heimat in ein blühen-des Land verwandeln« (Zwölfter Zionistischer Kongress, 1921), ver-folgten die Zionisten in Wirklichkeit schon früh das Ziel, die Araber

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  • zu vertreiben. »Der Transfer-Gedanke war von Anfang an Teil derzionistischen Bewegung«, berichtet Tom Segev. »Im Kern bestandder zionistische Traum darin, die Araber ›zum Verschwinden zu brin-gen‹, was zugleich eine Grundvoraussetzung für die Existenz diesesTraums war. … Nur wenige Zionisten zweifelten daran, dass einZwangstransfer wünschenswert – und auch moralisch vertretbar –sei.« Entscheidend war die Wahl des richtigen Zeitpunktes. Ben-Gu-rion formulierte seine Gedanken zur Möglichkeit einer VertreibungEnde der 30er Jahre so: »In Zeiten des Umbruchs wird möglich, waszu normalen Zeiten unvorstellbar ist. Und wenn man dann die Ge-legenheit ungenutzt verstreichen lässt und nicht tut, was in solchgroßen Stunden möglich ist, geht eine ganze Welt verloren.« 6

    Das Ziel, die einheimische arabische Bevölkerung »zum Ver-schwinden zu bringen«, deutet auf eine einfache Wahrheit hin, dieunter einem Berg von zionistischer Rechtfertigungsliteratur begra-ben liegt: Nicht Antisemitismus im Sinne eines irrationalen Hassesauf die Juden spornte die Palästinenser zum Widerstand gegen denZionismus an, sondern vielmehr die – ganz realistische – Aussicht,von den Zionisten vertrieben zu werden. »Die Angst vor Vertreibungund Enteignung«, schließt Morris folgerichtig, »sollte zur stärkstenTriebfeder für den arabischen Widerstand gegen den Zionismus wer-den.« Ähnlich äußert sich Yehoshua Porath in seiner überragendenStudie zum palästinensischen Nationalismus: »Am meisten Nah-rung« bekomme der arabische Antisemitismus »nicht durch denHass auf die Juden an sich, sondern durch den Widerstand gegen diejüdische Besiedlung in Palästina«. Er argumentiert weiter, die Araberhätten zwar anfangs einen Unterschied zwischen Juden und Zionis-ten gemacht. Es sei jedoch »unvermeidlich« gewesen, dass der Wi-derstand gegen die zionistischen Siedler in eine Abneigung gegenalle Juden umschlug: »Je mehr Einwanderer kamen, desto stärkeridentifizierte sich die jüdische Bevölkerungsgruppe mit der zionisti-schen Bewegung. … Die nicht-zionistischen und anti-zionistischenElemente wurden zu einer unbedeutenden Minderheit unter den Ju-den, und um die ältere Unterscheidung zu treffen, war ein gehörigesMaß an Wissen und Erfahrung nötig. Es war unrealistisch zu hoffen,dass die breite arabische Bevölkerung und der aufwieglerische Mob,der ein Teil davon war, an dieser Unterscheidung festhalten würde.« 7

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  • Von seinem ersten Aufflackern im späten 19. Jahrhundert bis zudem Aufstand, der in den 30er Jahren den Wendepunkt markierte,richtete der palästinensische Widerstand stets seine ganze Aufmerk-samkeit auf den Doppelmoloch zionistischer Eroberung: jüdischeSiedler und jüdische Siedlungen.8 Zionistische Autoren wie AnitaShapira, die das zionistische Vorgehen rechtfertigen wollen, macheneinen Unterschied zwischen friedlicher jüdischer Besiedlung undder Anwendung von Gewalt.9 Aber in Wirklichkeit war BesiedlungGewalt. »Der Zionismus versuchte von Anfang an, seine nationalenZiele mit Gewalt zu verwirklichen«, bemerkt Yosef Gorny. »DieseGewalt bestand in erster Linie darin, dass man gemeinsam in derLage war, in Palästina wieder eine nationale Heimat zu errichten.«Mit der Besiedlung verfolgte die zionistische Bewegung das Ziel –um es mit Ben-Gurion zu sagen –, vollendete »jüdische Tatsachen indiesem Land zu schaffen« (Hervorhebung im Original).10 Zudemwaren die Grenzen zwischen Besiedlung und Waffengewalt flie-ßend, da die zionistischen Siedler nach der »vollendeten Verbindungvon Pflug und Gewehr« strebten. Moshe Dayan schrieb im Geden-ken daran später: »Wir sind eine Generation von Siedlern, und ohneKampfhelm und Gewehrlauf wird es uns nicht gelingen, einenBaum zu pflanzen oder ein Haus zu bauen.«11 Die zionistische Be-wegung führte den Widerstand der Palästinenser gegen die jüdischeBesiedlung auf einen generisch- und genetisch bedingten Antise-mitismus zurück – jüdische Siedler »werden ermordet«, wie Ben-Gurion es ausdrückte, »einfach deshalb, weil sie Juden sind« –, umvor sich selbst und der Außenwelt den logischen und berechtigtenUnmut der einheimischen Bevölkerung zu verbergen.12 Währenddes folgenden Blutvergießens brüsteten sich Blutsverwandte derzionistischen Märtyrer – ähnlich wie die Verwandten der palästinen-sischen Märtyrer heute – stolz mit dem Opfer, das diese für ihr Volkgebracht hatten. »Es erfüllt mich mit Genugtuung«, so der Vater ei-nes jüdischen Opfers beim Nachruf, »dass ich Zeuge eines solchenhistorischen Ereignisses werden durfte.«13

