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Klartext Verlag GmbH • Essen • 2020 Die Rechte zur Vervielfältigung über den privaten Gebrauch des Autors hinaus liegen beim DGV. Düsseldorfer Jahrbuch Beiträge zur Geschichte des Niederrheins 90. Band Herausgegeben vom Düsseldorfer Geschichtsverein Sonderdruck Annett Büttner I have never known a happy time, except at Rome and that fortnight at Kaiserswerth. Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth.

Florence Nightingale und Kaiserswert

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Klartext Verlag GmbH • Essen • 2020

Die Rechte zur Vervielfältigung über den privaten Gebrauch des Autors hinaus liegen beim DGV.

DüsseldorferJahrbuch

Beiträge zur Geschichte des Niederrheins

90. BandHerausgegeben vom Düsseldorfer Geschichtsverein

Sonderdruck

Annett Büttner

I have never known a happy time, except at Rome and that fortnight at Kaiserswerth.

Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth.

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I have never known a happy time, except at Rome and that fortnight at Kaiserswerth

Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

Mit zwölf Abbildungen

Von Annett B ü t t n e r

I had a sickly childhood.1 Mit diesen Worten beginnt der Lebenslauf, den Florence Nightingale 1851 bei ihrem zweiten Besuch in der Diakonissenanstalt Kaisers-werth einreichte und in dem sie ihre Motive für den Eintritt zusammengefasst hat. Doch sie war nicht nur ein kränkliches, sondern auch ein sehr schüchternes Kind, was mit den Spielen seiner Altersgenossen nichts anfangen konnte. Wie wurde aus einem solch zurückhaltenden Mädchen die durchsetzungsfähige und international hochgeehrte Reformerin der Krankenplege? Der vorliegende Aufsatz möchte anlässlich ihres 200. Geburtstages sowohl die anregenden Einlüsse als auch die kritischen Auseinandersetzungen Nightingales mit dem in Kaiserswerth entwickelten Diakonissenmodell nachzeichnen und gleichzei-tig ihre Bedeutung für die Professionalisierung der Krankenplege würdigen. Dazu wurden die Originalquellen im Archiv der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth2 sowie in den von der kanadischen Historikerin Lynn McDonald

1 Anna Sticker, Florence Nightingale. Curriculum vitae with informations about Florence Nightingale and Kaiserswerth, Düsseldorf 1965, S. 3, sowie Lynn McDonald, The collec-ted works of Florence Nightingale, Bd. 1: Florence Nightingale: an introduction to her life and family, Waterloo 2001, S. 90–93. Das Original beindet sich im Archiv der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth (künftig AFKS), Bestand 1-1 Nachlass Fliedner, Rep. II Kb3.

2 Das AFKS verfügt insgesamt über 16 Briefe und Widmungen Nightingales an Familien-mitglieder der Fliedners, vier Briefe Nightingales an James Hamilton sowie sechs Briefe Nightingales an die Familie ihrer Schwester Parthenope Verney, geb. Nightingale (1819–1890). Sechs weitere Briefe Nightingales an die Fliedners wurden zwar 1904 in einem Auf-satz der anstaltseigenen Zeitschrift abgedruckt. Sie waren aber offensichtlich bei der Ver-zeichnung des Fliedner-Nachlasses durch den Diakoniehistoriker Martin Gerhardt in den 1930er Jahren schon nicht mehr vorhanden und müssen als verschollen gelten vgl. O. A., Florence Nightingale und Kaiserswerth, in: Der Armen- und Krankenfreund 1, 1904, S. 141–153.

