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Simone Guth: Zwischen Träumen

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Träume öffnen uns Welten zwischen innerer und äußerer Realität und können damit Brücke zwischen bewusstem und intuitivem Wissen sein. Die junge Frau Isabel geht über diese Brücke und findet Lebensweisheit in ihren Traumbildern. Sie nimmt Vertrauen, Trost, Zuversicht, Mitgefühl und vor allem Lebensmut aus ihnen mit. Simone Guth versteht es, so schwere Themen wie Scheidung, Tod und Abschied leichter erscheinen zu lassen, in dem sie uns in Isabels märchenhafte Kindheits-Träume mitnimmt. Wir tauchen in den Fluss ihrer Erlebenswelten ein und finden zwischen Kindheit und Erwachsenenleben, zwischen Wunsch und Notwendigkeit, zwischen Realität und Vorstellung innere Wahrheiten, die zwischen allen Träumen liegen.

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Simone Guth

Z wischen Träumen

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Leben kann man nur vorwärts,das Leben verstehen nur rückwärts.

Søren Kierkegaard

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A ls Isabel gegen Mittag das Ortsschild ihrer Hei-matstadt passierte, wurde ihr ganz warm ums

Herz. Über ein Jahr lang war sie nicht mehr hier ge-wesen, und es fühlte sich immer wieder unglaublich vertraut an.

Es war wichtig, dass sie gerade jetzt her kam. Wichtig für ihre Mutter. Bei ihrem letzten Anruf hatte Isabel deutlich gespürt, dass Mutter dringend jemanden zum Reden brauchte. Am Telefon hatte sie von ihr erfahren, dass einer der Nachbarn überraschend gestorben war und das nahm sie offensichtlich mehr mit, als sie zuge-ben wollte. Isabel wusste, dass ihre Mutter diesen Mann besonders mochte und den regelmäßigen nachbar-schaftlichen Plausch mit ihm sehr genossen hatte. Der Verlust hatte Isabels Mutter einen ziemlichen Schlag versetzt. Für Isabel selbst war der Tod schon seit langer Zeit nicht mehr bedrohlich, wofür sie sehr dankbar war. Sie lächelte, löste eine Hand vom Lenkrad und befühlte den Kristall, der an einer feingliedrigen, silbernen Kette um ihren Hals hing.

Nach dem Telefonat mit der Mutter hatte Isabel spontan beschlossen, ihr einen Überraschungsbesuch abzustat-ten, das würde ihr gut tun. Die lange Anreise nahm Isa-bel dafür gern in Kauf, denn seit ihrem Umzug und der Geburt ihrer Tochter war sie ohnehin viel zu selten hier. Plötzlich stockte Isabel. Ein alter Mann, der auf dem Gehweg in der Sonne ging, ließ mit seinen

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kurzgeschorenen weißen Haaren eine Erinnerung in ihr aufblitzen, und hätte sie es nicht besser gewusst … Lachend schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Oma und Opa – das Bild ihrer Großeltern wurde in ihr leben-dig und spontan entschied sie sich, kurz beim Friedhof anzuhalten, bevor sie zu ihrer Mutter fuhr.

Auf dem kleinen Parkplatz stellte sie ihren Wagen ab. Im Schatten der alten Bäume ging sie zum Grab und blieb eine Zeit lang andächtig davor stehen. Diese bei-den Menschen hatten ihr viel bedeutet und der Gedanke daran, dass sie nun für immer zusammen waren, tat ihr gut. Sie wünschte, sie könnte noch ein wenig länger an diesem Ort bleiben, der sie innerlich so still werden ließ.

Und noch bevor sie wirklich einen Entschluss gefasst hatte, suchten ihre Augen bereits nach einem Platz, an dem sie sitzen und ein wenig innehalten konnte. . Hinter ihr lag eine Wiese voller Gänseblümchen im Sonnen-schein, und am Rand, genau gegenüber vom Grab der Großeltern, entdeckte sie zwischen den Bäumen eine Bank. Sie wollte sich die Zeit nehmen, sich auf ihre Stimmung einzulassen.