    Angesichts der weiteren Entwicklung in den Jahren zwischen denWeltkriegen bis hinein in die Nachkriegszeit darf nicht unerwähntbleiben, dass die westliche Öffentlichkeit einem Bevölkerungstrans-fer als geeignete (wenn auch extreme) Maßnahme zur Lösung ethni-

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  • scher Konflikte nicht gänzlich ablehnend gegenüberstand. Mitte der30er Jahre sprachen sich französische Sozialisten und die jüdischePresse in Europa für eine Umsiedlung der Juden nach Madagaskaraus, um auf diese Weise Polens »Judenproblem« zu lösen.14 Zumgrößten Zwangstransfer vor dem Zweiten Weltkrieg kam es zwischender Türkei und Griechenland. Diese brutale Vertreibung von über1,5 Millionen Menschen griechischer und türkischer Nationalität, dieim Vertrag von Lausanne (1923) gebilligt worden war und unter derAufsicht des Völkerbundes stattfand, galt bald vielen europäischenRegierungen als viel versprechendes Vorbild. Die Briten führten sie inden späten 30er Jahren als Lösungsmodell für den Palästinakonfliktan. Der rechtsgerichtete Zionistenführer Vladimir Jabotinsky fasstesich angesichts der bevölkerungspolitischen Experimente der Nazisin den von ihnen eroberten Gebieten ein Herz (ungefähr 1,5 Millio-nen Polen und Juden wurden vertrieben und Hunderttausende vonDeutschen an ihrer statt angesiedelt) und rief aus: »Die Welt hat sichan den Gedanken der Massenwanderung gewöhnt und ihn beinahelieb gewonnen. Hitler – so verhasst er uns auch sein mag – hat die-sen Gedanken in der Welt salonfähig gemacht.« Während des Krie-ges bediente sich auch die Sowjetunion der blutigen Abschiebungaufsässiger Minderheiten, wie etwa der Wolgadeutschen, der Men-schen in Tschetschenien-Inguschetien und der Tataren. Mitgliederder zionistischen Arbeiterbewegung verwiesen auf die »positiven Er-fahrungen« mit den Vertreibungen in Griechenland und der Türkeisowie der Sowjetunion, um den Transfergedanken zu unterstützen.Auf der Potsdamer Konferenz (1945) erinnerten sich die Alliierten anden »Erfolg« (Churchill) des griechisch-türkischen Bevölkerungstau-sches und billigten die Vertreibung von mehr als 13 Millionen Deut-schen aus Mittel- und Osteuropa (ungefähr zwei Millionen davonstarben im Verlauf dieser schrecklichen Entwurzelung). Selbst dielinksgerichtete britische Labour-Partei sprach sich 1944 in ihremWahlprogramm dafür aus, dass die »Araber zur Auswanderung ausPalästina ermutigt werden sollten«, um einer zionistischen Besied-lung Platz zu machen. Der humanistische Philosoph Bertrand Russelläußerte sich in ähnlicher Weise.15

    Tatsächlich kamen im aufgeklärten Westen viele Menschen zuder Überzeugung, die Vertreibung der einheimischen Bevölkerung

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  • Palästinas sei eine zwangsläufige Begleiterscheinung des Zivilisati-onsfortschritts. In Amerika identifizierte man sich mühelos mit demZionismus, da die »gesellschaftliche Ordnung des Yishuv [der jüdi-schen Bevölkerungsgruppe in Palästina; s. S. 90*] auf dem Ethos ei-ner Grenzlandgesellschaft beruhte, in der ein Modell von Pionier-Besiedlung den Ton angab«. Richard Crossman, ein bekannter briti-scher Labour-Abgeordneter, erklärte die »fast totale Missachtungder arabischen Sache« seitens der Amerikaner Mitte der 40er Jahreso: »Der Zionismus ist schließlich nichts anderes als der Versuch eu-ropäischer Juden, sich auf dem Boden Palästinas eine nationaleExistenz aufzubauen, was ganz ähnlich der Erschließung des Wes-tens durch die amerikanischen Siedler abläuft. Der Amerikanerwird also im Zweifelsfall zu Gunsten des jüdischen Siedlers in Pa-lästina entscheiden und im Araber den Ureinwohner sehen, derdem Fortschritt weichen muss.« Crossmann verglich die »verlot-terten« Araber mit den engagierten jüdischen Siedlern, die »revolu-tionäre Kräfte im Nahen Osten in Gang gesetzt« hatten, und be-kannte sich selbst im Namen des »sozialen Fortschritts« dazu, einBefürworter des Zionismus zu sein. Henry Wallace, der linksliberaleamerikanische Präsidentschaftskandidat des Jahres 1948, verglichden Kampf der Zionisten in Palästina mit »dem Kampf, der sich1776 in den amerikanischen Kolonien abspielte. So, wie die Britendamals die Irokesen zum Kampf gegen die amerikanischen Siedleraufhetzten, so stacheln sie heute die Araber an.«16 Allerdings gab esauch außerhalb Palästinas Menschen, die sehr genau erkannten,was vor sich ging, und sich mit der einheimischen Bevölkerungidentifizierten. In seinen Tagebüchern, die inzwischen berühmt ge-worden sind, kritisierte Victor Klemperer wiederholt die rückschritt-liche gemeinsame Vorstellungswelt, die Zionismus und Nationalso-zialismus teilten – im Besonderen die häufig anzutreffende Über-zeugung, er als Jude sei kein Deutscher und könne es auch niemalssein. »Ich kann mir nicht helfen«, schrieb er weiter, »ich sympathi-siere mit den aufständischen Arabern dort [in Palästina], denen dasLand ›abgekauft‹ wird. Indianerschicksal, [sagt] Eva [seine Frau].« 17