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herausgegebenen Gesammelten Werken Florence Nightingales ausgewertet.3

Die englischsprachigen Publikationen über Florence Nightingale, die bereits zu Lebzeiten zur Legende wurde, füllen ganze Bibliotheken und beschäftigen sich sowohl mit ihrem Gesamtwerk als auch einzelnen Aspekten.4 Ein großer Teil wurde nur auf der Grundlage von öffentlich zugänglichen Berichten und Zeitungsartikeln verfasst und trägt hagiograische Züge, wie bereits 1911 die Verfasserinnen des ersten internationalen Überblickswerkes zur Plegege-schichte feststellten: Auf diese Weise mußte unvermeidlich ein etwas konventioneller, den

mittelalterlichen Legenden nicht unähnlicher Heiligentyp an Stelle der eigentlichen Gestalt

Miß Nightingale’s treten, so daß es nicht immer ersichtlich ist, wieviel von der menschlichen

und wahren Persönlichkeit dieser großen Frau wiedergegeben ist. Die Verfasserinnen sind der

Ansicht, daß ein annähernd wahres Bild von ihr nur durch ein sorg fältiges und gründliches

Studium ihrer Schriften erlangt werden kann.5

Eine Ausnahme stellt die kurz nach Nightingales Tod im Auftrag der Fa-milie von Edward Cook herausgegebene Biograie dar.6 Ihm standen offenbar Unterlagen zur Verfügung, die heute nicht mehr aufindbar sind, an deren Authentizität jedoch keine Zweifel bestehen, so dass auch gelegentliche Zitate aus dieser Publikation herangezogen werden.7 Die Arbeit Cooks wurde nicht ins Deutsche übersetzt, wie überhaupt eine wissenschaftliche Biograie in deut-scher Sprache bis heute ein Desiderat darstellt, das auch mit diesem Aufsatz,

Scans aller Dokumente beinden sich auf der Homepage der Fliedner-Kulturstiftung unter der Rubrik „Archiv“.

3 Lynn McDonald, The collected works of Florence Nightingale, Bd. 1–16, Waterloo (Canada) 2001–2012. Diese Publikation ist außer in der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth und in der Universitätsbibliothek Köln in NRW in keiner öffentlichen Bibliothek greifbar, was auf ein geringes Interesse an ihrer Person schließen lässt. Für einen schnellen Überblick vgl. auch: Lynn McDonald, Florence Nightingale at First Hand, London 2010.

4 Vgl. McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 862–873. Allein der Katalog der British Library wirft beim Stichwort Florence Nightingale über 1.000 Treffer aus, davon 566 Bücher und 527 Aufsätze. Ihr umfangreicher Nachlass ist in der British Library, in Claydon House, dem Familiensitz ihrer Schwester Parthenope, verh. Verney, in den London Metropolitan Archives sowie in ca. 150 Archiven weltweit überliefert. Sie zählt damit zu den am besten dokumentierten Personen des 19. Jahrhunderts.

5 M. Adelaide Nutting, Lavinia L. Dock, übers. von Agnes Karll, Geschichte der Kran-kenplege, Bd. 2, Berlin 1911, S. 109–329, hier S. 111.

6 Edward Cook, The Life of Florence Nightingale, Bd. 2, London 1913.7 Eine positive Bewertung dieser Arbeit gibt auch die Herausgeberin der Gesammelten

Werke ab, vgl. McDonald, Collected Works, Bd.1 (wie Anm. 1), S. 13. Anregend ist darüber hinaus die von der Kritik sehr gelobte Arbeit von Marc Bostridge, Florence Nightingale. The women and her legend, London 2008.

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der sich lediglich einem einzelnen Aspekt ihres Lebensweges widmet, nicht behoben werden kann.8

Die Krankenplege in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Die Krankenplege lag in Deutschland traditionell in den Händen katholischer Schwestern- und Bruderschaften.9 In Gebieten, in denen es aus konfessionel-len Gründen keine Orden und Kongregationen gab, herrschte in der Regel „Plegenotstand“.10 Sogenannte Lohnwärter11 versorgten dann die Patienten in ihren privaten Räumen oder in Hospitälern. Letztere fungierten als „caritatives Sozialasyl für Hillosigkeit und Hinfälligkeit aller Art“12 und nahmen nicht nur Kranke, sondern auch Waisen, alte Menschen, Pilger und andere Bedürftige auf. Diese Einrichtungen waren überwiegend für die mittellose Unterschicht gedacht und wurden von wohlhabenden Menschen kaum freiwillig betreten. Die Wärter hatten keine Berufsausbildung, waren schlecht bezahlt und stan-den auf der untersten sozialen Stufe, was dazu führte, dass die Krankenplege außerhalb der Orden ausschließlich als eine Beschäftigung der Unterschichten galt. Der deutsche Chirurg Johann Friedrich Dieffenbach (1792–1847) schrieb 1832 in seiner Anleitung zur Krankenwartung: Es ist ein wahrer Jammer anzusehen,

welche Menschen man als Krankenwärter und Wärterinnen anstellt. Jeder Alte, Versoffene,

