Fischer Weltgeschichte, Bd.23, Süd- und Mittelamerika II, Von der Unabhängigkeit bis zur Krise der Gegenwart

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    Fischer Weltgeschichte

    Band 23

    Sd- und Mittelamerika IIVon der Unabhngigkeitbis zur Krise der Gegenwart

    Herausgegeben und verfat vonGustavo Beyhaut

    Dieser Band ist der zweite der beiden Bnde ber Sd- und Mittelamerika im Rahmender Fischer Weltgeschichte. Der Autor, Professor an der Universitt Montevideo, istgegenwrtig als Directeur dtudes Associ an der cole Pratique des Hautes tudes inParis ttig. Er schildert die Entwicklung der sd- und mittelamerikanischen Staaten vonihrer Entstehung zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. In Querschnittenwerden die entscheidenden Etappen der Geschichte Lateinamerikas in den letzten 160Jahren vorgefhrt. Der Verfasser bietet dem Leser keine Summe einzelner

    Nationalgeschichten, sondern arbeitet die groen, die lateinamerikanische Staatenweltverbindenden Linien der Politik, der Kultur, der Wirtschaft und des gesellschaftlichenLebens heraus. Von den Unabhngigkeitskriegen unter Simon Bolvar bis zu deninneramerikanischen Problemen der Staats- und Wirtschaftsfhrung in unseren Tagenreicht die Spannweite dieser modernen Geschichtsbetrachtung, die sich zur Erklrungdes historischen Prozesses vor allem sozialgeschichtlicher Methoden und Fragestellungenbedient. Der Band gibt Einblicke in die Entstehungsgeschichte der Krise, in der sich dieLnder Sd- und Mittelamerikas gegenwrtig befinden und von der die USA, dieSowjetunion und Europa gleichermaen mitbetroffen sind.

    Der Band ist in sich abgeschlossen und mit Abbildungen, Kartenskizzen und einem

    Literaturverzeichnis ausgestattet. Ein Personen- und Sachregister erleichtert dem Leserdie rasche Orientierung.Der Verfasser dieses Bandes

    Gustavo Beyhaut,

    geb. 1924 in San Carlos (Uruguay); studierte Rechts- und Geschichtswissenschaft;1947-1949 Gymnasiallehrer in Durazno (Uruguay); 1949-1952 Stipendiat in

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    Frankreich: Studium der franzsischen Quellen fr die vergleichende Geschichtedes zeitgenssischen Lateinamerikas; 1952 Professor fr amerikanischeGeschichte am Instituto de Professores Artigas, spter an der PhilosophischenFakultt der Universitt Montevideo; 1958-1961 Lehr- und Forschungsauftrgean verschiedenen argentinischen Universitten: an der Volkswirtschaftlichen

    Fakultt der Universitt Buenos Aires und an der Philosophischen Fakultt derUniversitt Rosario, sowie Direktor des dortigen Historischen Instituts; seit 1964Directeur dtudes Associ an der cole Pratique des Hautes tudes in Paris.Prof. Beyhaut ist mittlerweile als Professor an der Sorbonne emeritiert. Erverffentlichte 1959 Sociedad y cultura latinoamericana en la realidadinternacional und ist Mitherausgeber des 1961 publizierten Buches lnmigraciny desarrollo en la Argentina. 1964 erschien in Buenos Aires ein Beitrag zu dervom Verfasser bevorzugten Sozialgeschichte unter dem Titel Raicescontemporaneas de America Latina.Einleitung

    Der vorliegende Band soll einen Gesamtberblick ber den tiefen Wandelvermitteln, der sich im Leben Lateinamerikas in den letzten 150 Jahren, also vonder Erringung der Unabhngigkeit bis in unsere Tage, vollzogen hat. Allerdingserweist sich der heutige Stand der historischen Erkenntnis als noch sounzulnglich, da sich diesem Unterfangen ernste Schwierigkeiten in den Wegstellen.

    Die Durchsicht des in den Pariser Archiven ber diesen Zeitabschnittvorhandenen Materials hat wohl letztlich dem Verfasser zu der Auffassungverholfen, da viele Probleme der lateinamerikanischen Geschichte eine

    gemeinsame Wurzel haben und da daher eine vergleichende Untersuchung vonVorteil wre.Eine neuere Geschichte Lateinamerikas darf keinesfalls eine Summe der

    Geschichte der einzelnen Staaten sein. Die Rolle des Staates als solchen war frden Gang der Ereignisse in diesem Kontinent viel weniger bedeutend, als es dieder westeuropischen Staaten in frheren Zeiten war.

    Die europische Expansion und die Eroberung von Kolonien in aller Weltriefen Vernderungen hchst unterschiedlicher Art hervor. Zuweilen setzte einungeheurer Zustrom europischer Siedler in fast unbewohnte Gebiete (wieAustralien und Nordamerika) ein. In einigen Lndern wie Indien und anderenGebieten Asiens dagegen errang eine verschwindend kleine Minderheit vonSiedlern die Herrschaft ber alte Kulturvlker, ohne sich ihnen einzugliedern. Inanderen Fllen wiederum strmte eine betrchtliche Zahl von Kolonisten inbereits dicht besiedelte Gebiete, und es entstand ein Nebeneinander zweierverschiedener, durch eine Mauer von Vorurteilen getrennter Welten. Die Art derKolonisation bestimmte dann spter auch die Weise, in der die verschiedenenGebiete die Fesseln der politischen Abhngigkeit von Europa abwarfen. DieEmanzipation Nordamerikas erscheint eindeutig als ein Willensakt der

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    Kolonisten britischer Herkunft. In Indien dagegen gelangen mit derUnabhngigkeitserklrung die Kolonisierten zur Macht. Im Falle Algeriens setztsich nach langandauerndem Kampf und schlielich errungenem Sieg einekolonisierte Mehrheit endlich gegen eine kmpferische, heftigen Widerstandleistende Minderheit von Siedlern durch. Sdafrika wiederum ist ein Beispiel

    dafr, wie eine Minderheit von Siedlern sich weigert, den Kolonisiertenirgendwelche Rechte einzurumen.

    Wo wre nun Lateinamerika in diesem Bilde einzuordnen? Durch dieConquista wurde eine zahlenmig bedeutende eingeborene Bevlkerung (zuder noch die aus Afrika importierten Sklaven hinzukommen) derKolonialherrschaft unterworfen. Im Unterschied zu anderen Kolonialgebietendrfte aber Lateinamerika der Kontinent sein, auf dem die wenigsten Schrankenzwischen Siedlern und Kolonisierten errichtet wurden, wo sich dieVerschmelzung von Rassen und Kulturen im strksten Ausma vollzog. Die

    Unabhngigkeitsbewegung war vorwiegend eine Sache der Siedler, denn dieLage der Indianer und Neger verschlimmert sich eher noch mit der Erlangungder Unabhngigkeit und whrend des ganzen 19. Jahrhunderts. Ein Wandel derDinge wird erstmals dadurch bedingt, da an vielen militrischen Frontenweitere Kreise der Bevlkerung, und damit zahlreiche Mestizen und Angehrigeder unterworfenen Rassen, zur Hilfeleistung herangezogen werden mssen.Zwar hat es eine Zeit gegeben, in der Lateinamerika, je mehr es danach trachtete,sich zu europisieren, unter dem Komplex seines kulturellen und vlkischenHybridismus litt. Aber die Zeiten ndern sich, und die Entwicklung in anderenWeltgegenden ermutigt heute durchaus dazu, eine Untersuchung der

    lateinamerikanischen Gesellschaft gerade unter dem Blickwinkel derVerschmelzung von Rassen und Kulturen durchzufhren. In diesem Geisteentscheidet sich der Verfasser fr eine historische Darstellung, die vom blichenstark abweichen wird. Es wird sich nicht so sehr um eine globale Darstellungvon geschichtlichen Vorgngen handeln, als vielmehr um eineBestandsaufnahme und jeweilige Analyse von Grundproblemen. Dem Leserwird weniger eine sauber getrennte Schilderung der Verhltnisse in jedemeinzelnen Land geboten; er sieht sich vielmehr in eine etwas vage Welt versetzt,in der ansonsten dem 19. Jahrhundert zugeschriebene Merkmale noch im 20.Jahrhundert Gltigkeit haben, oder in der eine anfnglich fr Brasilienaufgezeigte Entwicklung mglicherweise mit der Geschichte der Ereignisse inKuba oder irgendeinem anderen Land fortgesetzt wird. Es mag sein, da derVerfasser nicht ber alle Daten, die er sich wnschen mchte, verfgt, umfestumrissene Perioden und Typen der geschichtlichen Entwicklungaufzustellen. Eines aber ist sicher: dieses asynchronistische Bild, in dem nationaleGrenzen nicht als gltige Faktoren fr eine Aufgliederung und getrennteBetrachtung tiefgehender historischer Umwlzungen gelten, dieses Bildentspricht wirklichkeitsgetreu dem, was Lateinamerika war und heute ist.

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    Und weil es sich so verhlt, ldt der Verfasser den Leser ein, ihm weiter zufolgen, nachdem er ihn gewissenhaft auf die mglichen berraschungenaufmerksam gemacht hat, die der einzuschlagende Weg bereithlt.

    Einheit und Vielfalt der modernen Geschichte Lateinamerikas

    Eine vllig falsche Vorstellung von Lateinamerika hat weiteste Verbreitunggefunden; sie ist voll von literarischen Ausschmckungen, entspricht nicht denwahren Gegebenheiten und schenkt den regionalen Unterschieden keineAufmerksamkeit. Das bedeutet aber nicht, da nicht zahlreiche gemeinsameFaktoren zu bercksichtigen wren, die ihrerseits Lateinamerika als Ganzes vonanderen Rumen unserer Erde unterscheiden. Zu diesen gemeinsamen Faktorensind etwa die koloniale Herkunft zu zhlen, welche die Institutionen und dieKultur so nachhaltig prgten, und die noch immer bestehende Abhngigkeit von

    den Zentren des Weltgeschehens, auch nach der Erreichung der nationalenSelbstndigkeit. Bestimmte allgemeine Entwicklungslinien und die sieauslsenden Faktoren knnen im Zusammenhang betrachtet werden: es handeltsich jeweils um selbstndig gewordene ehemalige spanische oder portugiesischeKolonien, in deren Wirtschaftsgefge der Grogrundbesitz eine vorherrschendeRolle gespielt hat, wo noch immer traditionsgem billige Arbeitskrfte unterBedingungen beschftigt werden, die der Fronarbeit nahekommen, und wo sich,durch Ansto von auen, eine Tendenz zu exportorientierten Monokulturenherausgebildet hat. Alle diese Faktoren tragen zu einer gewissen Einheitlichkeitund Zusammengehrigkeit bei; eine vergleichende Betrachtung ihrer

    Entwicklung wird also von Vorteil sein.Demgegenber sind manche unterscheidenden Faktoren zu bercksichtigen:es ist nicht belanglos, ob es sich um ehemalige spanische oder portugiesischeKolonien handelt; das indianische Element der Bevlkerung bt andere Einflsseaus als die Afrikaner und ihre Abkmmlinge; die europische Einwanderungkam nicht allen Lndern in gleichem Mae zugute; es gibt Sondermerkmaleregionaler Art in bezug auf die Anbautypen, die Sozialstruktur, etc.

    Um in dieser Richtung, zuverlssiger als bisher, voranzukommen, erscheintdie Aufstellung von Typologien angezeigt, die eine klarere Beurteilung derUnterschiede und hnlichkeiten gestattet. Jacques Lambert1 zum Beispiel hat,um eine Grundlage fr die Untersuchung der politischen Institutionen zuerhalten, eine geeignete Klassifizierung erarbeitet. Er unterteilt dabei dielateinamerikanischen Lnder in drei Hauptgruppen, je nachdem ob es sich beiihnen vorwiegend um eine gut entwickelte nationalstaatliche Struktur, einearchaische Gesellschaftsstruktur in geschlossenen Gemeinschaften oder um einedualistische Sozialstruktur handelt. Klare Merkmale fr eine archaischeGesellschaftsstruktur sind nach Lambert: mehr als 60% Analphabeten,Jahreseinkommen pro Kopf der Bevlkerung von weniger als 150 Dollar,

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    Geburtenraten von mehr als 40 und Beschftigung des berwiegenden Teilsder aktiven Bevlkerung in der Landwirtschaft. Als Merkmale einerhochentwickelten Gesellschaftsstruktur mssen angesehen werden: 75% derBevlkerung oder mehr sind des Lesens und Schreibens kundig, weniger als 35%der aktiven Bevlkerung sind in der Landwirtschaft ttig; die Geburtenraten

    liegen unter 30; in diesen Strukturen hat die Mehrheit der Bevlkerung diealten Formen gesprengt und sich zu einer nationalstaatlichen Gesellschaftzusammengefunden. Zwischen diesen beiden Typen liegen die ungleichmigentwickelten Lnder mit einer dualistischen Gesellschaftsstruktur.