    1948 nutzte die zionistische Bewegung die »Zeiten des Um-bruchs« im ersten arabisch-israelischen Krieg – ähnlich den Serbenim Kosovo während der NATO-Angriffe –, um über 80 Prozent der

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  • einheimischen Bevölkerung (etwa 750 000 Palästinenser) zu vertrei-ben und auf diese Weise ihrem Ziel eines überwiegend jüdischenStaates, wenn auch noch nicht in ganz Palästina, näher zu kom-men.18 Berl Katznelson – er galt als das »Gewissen« der zionisti-schen Arbeiterbewegung – hatte behauptet: »Kein Kolonisierungs-projekt war je von so viel Ehrlichkeit und Gerechtigkeit gegenüberanderen geprägt wie unsere Arbeit hier in Eretz Israel.« In seinemmehrbändigen Lobgesang auf die Enteignung der Urbevölkerungdurch die amerikanischen Siedler, The Winning of the West, kamTheodore Roosevelt ganz ähnlich zu dem Schluss: »Kein anderesVolk von Eroberern hat sich den wilden Landbesitzern gegenüberso großzügig gezeigt wie das der Vereinigten Staaten.« Aus derSicht der Empfänger dieser wohltätigen Gaben dürfte sich die Ge-schichte wohl etwas anders anhören. 19

    Phase zwei – »Der Weg Südafrikas«

    Vor und nach dem Krieg von 1948 fürchteten Araber (und Briten)vor allem, die zionistische Bewegung könnte den von Palästina ab-getrennten jüdischen Staat als Sprungbrett zur weiteren Expansionnutzen.20 Und tatsächlich verfolgten die Zionisten bereits früh eine»Stufen«-Strategie der schrittweisen Eroberung Palästinas – eineStrategie, die man später den Palästinensern vorwerfen würde. »Diezionistische Vision ließ sich nicht von heute auf morgen verwirkli-chen«, berichtet der offizielle Biograf Ben-Gurions, »und erst rechtnicht die Verwandlung Palästinas in einen jüdischen Staat. Das vonden alles andere als günstigen Umständen diktierte schrittweiseVorgehen erforderte, Ziele zu formulieren, die wie ›Zugeständnisse‹klangen.« Man fügte sich den von Großbritannien und den Verein-ten Nationen gemachten Teilungsvorschlägen für Palästina, sah da-rin aber »lediglich einen Schritt auf dem Weg zu einer weiter rei-chenden Umsetzung des Zionismus« (Ben-Gurion).21 Nach demKrieg von 1948 bedauerte die zionistische Führung vor allem, dasses ihr nicht gelungen war, ganz Palästina zu erobern. 1967 nutzte Is-rael die »Zeiten des Umbruchs« im Junikrieg, um die Aufgabe zuvollenden.22 Sir Martin Gilbert behauptete in seiner glühenden

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  • Geschichte Israels, die zionistische Führung hätte in den erobertenGebieten von Anfang an eine unerwünschte »Bürde gesehen, dieschwer auf Israel lasten würde«. In seiner hochgelobten neuen Stu-die Six Days of War schreibt Michael Oren, die israelische Besetzungdes Sinai, der Golanhöhen, der Westbank (des Westjordanlandes)und des Gazastreifens habe sich »größtenteils zufällig ergeben«, seieine Folge der »Wechselfälle und Dynamik des Krieges«. Im Lichteder langjährigen territorialen Bestrebungen der zionistischen Bewe-gung meint Sternhell nüchterner: »Die Rolle der Besatzungsmacht,die Israel nur wenige Monate nach dem Blitzsieg im Juni 1967 zuspielen begann, war weder die Folge einer Fehleinschätzung seitensder damaligen Führung noch das Resultat herrschender Umstände,sondern ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Verwirklichung derwichtigsten zionistischen Ziele.« 23

    Nach der Besetzung der Westbank und des Gazastreifens standIsrael vor dem gleichen Dilemma wie zu Beginn der zionistischenBewegung: Man wollte das Land, aber nicht die Menschen.24 Ver-treibung stand jedoch nicht mehr zur Diskussion. Infolge der bruta-len Experimente und Pläne der Nazis in Sachen Bevölkerungspoli-tik lehnte die internationale öffentliche Meinung den Zwangstrans-fer ganzer Völker nun als unrechtmäßig ab. Ein Meilenstein ist die1949 ratifizierte Vierte Genfer Konvention, in der erstmals »unmiss-verständlich die Deportation« von Zivilisten während einer Besat-zung »verboten wurde« (Artikel 49 und 147).25 Entsprechend wand-te sich Israel nach dem Junikrieg der zweiten der beiden erwähntenAlternativen zu – der Apartheid, was sich als Haupthindernis für ei-ne diplomatische Beilegung des Konflikts zwischen Israel und denPalästinensern erwies.