Triefäugige, Blinde, Taube, Lahme, Krumme, Abgelebte, jeder, der zu nichts in der Welt

mehr taugt, ist dennoch nach der Meinung der Leute zum Wärter gut genug. Menschen, die

8 Die meisten deutschsprachigen Publikationen tragen ebenfalls eher zur Legendenbildung als zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Person Nightingales bei. Eine Ausnahmen bildet u. a. Carl Vossen, Florence Nightingale. Geliebtes Kaiserswerth, Düsseldorf 1986. Anlässlich des 200. Geburtstages erscheint in diesem Jahr im Patmos-Verlag eine Biograie von Nicolette Bohn im Stil eines Entwicklungsromans, der die Person Nightingales einer breiten Öffentlichkeit nahe bringen soll. Zur kurzen biograischen Orientierung siehe auch: Hubert Kolling, Nightingale, Florence, in: Biographisches Lexikon zur Plegegeschichte, Bd. 7, Nidda 2015, S. 199–203.

9 Vgl. zu Deutschland Eduard Seidler/Karl-Heinz Leven, Geschichte der Medizin und der Krankenplege, Stuttgart 2003, S. 209–211 und Relinde Meiwes, „Arbeiterinnen des Herrn“ – Katholische Frauenkongregationen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2000.

10 Ausnahmen bildeten in Deutschland einige meist von den Landesherren unterhaltene große Hospitäler, wie das Juliusspital in Würzburg oder das hessische Hospital Merxhausen. Vgl. Natascha Noll, Plege im Hospital. Die Aufwärter und Aufwärterinnen von Merxhausen (16.–Anfang 19. Jh.), Frankfurt a. M. 2015.

11 Jemanden zu „warten“ bedeutete in der Frühen Neuzeit nicht, ihn zu bewachen, sondern ihn zu bedienen und für ihn zu sorgen. Der Begriff „plegen“ setzte sich erst im 19. Jahr-hundert allmählich durch.

12 Seidler/Leven, Geschichte (wie Anm. 9), S. 91.

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ein unehrliches Gewerbe getrieben haben, Faullenzer, Taugenichse, alle die scheinen vielen noch

außerordentlich brauchbar als Krankenwärter. So ist denn dieser schöne, edle Beruf in Verruf

gekommen. Man suche Krankenwärter und welcher Auswurf der Menschheit sammelt sich

da! und wie wenig ehrbare, brave, tüchtige Menschen sind darunter! 13

Bis zur Gründung des weltweit ersten evangelischen Diakonissenmutter-hauses in Kaiserswerth durch Pfarrer Theodor Fliedner (1800–1864) im Jahr 1836 verfügte die protestantische Kirche über kein Pendant zu den katholischen Orden, weder in der Krankenplege, noch in der Kinderbetreuung oder im Bereich der Sozialarbeit.14

Auch in England war die Gründung protestantischer sozialer Einrichtungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht über erste Versuche hinausgekom-men.15 Zu nennen sind hier vor allem das 1840 von Elizabeth Fry (1780–1845) gegründete Institut of Nursing und eine der ersten Schwesternschaften der anglikanischen Kirche, die 1848 gegründeten Nursing Sisters of St. John the Devine mit einem Ausbildungsinstitut.16 Die katholische Ordensplege war nach der Gründung der anglikanischen Kirche im 16. Jahrhundert, die sich selbst als protestantisch im Sinne der Unabhängigkeit von Rom betrachtete, völlig abgebrochen oder in wenigen Fällen durch private Wohltätigkeit weiter geführt worden. Die Katholiken-Emanzipation 1829 hatte sie mit einigen Schwestern-schaftsgründungen wiederbelebt.17 Die massenweise Zuwanderung verarmter katholischer Iren führte in England zum Stereotyp der katholischen Kirche

13 Johann Friedrich Dieffenbach, Anleitung zur Krankenwartung, Berlin 1832, S. 6–7.14 Zur Diakoniegeschichte vgl. u. a.: Ursula Röper/Carola Jüllig, Die Macht der Nächstenliebe.

Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848–1998, Berlin 1998; Traugott Jähnichen/ Norbert Friedrich, Geschichte der sozialen Ideen im deutschen Protestantismus, in: Helga Grebing (Hrsg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik, Essen 2000, S. 867–921; Ruth Felgentreff, Das Diakoniewerk Kaiserswerth 1836–1998. Von der Diakonissenanstalt zum Diakoniewerk, Düsseldorf 1998.

15 Seidler/Leven, Geschichte (wie Anm. 9), S. 216 f. Vgl. auch: Carol Helmstadter/ Judith Godden, Nursing before Nightingale, 1815–1899, Farnham 2011 und Susan O’Brien, Terra incognita. The Nun in Nineteenth-Century England, in: Past and Present 121, 1988, S. 110–140.

16 Fry ist wesentlich bekannter für ihre Pioniertätigkeit in der englischen Gefängnisreform, die Fliedner zu seinem ersten sozialen Engagement in der Gefangenenfürsorge inspirierte. Den Gründungsimpuls für ihre Schwesternschaft emping sie wiederum von Theodor Fliedner, vgl. Gerlinde Viertel, Elizabeth Fry (1780–1845): eine christliche Sozialrefor-merin, in: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 55, 2006, S. 343–362. Zum Orden St. John vgl. Helmstadter, Nursing (wie Anm. 15), S. 143–168.

17 Vgl. Michael Czolkoss, Transnationale Möglichkeitsräume. Deutsche Diakonissen in London (1846–1918), Diss. Univ. Oldenburg 2019 (Veröffentlichung voraussichtlich 2020), S. 43–44. Ich danke Michael Czolkoss für die Möglichkeit der Einsichtnahme in sein Manuskript.

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als Minoritätenkirche für untere Schichten, politische Auseinandersetzungen verschärften die Abwertungsspirale. „In Relation zu vielen kontinentaleuro-päischen Ländern blieben die katholischen Schwesternschaften zahlenmäßig klein. Dennoch waren sie und auch die anglikanischen Schwesternschaften aufgrund der geschilderten Spannungen in den öffentlichen Debatten überaus präsent. Letztlich übertrugen sich diese Feindseligkeiten und Vorurteile auf alle religiösen Schwesternschaften, gleich welcher Religion, Konfession oder Deno-mination, da das Phänomen als solches als genuin katholisch (beziehungsweise kryptokatholisch) und damit „un-English“ wahrgenommen wurde.“18 Neben den religiösen Schwesternschaften prägten, wie in Deutschland, ungebildete Lohnwärter, die hier in sisters (mit Leitungsfunktion) und nurses (für die prakti-sche Plege) unterteilt waren, das öffentliche Bild der Krankenplege.19 Zu ihren bekanntesten Repräsentantinnen zählte die literarische Figur Sara Gamp aus dem Roman Martin Chuzzlewit von Charles Dickens (1812–1870), die er nach einem realen Vorbild aus der häuslichen Krankenplege geschaffen hatte.20 Sie war der Inbegriff einer ungeplegten, plichtvergessenen und stets vom Dunst geistiger Getränke umgebenen Wärterin. Ihr Attribut, ein schwarzer Schirm, wird im Englischen bis heute als gamp bezeichnet. Das Buch war 1843 und 1844 als Fortsetzungsroman in englischen Zeitschriften erschienen und genoss daher große Popularität.