    Zu den Lndern mit hochentwickelter und homogenerer Gesellschaftsstrukturzhlen Argentinien und Uruguay mit 20 bzw. 3 Millionen Einwohnern. In ihnenverschwand die Urbevlkerung mit der fortschreitenden Kolonisierung vllig, esbesteht ein hohes Ma von Verstdterung, ein geringer Prozentsatz der aktivenBevlkerung ist in der Landwirtschaft ttig, und die Einwanderung aus Europawar von betrchtlichem Umfang. Ein hoher Prozentsatz der Bevlkerung kann

    lesen und schreiben (1950: Argentinien 90%; Uruguay 85%). Die Geburtenrateliegt bei 25, und die Lebenserwartung von ungefhr 65 Jahren ist etwa so hochwie in den westeuropischen Lndern. Chile (mehr als 7 Millionen Einwohner)weist hnliche Verhltnisse in bezug auf Alphabetisierung, Verstdterung undAnteil der in der Landwirtschaft ttigen Bevlkerung auf; aber es zeigt strkereAnzeichen fr gesellschaftlichen Dualismus infolge der Ausdehnung desGrogrundbesitzes und des niedrigen Lebensstandards eines Groteils derBevlkerung.

    Zu den Lndern, in denen eine archaische Gesellschaftsstruktur berwiegt,gehrt eine Gruppe kleinerer Lnder im Karibischen Raum (Guatemala, El

    Salvador, Haiti, Dominikanische Republik) und in Sdamerika Peru, Ekuadorund Bolivien. In gewisser Hinsicht knnte ihnen Paraguay zugesellt werden. Essind stark mestizisierte Lnder (nur 10 bis 15% Nachkommen von Europern).Das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei etwa 150 und vielfach sogar weit unter 100Dollar jhrlich (Zahlen von 1952). Die Geburtenrate ist hoch (selten weniger als45) und die Lebenserwartung sehr gering (weniger als 50 Jahre).

    Der Prozentsatz an Analphabeten ist sehr hoch (zwischen 60 und 90 im Jahre1955).

    Paraguay bildet einen Sonderfall, unter anderem, weil noch heute mancheZge des kollektivistischen Jesuitenstaates dort fortleben.

    Diese Gruppe von etwa zehn Lndern hat insgesamt eine Bevlkerung vonnur 36 Millionen.

    Zu der nach der Lambertschen Einteilung dritten Gruppe, denungleichmig entwickelten Lndern mit dualistischer Gesellschaftsstruktur,gehren Brasilien mit mehr als 70 Millionen Einwohnern und Mexiko mit 34Millionen: fast die Hlfte der Bevlkerung des unabhngigen Lateinamerikasund, wenn Kolumbien und Venezuela (14 bzw. 7 1/2 Millionen Einwohner) indiese Gruppe eingeschlossen werden, fast die Hlfte des gesamten Landgebietes.

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    Es handelt sich um eine wenig einheitliche Gruppe. Brasilien und Mexikounterscheiden sich nach geographischer Lage, ethnischer Zusammensetzung,Kulturzugehrigkeit (portugiesisch im ersten, spanisch im zweiten Fall), dochtrotzdem gleichen sie einander, und sie sind die Lnder, deren Entwicklung amschnellsten voranschreitet. Mexiko ist im Verhltnis zu seiner

    Bevlkerungsdichte zu unfruchtbar, hat mehr lndliche Siedlungszentren undunterscheidet sich durch den hohen Prozentsatz eingeborener Bevlkerung vonden anderen Lndern dieser Gruppe.

    In diesen vier Lndern bestehen betont archaische neben hochentwickeltenGesellschaften. Der hochentwickelte Teil der Bevlkerung umfat etwa einDrittel der Gesamtbevlkerung und zeigt eine Tendenz zu stetigem Anwachsen.

    Betrachtet man diese vier Lnder unter dem Gesichtspunkt der Aufteilung aufdie drei Sektoren der Wirtschaftsttigkeit, so lassen sich folgende Merkmalefeststellen: die Hlfte oder ein wenig mehr der aktiven Bevlkerung ist in derLandwirtschaft ttig (Brasilien 58%, Kolumbien 58%, Mexiko 54%); in Venezuela

    liegt der Prozentsatz wesentlich niedriger, nicht aufgrund der industriellenEntwicklung, sondern infolge des Vorhandenseins eines knstlich aufgeblhtentertiren Sektors). In diesen Gesellschaften haben sekundre und tertireWirtschaftsttigkeiten zur Entstehung eines vorwiegend stdtischenMittelstandes gefhrt, in den auch die Arbeiterschaft einzubeziehen wre, da einenormer Unterschied zwischen deren Lebensstandard und dem der lndlichenMassen besteht.

    Das Pro-Kopf-Einkommen beluft sich in dieser Lndergruppe nach Lambert(Zahlen von 195254) auf 220 Dollar in Mexiko, 230 in Brasilien und 250 inKolumbien. Das hhere Einkommen in Venezuela (540 Dollar) ist fr den

    Entwicklungsstand des Landes ohne Aussagewert und ausschlielich dem Erdlzu verdanken.Dieses Einkommen ist sehr ungleichmig zwischen hochentwickelten und

    rckstndigen Gebieten der Lnder und unter den verschiedenen Schichten derBevlkerung verteilt.

    Lambert schliet gewisse atypische Flle aus seiner Einteilung aus: Panama(wegen der Beeinflussung durch den Fremdkrper der Kanalzone), Costa Rica(wegen des hohen Standes seiner politischen und sozialen Entwicklung trotz desVorwiegens seiner Agrarstruktur) und Kuba (wegen der durch die Revolutiongeschaffenen Lage).

    Einen weiteren ernstzunehmenden Versuch, eine typologische Klassifizierungdes lateinamerikanischen Raumes zu erarbeiten, haben Charles Wagley undMarvin Harris2 unternommen. Sie sttzen sich auf das Vorhandensein vonSubkulturen und schreiben:

    Eines der verwirrendsten Probleme bei der Untersuchung der komplexenNational- und Regionalkulturen Lateinamerikas ist die Vielfalt der Normen undInstitutionen, Werte und Verhaltensweisen, die einen kulturellen gemeinsamen

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    Nenner fr ganz Lateinamerika darstellen und die lateinamerikanische Kulturvon den anderen Hauptkulturen der westlichen Welt unterscheiden. Dochbesteht der kulturelle gemeinsame Nenner des modernen Lateinamerika nichteinfach in diesen von der Mehrheit der lateinamerikanischen Bevlkerungbernommenen Institutionen, Werten und Verhaltensnormen. Es mssen auch

    betrchtliche kulturelle Unterschiede innerhalb der komplexen, heterogenenGesellschaften bercksichtigt werden.

    Wagley und Harris unterscheiden neun wichtige Typen von Subkulturen. Esist von Subkulturen die Rede, weil es sich um Varianten innerhalb einerumfassenden kulturellen Tradition und den Lebensstil bedeutender Schichteninnerhalb der lateinamerikanischen Gesellschaft handelt. Als Typen werden siebezeichnet, weil ihre Beschaffenheit je nach der Umwelt, der Geschichte und denLokaltraditionen, die fr die jeweilige Nation oder Region charakteristisch sind,voneinander abweicht. Es handelt sich um folgende Typen:

    1. Eingeborene in Stammesgemeinschaften. Sie umfassen die Kulturen der

    wenigen Urbevlkerungen, die sich bis auf den heutigen Tag erhalten haben.2. Moderne Eingeborene. Sie entstanden aus der Verschmelzung vonInstitutionen und kulturellen Normen der Ureinwohner mit iberischenInstitutionen, vorwiegend aus dem 16. und 18. Jahrhundert. Sie umfassen einenbetrchtlichen Teil der Bevlkerung. Sie sprechen im allgemeinen eineEingeborenensprache, knnen aber auch zweisprachig sein. Bei vielen ist dieGemeinschaft auch heute noch durch den gemeinsamen Landbesitz begrndet.Nominell sind sie katholisch, doch leben in ihren Glaubensvorstellungen nochprkolombianische Zge fort.

    3. Buerliche Gemeinden. Hier handelt es sich um relativ isoliert lebende

    buerliche Bevlkerungen (Mestizen, Cholos, Ladinos, Caboclos, usw.), die ausIndianern, Negern, Weien oder Mischlingen dieser Rassen bestehen knnen.Ihre Lebensweise hnelt der des modernen Eingeborenen; jedoch betrachten siesich im allgemeinen als Brger des Landes, in dem sie wohnen, und dienationalen Normen und Institutionen spielen bei ihnen eine gewichtigere Rolleals bei den Ureinwohnern. Ihre Wirtschaft ist enger mit der regionalen undnationalen Wirtschaft verflochten. Sie benutzen die Landessprache.

    4. Die Ingenio-Pflanzung. Die Europer, die sich im Karibischen Raum undden Ebenen des nrdlichen Sdamerika niederlieen, fanden dort wederEdelmetall noch ein reichliches Angebot an eingeborenen Arbeitskrften vor. Sieorganisierten ein landwirtschaftliches System, das auf dem Masseneinsatzafrikanischer Sklavenarbeiter grndete. So entstand die fr die Neue Welttypische Pflanzung, die Hazienda, Finca, Estancia, Fazenda oder wie immer dieBezeichnung in den verschiedenen Lndern lauten mag. Dielandwirtschaftlichen Betriebe bildeten schlielich echte Gemeinschaften. Zwarunterscheiden sie sich je nach dem geographischen Raum und demAnbauprodukt (Zuckerrohr, Kaffee, Bananen, Baumwolle, Kakao, Hanf usw.),

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    doch weisen sie in sozialer und kultureller Hinsicht auch zahlreichehnlichkeiten auf.

    Am typischsten ist die Zuckerrohrplantage, deren Mittelpunkt das Herrenhauswar, in dem der Besitzer mit seiner zahlreichen Familie und einer groenDienerschaft wohnte. Der Ingenio war eine kleine, primitive Zuckerfabrik, die aus

    einer von Hand oder mit Hilfe von Tieren oder Wasserkraft betriebenen Mhlebestand.

    Zur Zeit der Sklaverei war die Anzahl der auf einer Pflanzung lebendenMenschen nicht sehr gro (200 bis 300). Die Familie des Besitzers bildete eineumfassende patriarchalische Gruppe. Zwischen diesen Aristokraten und denSklaven bestanden festgefgte Beziehungen. Es handelte sich um eine vonNegersklaven und Besitzern europischer Herkunft gebildete Kasten-Gesellschaft.

    Die Abschaffung der Sklaverei, die Schwankungen auf dem Weltmarkt undschlielich die industrielle Zuckergewinnung bewirkten weitreichende

    Vernderungen bei den kolonialen Pflanzungen. Trotzdem sind inLateinamerika noch viele Plantagen anzutreffen, die ungeachtet der inzwischeneingefhrten Lohnarbeit dem herkmmlichen lngenio sehr hneln.

    5. Die Fabrik-Pflanzung. Spter kommt das moderne, industrialisiertelandwirtschaftliche Unternehmen auf, wodurch eine neue Subkultur entsteht. Andie Stelle der traditionellen engen Verbundenheit und gegenseitigenAbhngigkeit zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern tritt auf der Plantagenun eine rein konomische Beziehung zwischen beiden. Die lokale Gruppe wirdimmer grer, je mehr die Zahl der Arbeiter wchst und deren Heterogenitt mitjeder neuen Spezialisierung zunimmt. In steigendem Mae gewinnt die

    Gewerkschaftsbewegung an Einflu unter den Arbeitnehmern, die demstdtischen Industrie proletariat nherstehen als den Arbeitern des traditionellenIngenis.