    Der »Friedensprozess«

    Direkt im Anschluss an den Junikrieg berieten die Vereinten Natio-nen über die Modalitäten für einen gerechten und dauerhaftenFrieden. Der breite Konsens der UNO-Vollversammlung und desUNO-Sicherheitsrats ging dahin, von Israel den Abzug aus den ara-bischen Gebieten zu fordern, die es während des Junikriegs besetzt

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  • hatte. Die Resolution 242 des UNO-Sicherheitsrats machte in derPräambel den dort betonten völkerrechtlichen Grundsatz »der Un-zulässigkeit des Gebietserwerbs durch Krieg« zur Bedingung.26 An-dererseits forderte Resolution 242 die arabischen Staaten auf, IsraelsRecht anzuerkennen, »innerhalb sicherer und anerkannter Grenzenfrei von Androhungen oder Akten der Gewalt in Frieden zu leben«.Der internationale Konsens kam auch den nationalen Bestrebungender Palästinenser entgegen und sah letztendlich vor, in der West-bank und dem Gazastreifen einen palästinensischen Staat zu er-richten, sobald sich Israel auf die Grenzen von vor dem Juni 1967zurückgezogen hätte. (Resolution 242 war mit ihrer Forderung hin-sichtlich der Palästinenser, »eine gerechte Regelung des Flücht-lingsproblems herbeizuführen«, vage geblieben.)

    Obwohl Verteidigungsminister Moshe Dayan inoffiziell einräum-te, dass die Resolution 242 einen vollständigen Rückzug forderte,vertrat Israel offiziell auch weiterhin die Position, sie lasse durchausRaum für eine »territoriale Revision«.27 Als Israel es im Februar 1971ablehnte, sich im Austausch gegen einen von Ägypten angebotenenFriedensvertrag vollständig aus dem Sinai zurückzuziehen, führtedas schließlich zum Oktoberkrieg von 1973.28 Der Vorschlag YigalAllons, eines führenden Politikers der Arbeitspartei und Kabinetts-mitglieds, gab in den späten 60er Jahren den Rahmen der israeli-schen Politik hinsichtlich des palästinensischen Gebietes vor. Der»Allon-Plan« forderte die Annektierung von knapp der Hälfte derWestbank durch Israel. Die Palästinenser sollten in der anderenHälfte auf zwei nicht miteinander verbundene Kantone im Nordenund Süden beschränkt werden. Sasson Sofer weist ganz allgemeinauf den »fruchtbaren Dualismus« in der israelischen Diplomatie hin– man sollte eher »fruchtbarer Zynismus« sagen –, »bei dem Stre-ben nach Legitimierung zuerst die Einzigartigkeit der Judenfrage zubetonen und dann die Normalität der Existenz Israels als souverä-ner Staat herauszustreichen, dem alle Rechte und Privilegien einerNation gewährt werden sollten«. Im vorliegenden Fall forderte Isra-el, wie jeder andere souveräne Staat, volle Anerkennung, bean-spruchte aber gleichzeitig auf Grund des einzigartigen jüdischenLeidens und ungeachtet des Völkerrechts das Recht auf Territorial-gewinn durch Eroberung. Wie an anderer Stelle zu sehen ist, spielte

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  • die Berufung auf den Holocaust in diesem diplomatischen Spiel ei-ne entscheidende Rolle.29

    Anfänglich unterstützten die Vereinigten Staaten die Konsens-Auslegung von Resolution 242 und gestatteten lediglich »geringfü-gige« und »beiderseitige« Anpassungen entlang der unregelmäßi-gen Grenze zwischen Israel und der unter jordanischer Kontrollestehenden Westbank.30 Auch in hitzigen inoffiziellen Gesprächenmit Israel während der 1968 unter der Schirmherrschaft der UNOangestrengten Schlichtungsversuche Gunnar Jarrings31 blieben dieVereinigten Staaten dabei: »Mit den Worten ›anerkannt und sicher‹sind ›Sicherheitsvorkehrungen‹ und die ›Anerkennung‹ neuer Lini-en als internationale Grenzen gemeint«, »nicht aber, dass Israel seinTerritorium auf die Westbank oder bis zum Suezkanal ausdehnenkönne, falls Israel der Meinung wäre, das sei aus Sicherheitsgrün-den erforderlich.« Und: »Es wird niemals Frieden geben, wenn Isra-el versucht, große Stücke des Landes für sich zu behalten.« Die Ver-einigten Staaten erwähnten den Allon-Plan namentlich und be-zeichneten sogar die reduzierte Version als »chancenlos« und»grundsätzlich inakzeptabel«.32