Insgesamt galt die Krankenplege in Großbritannien als eine ausschließliche Beschäftigungsmöglichkeit für Angehörige der unteren Schichten. „Die oberen Klassen waren davon überzeugt, daß nur religiöse oder verzweifelte Menschen die Hospitalkrankenplege als Tätigkeit wählten.“21

Kurzer biograischer Abriss Florence Nightingales

Florence Nightingale kam am 12. Mai 1820 als Tochter wohlhabender Eltern während einer mehrjährigen Europareise in Florenz zur Welt und wurde nach ihrem Geburtsort benannt. Die Familie hatte zwei Landgüter, den Sommersitz Lea Hurst bei Shefield sowie den Wintersitz Embley Park bei Southampton. Sie

18 Ebd., S. 44.19 Seidler/Leven, Geschichte (wie Anm. 9), S. 216.20 Der Roman ist in Deutschland relativ unbekannt. Vgl. u. a. die folgende Aulage: Charles

Dickens, The life and adventures of Martin Chuzzlewit, übers. von Gustav Meyrink, Waltrop 2004.

21 Christoph Schweikardt/Susanne Schulze-Jaschok, Einführung zu Florence Nightingale und den „Notes on nursing“, in: Dies. (Hrsg.), Florence Nightingale, Bemerkungen zur Krankenplege. Die „Notes on Nursing“ neu übersetzt und kommentiert, Frankfurt a. M. 2005, S. 9f.

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verkehrte am Hof von Queen Victoria (1819–1901) und verfügte der größeren Bequemlichkeit während der Ballsaison wegen auch über eine Wohnung in London. Wie Nightingale in ihrem Lebenslauf bekannte, war sie bis zu ihrem ersten Aufenthalt in Kaiserswerth nicht in der Lage, ihre Haare selbst zu fri-sieren.22 Florence und ihre ein Jahr ältere Schwester Parthenope erhielten vom Vater Privatunterricht in Sprachen (Latein, Französisch, Griechisch, etwas Deutsch), Mathematik, Geschichte und Philosophie und verfügte damit über eine umfangreichere Bildung, als sie Mädchen zur damaligen Zeit allgemein zugebilligt wurde. Während einer Grippeepidemie hatte sie in früher Jugend als einzige Gesunde ihre erkrankte Familie und die zehn bis fünfzehn Dienstboten geplegt und seither Interesse an allem, was mit dem Thema Krankenplege im Zusammenhang stand. Im Curriculum Vitae heißt es dazu: But the irst idea I can recollect when I was a child was a desire to nurse the sick. My day dreams ware all

of hospitals and I visited them whenever I could.23 Ihre Reisen durch Europa boten mehrfach Gelegenheit dazu, so besuchte sie unter anderem die Krankenhäuser der katholischen Barmherzigen Schwestern in Paris und Florenz. Von Haus aus Angehörige der anglikanischen Staatskirche, war sie in religiösen Dingen tolerant und vielseitig interessiert, was ihr auch interkonfessionelle Kontakte ermöglichte. Heimlich besorgte sie sich alle erreichbaren Bücher über Kranken-hausbau und -statistik sowie Krankenplege und erwarb sich autodidaktisch ein umfangreiches Wissen auf diesem Gebiet, was sie allerdings erst Jahre später nutzen konnte.

Im Februar 1837 fühlte sie sich von Gott in seinen Dienst berufen, ohne jedoch zu wissen, welche konkrete Aufgabe er für sie vorgesehen hatte.24 Dieser call for service durchzog als immer wiederkehrendes Motiv ihr ganzes Leben.

Die gesellschaftlichen Konventionen sahen für sie lediglich ein Leben in Müßiggang vor, was sich zwischen belanglosen Konversationen und Bällen bewegte. Ihr angenehmes Äußere brachten ihr einige Anerkennung ein, zumal sie eine gute Tänzerin und begabte Sängerin war. An ihrem eigentlichen Le-bensziel, einem sinnvollen, gottgefälligen Leben im Dienste Bedürftiger hielt sie dennoch fest und urteilte in ihrem Lebenslauf streng über sich selbst: Then

I was shown all the glory of the world in the form in which it usually presents itself to women

– hearts to be conquered, admiration to be won. And I took it. I worshipped the devil and

accepted his gifts. I was much too proud to seek for admiration, but I had pleasure in that

which I won, and in those whom the devil made mine.25 Jahrelang litt sie unter diesem inhaltsleeren Dasein und widerstand nur knapp der Versuchung, sich in eine

22 Nightingale, Curriculum Vitae, in: McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 91.23 Ebd., S. 90.24 McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 18.25 Nightingale, Curriculum Vitae (wie Anm. 22), S. 91.