    6. Kleinstdtische Typen. Seit altersher gibt es in Lateinamerika kleineLandstdte, in denen in regelmigen Abstnden bestimmte Feste gefeiertwerden und die fr das umliegende lndliche Gebiet gleichzeitig religisenMittelpunkt und Verwaltungszentrum bilden. Mit der Verbesserung derTransportmittel haben sich viele dieser Landstdte zu regionalen Marktzentrenentwickelt. In dem Mae wie diese Handelszentren ihren Aktionsradiuserweitern, produziert die lndliche Bevlkerung nicht mehr ausschlielich frden lokalen Verbrauch. Jedoch gibt es auch heute noch unzhlige Landstdtchenin Lateinamerika, die dem unmittelbar angrenzenden lndlichen Bereich alsstdtisches Zentrum dienen und viele der traditionellen Normen bewahrt haben.Solche Ortschaften weisen zwei Kulturen mit einem starken Gegensatz zwischenzwei sozialen Gruppen auf: einerseits Land- und Handarbeiter, andrerseitsGrundbesitzer, Kaufleute und Beamte, die sich nicht in der Landwirtschaftbettigen und die rtliche Oberschicht bilden. Diese letzteren huldigen ingewisser Weise einer archaischen Auffassung von den Lebensidealen und

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    Verhaltensnormen, wie sie in frherer Zeit fr den Grobrger in denWeltstdten und den Landadel auf den Plantagen kennzeichnend war. DerKatholizismus dieser Oberschicht in den Subkulturen der Landstdte istorthodoxer als bei den buerlichen Subkulturen und denen der modernenEingeborenen.

    7. Die grostdtische Oberschicht. In den groen Stdten suchen die Angehrigender grostdtischen Oberschicht so weit wie mglich die traditionellen Normenund Ideale der Grundbesitzeraristokratie zu bewahren. Diese Gruppe beherrschtim allgemeinen die lokale und regionale Politik. Sie setzt sich ausGrundbesitzern zusammen, die nicht auf ihren Besitzungen leben, hherenRegierungsangestellten und Beamten, Fabrikanten oder Besitzern groerHandelshuser, rzten, Rechtsanwlten und Angehrigen anderer Berufe inguten wirtschaftlichen Verhltnissen. Sie verachten die Handarbeit, lieben denLuxus und pflegen enge Kontakte zu Europa und Nordamerika. Bis vor zweiJahrzehnten war vor allem Frankreich ihr Vorbild, und als zweite Sprache

    beherrschten sie zumeist das Franzsische. Heute sind nordamerikanischeLeitbilder und die englische Sprache in den Vordergrund gerckt.8. Die grostdtische Mittelklasse. Sie setzt sich aus den sogenannten

    Stehkragen-Arbeitern und Vertretern anderer Berufe zusammen, die im Diensteder Regierung stehen oder im Handel beschftigt sind. Ihr materieller Konsumund ihr Ansehen erreichen nahezu das Niveau der grostdtischen Oberschicht.Besonders hoch wird es bewertet, da man nicht zur Handarbeit gezwungen ist.

    9. Das stdtische Proletariat. Obwohl es sich hier um den wichtigsten Sektor dergrostdtischen Zentren handelt, ist dieser Typus noch am wenigsten bekannt.Infolge der Zuwanderung aus lndlichen Gebieten kann ein Teil des stdtischen

    Proletariats in Wirklichkeit Trger von buerlichen, kleinstdtischen oderPlantagen-Subkulturen sein.

    Die vorstehend aufgefhrten Anstze zu einer typologischen Klassifizierungsind lediglich ein Beispiel fr die bisherigen Ergebnisse einer intensivenBemhung vieler Fachleute. Manche von ihnen betonen die kulturellenUnterschiede. Andere wiederum sttzen sich auf rein zahlenmige Daten, diein wachsendem Mae in wirtschaftlichen und sozialen Studien zur Verfgunggestellt werden. Natrlich halten alle diese Typologien einer eingehendenAnalyse noch nicht stand. Trotzdem sind diese Anstze wertvoll und stehennicht im Gegensatz zu unserer Auffassung, da nur nach Bercksichtigung derregionalen Besonderheiten ein Vergleich und eine Synthese angestrebt werdendrfen.Kriterien fr die Abgrenzung der vier im vorliegenden Werk behandeltengrossen Zeitabschnitte

    Je mehr jeder Historiker sich bemht, tiefgreifende Umwlzungen zuuntersuchen, desto weniger kann er sich der althergebrachten Forderung nach

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    Angabe genauer Daten beugen. Das gilt besonders fr Lateinamerika, tretendoch hier diese Umwlzungen in manchen Regionen viel klarer zutage als inanderen Gebieten, wo alte Institutionen und Sitten fortleben. Das Vorhandenseinvon Zonen mit langsamer und Zonen mit schneller Entwicklung ist jedoch keinegeographische Konstante, denn es gibt durchaus Beispiele dafr, da infolge

    bestimmter wirtschaftlicher oder politischer Prozesse eine Region ihrenRckstand mit einem Sprung aufgeholt und sich derart entwickelt hat, da dererzielte Fortschritt es nun im Gegenteil erschwert, sie in der folgenden Periodemit ihren Hauptmerkmalen einzuordnen.

    Die oben angefhrten verschiedenen Anstze zu einer typologischenKlassifizierung fr Lateinamerika sollten auf diese Schwierigkeiten hinweisen,bevor wir uns der eigentlichen Untersuchung des historischenEntwicklungsprozesses zuwenden. Um diesen Proze besser darlegen zuknnen, unterteilen wir ihn in vier Hauptperioden.

    Die erste Periode, Die Unabhngigkeit, wird annhernd den Zeitraum von 1810

    bis 1825 umfassen, wenngleich sie eigentlich noch etwas lnger dauert. IhrHauptgegenstand ist selbstverstndlich der Kampf gegen die kolonialeAbhngigkeit bis zum endlich errungenen Sieg.

    Die zweite Periode, Europisierung und von auen beeinflute wirtschaftlicheExpansion, reicht ungefhr bis in die Anfnge des 20. Jahrhunderts. Allerdingsfinden manche in diesem Zeitabschnitt einsetzende Vernderungen erst mit demErsten Weltkrieg, andere sogar noch spter ihren Abschlu; ein weitererschlssiger Hinweis auf die Notwendigkeit, bei der Angabe von Jahreszahlenzur Abgrenzung der einzelnen Abschnitte nicht zu rigoros zu sein. Derwirtschaftliche Wandel setzt in dieser Periode etwa um die Mitte des 19.

    Jahrhunderts ein und vollzieht sich mit besonderem Nachdruck von 1870 an. Dergewaltige Zustrom europischer Einwanderer macht sich vom letzten Drittel desJahrhunderts an bemerkbar. Die politischen Vorgnge decken sich mehr oderweniger mit dem hier abgegrenzten Zeitabschnitt und seinen Wesensmerkmalen.Allerdings schlieen wir bewut die mexikanische Revolution (ab 1910) undRegierungsperioden wie die des Prsidenten Battle in Uruguay (19031907;19111915) und des Prsidenten Irigoyen (1916 bis 1922) in Argentinien aus, weilsie eher fr die Geschehnisse in der nchsten Periode kennzeichnend sind. ImHinblick auf den geographischen Zusammenhang der in diesem Abschnittvornehmlich geschilderten Wandlungsprozesse mu noch einmal daraufhingewiesen werden, da sie in sehr verschiedener Weise alle Regionenbetreffen. Chile zeigte eine frhe staatliche Reife. Die Ebenen am Rio de la Plataund die Kaffeeanbaugebiete in Brasilien erlebten eine unerhrte wirtschaftlicheExpansion und wurden zum Hauptanziehungsgebiet fr Millionen europischerEinwanderer. Die britische Vorherrschaft bestimmte auf dem Wege ber denHandel und Kapitalinvestitionen mageblich den Gang der Entwicklung(allerdings waren bereits nordamerikanische Vorste in den Karibischen Raumzu beobachten).

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    Die dritte Periode, Beginn der Krise, umfat die Zeit bis zum ZweitenWeltkrieg. An ihrem Beginn stehen die mexikanische Revolution und derpolitische Fortschritt in Argentinien und Uruguay. Die bemerkenswertestenUmwlzungen gehen jedoch vom Ersten Weltkrieg und was die strukturellenVernderungen anbetrifft noch eindeutiger von der Weltwirtschaftskrise im

    Jahre 1929 aus. Jene Gesellschaften, die als erste eine gewisse Stabilitt undEntwicklung erreichten (Argentinien, Uruguay), wiesen allerdings nachher nichtauch die hchsten wirtschaftlichen Wachstumsraten auf (wie Mexiko undBrasilien). Zu den grundlegend wichtigen Tatsachen dieser Periode gehren diewachsende Bevormundung durch die USA und die Zunahmenordamerikanischer Investitionen, der berall sprbare Schock der Krise von19291934 und die wachsende Einsicht, da die Europisierung Spurenhinterlassen hat, deren Bereinigung ebenso notwendig wie schwierig war.

    Der vierten und letzten Periode, Die neueste Zeit, ist im Prinzip die detaillierteBetrachtung der Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg vorbehalten. Es braucht

    fast nicht noch einmal besonders erwhnt zu werden, da sich hierbei desfteren Anla fr einen ausgedehnten Rckblick ergeben wird, der unterUmstnden die Geometrie der schematischen Darstellung durchbricht und diesaubere Trennungslinie zwischen den einzelnen Perioden berschreitet.

    Eine moderne Geschichte Lateinamerikas kann es nur geben, wennVergangenheit und Gegenwart real miteinander in Verbindung gesetzt werden,wenn durch Hinweise auf die Entwicklung zur Klrung heutiger Problemebeigetragen wird.

    Eine letzte Bemerkung sei gestattet, auch auf die Gefahr einer Wiederholunghin: nicht nur dieser, sondern jeder Versuch einer Gesamtdarstellung der

    Geschichte Lateinamerikas sieht sich durch die Asynchronitt der Umwlzungengefhrdet. Reisen ist in Lateinamerika unter anderem eine Art und Weise, dieVergangenheit wieder lebendig zu machen. Noch heute kann man whrendeiner solchen Fahrt auf Reste primitiver Vlker stoen, bei denen der Kontaktmit dem weien Mann fast oder gar keine Spuren hinterlassen hat, aufLandstriche, die noch zum Teil von einstigen Merkmalen der kolonialenGesellschaft geprgt sind; in anderen Gegenden glaubt man sich ins 19.Jahrhundert zurckversetzt, und in den modernen Grostdten endlich wirdman mannigfache Erscheinungen beobachten knnen, wie sie die modernsteEntwicklung in den Industriegesellschaften nach sich zieht.

    Erste PeriodeDie Unabhngigkeit

    In mancher Hinsicht sind die Merkmale dieser Periode ber die hier gezogenenzeitlichen Grenzen (18101825) hinaus gltig. In gewisser Weise war dieEmanzipation Lateinamerikas der Hhepunkt einer Entwicklung, die sich seitBeginn des 18. Jahrhunderts gebieterisch abzuzeichnen begann: des beharrlichen

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    britischen Vordringens gegen das spanische und portugiesische Kolonialreich.Die spanischen Reformversuche lsten gewisse Spannungen aus, als sie mit ihrenUmgestaltungsplnen an die Interessen der kreolischen Aristokratie, derenForderungen nach Autonomie und neuen Privilegien stndig grer wurden,rhrten.

    Seinen endgltigen Abschlu fand der Proze der Emanzipation, mu mansagen, nicht im Jahre 1825, denn manche Gebiete schtteln erst spter diekolonialen Bande ab, und auerdem entstehen auch nach dieser Zeit noch neueStaaten dadurch, da andere grere Staatsgebilde auseinanderfallen. Unterdiesem Blickwinkel mte das Jahr 1898 (Unabhngigkeit Kubas) bzw. 1903(Lostrennung Panamas von Kolumbien) als abschlieendes Datum genanntwerden.