    Unter der Regierung Nixon–Kissinger kam es jedoch zu einementscheidenden Kurswechsel in der amerikanischen Politik, die er-neut der Israels angeglichen wurde.33 Mit Ausnahme von Israel undden Vereinigten Staaten (und gelegentlich einem von den USA ab-hängigen Staat, einem so genannten Klientenstaat), hält die interna-tionale Gemeinschaft inzwischen seit einem Vierteljahrhundert ander »Zwei-Staaten«-Regelung fest. Dahinter verbirgt sich die fol-gende Formel: vollständiger Abzug Israels und völlige AnerkennungIsraels seitens der Araber sowie die Errichtung eines palästinensi-schen Staates an der Seite Israels. Im Januar 1976 und im April 1980stimmte der UNO-Sicherheitsrat über Resolutionen ab, in denen dievon der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) sowie denbenachbarten arabischen Staaten mitgetragene Zwei-Staaten-Rege-lung bestätigt werden sollte. Beide Male machten allein die Vereinig-ten Staaten von ihrem alleinigen Vetorecht Gebrauch. Im Dezember1989 wurde eine ähnlich lautende Resolution der UNO-Vollver-sammlung mit 151:3 Stimmen (keine Enthaltungen) verabschiedet.Die drei Gegenstimmen kamen von Israel, den Vereinigten Staaten

    16

  • und Dominica [Insel der Kleinen Antillen].34 Angesichts dieser Miss-achtung der Weltmeinung überrascht es kaum, dass Israel es zurBedingung für Verhandlungen machte, dass die Palästinenser »ihretraditionelle Forderung« nach »einem internationalen Schiedsver-fahren« oder einer »Entscheidung durch den Sicherheitsrat« aufge-ben müssen.35 Die größte Hürde bei der Annektierung des besetztenPalästinensergebietes durch Israel stellte die PLO dar. Nachdem sieder Zwei-Staaten-Regelung Mitte der 70er Jahre zugestimmt hatte,konnte man sie nicht mehr mit der Begründung übergehen, eshandle sich um eine rein terroristische Organisation, welche die Ver-nichtung Israels zum Ziel habe. Der Druck auf Israel, eine Einigungmit einer »kompromissbereiten« PLO herbeizuführen, nahm sogarzu. Deshalb marschierte Israel 1982 im Libanon ein, wo sich derHauptsitz der palästinensischen Führung befand. Damit wollte manabwenden, was der Strategieanalytiker Avner Yaniv als »Friedens-offensive« der PLO bezeichnete.36

    Frustriert von der durch die Blockadepolitik der Vereinigten Staa-ten und Israels verursachten diplomatischen Patt-Situation, erhobensich die Palästinenser im Dezember 1987 in der Westbank und imGazastreifen in einer vom Ansatz her gewaltfreien und zivilen Revol-te, der Intifada, gegen die israelische Besatzung. Israel brutales Vorge-hen (das durch die unfähige und korrupte PLO-Führung noch ver-schlimmert wurde) führte schließlich zur Niederschlagung des Auf-standes.37 Der Zusammenbruch der Sowjetunion, die Zerstörung desIrak und die Einstellung der finanziellen Unterstützung aus denGolfstaaten führten zu einer weiteren Verschlechterung des Ge-schicks der Palästinenser. Die Vereinigten Staaten und Israel ergriffendie Gelegenheit, um die bereits korrupte und jetzt auch noch ver-zweifelte palästinensische Führung – die »geschwächt« und »am Ran-de des Bankrotts« sei (so Uri Savir, der israelische Chefunterhändlerin Oslo) – in die Rolle eines Stellvertreters israelischer Macht zu drän-gen. Mit dem im September 1993 unterzeichneten Oslo-Abkommenverfolgte man eigentlich das Ziel, Arafat und die PLO mit Macht undPrivilegien zu ködern und so ein palästinensisches Bantustan* zu

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    * »Bantustan«: eines der früheren »Homelands«, die in der damaligen Apart-heid-Republik Südafrika für Schwarzafrikaner »reserviert« waren (Anm. d. Ü.).

  • schaffen – ganz ähnlich wie es die Briten in den Jahren der Mandats-regierung durch Amin al-Husayni, den Großmufti von Jerusalem,und den Obersten Muslimischen Rat zwecks Kontrolle über Palästinagetan hatten.38 »Die Besatzung dauerte an« nach Oslo, schrieb dererfahrene israelische Kommentator Meron Benvenisti, »wenn auchferngesteuert und mit Zustimmung des palästinensischen Volkes, dasdurch die PLO als ›alleinigen Repräsentanten‹ vertreten wurde.«Und noch einmal: »Es gibt keinen Zweifel daran, dass eine auf dengegenwärtigen Machtverhältnissen beruhende ›Kooperation‹ nur ei-ne versteckte Fortsetzung israelischer Vorherrschaft ist, und die paläs-tinensische Selbstbestimmung in Wirklichkeit einer Bantustan-Rege-lung gleichkommt.« Laut Savir bestand der »Test« für Arafat und diePLO darin, ob sie »ihre neue Machtbasis dazu nutzen, Hamas undandere gewaltbereite Oppositionsgruppen, die gegen die Apartheidin Israel kämpften, zu zerschlagen«.39