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standesgemäße Ehe zu lüchten. Angesichts der eingangs geschilderten Zustände in den Hospitälern ist es nicht verwunderlich, dass die gesellschaftlich hochstehende Familie Nightingale der schon in früher Jugend geäußerten Absicht ihrer Tochter, sich der Krankenplege zu widmen, strikt ablehnend gegenüber stand. Wie sie berich-tete, scheiterten alle Versuchen in einem Krankenhaus zu arbeiten, am entschiede-nen Widerstand insbesondere ihrer Mutter und Schwester: Meanwhile I had never given

up looking about for an opening to serve God. Six

years ago I made a desperate attempt to get into

an English hospital as nurse. For years I tried

all the hospitals in vain. Besides, the very idea

terriied my mother and I must confess now that I understand a mother not liking her daughter to go

into an English hospital. However that may be, I

never could get into one.26 Einen Ausweg sah sie in der Mitarbeit in der nahe gelegenen Dorfschule, die sie aber aus gesundheit-lichen Gründen bald einstellen musste. Die Besuche in den Häusern der armen Kranken der zu ihrem Besitz gehörenden Dörfer schien ihr ebenfalls am eigentlichen Sinn des von ihr beabsichtigten Dienstes vorbeizugehen: I had always bee in the habit of visiting the poor at home, but

it was so unsatisfactory. For me to preach patience to them, when they saw me with what they

thought every blessing (ah how little they knew) seemed me such an impertinence and always

checked me. I longed to live like them and with them, and then I thought I could really help

them. But to visit them in a carriage and give them money is so little like following Christ,

who made himself like his brethren.27

26 Ebd., S. 91.27 Ebd., S. 93.

Abb. 1: Florence Nightingale mit ihrer zahmen Eule Athena. Zeichnung ihrer Schwester Parthenope Nightingale, um 1850 (Wikipedia, gemeinfrei).

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Erste Kontakte Nightingales zur Kaiserswerther Diakonissenanstalt

In England boten sich ihr in den 1830er Jahren noch keine gesellschaftlich akzeptierten und fachlich qualiizierten Möglichkeiten, im Rahmen einer protestantischen Schwesternschaft die Krankenplege oder soziale Arbeit näher kennenzulernen.28 Daher richtete sich ihr Blick auf den europäischen Kontinent. Mit der Arbeit der Kaiserswerther Diakonissenanstalt wurde sie durch den preußischen Gesandten in London Baron Christian von Bunsen (1791–1860) bekannt gemacht, den sie 1842 in London kennengelernt hatte.29 Er beeinlusste ihre weitere Entwicklung wesentlichen, denn er wies sie nicht nur auf die deutschen Philosophen hin, sondern bestärkte sie auch in ihrem Wunsch, sich der Krankenplege zu widmen.30 Förderlich war hierfür die inter-nationale Vernetzung der evangelischen Kirchen und insbesondere der Vertreter der Erweckungsbewegung, deren englischem Zweig sie nahe stand.31 Die von Pfarrer Fliedner 1836 in Kaiserswerth begründete evangelische Diakonissenbe-wegung fand länderübergreifend Nachahmer, so dass sich bald ein regelrechtes Netzwerk herausgebildet hatte, das als eines der ersten auf dem Gebiet der Sozialarbeit gelten kann.32 Bunsen plegte enge Beziehungen zu Fliedner, mit dem er 1845 bei der Gründung des German Hospital im Londoner Stadtteil Dalston eng zusammen arbeitete.33 Dieses Hospital war vermutlich das erste

28 Zur Beschäftigung Nightingales mit protestantischen Schwesternschaften vgl. Lynn McDonald, The collected works of Florence Nightingale, Bd. 3: Florence Nightingale’s theology: essays, letters and journal notes, Waterloo 2002, S. 444–479.