    1. Die Unabhngigkeitskriege

    Die Ursachen der Unabhngigkeitsbewegung lassen sich kaum ergrnden, wennman lediglich die kurze Spanne der Unabhngigkeitskriege und die Jahreunmittelbar vorher untersucht. Eine vllige Klrung kann nur erzielt werden,wenn man sie im Zusammenhang mit einem greren, tiefgreifendenUmwandlungsproze sieht, der bereits lange zuvor begann und weit ber dieZeit der bewaffneten Auseinandersetzungen hinausgreifen sollte. Da dieKenntnis dieses Prozesses grundstzlich notwendig ist, um den Niedergang deriberischen Kolonialherrschaft in Lateinamerika verstehen zu knnen, sollen hiereinige seiner wesentlichen Faktoren festgehalten werden:

    1. Die Festigung der britischen Interessen in bersee, gesttzt auf dieNavigationsakte und eine kluge, mit der wirtschaftlichen Entwicklung Englandsin Einklang stehende Politik. Die hohen Aktivsalden der Handelsbilanz, diegleichermaen aus dem legalen wie aus dem Schmuggelhandel herrhrten,brachten Grobritannien in den Besitz eines groen Teils der in den spanischenund portugiesischen Kolonien in Amerika gefrderten Edelmetalle. Das aberbefriedigte noch keineswegs die wachsenden britischen Gelste, die sichauerdem durch reformfreudige Minister der iberischen Halbinsel und derenVersuche, diesen Stand der Dinge zu ndern, bedroht sahen.

    2. Die tiefgreifenden Vernderungen innerhalb der europischen Gesellschaftdurch den Aufstieg des Brgertums und die Entwicklung einer regenUnternehmerttigkeit und eines starken Wettbewerbs innerhalb der in vollerExpansion befindlichen kapitalistischen Wirtschaften. Dort nahmen groe,besonders auf den berseehandel ausgerichtete Gesellschaften ihre Ttigkeit auf.Die Produktion wurde organisiert und so der Boden fr die Errungenschaftender Technik bereitet.

    3. In den von diesem Entwicklungsproze nicht unmittelbar berhrtenperipheren Gebieten war man zwar nicht voll und ganz an dieser

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    Unternehmerttigkeit beteiligt, welche die Produktion mechanisierte undorganisierte, teilte aber zumindest das Streben nach Reichtum und hatte eineklare Vorstellung von den Genumglichkeiten, die dieser gewhrt: diekreolischen Oberschichten hatten ihr Vermgen stndig vergrert undverlangten noch mehr, als das Mutterland ihnen zuzugestehen gewillt war.

    4. Schlielich sind die groen kulturellen Wandlungen im Gefolge derVerbreitung des Gedankengutes der Aufklrung zu nennen. Ihr militantesterAusdruck in Lateinamerika sollten Logen und Geheimgesellschaften werden, dieimmer strkere Verbreitung fanden, je mehr sich die Lateinamerikaner durchausgedehnte Reisen und Lektre vom Verfall gewisser Institutionen berzeugenkonnten, die jetzt von einem neuen Wertsystem in Frage gestellt wurden.

    Die Lage in den spanischen Kolonien

    Immer wieder erhoben sich in Spanien Stimmen gegen die Ursachen seinesNiedergangs; sie wiesen unter dem Eindruck der in Europa weit verbreitetenNeuerungsbestrebungen auf die Fehler in der spanischen Wirtschaftspolitik, dieVernachlssigung der Produktion, die Zunahme des Migganges und Mngelim Handel mit den Kolonien hin.

    Mit dem Beginn der Bourbonenherrschaft in Spanien, insbesondere aberwhrend der Regierung Karls III. (175988) kam es zu staatlichen Reformen, dadieser Herrscher sich mit fhigen Mitarbeitern umgab und eine ganze Reihe vonNeuerungen einfhrte: technische Ausbildung, Verfolgung arbeitsscheuerElemente, Frderung des Handwerks und der Landwirtschaft. Die spanischen

    Reformen gingen jedoch die Probleme des Knigreichs allzu legalistisch undoberflchlich an, als da sie einen wirklich durchschlagenden Erfolg httenerzielen knnen. Zudem vergrerten diese Reformen die Unzufriedenheit derkreolischen Aristokratien, denn sie zielten auf eine bessere und strafferezentralistische Verwaltung ab und liefen somit den Autonomiebestrebungendieser Kreise zuwider, die sich, ohne da diesbezgliche gesetzlicheVerfgungen bestanden htten, von allen hheren mtern ausgeschlossen sahen.

    In seiner Rede ber die Volksbildung des Handwerkerstandes und ihreFrderung vertrat Campomanes, Minister Karls III., die Ansicht, die beste Artund Weise, den Schmuggelhandel zu bekmpfen, sei es, den Anreiz durch diehohen Gewinne zu beseitigen, indem man dem legalen Handel Zugestndnissemache und ihn besser ausbaue. An dieser Stelle knnen nicht alleErleichterungen aufgezhlt werden, die dem Handel mit den Kolonien nach undnach gewhrt wurden; es gengt, darauf hinzuweisen, da sie nicht ausreichten,die Unzufriedenheit in den Kolonien zu beseitigen. Die vom Mutterlandausgehenden Reformen liefen auerdem manchen lokalen Interessen zuwiderund steigerten so nur noch den Wunsch, die Zollschranken zwischen denKolonien und der brigen Welt endgltig niederzureien.

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    Welch kurzsichtige Vorstellungen ber die notwendigen und ntzlichenReformmanahmen herrschten, zeigt ein etwas naiver kniglicher Erla Karls III.aus dem Jahre 1776, der die Geistlichkeit aufrief, die weitverbreitete Ansicht zubekmpfen, da der Schmuggelhandel zwar ein Vergehen, aber keine Sndewre. ...Seine Majestt hat beschlossen, da ich in Seinem kniglichen Namen

    Euren christlichen Eifer anrufe und Euch ermahne, Ihr selbst und Eure Vikare,Pfarrer und Prediger mchtet Euch bemhen, dem unwissenden Volkdarzulegen, wie falsch und verwerflich diese Auffassung ist, indem Ihr allenGlubigen vor Augen stellt, welchen Schdigungen und ewiger Verdammnis sieihre Seele aussetzen ... Ein solches Verfahren war von vornherein zum Scheiternverurteilt, denn der weiten Verbreitung des Schleichhandels konnte nicht mitdiesen Mitteln entgegengearbeitet werden, dazu bedurfte es radikaler Lsungen.Es gab mannigfache Anzeichen fr die zunehmende Brchigkeit derKolonialherrschaft. Das Ringen der kreolischen Oberschichten um die Machtuerte sich in vielfltigem Widerstand gegen administrative Manahmen und

    in hartnckigem Streben nach Selbstverwaltung. Die lstigen Beschrnkungendurch das Handelsmonopol und der wachsende Hang der Kreolen zurPrachtentfaltung bewirkten eine Steigerung des Schmuggelhandels.Studienzirkel und Geheimgesellschaften wurden gegrndet, in denen man,beeinflut durch die Lektre von Werken der Aufklrung, Plne fr eineLoslsung vom Mutterland schmiedete. Diesem ideologischen Reifungsprozestand jedoch noch keinerlei Wandel der realen Gegebenheiten zur Seite, undauch eine gnstige internationale Konstellation ergab sich erst im Jahre 1808, alsder spanische Thron vakant wurde. Doch drfen die zahlreichen Ereignisse nichtauer acht gelassen werden, die den schlielichen Bruch vorbereiten:

    Bewegungen wie der Aufstand in Coro, Verschwrungen wie die des Nariound der zunehmende britische Druck gegen das spanische Handelsmonopol.Dieser erreichte seinen Hhepunkt im Jahre 1806, als Francisco Miranda (einVenezolaner, der im spanischen Heer gedient, am NordamerikanischenUnabhngigkeitskrieg und, als Divisionsgeneral, whrend der FranzsischenRevolution an den Kriegen in Europa teilgenommen hatte) an der KaribischenKste und der englische Admiral Popham am La-Plata-Flu landeten. Beidehatten zuvor auf englischem Boden Verbindung miteinander aufgenommen.

    Miranda suchte zwar Untersttzung bei England, verfolgte aber das Zielvlliger Unabhngigkeit, und diese seine Plne fanden damals noch keinenAnklang auf amerikanischem Boden. Popham leitete, anfangs ohneErmchtigung durch die britische Regierung, einen offenen Eroberungszug ein,dem spter ein zweiter, offizieller Versuch folgte. Er hatte auerdem geplant,einen Teil seiner Truppen in Chile an Land zu setzen, doch dies alles scheiterteam lokalen Widerstand und den Versorgungsschwierigkeiten.Die Ursprnge der militrischen Auseinandersetzung

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    Paradoxerweise sollten England whrend der ganzen ersten Phase derUnabhngigkeitskmpfe in den spanischen Kolonien (bis 1814) durch die Allianzmit Spanien, das sich gegen Napoleon erhoben hatte, die Hnde gebunden sein.Der franzsische Kaiser war Ende des Jahres 1807 mit seinen Truppen in dieIberische Halbinsel eingefallen und hatte dann unter Druck von der spanischen

    Monarchie die Verzichterklrung von Bayonne erreicht und Joseph Bonapartezum Knig von Spanien proklamiert. Zur Verteidigung des angestammtenKnigshauses erhob sich das spanische Volk, und es kam zur Bildungfreiheitlicher Juntas. Diese widersetzten sich mit Waffengewalt der franzsischenFremdherrschaft.

    Anfnglich fhrte diese Lage auch in Hispanoamerika zur Einsetzungspanientreuer Juntas, die sich um engen Kontakt miteinander und dieKoordination aller Anstrengungen bemhten. Aufgrund lokaler Gegebenheitenschlssen sich die autonomistischen Kreolen und die treuesten Anhnger desalten Regimes in zwei Parteien zusammen. Inzwischen wurde aus dem

    Vorgeplnkel eine kriegerische Auseinandersetzung. Der militrische Kampf hatausschlaggebend zur Radikalisierung der Geschehnisse beigetragen. Denn dieUnabhngigkeit ist nicht das Resultat einer Bewegung, die mit einemfestumrissenen Programm und einer klaren ideologischen Zielsetzungaufgetreten wre, sondern eine Antwort, die erst im Lauf der Ereignisseformuliert wird. Daher war der Einfall franzsischer Truppen in die IberischeHalbinsel letztlich die Ursache fr die Kmpfe, die zur Unabhngigkeit fuhren,und dies aus zwei Grnden: in erster Linie weil die Ereignisse in SpanienVorbild und Ansto fr eine liberale Junta-Bewegung in Amerika wurden, undauerdem, weil die militrische Ausschaltung Spaniens durch die Franzosen die

    Entsendung von Truppen nach Amerika vorbergehend verhinderte.Man mu sich fragen, warum der Beginn der spanisch-amerikanischenRevolution im Jahre 1810 angesetzt wird, obgleich die ersten Juntas sich bereits1808 bildeten. Die Erklrung hierfr ist darin zu finden, da trotz aller Agitationund einiger vereinzelter Flle die Entstehung der Juntas im Jahre 1808 ein strengkontrollierter Vorgang ist. Generalkapitn Casas, der versuchte, eine Junta inCaracas zu grnden, die auf Initiative des Vizeknigs Amat in Bogot gebildeteJunta, die Junta in Montevideo, die gegen den Vizeknig Liniers ins Lebengerufen wurde, weil dieser angeblich gemeinsame Sache mit den Franzosenmachte, sie alle bemhten sich stets um eine letzte Entscheidung desMutterlandes, mit der das eigene Vorgehen autorisiert wurde, und fast immergeschah dies auch. Darin liegt ein offensichtlicher Unterschied zu denEreignissen des Jahres 1810, da zu diesem Zeitpunkt in Spanien keineInstitutionen mehr bestanden, auf deren Zustimmung irgend jemand noch Wertgelegt htte: die Truppen waren geschlagen, und von den Juntas war dieRegierungsgewalt durch eine recht anfechtbare Prozedur an einenRegentschaftsrat bergegangen, der es nur dem Schutz der britischen Flotteverdankte, da er in seinem Zufluchtsort, der Insel Len bei Cdiz,

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    weiterbestehen konnte. Zu diesem Zeitpunkt konnte also nicht mit der Ankunftspanischer Truppen in Amerika gerechnet werden, und berdies breitete sich inden Kolonien die berzeugung aus, da im Mutterland im Augenblick keineInstanz mit letzter Entscheidungsgewalt mehr vorhanden war, an die man sichwegen der Sanktionierung auf amerikanischem Boden getroffener Manahmen

    htte wenden knnen.Von diesem Zeitpunkt an wurden die amerikanischen Juntas, deren wichtigste

    die von Quito, Buenos Aires, Bogot und Santiago waren, zu Sammelbeckeneindeutiger Autonomiebewegungen, die sich schlielich an einer militrischenAuseinandersetzung beteiligten. Diese Juntas, von denen spter der Ansto zurvlligen Lostrennung vom Mutterland ausgehen sollte, drfen nicht mitanderen, von Anfang an radikaleren Bewegungen verwechselt werden, wie sie inMexiko und Caracas um sich griffen, aber dann erstickt und niedergeschlagenwurden.Zeitlicher Ablauf des Krieges

    Von 1810 bis zur endgltigen Niederlage der spanischen Truppen in der Schlachtbei Ayacucho (1824) lassen sich mehrere Phasen der Auseinandersetzungunterscheiden. Wir wollen sie auf den drei Hauptschaupltzen desrevolutionren Geschehens, in Mexiko, dem Karibischen Raum und am Rio de laPlata, einzeln verfolgen.