    Die israelische Siedlungspolitik der vergangenen zehn Jahre inden besetzten Gebieten zeigt, was für eine Entwicklung durch den»Friedensprozess« in Oslo tatsächlich in Gang gesetzt wurde. DieEinzelheiten werden in der unter dem Titel Land Grab erschienenenStudie der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem (is-raelisches Informationszentrum für Menschenrechte in den besetz-ten Gebieten) dargelegt.40 Während der jahrelangen Verhandlungenin Oslo stieg die Zahl der jüdischen Siedler von 250 000 auf 380 000an, was sich in erster Linie auf eine massive finanzielle Unterstüt-zung durch die israelische Regierung zurückführen lässt. Währendder Amtszeit Ehud Baraks (Arbeitspartei) ging es mit den Sied-lungsaktivitäten schneller voran als unter Benjamin Netanyahu(Likud). Inzwischen überziehen diese Siedlungen, die nach demVölkerrecht illegal sind und auf Land erbaut sind, das den Palästi-nensern widerrechtlich genommen wurde, beinahe die Hälfte derWestbank-Fläche. Das Siedlungsgebiet wurde praktisch von Israelannektiert (das israelische Gesetz gilt nicht nur für die in den Sied-lungen lebenden israelischen, sondern auch für die nicht-israeli-schen Juden), und Palästinenser dürfen es nur mit einer Sonder-genehmigung betreten. Die Zersplitterung der Westbank in unzu-sammenhängende und nicht lebensfähige Enklaven hat bisher einebedeutsame palästinensische Fortentwicklung behindert. In Teilen

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  • der Westbank und Ost-Jerusalems befindet sich das einzige zur Be-bauung freigegebene Land in den unter israelischer Gerichtsbarkeitstehenden Gebieten. Die 5 000 im Jordantal lebenden jüdischenSiedler verbrauchen ebenso viel Wasser wie drei Viertel der zwei Mil-lionen in der Westbank lebenden Palästinenser. Während der jahre-langen Verhandlungen von Oslo wurde nicht eine einzige jüdischeSiedlung aufgelöst. Dagegen stieg die Zahl der Wohneinheiten inden Siedlungen um mehr als 50 Prozent (ausgenommen Ost-Jerusa-lem). Wie gesagt fand der größte Anstieg neuer Wohnungen nichtunter der Regierung Netanyahu, sondern im Jahr 2000 unter der Re-gierung Barak statt – genau zu der Zeit, als Barak behauptete, bei sei-nen Friedensbemühungen »nichts unversucht gelassen« zu haben.

    Die B’Tselem-Studie kommt zu dem Schluss: »Israel hat in denbesetzten Gebieten ein auf Diskriminierung basierendes Regimeder Völkertrennung geschaffen: Die Rechte des Einzelnen sind vonseiner Staatsangehörigkeit abhängig, und im gleichen Land kom-men zwei unterschiedliche Rechtssysteme zur Anwendung.« »Die-ses Regime ist das einzige seiner Art auf der ganzen Welt underinnert an frühere abstoßende Regierungssysteme wie das Apart-heidregime Südafrikas.« Israel errichtete zeitgleich mit der Veröf-fentlichung des B’Tselem-Berichts im Mai 2002 vierzig neue Sied-lungen, was die UNO-Menschenrechtskommission als »brandstif-tend und provokativ« verurteilte.41

    Während die jüdischen Siedlungen wachsen, pfercht Israel die inder Westbank lebenden Palästinenser in acht von Stacheldraht um-gebenen Teilgebieten zusammen. Wer sich zwischen den einzelnenGebieten hin- und herbewegen oder Handel treiben möchte,braucht dazu eine Genehmigung (Lastwagen müssen an den Gren-zen »Rücken an Rücken« be- und entladen werden), was einerWirtschaft weiter schwer schadet, in der der Anteil der Arbeitslosenmancherorts bereits über 70 Prozent liegt und die Hälfte der Bevöl-kerung unter der Armutsgrenze von zwei Dollar am Tag lebt. »Wirk-lich erschreckend«, klagte ein Autor in Haaretz, »ist die Gleichgül-tigkeit, mit der die Massenmedien die Geschichte wahrgenommenhaben und wie sie damit umgegangen sind. … Wo bleibt der öffent-liche Aufschrei gegen diesen Versuch, die Gebiete voneinander zutrennen und Inlandspässe durchzusetzen … [und] eine Bevölke-

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  • rung zu demütigen und ihr das Leben schwer zu machen, die unterden gegebenen Umständen kaum in der Lage ist, ihren Lebensun-terhalt zu verdienen oder auch nur ihr Leben zu leben?«42