29 Frank Foerster, Christian Carl Josias Bunsen: Diplomat, Mäzen und Vordenker in Wissen-schaft, Kirche und Politik (Waldeckische Forschungen 10), Bad Arolsen 2000. Bunsen war mit der Waliserin Francis Waddington verheiratet und vor seiner Berufung nach London im Jahr 1841 preußischer Gesandter in Rom.

30 Vgl. Bostridge, Florence Nightingale (wie Anm. 7), S. 84f.31 Ulrich Gäbler, Evangelikalismus und Réveil, in: Ulrich Gäbler (Hrsg.), Geschichte des

Pietismus, Bd. 3: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 27–38.

32 Zu Fliedner vgl. Norbert Friedrich, Der Kaiserswerther. Wie Theodor Fliedner Frauen einen Beruf gab, Berlin 2010. Zur internationalen Verlechtung vgl. Annett Büttner, Das internationale Netzwerk der evangelischen Mutterhausdiakonie, in: Ariadne 49, 2006, S. 64–71, sowie Susanne Kreutzer/Karen Nolte (Hrsg.), Deaconesses in Nursing Care: International Transfer of a Female Model of Life and Work in the 19th Century, Stuttgart 2016.

33 Vgl. Horst A. Wessel, Düsseldorf und das Deutsche Krankenhaus London, in: Düssel-dorfer Jahrbuch 73, 2002, S. 175–216. Bunsen hatte das nötige Kapital gesammelt, die Plege wurde in den ersten Jahren durch Kaiserswerther Diakonissen übernommen. Ein weiteres gemeinsames Arbeitsfeld der beiden war die Etablierung des ersten evangelischen Bischofs von Jerusalem, vgl. Martin Lückhoff, Anglikaner und Protestanten im Heiligen Land: das gemeinsame Bistum Jerusalem (1841–1886), Wiesbaden 1998.

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Krankenhaus, was Nightingale in ihrem Leben besichtigt hat und sie unterhielt lange Zeit freundschaftliche und beruliche Beziehungen zu den dort tätigen Ärzten und Kaiserswerther Diakonissen.34 Bunsen gab Nightingale die Jahres-berichte der Kaiserswerther Diakonissenanstalt, die für sie zu einer Quelle der Inspiration wurden. In ihrem Tagebuch notierte sie am 7. Oktober 1846: When

I want Erfrischung [sic] I read a little of the Jahresberichte über die Diakonissen-Anstalt

in Kaiserswerth. There is my home; there are my brothers and sisters all at work. There my

heart is, and there I trust one day will be my body.35 Bis sich dieser Wunsch umsetzen ließ, vergingen noch einige Jahre.

34 Vgl. Bostridge, Nightingale (wie Anm. 7), S. 85, S. 153, sowie Czolkoss, Möglichkeitsräume (wie Anm. 17), S. 299f.

35 Cook, Life (wie Anm. 6), S. 64. Das Original des Tagebuchs ist nicht mehr aufindbar. Die Bekanntschaft Nightingales mit den Jahresberichten wird aber auch durch andere Quellen bestätigt. Vgl. Georg Fliedner, Theodor Fliedner. Durch Gottes Gnade Erneuerer des

apostolischen Diakonissen-Amtes in der evangelischen Kirche. Kurzer Abriß seines Lebens und Wir-

kens, Kaiserswerth ²1886, S. 108. Engl. Ausgabe: Georg Fliedner, Catherine Winkworth (Übers.), Life of Pastor Fliedner of Kaiserswerth, London 1867, S. 128. Vgl. auch: Nightingale, Curriculum Vitae (wie Anm. 22), S. 93.

Abb. 2: Stammhaus der Kaiserswerther Diakonissenanstalt 1850. Dort waren sowohl das Lehrkran-kenhaus als auch das Mutterhaus, die Heimat der Schwesternschaft untergebracht (Fotosammlung der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth).