    In Mexiko war es ein gebildeter, im Lande selbst geborener Priester namensHidalgo, der im Grito de Dolores (1810) zum bewaffneten Aufstand gegen dieSpanier aufrief. Er erklrte die Sklaverei fr abgeschafft und versprach denIndianern die Rckgabe ihrer Lndereien. Bald stand er an der Spitze von mehr

    als achtzigtausend Mann und nahm die Stadt Guanajuato ein. Der Mangel anWaffen, die unzulngliche militrische Ausbildung seiner Truppen, dasMitrauen der Grundbesitzeraristokratie, die erleben mute, da die Indianer frsoziale Ziele kmpften, dies alles trug zu seiner Niederlage bei. Hidalgo wurdemit seinen engsten Mitstreitern im Juli 1811 hingerichtet.

    Ein anderer Priester namens Morelos, nicht so gebildet, aber mit greremstrategischen Geschick begabt, entfachte noch im gleichen Jahr an einer breitenmilitrischen Front den Aufstand von neuem. Es gelang ihm, eine regulreVerwaltung aufzubauen, und im Jahre 1813 rief er die Unabhngigkeit Mexikosaus. Vier Jahre lang war er der Anfhrer der Revolution, die weiterhinindianerfreundlich und radikal blieb. Er verkndete die Abschaffung derSklaverei und die Gleichheit aller Rassen und lie eine nie in Kraft getretene Verfassung ausarbeiten, in der als Staatsform die Republik eingefhrt wurde.Von Iturbide, einem Heerfhrer der knigstreuen Truppen, geschlagen, wurdeMorelos gefangengenommen und im Jahre 1815 erschossen. Es blieb nur nocheine einzige Widerstandsgruppe unter dem Kommando von MorelosStellvertreter Guerrero brig. Im Jahre 1810 bildete sich auch in Caracas eineJunta. Kurz darauf stellte sich, nach seiner Rckkehr aus England, Francisco

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    Miranda an die Spitze der Rebellen und trug mit zur Ausrufung derUnabhngigkeit im folgenden Jahre bei. Aber die Eintracht unter denvenezolanischen Rebellen und ihr militrischer Erfolg waren nicht von langerDauer. Sie verloren den grten Teil ihrer Ausrstung bei der Einnahme vonPuerto Cabello durch die Royalisten, und die Einigkeit zerbrach an einer Reihe

    von Zwistigkeiten und Verrtereien, die in der Auslieferung Mirandas an dieSpanier gipfelten. Miranda starb vier Jahre spter im Gefngnis.

    Von diesem Zeitpunkt an wurde Simn Bolvar zum Anfhrer derUnabhngigkeitsbestrebungen im nrdlichen Sdamerika. Nach einer Reiheanfnglich gescheiterter Versuche und langwierigen Kmpfen sollte erschlielich den Sieg erringen. Bolvar war es gelungen, einen groen Teil derkriegerischen Llanero-Milizen, die zuvor auf Seiten der Knigstreuen gekmpfthatten, fr sich zu gewinnen; er erhielt wirtschaftliche Hilfe und Kriegsschiffevon Grobritannien; britische und irische Soldaten, Veteranen aus den Kriegengegen Napoleon, kmpften in seiner Armee; er fhrte einen erbarmungslosen

    Krieg auf Leben und Tod und bewies eine auergewhnliche Geschicklichkeitin der beweglichen Kriegsfhrung, wie beispielsweise bei der berquerung derAnden (von den weiten Ebenen des Orinoco bis in das Gebiet Neu- Granadas,des heutigen Kolumbien). Bei aller Khnheit und Selbstgeflligkeit gelang esBolvar, die unterschiedlichen Rebellengruppen an sich zu binden. Als Freundhochfliegender Plne entwarf er Verfassungen und plante rastlos neue Feldzge.Aber seinen Erfolg verdankte er in nicht geringem Mae der Hilfe Englands unddem Umstand, da Morillo, Kommandant der knigstreuen Truppen inVenezuela, infolge des liberalen Aufstandes unter Riego in Spanien (1820) keinenNachschub erhielt und sich wenig spter gezwungen sah, in seine Heimat

    zurckzukehren. Damit wird fr Bolvar der Weg zum Angriff auf Peru, dieletzte knigstreue Bastion, frei. Ebenfalls im Jahre 1810 kam es zum Aufstand amRio de la Plata. Am 25. Mai brach die Rebellion in Buenos Aires aus, breitete sichber das ganze Vizeknigreich aus, fhrte zur Abspaltung Paraguays undmndete in den Kampf der Provinzen gegen das Vormachtstreben von BuenosAires ein. Unbeteiligt an diesen inneren Zwistigkeiten, plante General Jos deSan Martn die berquerung der Anden, um Chile zu befreien und die Spanierdann in Peru anzugreifen. Nach sorgfltiger Vorbereitung berquerte er Endedes Jahres 1816 die Kordilleren mit einem relativ starken und wohlausgerstetenHeer und befreite Chile in den Jahren 18171818. Dank der Hilfe LordCochranes, eines englischen Seeoffiziers und Abenteurers, konnte er dann seineSoldaten in Chile einschiffen und an der peruanischen Kste wieder an Landsetzen, worauf der spanische Vizeknig Lima verlie und Zuflucht imGebirgsland suchte (1821). Im Juli des folgenden Jahres fand die berhmteBegegnung zwischen San Martin und Bolvar in Guayaquil statt. Das Ergebnisdieser Unterredung war San Martins Entschlu, sich zurckzuziehen und dasFeld dem Libertador, dem Befreier, zu berlassen, der von Norden gekommenwar und dem offensichtlich mehr daran lag, derjenige zu sein, welcher der

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    spanischen Herrschaft in Sdamerika den Todessto versetzen wrde. So solltees dann tatschlich kommen: Antonio Jos de Sucre, ein Unterfeldherr Bolvars,gewann bei Ayacucho die letzte groe Schlacht gegen die spanischen Truppen(1824).

    Nach der endgltigen Niederlage Napoleons im Jahre 1815 bekam England

    freie Hand zur nachdrcklichen Untersttzung der Rebellen. Andererseits hattedie spanische Amerika-Politik seit dem liberalen Aufstand unter Riego anSicherheit und Ansehen verloren. Eine seiner unerwarteten Folgeerscheinungenwar die Beschleunigung der Emanzipation Mexikos, die das Ergebnisgemeinsamer Anstrengungen des hohen Klerus und der grundbesitzendenAristokratie war. General Iturbide, ein ehemaliger Royalist, hatte Verbindungenzu dem Rebellenfhrer Guerrero aufgenommen. Die Verhandlungen zeitigtenden Iguala- Plan und die Ausrufung der Unabhngigkeit (1821). Die allgemeinenBestimmungen dieses Plans wurden unter der Bezeichnung Die drei Garantienbekannt: Mexiko sollte ein unabhngiges, von Ferdinand VII. oder einem

    Mitglied eines der europischen Herrscherhuser regiertes Knigreich werden;einstweilen sollte eine Junta die Regierungsgewalt ausben und einenverfassunggebenden Kongre einberufen; die katholische Religion sollteStaatsreligion bleiben und die Kirche alle ihre Privilegien behalten; alleMexikaner sollten gleich sein, und das Privateigentum sollte gebhrendgeschtzt werden.

    Royalisten und Rebellen einigten sich nach und nach ber den Iguala-Plan. Diespanischen Cortes weigerten sich zwar, die vollzogenen Tatsachenanzuerkennen, doch war es bereits zu spt, sie noch zu ndern.

    Mexiko hatte zu Zeiten Hidalgos und Morelos den Kampf unter sozialem

    Vorzeichen und mit aktiver Beteiligung der kolonisierten Bevlkerungaufgenommen, doch blieben nach Erreichung der Unabhngigkeit allePrivilegien der Kolonisten vollauf erhalten.

    Die Verwirklichung der Drei Garantien des Iguala-Plans warf eine Unzahlvon Problemen auf. Ferdinand VII. weigerte sich, die Unabhngigkeitanzuerkennen, und im Jahre 1829 ist sogar ein Landungsversuch spanischerTruppen zu verzeichnen (erst 1836 hat Spanien die junge Republik anerkannt).

    Die verkndete Gleichheit der Rassen war vllig illusorisch. Die Macht war indie Hnde einer Koalition von Grogrundbesitzern aus Zentralmexiko, derhohen Geistlichkeit und gewissen Elementen des stdtischen Brgertumsbergegangen, die ausreichende Untersttzung beim Militr gefunden hatte. DieEingeborenen zogen keinerlei Nutzen aus dem Wandel der Lage. Zu den derKirche garantierten Vorrechten gehrte auch die Steuerfreiheit, was dieStaatseinnahmen verminderte. Das Heer weigerte sich, eine Herabsetzung derGehlter und Truppenstrken hinzunehmen. So ergab sich ein chronisches,willkrlich manipuliertes Defizit, es kam zu stndigen Interventionen desMilitrs und zahlreichen, durch die unzulnglichen Verkehrsverbindungenbegnstigten, lokalen Aufstnden. Mit Agustn de Iturbide und seinem Versuch,

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    ein Kaiserreich zu begrnden, bernahm zum ersten Mal in Lateinamerika einehrgeiziger General die Macht. Sein baldiger Sturz leitete eine langjhrigePeriode vlliger Anarchie ein. Ihren vorlufigen Abschlu fand sie mit derMachtbernahme (1833) durch einen anderen, republikanisch gesinnten Generalnamens Santa Anna, der es besser verstand, sich an der Macht zu halten.

    Soziologische Aspekte des Krieges

    Im Verlaufe der revolutionren Ereignisse war das Scheitern sowohl allzuradikaler als auch solcher Bewegungen zu beobachten, die von sehr festumrissenen ideologischen Vorstellungen ausgegangen waren. Allein diehartnckige militrische Auseinandersetzung und die damit verbundeneEntstehung verschiedener Parteien ermglichte den Fortgang der Revolutionund die allmhliche Herausbildung festumrissener Interessen und Tendenzen.Der Kriegszustand lste zudem eine tiefe geistige Erschtterung und einenharten Wirtschaftskampf aus, was wiederum die Entwicklung eines

    Solidarittsgefhls einzelner Gruppen und die Koordinierung gemeinsamerAnstrengungen begnstigte. Wir werden sehen, wo und wie diese Tatsachen inErscheinung traten.