    Nach sieben Jahren immer wieder unterbrochener Verhandlun-gen und einer Reihe von Übergangsregelungen, welche die Palästi-nenser auch noch der wenigen Brosamen beraubten, die von desHerren Tisch in Oslo für sie gefallen waren43, kam im Juli 2000 inCamp David die Stunde der Wahrheit. Präsident Clinton und Pre-mierminister Barak stellten Arafat vor die Wahl, einer »Bantustan-Regelung« offiziell zuzustimmen oder die alleinige Verantwortungfür das Scheitern des »Friedensprozesses« zu tragen. Aber Arafatlehnte es ab, vom internationalen Konsens zur Lösung des Kon-flikts abzuweichen. Laut Robert Malley, einem wichtigen Mitglieddes amerikanischen Verhandlungsteams in Camp David, bestandArafat weiterhin auf einem »auf den Grenzen vom 4. Juni 1967 be-ruhenden Palästinenserstaat an der Seite Israels«. Gleichzeitig »ak-zeptierte er die Vorstellung einer Annexion von Teilen der Westbankdurch Israel, um Siedlungen unterzubringen, beharrte aber dafürauf einem Landtausch ›gleich großer und gleichwertiger‹ Flächenim Verhältnis von eins zu eins« – also den »geringfügigen« und»beiderseitigen« Grenzanpassungen, die dem ursprünglichenStandpunkt der Vereinigten Staaten zur Resolution 242 entspra-chen. Malleys Ausführungen zu dem palästinensischen Vorschlag inCamp David – ein Angebot, das weithin abgetan und über das nurwenig berichtet wurde – verdienen es, in voller Länge zitiert zuwerden: »… ein israelischer Staat, der etwas von dem 1967 besetz-ten Land mit einer sehr großen Mehrheit seiner Siedler eingliedert;das größte jüdische Jerusalem in der Geschichte der Stadt; die Be-wahrung des (jetzigen) Zahlenverhältnisses zwischen Juden undArabern in Israel; für die Sicherheit garantiert eine unter der Lei-tung der Vereinigten Staaten stehende internationale Präsenz.« Ent-gegen dem von Barak, Clinton und staatstreuen Medien gesponne-nen Mythos erklärte ein Sonderberater des britischen Außenminis-teriums, »Barak bot die äußerlichen Anzeichen einer palästinensi-schen Souveränität an, bei gleichzeitiger Fortsetzung der Unter-drückung der Palästinenser«. Obwohl die Berichte über den Vor-schlag Baraks erheblich voneinander abweichen, sind sich die gut

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  • informierten Beobachter darin einig, dass das bedeutet hätte, dass»das von Israel annektierte Gebiet … tief in den palästinensischenStaat vorgedrungen« (Malley), die Westbank in eine Vielzahl unver-bundener Enklaven zersplittert worden wäre und man einen Land-tausch angeboten hätte, bei dem die Gebiete weder gleich großnoch gleichwertig gewesen wären.44

    Vor diesem Hintergrund ist auch die israelische Reaktion auf densaudischen Friedensplan vom März 2002 zu sehen. Kronprinz Abdul-lah hatte den Plan ausgearbeitet, dem alle einundzwanzig Mitgliederder Arabischen Liga zugestimmt hatten. Die darin enthaltenen Zuge-ständnisse gingen über den internationalen Konsens hinaus. Im Aus-tausch gegen den vollständigen Abzug Israels wurden darin nichtnur die vollständige Anerkennung, sondern »normale Beziehungenzu Israel« angeboten. Zudem wurde nicht auf dem »Recht auf Rück-kehr« für die palästinensischen Flüchtlinge bestanden, sondern statt-dessen lediglich eine »gerechte Lösung« des Flüchtlingsproblems ge-fordert. Ein Kommentator schrieb in der Zeitung Haaretz, der saudi-sche Friedensplan weise »überraschende Ähnlichkeit zu dem Vor-schlag auf, den Barak vor zwei Jahren [in Camp David] gemachthaben will«. Wäre Israel im Gegenzug zu einer Normalisierung derBeziehungen zur arabischen Welt tatsächlich zu einem vollständigenAbzug bereit, hätte der saudische Vorschlag und seine einstimmigeBilligung auf dem Gipfel der Arabischen Liga euphorischen Jubelauslösen müssen. In Wirklichkeit sah es so aus, dass er nach einemkurzen, aus Schweigen und Ausweichen bestehenden Zwischenspielumgehend im Orwellschen Erinnerungsloch verschwand.45 Trotzdembot die falsche Behauptung Baraks – und Clintons –, die Palästinenserhätten in Camp David ein mehr als großzügiges israelisches Angebotausgeschlagen, einen ausreichenden moralischen Deckmantel für dieanschließenden Gräueltaten.

    Aus dem Nazi-Holocaust lernen

    Im September 2000 begann die zweite Intifada der Palästinenser ge-gen die israelische Herrschaft. Bald nach dem Wiederaufflammendes Widerstandes schrieb die Journalistin Amira Hass in der Zeitung