Isabel lehnte sich zurück, schloss ihre Augen und atme-te tief durch. Mit jedem neuen Atemzug fühlte sie, wie die Anspannung der langen Autofahrt von ihr abfiel und sie innerlich ruhiger wurde. Nach und nach kam sie bei sich selbst an. Sie spürte im Halbschatten der Bäume

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S ie stand neben Oma am Herd. Oma war so ge-duldig. Sie hatte ihr hundertmal gezeigt, wie man

Kartoffeln schält und dann kocht, Möhren schnippelt und dazu gibt, damit am Ende Isabels Lieblings-Misch-Masch mit Würstchen dampfend auf dem Tisch stand und allen, die drum herum saßen, schon das Wasser im Mund zusammen lief, Mutter, Vater, Martin, Opa und Oma. Isabel fühlte sich groß, wie eine richtig gute Köchin. Und sie war sehr stolz auf sich. Sogar ihrem Bruder Martin schmeckte es und mit vollem Mund lobte er sie: „So was Leckeres hab ich noch nie gegessen.“

Lachend lief sie durch den Park, an der linken Hand ihren Vater, an der rechten ihre Mutter. Die beiden schwangen sie vor und zurück und vor und zurück. „En-gelchen, Engelchen fliiiiieg!“

Bumm! Isabel wurde starr. Schon am Morgen, wenn sie ihre Träume loslassen musste, verließ sie ihre Lebens-lust und sie mochte nicht mehr aufstehen. Am liebsten wäre sie für immer in ihrem Bett liegen geblieben, denn eigentlich fühlte sie sich viel zu elend, um den Tag zu beginnen.

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I sabel machte einen Spaziergang in den Wald am Rande der Stadt, wo sie früher immer gern mit Opa

und Oma Rehe beobachtet hatte. Einmal hatten sie so-gar an einem sonnigen Tag auf einer Waldlichtung eine Decke ausgebreitet und ein leckeres Picknick gemacht.

Plötzlich stand sie an der Lichtung und bemerkte zu ih-rer Überraschung, dass die Decke immer noch dort lag. Das war so einladend! Sie atmete tief durch, legte sich auf den Rücken, räkelte sich und blinzelte in die Sonne.„Na, meine Kleine“, brummte da eine vertraute Stimme, leise und warm. Isabel hielt die Hand über die Augen, um nicht geblendet zu werden, und erkannte, dass ihr Opa neben der Decke stand. Voller Zärtlichkeit sah er sie an und lächelte. Isabel setzte sich mit einem Ruck auf. „Aber Opa, wie kommst du denn hierher? Ich dach-te…“ „Du dachtest, ich sei tot, nicht wahr?“ Isabel nickte stumm. „Weißt du, Isabel, das bin ich auch. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich tatsächlich weg bin. In deiner Erinnerung lebe ich noch immer und deshalb bin ich jetzt auch hier.“

Isabel schluckte. Opa sah ganz genau so aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Das kurzgeschorene weiße Haar, die neugierigen blauen Augen - eben alles. „Setzt du dich ein bisschen zu mir?“, fragte sie und tippte mit ihrer Handfläche auf ein Stück Decke neben sich. „Aber

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Wir danken der Künstlerin Christa Fellgiebel.

Sie hat uns ihre Gemälde zur Verfügung gestellt, um diese Geschichte zu illustrieren. Ihre Himmel-Bilder lassen der Phantasie Raum und regen persönliche innere Bilder an.

„Der Betrachter kann sich in den Malereien von Christa Fellgiebel zuhause fühlen, angekommen an einem Ort voller Sehnsüchte und Hoffnungen. Dennoch wirken ihre Gemälde von weiten Horizonten, turbulentem Wolkentreiben und sanftem Wind seltsam vertraut. … Weite, die in die Seele zieht.“ (Wiesbadener Kurier, 15.04.2010)

Christa Fellgiebel wurde 1941 in Baden-Württemberg geboren. Nach ihrer Heirat zog sie in ihre Wahlheimat Wiesbaden und studierte dort sechs Jahre an der Wiesbadener Freien Kunstschule und in der Atelier-gemeinschaft am Römerberg. Ihre Arbeiten wurden mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet.

www.christa-fellgiebel.de

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