    In erster Linie ist die Rolle der Stdte und der lndlichen Gebiete in diesemKrieg zu untersuchen. In den an der Aufhebung des spanischenHandelsmonopols interessierten Stdten lockerten sich die Bande zumMutterland und machten einer Art Tendenz zur gemigten Revolution Platz: imInteresse des Handels war vor allem die ffnung der Hfen erforderlich, anandere Weiterungen und grere Vernderungen dachte man nicht. Die Stdte,die in der kolonialen Hierarchie eine Rolle von Bedeutung gespielt hatten,

    hofften, diese beibehalten und weiter festigen zu knnen. Die dort oder auf ihrenBesitzungen lebenden Grundeigentmer hatten keinerlei Interesse anirgendwelchen Strukturwandlungen, die sie ihrer Arbeitskrfte berauben oderihre Privilegien beeintrchtigen konnten. Es waren besonders fr den Kleinkrieggeeignete lndliche Gebiete. Die vorwiegend von Indianern bevlkertenHochebenen (man denke an die erste mexikanische Rebellion und dengescheiterten Aufstand unter Pumacahua 1814/15 in Cuzco und Arequipa)erwiesen sich als gnstiger Boden fr eine soziale Auseinandersetzung, weil dortdie Spannungen am strksten waren und das Terrain sich besonders fr denEinsatz schlecht bewaffneter Massen eignete; doch waren diese sozialenRevolutionen von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil sie an denGrundpfeilern des herrschenden Systems rttelten. Dagegen wurden die weitenViehzchterebenen wichtige Brennpunkte fr die Fortfhrung der Kmpfe. Dorthatte die Mestizisierung gnstige Bedingungen gefunden, die sozialenSpannungen waren nicht so gro, und die besten Hilfsquellen fr den Kampfstanden zur Verfgung: Pferde zur Ermglichung von Truppenbewegungen undzur Durchfhrung der Schlachten, Viehbestnde (die in groem Umfang zurSicherstellung der Verpflegung von den Truppen mitgefhrt werden), Reiter

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    (Gauchos, Llaneros), die in der Handhabung von Waffen erfahren waren undauergewhnlichen Mut und Entschlossenheit besaen. Messer und anderelandwirtschaftliche Gerte wurden zu Lanzen umgeschmiedet, gefhrlicheWaffen, wenn man einerseits die Geschicklichkeit der Reiter und andererseits dieumstndliche Handhabung und geringe Reichweite der Feuerwaffen jener Zeit

    bedenkt. Eine derartige Miliz bedurfte keines greren militrischen Rckhaltes,sie war beweglich und konnte in krzester Zeit weite Strecken zurcklegen. Zuihr gehrten die Llanero-Truppen, mit deren Hilfe Bolvar den Kampf zu seinenGunsten entschied, und die Gaucho- Reitertrupps am Rio de la Plata: zweiKernkrfte der sogenannten unorganischen Demokratie, die fr die Erringungdes Endsieges von so ausschlaggebender Bedeutung waren.

    In der Revolution machten sich zwei Arten des Radikalismus bemerkbar: einerintellektueller Herkunft und der andere, der sich am Geschehen selbstentzndete. Die erste Spielart war von der Franzsischen Republik beeinflut,und manche ihrer Vertreter waren ausgesprochene Befrworter des Terrors; so

    etwa Mariano Moreno in Buenos Aires, dessen Operationsplan in gewissenGrundzgen einen offensichtlichen jakobinischen Einflu verrt. Die zweiteSpielart des Radikalismus war das Ergebnis der Kmpfe der Volksmasse undwurde von denen inspiriert, welche die Revolution weiter tragen wollten, als esden Wnschen der Handelsherren und Grogrundbesitzer entsprach. Sie wareinzig und allein eine Ausgeburt des Kampfes selbst, denn nach und nach hattensich auch andere Schichten der Bevlkerung an ihm beteiligt, um ihre eigenenInteressen zu verfolgen. Zeitweise stand dieser Radikalismus unter dem Zeichender Versprechungen, die man den unterworfenen Rassen machte, besondersdann, wenn man ihre aktive Teilnahme an den Kriegshandlungen wnschte,

    oder er kam bei der Verteilung der Kriegsbeute und der Konzession andererVorteile zum Ausbruch, selbst wenn dies zur Verstimmung unter denmchtigeren Schichten der Bevlkerung fhrte. Die radikalsten Manahmendieser Art wurden zu Zeiten Hidalgos und Morelos in Mexiko durchgefhrt,und eben deshalb scheiterte dort die Revolution. In anderen Fllen uerte sichdiese Tendenz zur Radikalisierung in der Auferlegung von Zwangsanleihen,Beschlagnahmung von Viehbestnden und Landaufteilungen (als Beispiel sei diesogenannte Agrarreform Bolvars angefhrt, die den Soldaten zugute kommensollte, tatschlich aber nur von den hheren Offizieren ausgenutzt wurde; oderdie noch radikalere Verordnung zur Frderung des flachen Landes, die imJahre 1815 von dem uruguayischen General Jos Artigas erlassen wurde).

    Es ist noch nicht gengend hervorgehoben worden, welche Bedeutung derKriegsmarine fr den Verlauf der Revolution zukam. Zu Beginn derAuseinandersetzungen fanden die Revolutionre keine ausreichendeUntersttzung von Seiten befreundeter Seestreitkrfte: England war noch mitSpanien gegen Napoleon Bonaparte verbndet, die Vereinigten Staaten wareneinerseits in einen Krieg gegen England verwickelt (18121814) und andrerseitsnoch zu sehr daran interessiert, Spanien nicht als Kufer fr nordamerikanische

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    Erzeugnisse zu verlieren. In dieser Periode beherrschte die spanische Flotte dasFeld. Nach und nach boten jedoch einzelne nordamerikanische und englischeSeeoffiziere ihre Dienste an. Lord Cochrane griff in Venezuela, dann in Chile undPeru, spter in Brasilien ein. Zahlreiche Spuren des britischen Einflusses findensich noch heute in der chilenischen, argentinischen und brasilianischen

    Kriegsmarine.Ein weiterer interessanter Punkt ist die Entwicklung bei den Landstreitkrften.

    Militrische und politische Bettigung gewannen nun Anziehungskraft, bot sichdoch hier die Aussicht auf eine echte, ehrenvolle Laufbahn, die ber alle Klassen-und Kastenvorurteile hinweg einen sozialen Aufstieg gestattete. Obwohl dieTendenzen zur Radikalisierung scheiterten, ist es also unrichtig, zu behaupten,die Revolution habe keinerlei soziale Folgen gehabt. Zwar rief sie keine grerenStrukturwandlungen hervor, doch lste sie und dies war von Bedeutung durch die Erffnung neuer, unter dem Kolonialsystem undenkbar gewesenerAufstiegsmglichkeiten eine beachtliche soziale Mobilitt aus. Nicht zuletzt aus

    diesem Grunde zog sich der Krieg so lange hin, ja, auch nach Beendigung desKonfliktes wurden immer wieder Vorwnde gesucht, um die militrischeAuseinandersetzung in den endlosen Brgerkriegen des 19. Jahrhundertsfortzusetzen.Folgen der Unabhngigkeit

    Die internationale Anerkennung der Unabhngigkeit Lateinamerikas erfolgtenur schrittweise. England fhlte sich, wie wir bereits sahen, nach dem Sieg berNapoleon Spanien gegenber nicht mehr verpflichtet und untersttzte in immerstrkerem Ausma die Rebellen. Seine Europapolitik stand im Gegensatz zu den

    Plnen der Heiligen Allianz, insbesondere aber zu den Zielen Spaniens undRulands, und trug nicht wenig dazu bei, da es sich zur Untersttzung derUnabhngigkeitsbewegung entschlo. England gab indirekt durch Schritte, dieim Auftrage des Auenministers Canning unternommen wurden den Anstozur Erklrung Monroes im Jahre 1823, die Nordamerika ins Lager der Gegnereiner Intervention der Heiligen Allianz in Amerika fhren sollte. Die VereinigtenStaaten erkannten im Jahre 1822 die Selbstndigkeit Kolumbiens und Mexikos,spter auch die anderer Staaten an. England folgte diesem Beispiel, und sowurde fr die jungen Republiken der Weg zur internationalen Anerkennung frei.

    Allgemeinere Folgeerscheinungen des Unabhngigkeitskampfes waren unteranderem die Abschaffung der Inquisition, die teilweise Aufhebung desIndianertributs, die Manahmen gegen die Sklaverei, die Beseitigung nicht sosehr in sozialer als vielmehr in juristischer Hinsicht der Kastenunterschiede, dieEinfhrung der Handelsfreiheit und gnstiger Bestimmungen fr dieEinwanderung. Doch wirkten sich diese nderungen nicht nachhaltig auf dieLage der ausgebeuteten Massen aus (zuweilen verschlechterte sich diese sogar).Die Revolution lie viele an Feudalismus gemahnende soziale Privilegien

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    unangetastet. Zwar war man bemht, den in der westlichen Welt in voller Bltestehenden politischen Formen des liberalen Kapitalismus nachzueifern, dochblieb es bei einer rein uerlichen, oberflchlichen Nachahmung, die keine tiefeUmgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen desKolonialregimes bewirkte. Daher ist festzustellen, da es sich um

    Unabhngigkeit ohne Entkolonisierung handelte, da die Revolution in ersterLinie ein Aufstand der Kolonisten gegen die Mutterlnder war, von dem diekolonisierten Rassen keinen greren Nutzen hatten (ausgenommen in Haiti undabgesehen von den Faktoren, die indirekt die Mestizisierung und den sozialenAufstieg auf dem Weg ber militrische und politische Bettigung begnstigten,wie weiter oben geschildert wurde); in diesem Zusammenhang wre jedoch jedeVerallgemeinerung nur eine Quelle von Irrtmern, da viele Sonderflle zubercksichtigen sind. Die Unterbrechung der normalen Handels- undVerbindungswege brachte ernste Rckwirkungen auf die Wirtschaft mehrererLnder mit sich. So litten der Norden und Westen Argentiniens unter dem

    vlligen Erliegen des blichen Handelsaustausches mit Hochperu (dem heutigenBolivien) whrend des Krieges; Montevideo verlor, whrend es sich in denHnden der Royalisten befand, seine natrliche Verbindung zu den brigenAnsiedlungen am Rio de la Plata; der Guerillakrieg lie in Neu-Spanien (Mexiko)nur noch Waren- und Personenverkehr unter bewaffnetem Geleitschutz zu; dieAnsprche der Revolutionsregierungen schufen oft Verwirrung; in denBergwerksunternehmen ging viel Kapital verloren, und groe Teile derViehbestnde fielen der Verpflegung der Revolutionstruppen und dem stndigum sich greifenden Brauch des Viehdiebstahls zum Opfer.

    Die von den Oberschichten so sehr herbeigesehnte ffnung der Hfen war

    nicht von allgemeinem Vorteil fr die gesamte Bevlkerung, denn sie trug zumVerfall des heimischen Handwerks bei und verschrfte die wirtschaftlicheAbhngigkeit von Europa. Auch das betrchtliche Ausma der politischenZersplitterung war eine Folgeerscheinung der Unabhngigkeit. Bolvar hatte imJahre 1826 seine Einigungsplne auf dem von ihm einberufenen Kongre inPanama darzulegen versucht, aber sie erweckten nur Mitrauen und wurdennicht verwirklicht. Die Vereinigten Provinzen des Rio de la Plata, Chile undBrasilien nahmen an dem Kongre gar nicht erst teil. Die Briten warenentschiedene Gegner dieses Unionsversuches, war er doch weder deninternationalen Mchten noch den einheimischen Oligarchien genehm. DieAuflsungserscheinungen griffen um sich. Gro-Kolumbien zerfiel in dreiStaaten: Kolumbien, Venezuela und Ekuador. Von Mexiko lste sich dieZentralamerikanische Konfderation los, die spter in die Staaten El Salvador,Guatemala, Honduras, Nikaragua und Costa Rica auseinanderfiel. Im Sdenentstanden als kleinere staatliche Gebilde Bolivien und Paraguay, und am Rio dela Plata wurde Uruguay als Pufferstaat zwischen Brasilien und Argentiniengeschaffen. Allen diesen Lndern fehlte es an der inneren Geschlossenheit ihrereuropischen Vorbilder. Noch lange Zeit wurden sie von innenpolitischen

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    Auseinandersetzungen heimgesucht und litten unter den Rivalitten zwischenden lokalen Caudillos, die es immer wieder fr ntig hielten, den bequemenAusweg des Brgerkrieges zu whlen, um ihre Interessengegenstzeauszutragen.

    Eine unglckliche, durch den Dauercharakter der Brgerkriege noch

    verschlimmerte Erbschaft aus der Zeit der Unabhngigkeitskmpfe war diewichtige Rolle des Militrs in der lateinamerikanischen Gesellschaft, ein Faktor,der sich, wenngleich in anderer Form, noch in unseren Tagen auswirkt.Die Unabhngigkeit Brasiliens

    Die Invasion napoleonischer Truppen auf der Iberischen Halbinsel richtete sichunmittelbar gegen Lissabon, weil es sich der Kontinentalsperre nicht anschlieenwollte. Der gesamte portugiesische Hof bersiedelte mit Hilfe der britischenFlotte auf amerikanischen Boden. Mit ihm zusammen traf dort ein vollstndigerVerwaltungs- und Militrapparat ein, insgesamt schtzungsweise zehntausend

    Personen. So wurde unversehens ein Regierungsapparat in ein Kolonialgebietverpflanzt und wirkte dort unmittelbar als ein belebendes, dynamischesElement.