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  • Haaretz, nach den »verzerrten Vorstellungen«, die die Israelis seitOslo entwickelt hatten, »hätten die Palästinenser eine Koexistenzakzeptieren sollen, in der sie den Israelis nicht gleichgestellt gewe-sen wären und als Menschen gegolten hätten, denen viel, sehr vielweniger zusteht als den Juden. Letzten Endes waren die Palästinen-ser jedoch nicht bereit, mit dieser Regelung zu leben. Die neue Inti-fada … ist ein letzter Versuch, den Israelis den Spiegel vorzuhaltenund ihnen zu sagen: ›Seht euch genau an! Seht, wie rassistisch ihrgeworden seid!‹« Nachdem der in Oslo begonnene Versuch, mit Zu-ckerbrot zu locken, gescheitert war, griff Israel nun zur großen Peit-sche. Aber zwei Bedingungen mussten erfüllt sein, bevor Israel seineimmense militärische Überlegenheit ausspielen konnte: »grünesLicht« aus den Vereinigten Staaten und ein ausreichender Vorwand.Bereits im Sommer 2001 hatte die kompetente Jane’s InformationGroup berichtet, Israel habe die Planung einer massiven und blutigenInvasion der besetzten Gebiete abgeschlossen. Aber die VereinigtenStaaten erhoben Einspruch gegen das Vorhaben und Europa machteseine ablehnende Haltung gleichermaßen deutlich. Nach dem11. September zogen die Vereinigten Staaten jedoch am gleichenStrang. Sharons Ziel, die Palästinenser zu vernichten, deckte sich imGrunde mit dem Ziel der amerikanischen Regierung, das grauenhaf-te Attentat auf das World Trade Center zu nutzen, um auch noch denletzten Rest arabischen Widerstands gegen die völlige Vorherrschaftder USA zu brechen. Durch schiere Willenskraft und trotz einer inhöchstem Maße korrupten Führung erwiesen sich die Palästinenserals die widerstandsfähigste und unnachgiebigste Kraft in der arabi-schen Welt. Würde man sie in die Knie zwingen, so wäre das ein ver-nichtender psychologischer Schlag für die gesamte Region.46

    Als die Vereinigten Staaten grünes Licht gegeben hatten, fehlteIsrael nur noch ein Vorwand. Wie nach jedem Nachlassen palästi-nensischer Terroranschläge ging man erwartungsgemäß dazu über,vermehrt führende Palästinenser zu ermorden. »Auch nach der Zer-störung der Häuser in Rafah und Jerusalem verhielten sich die Pa-lästinenser weiter zurückhaltend«, erklärte Shulamit Aloni von derisraelischen Meretz-Partei. »Sharon und sein Verteidigungsministerbefürchteten offenbar, an den Verhandlungstisch zurückkehren zumüssen, und beschlossen, etwas zu unternehmen. Sie ließen Raed

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  • Karmi liquidieren. Sie wussten, dass dies nicht unbeantwortet blei-ben würde und wir mit dem Blut der Bürger dafür bezahlen wür-den.«47 Offensichtlich bemühte sich Israel tatsächlich verzweifeltdarum, eine blutige Reaktion auszulösen. Als die Terroranschlägeder Palästinenser die erwünschte Schwelle überschritten, konnteSharon den Krieg erklären und mit der Vernichtung der im Grundewehrlosen palästinensischen Zivilbevölkerung fortfahren.

    Nur wer bewusst die Augen verschloss, dem konnte entgehen,dass die »Operation Schutzschild«, der israelische Einmarsch in derWestbank im März und April, weitgehend eine Wiederholung derLibanon-Invasion vom Juni 1982 war. Um das palästinensische Zieleines unabhängigen Staates an der Seite Israels – die »Friedensof-fensive« der PLO – zunichte zu machen, plante Israel im September1981 die Invasion des Libanon. Doch dazu waren grünes Licht vonder amerikanischen Reagan-Regierung und ein Vorwand vonnöten.Zu Israels großem Verdruss und trotz mehrfacher Provokationen ge-lang es nicht, einen palästinensischen Angriff an der israelischenNordgrenze herauszufordern. Also verstärkte Israel die Luftangriffeauf den Südlibanon. Nach einem besonders mörderischen Angriff,bei dem zweihundert Zivilisten ums Leben kamen (darunter60 Menschen in einem palästinensischen Kinderkrankenhaus),schlug die PLO schließlich zurück und tötete einen Israeli. Da mannun einen Vorwand hatte und auch die Regierung Reagan grünesLicht gab, marschierte Israel ein. Unter dem immer gleichen Motto,nämlich »den palästinensischen Terror auszurotten«, veranstalteteIsrael ein Massaker unter der wehrlosen Bevölkerung und tötetezwischen Juni und September 1982 etwa 20 000 Palästinenser undLibanesen, fast ausschließlich Zivilisten. Man darf im Vergleich dazuerwähnen, dass sich die offizielle Zahl der Juden, »die ihr Leben fürdie Errichtung und die Sicherheit des jüdischen Staates gegebenhaben« – also die Gesamtzahl aller Juden, die seit dem Beginn derzionistischen Bewegung vor 120 Jahren bis heute (zumeist) inKämpfen zu Kriegszeiten umgekommen oder Terroranschlägenzum Opfer gefallen sind –, im Mai 2002 auf 21 182 belief.48

    Um den palästinensischen Widerstand zu brechen, drängte einranghoher israelischer Offizier die Armee Anfang 2002 dazu, »zuanalysieren und zu verinnerlichen … wie die deutsche Armee im

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  • UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

    Norman Finkelstein

    Der Konflikt zwischen Israel und denPalästinensernMythos und Realität

    Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, ca. 400 Seiten, 14,0 x 22,0 cmISBN: 978-3-7205-2368-4

    Diederichs

    Erscheinungstermin: September 2002

    "Die aufschlussreichste Untersuchung über die Hintergründe des ‚Nahost-Konflikts'." NoamChomsky, der Autor des kontrovers diskutierten Buches "Die Holocaust-Industrie" meldetsich mit provokanten Thesen zum "Nahost-Konflikt" zu Wort. Er bezieht für die Rechte derPalästinenser Stellung und prangert zentrale Aussagen des Zionismus an. Ein Buch vollerpolitischer Brisanz.