    Kronprinz Johann (Prinzregent von Portugal bis 1817 und dann als Johann VI.Knig) betrat am 22. Januar 1808 in Bahia (heute Salvador) Brasilien und erklrtesechs Tage spter die brasilianischen Hfen als fr den Handel mit allenbefreundeten Nationen geffnet. Da er sich in Rio niederlie, wurde zumentscheidenden Faktor fr die Wahrung der territorialen Einheit Brasiliens unddie Einfhrung mannigfacher Reformen. Die Aufhebung der bisherigenBeschrnkungen fr die Industrie zeitigte angesichts der im Schtze der

    Handelsfreiheit wachsenden Konkurrenz der europischen Waren nicht dieerhoffte Wirkung. Immerhin waren unternehmerische Initiativen von einigerBedeutung zu verzeichnen. Am 5. April 1808 wurde eine Eisenfabrik(Httenwerk) in Cerro de Gaspar de Soares gegrndet. Zwei Jahre danach wurdemit einem kniglichen Erla ein hnliches Unternehmen in Ipanema ins Lebengerufen, das acht Jahre spter die Eisenproduktion aufnahm. Die Bank vonBrasilien wurde erffnet, technische Ausbildungssttten (die Knigliche Schulefr Naturwissenschaften, Knste und Handwerk; die Akademie fr Zeichnen,Malerei, Bildhauerei und Architektur) und die National-Bibliothek wurdengeschaffen. Das erste Dampfschiffahrtsunternehmen erhielt seine Konzession,und im Jahre 1819 wurde dann das erste Schiff dieses Typs in Bahia in Dienstgestellt. Zur Entwicklung der Landwirtschaft wurde der Kaffeeanbau gefrdertund im Jahre 1818 die Kolonie Nova Friburgo mit Schweizer Einwandererngegrndet. Das Tribunal der Kniglichen Kommission fr Handel,Landwirtschaft, Fabriken und Schiffahrt des Staates Brasilien wurde geschaffen,das u.a. Preise verlieh und sich fr die Akklimatisierung nicht einheimischerPflanzen einsetzte. Hfen wurden erweitert und der Bau von Verkehrswegen inAngriff genommen.

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    Die Niederlassung des Hofes in Rio wirkte sich gnstig auf die Entwicklungdes mittleren Sdens aus, dessen einziger bedeutender Hafen Rio war. AusMinas Gerais, So Paulo und sogar aus Rio Grande do Sul strmten Viehtreibermit ihren Lasttieren herbei, und es entstanden Handelsstdte an denKreuzungen der groen Verbindungsstraen. Die Kapitanien im Norden

    behielten lange Zeit ihre Monoproduktionsstruktur bei, da dem Handel dortkeine Entfaltungsmglichkeiten geboten waren; einmal, weil die Schicht derGrogrundbesitzer zahlenmig zu klein war (weder die Sklaven noch dielediglich fr den Eigenbedarf produzierenden Kleinbauern konnten ihrenKonsum steigern, und zum andern, weil jede wichtige Zone einen naheliegendenHafen besa, womit fr Zwischenhndler und Verteiler wenig zu tun brigblieb.

    Im Jahre 1815 wurde Brasilien durch Gesetz in den Rang eines Knigreichserhoben (das Vereinigte Knigreich Portugal, Brasilien und Algarve war damitins Leben gerufen). Die Niederlage Bonapartes machte die Rckkehr nach

    Europa mglich, aber Johann VI. entschied sich vorderhand fr das Verbleibendes Hofes in Brasilien und verfolgte eine Expansionspolitik an der Sdgrenzedes Landes, in Richtung auf die Ufer des Rio de la Plata, und besetzteMontevideo im Jahre 1817.

    Er handelte in diesem Zeitabschnitt als amerikanischer Herrscher. Eben diesstrkte in Portugal die liberale, konstitutionalistische Bewegung, die sich seitdem Abzug der franzsischen Truppen aus Portugal nachdrcklich dafreinsetzte, einen Zustand rckgngig zu machen, der Portugal in ein Landverwandelt hatte, das von einem im Ausland befindlichen Hofe abhngig war.Die Einberufung der Cortes nach Lissabon erregte andererseits den Unwillen der

    brasilianischen Deputierten. Um eine Verschrfung der Spannungen zuvermeiden, beschlo Johann VI. im Jahre 1821, nach Portugal zurckzukehrenund seinen Sohn Dom Pedro an seiner Statt in Brasilien zurckzulassen. Nunwar es nur noch ein kleiner Schritt bis zur vlligen Selbstndigkeit Brasiliens. DieBrasilianer hatten sich bereits daran gewhnt, vom eigenen Lande aus regiert zuwerden, und Dom Pedro zeigte grten Widerwillen gegen den Druck, den dieLiberalen auf seinen Vater ausbten.

    Zuerst berief er einen Rat von Provinzialabgeordneten als staatliches Organund spter eine gesetzgebende Versammlung fr Brasilien ein. Am 1. August1822 untersagte er, als Regent dieses weiten Reiches und unter Berufungdarauf, da der Knig ein Gefangener der Liberalen ohne eigeneWillensentscheidung und Handlungsfreiheit sei, die Landung portugiesischerTruppen. Die Unabhngigkeitserklrung, genannt Ruf von Ipiranga, am 7.September ist dann lediglich der formale Gipfelpunkt und wirkungsvolleAbschlu einer bereits berreifen Entwicklung.

    Die begeisterte Zustimmung zu dieser Unabhngigkeitserklrung trug demneuen Kaiser die Untersttzung der einheimischen Krfte ein. Der ehemaligerepublikanische Verschwrer Jos Bonifacio de Andrada e Silva trat mit seinen

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    Leuten begeistert auf dessen Seite. Aber Pedro I. erwies sich von Anfang an alseine gebieterische Persnlichkeit und lste nach zwei Jahren sein Bndnis mitJos Bonifacio. Die Verfassung, endlich, die vom Kaiser bewilligt wurde,spiegelte die konservativen Ideen Pedros I. wider, aber trotzdem, und obwohl siedas alte Klassensystem aufrechterhielt, mu anerkannt werden, da sie sich als

    sehr wertvoll fr die Erhaltung der politischen Stabilitt erwies.Im Jahre 1824 wurde die territoriale Einheit durch einen separatistischen

    Aufstand bedroht: die Rebellion der Nordoststaaten Pernambuco, Paraba, RioGrande do Norte und Cear. Sie hatte sich an der Frage entzndet, wer diePrsidenten der einzelnen Provinzen berufen sollte (die Bewohner der Provinzenoder der Kaiser). Die Bewegung geriet in republikanisches Fahrwasser, entwarfPlne zur Grndung einer Konfderation des quators, wurde aberniedergeschlagen.

    Etwa um die gleiche Zeit entstand am linken Ufer des Rio de la Plata eineLage, die dem Kaiser einen Prestigeverlust einbrachte. In diesem Gebiet, das als

    Cisplatine Provinz formell dem Kaiserreich einverleibt worden war, setzte 1825der bewaffnete Widerstand der Bevlkerung gegen die Brasilianer ein. Im Jahre1828 stellte sich Argentinien hinter die Aufstndischen. Der nicht ebenselbstlosen britischen Intervention unter Lord Ponsonby war die Schaffung einesneuen kleinen Staates zu verdanken, der Republik stlich des Uruguay Repblica Oriental del Uruguay , die von Brasilien und Argentiniengleichermaen unabhngig wurde.

    Eine weitere Quelle von Mihelligkeiten ergab sich aus der Tatsache, da dieVerfassung dem Kaiser zwar eine ausgleichende Funktion bertragen hatte,dieser jedoch keine guten Beziehungen zur Nationalversammlung unterhielt.

    Sein Widerstand gegen jegliche fderalistische Bestrebung und der Ausgang derKmpfe im Sden des Landes lieen heftige Kritik an Pedro I. laut werden.Durch Vermittlung Englands war der Friede mit Portugal zustande gekommen.Doch hatte bei dieser Gelegenheit Johann VI. ausdrcklich erklrt, sein Sohnbleibe weiterhin portugiesischer Thronerbe. Der Tod Johanns VI. im Jahre 1826komplizierte nun die Lage noch mehr. Dom Pedro glaubte, das Problem lsen zuknnen, indem er zugunsten seiner Tochter, Maria II., auf den Thron verzichtete.Diese sollte ihren Onkel Michael heiraten, der ebenfalls Anspruch auf dieportugiesische Krone erhob. Die Gefahr einer unmittelbaren Machtbernahmedurch Michael, der rckhaltlos konservativ eingestellt war, lie Pedro I. an eineRckkehr nach Portugal denken, was sein Ansehen beim brasilianischenParlament noch mehr schmlerte.

    Dies alles lie endlich den Entschlu in ihm reifen, auf den brasilianischenThron zu verzichten, nach Portugal zurckzukehren und dort selbst die Machtzu bernehmen (1831). Er dankte zugunsten seines erst wenige Jahre altenSohnes ab, weshalb es auch heit, eigentlich habe die Geburtsstunde einesrepublikanischen Brasilien schon damals geschlagen.

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    Die bersiedlung des Hofes zuerst und spter die Ausrufung desKaiserreiches hatten Brasilien, im Gegensatz zu den ehemaligen spanischenKolonien, von Beginn seines eigenen politischen Lebens an daran gewhnt, eineeinheimische Gesamtregierung zu besitzen, wodurch nicht nur die territorialeEinheit gewahrt wurde, sondern auch eine nicht immer von Erfolg gekrnte

    Expansionspolitik auf Kosten der Nachbarlnder betrieben werden konnte. Diepolitische Machtentfaltung konnte indessen die nachteiligen Auswirkungeneines auf Grogrundbesitz und Sklaverei aufgebauten Systems nicht aufwiegen,weshalb dieser anfngliche Vorteil nicht alle jene Frchte zeitigte, die man htteerhoffen drfen. Er war gerade noch gro genug, da es nicht zu Brgerkriegen,sondern lediglich zu im Keime erstickten Verschwrungen kam, und gestattetezumindest die Verfolgung einer einigermaen zielbewuten und realistischenAuenpolitik. Die Gesellschaftsstruktur des Landes bildete jedoch letztlich einenzu groen Ballast, als da die besseren Startmglichkeiten voll httenausgeschpft werden knnen.

    Zweite PeriodeEuropisierung und von auen beeinflute wirtschaftliche Expansion

    In dieser Periode, die ungefhr von der Erreichung der Unabhngigkeit bis in dieAnfnge des 20. Jahrhunderts reicht, lassen sich, besonders unterBercksichtigung der wirtschaftlichen Umwlzungen, drei Unterabschnittebeobachten: 1825 bis 1850, 18501875 und 18751914. In der ersten Phase gab eskeine groen Vernderungen; die von der Beseitigung der Kolonialmonopoleerhofften Folgen fr die Wirtschaft blieben aus. In der zweiten zeichnete sich einbestimmtes Wachstum der Exportwirtschaften ab. In der dritten war eine weitere

    Steigerung des Wachstums zu verzeichnen, und in manchen Lndern setzte derIndustrialisierungsproze und die Abkehr von der Monokulturwirtschaft ein.Die Gesamtperiode wurde von bestimmten Vernderungen gekennzeichnet, diesich in einigen Lndern von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in das beginnende20. Jahrhundert hinein vollzogen. In anderen Lndern blieb allerdings dieEntwicklung stehen. So zum Beispiel in Bolivien, dessen Wirtschaft sich erst im20. Jahrhundert dank des Zinnexports entwickelte, und dies in einer Form, die inmancher Hinsicht den Wesensmerkmalen der vorhergehenden Periodeentsprach. hnlich vernderungsfeindlich verhielten sich diePlantagenwirtschaften traditionellen Stils, die auf der Ausbeutung derSklavenarbeit und einem patriarchalischen System beruhten. Isolierte Lage,ungnstige geographische Verhltnisse oder mangelnder konomischer Anreizfr den Bau von Eisenbahnen waren Faktoren, die allgemein den Fortbestandgeschlossener Hauswirtschaften oder den Anbau von Produkten ohnebesonderes Interesse fr den europischen Markt bestimmten.

    Fr die typischsten Erscheinungen dieser Periode darf die Entwicklung inArgentinien als vor allem reprsentativ betrachtet, und im Zusammenhang mit

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    ihr mssen die Vorgnge in Uruguay, Chile und Sdbrasilien untersuchtwerden.

    Abb. 1: Lateinamerika im 19. Jahrhundert

    2. Einbruch des Industriekapitalismus und Aufstieg der Exportwirtschaften

    Im 19. Jahrhundert setzte in der lateinamerikanischen Welt eine Reihe vontiefgreifenden Wandlungen ein; der Ansto dazu kam von auen und stand inunmittelbarem Zusammenhang mit der technischen Revolution in Europa undder Expansion der kapitalistischen Wirtschaft.

    Die wirtschaftliche Aufwrtsbewegung in der zweiten Hlfte des 19.Jahrhunderts

    Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an, insbesondere dann in den siebzigerJahren, erfuhr die Wirtschaft einen gewaltigen Auftrieb. Verschiedene Faktorenwirkten dabei zusammen. Einerseits ermglichte eine bessere Organisation desWirtschaftslebens den Einsatz grerer Kapitalmengen durch die fr die groenUnternehmen jener Zeit besonders geeigneten Aktiengesellschaften. Das

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    Bankwesen entwickelte sich, wurde rationalisiert und konzentriert, je weiter sichsein Bettigungsfeld ausgedehnte. Schiffs- und Eisenbahngesellschaften,Fabrikbetriebe, dies alles waren gewaltige Organisationen, die dieherkmmlichen Mglichkeiten des Privatvermgens berstiegen. DieEntwicklung der industriellen Produktion und die Herausbildung groer

    Fabrikationszentren schritten stndig fort. Die Errungenschaften der Technikbegnstigten jetzt auerordentlich die Expansion in bersee: dazu gehrten diedurch die Einfhrung von Schiffsrmpfen aus Metall und von Schiffsschraubenvervollkommnete Dampfschiffahrt, Eisenbahnen, Grohfen, ausreichenderStapelraum fr die Erzeugnisse. Der Schiffstransport wurde schneller undbilliger. Man sollte weniger von einer Expansion in bersee sprechen alsvielmehr einfach davon, da sich der Bereich der kapitalistischen Wirtschaftausweitete und ihr Einflu auf die Periphergebiete wuchs.

    Mit der Zunahme des Welthandels war zugleich eine Steigerung derAnbauflche und eine Spezialisierung in Industrielnder und rohstoff- und

    nahrungsmittelerzeugende Gebiete zu beobachten. Zwischen 1860 und 1913, sowurde errechnet, erhhte sich die industrielle Produktion in der Welt um mehrals das Siebenfache. Die krftige Expansion des industriellen Kapitalismusverschrfte noch die Abhngigkeit der anderen Regionen dadurch, da sich dortreine unselbstndige Komplementrwirtschaften herausbildeten. Um die Mittedes Jahrhunderts wurde Gold in Kalifornien und Australien entdeckt, spterauch in Sdafrika und Alaska. Damit stand das notwendige Edelmetall fr dieExpansion der Geldwirtschaft zur Verfgung, die natrlich noch durch dieneuen Formen des Wirtschaftslebens weiter gefestigt wird.

    Expansion des Kapitalismus bedeutet Expansion eines vorherrschenden

    Wirtschaftssystems. Wie Fritz Sternberg (Kapitalismus und Sozialismus vor demWeltgericht) feststellt, dauerte es mehrere Jahrhunderte, bis um 1850 derKapitalismus sich so weit entwickelt hatte, da 10% der Weltbevlkerung diesemSystem entsprechend produzierte; aber in den zwei ersten Dritteln des folgendenJahrhunderts etwa von der Mitte des 19. Jahrhunderts an bis zum ErstenWeltkrieg wurde der Kapitalismus zur vorherrschenden Produktionsformnicht nur in England, sondern in der ganzen Welt, bis schlielich zwischen 25und 30% der Weltbevlkerung nach diesem System produzierte. InGrobritannien, USA, Deutschland und ganz Westeuropa lag praktisch dasProduktionsmonopol in den Hnden des Kapitalismus. Faktisch war damit einFortschritt in der Produktion der verschiedenen Regionen der Erde verbunden,obwohl es gleichzeitig auch zur Verarmung und Rckstndigkeit der breitenMassen der Kolonialbevlkerungen kommen konnte. Das wirtschaftlichebergewicht verschaffte Europa eine Vormachtstellung gegenber der brigenWelt, und in dem Mae, wie die Verkehrsmittel stndig vervollkommnetwurden, gerieten auch die abgelegensten Gebiete in eine Situation derAbhngigkeit. Das einfache freie Spiel von Angebot und Nachfrage sicherteEuropa seine berlegenheit. Es frderte zum Nachteil der fr den

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    einheimischen Markt bestimmten Erzeugnisse berall die Produktion vonExportgtern. Europa verschaffte sich dabei eine beherrschende Position imHandel und Transport der Exportgter.

    Zusammenfassend ist zu sagen, da der wirtschaftliche Auftrieb in dieserEpoche zur Entwicklung bestimmter Produktionsformen fhrte und die

    Abhngigkeit der von Krisen geschttelten, allen Schwankungen desAuenhandels hilflos ausgesetzten unterentwickelten Gebiete verschrfte. Indieser Hinsicht wirkten sich die weltweiten Krisen von 1857, 1866, 1873, 1882,1890 und 1900 um so strker auf die einheimischen peripherischen Wirtschaftenaus, je mehr diese nach und nach sich auf den Export eingestellt hatten.

    Etwa um die gleiche Zeit fhrte die strkere Verflechtung mit deminternationalen Markt dazu, da sich alle diese den Weltmarkt beherrschendenPhnomene auch auf die Regionalwirtschaften auswirkten. Dies ist um soverstndlicher, wenn man die Expansion der Geldwirtschaft bercksichtigt, dieals bertragungselement diente.

    Die durch die ffnung fast aller Hfen der Welt fr den Handel geschaffenenErleichterungen bedeuteten nicht etwa den Untergang des Kolonialismus,sondern fhrten lediglich zu einem Positionswechsel. Aus der ehemaligenAbhngigkeit von den alten Monopolen wurde nun eine vllige Unterordnungunter die Machtzentren des industriellen Kapitalismus. Nur da sich unterdiesen Umstnden der beschleunigte Rhythmus von Angebot und Nachfragenoch bedrohlicher auf die bislang der Entwicklung noch widerstrebendengeschlossenen Wirtschaften auswirken konnte.

    Langsam wurden die feudalistischen Zentren des Grogrundbesitzes vonWirtschaftsformen einer Selbstversorgungslandwirtschaft berlagert, die im

    umgekehrten Verhltnis zu den Mglichkeiten der Exportkulturen standen.Eine neue Haltung gesellte sich zu der altgewohnten, aristokratischangehauchten Geringschtzung der Arbeit: die Bewunderung fr dieMglichkeiten des Einsatzes von Maschinen fr immer neue Aufgaben.Maschinen wurden in den Dienst des Transportwesens und der Produktiongestellt, in Zucker- und Getreidemhlen eingesetzt und berall dort, wo eineAntriebskraft bentigt wurde. Die Expansion des industriellen Kapitalismusfhrte jedoch nicht zur Schaffung von Industriezentren in den Periphergebieten,sondern wurde lediglich zur Frderung des Handelswesens eingesetzt. Dazubedurfte es der Entwicklung der Geldwirtschaft, des Ausbaus von Hfen undVerkehrswegen; doch geschah alles ausschlielich im Einklang mit denInteressen der Industriezentren.Die Nachfrage nach Nahrungsmitteln und Rohstoffen

    Der wirtschaftliche Aufschwung in jener Epoche lie die Nachfrage nachNahrungsmitteln und Rohstoffen ansteigen. Es hie, mehr zu produzieren undzahllose Erzeugnisse fr den Konsum in den Industriezentren schneller zutransportieren. Nach und nach ist eine Spezialisierung der Anbaukulturen zu

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    verzeichnen, die sich auf jeweils ein Anbauprodukt verlegen und fr den Exportproduzieren. Die lateinamerikanische Produktion weitete sich damals imRahmen von Monokulturen aus, die fr den Weltmarkt jeweils erzeugten, wasdie hchsten Gewinne abzuwerfen versprach.

    Die Nachfrage nach diesen Erzeugnissen war derart gro und anspruchsvoll,

    da die Umstellung sich nicht ohne uerst nachteilige Folgeerscheinungenvollzog: Verschlechterung der Lebensbedingungen in gewissen Landstrichen,berstrzte Abholzung und Rodung von Anbauflchen (was die Erosion undAuslaugung der Bden begnstigte). Die relativ hohen Lhne, die vieleArbeitskrfte in Gebiete mit gerade bevorzugten Monokulturen lockten,bedeuteten keineswegs eine Sicherung fr die Zukunft und schlssen es nichtaus, da die Arbeiter von einem Tag zum andern in tiefste Not geraten konnten.In Brasilien beispielsweise verdrngte der Kaffeeanbau nicht nur allmhlich denAnbau von Zuckerrohr, sondern auch die buerlichen Kleinbetriebe, dieNahrungsmittel erzeugt hatten. Von allen brasilianischen Erzeugnissen war es

    der Kaffee, dessen Ausfuhr am betrchtlichsten zunahm. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts bildete sich die brasilianische Kaffeewirtschaft heraus, derenBedeutung die der Zuckerproduktion bald berstieg. Im dritten Viertel desJahrhunderts erzielte der Kaffee wesentlich bessere Preise als der Zucker, unddamit setzte eine starke Abwanderungsbewegung von Arbeitskrften aus demNorden in den Sden des Landes ein.

    In Peru spricht man von einer Guano-ra zur Bezeichnung der Epoche, inder dieser Naturdnger von den der peruanischen Kste vorgelagerten Inseln ingroem Umfang exportiert wurde (etwa die zweite Hlfte des 19. Jahrhunderts).Mit den Einknften aus diesem Export wurde der Bau von Eisenbahnen

    finanziert und die Dampfschiffahrt ausgebaut. Die wirtschaftliche Prosperittschuf ein gnstiges Klima fr die Sklavenbefreiung und die Abschaffung desIndianertributs.

    Whrend Peru sich in ein Guano-Exportland verwandelte, gingen alle anderenWirtschaftsttigkeiten zurck. Nahrungsmittel muten importiert werden. DieLebenshaltungskosten stiegen. Der aufblhende Handel bereicherte dieKonsignatare und andere im Guano-Geschft engagierte Personen. Die Versucheder peruanischen Regierung, auch die Salpetervorkommen zur Steigerung derstaatlichen Einknfte auszunutzen, waren anfnglich erfolgreich, nahmen dannaber ein unglckliches Ende, als der Krieg gegen Chile (187983) und damit derSalpeterreichtum verlorenging.

    Chile zog nun seinen Vorteil aus der Salpetergewinnung, die den chilenischenAuenhandel sprunghaft ansteigen lie (zuvor hatten land- undviehwirtschaftliche Erzeugnisse den Groteil 48% zwischen 1844 und 1880 der Ausfuhren bestritten).Das Angebot europischer Industrieerzeugnisse

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    Sowohl der industrielle Fortschritt in Europa als auch die technischenNeuerungen im Verkehrswesen trugen zu einer berschwemmung deslateinamerikanischen Marktes mit Waren aus der Alten Welt bei. Der in Englandund anderen westeuropischen Lndern nun herrschende industrielleKapitalismus konnte der ganzen Welt eine Vielfalt von Waren zu Preisen

    anbieten, die unter denen der einheimischen Produkte lagen, so da allmhlichdie traditionellen Heimindustrien von der Bildflche verschwanden. Dienunmehr importierten Ponchos, Hte, Messer, Stoffe aller Art, Getrnke undverschiedensten Gebrauchsartikel verdrngten auf dem Markt die im eigenenLande hergestellten Erzeugnisse. Diese Erscheinung trat gleichermaen in ganzLateinamerika auf; allerdings waren die Auswir