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Zum ersten Mal besuchte Nightingale Kaiserswerth im August 1850 für vierzehn Tage.36 Sie gehörte zu den zahlreichen Ausländerinnen, von denen die Engländerinnen die größte Gruppe stellten, die im 19. Jahrhundert zum hospitieren und lernen in die junge Diakonissenanstalt kamen.37 Ihre Familie hatte sie damit vor vollendete Tatsachen gestellt, denn sie befand sich damals auf der Rückkehr von einer Reise durch Ägypten und Griechenland, die sie in den Jahren 1849 bis 1850 mit dem Ehepaar Bracebridge unternommen hatte.38 Charles (1799–1872) und Selina Bracebridge (1800–1874) waren enge Freunde und geistige Mentoren Nightingales, die sie gegen ihre Familie in ihrem Enga-gement für soziale Belange und Krankenplege unterstützten. 39 Ob der Besuch spontan oder geplant erfolgte, geht aus den überlieferten Quellen nicht hervor. Tatsächlich informierte sie ihre Familie erst in einem Brief vom 12. Juli 1850 aus Berlin darüber, dass sie möglicherweise einige Tage mit Selina Bracebridge nach Kaiserswerth fahren werde.40 Durch die lange Beförderungszeit kam der Brief aber so spät an, dass die Familie nichts mehr gegen diesen Besuch unternehmen konnte. In Begleitung ihres Dienstmädchens erreichte Florence Nightingale Kaiserswerth am Nachmittag des 31. Juli 1850, stellte sich den Fliedners vor und verbrachte die erste Nacht in einem Gasthaus. Während ihres weiteren Aufenthaltes wohnte sie im Pfarrhaus und hospitierte zwei bis drei Tage in allen Abteilungen der Anstalt, wie dem Krankenhaus, dem Waisen-haus, den verschiedenen Schulen. Offenbar waren ihre ersten Berichte an die Bracebridges, die sich während Nightingales Studienaufenthalt zur Kur nach Pyrmont begeben hatten, recht ernüchternd, zumindest was den Lebensstandard in Kaiserswerth betraf. Darauf lässt der Antwortbrief von Selina Bracebridge

36 AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, IIFq 2, Fremdenbuch, S. 25. Der Eintrag Nightingales ist auf den 31.7.1850 datiert und enthält keine Angaben über das Ende des Besuchs.

37 AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, II Fq 2 Fremdenbuch. Vgl. auch: Michael Czolkoss, „Ich sehe da manches, was den Erfolg der Diakonissensache in England schaden könnte“ – English Ladies und die Kaiserswerther Mutterhausdiakonie im 19. Jahrhundert, in: Thomas K. Kuhn/Veronika Albrecht-Birkner (Hrsg.), Zwischen Aufklärung und Moderne. Erwe-ckungsbewegungen als historiographische Herausforderung, Berlin 2017, S. 255–280, sowie ders., Möglichkeitsräume (wie Anm. 17), S. 299.

38 Vom ersten Aufenthalt Nightingales sind nicht alle Briefe überliefert, vgl. McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 125.

39 Zu den Bracebridges vgl. Lynn McDonald, The collected works of Florence Nightingale, Bd. 7: Florence Nightingale’s European travels, Waterloo 2004, S. 775–776. Die Brace-bridges setzten sich bei der Familie auch für den zweiten Aufenthalt Nightingales in Kaiserswerth ein und begleiteten sie 1854 in ihren Lazaretteinsatz im Krimkrieg. In der Familie wurde Selina aufgrund ihrer Vorliebe für Griechenland und des ersten Buchsta-bens ihres Vornamens Σ genannt.

40 Brief von Nightingale an ihre Familie vom 12.7.1850, in: McDonald, Collected works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 466.

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Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

schließen: All you say of K. [Kaiserswerth] is most interesting. I am more than ever

glad you took this opportunity of going, for had you waited to go with your own people, they

would most probably have repented when they saw what a rough place it was. Or, if they had

left you there for a week or so, they would have been miserable all the time at your want of

„comforts“, an you would consequently not have been at ease. I hope you have struggled for a

tub of cold water and then the rest won’t signify – but don’t give up that, for health’s sake. I

am sure you a r e r i gh t : these fan c y 41 hospitals will never answer for England – the coarse

practical affair is what you must look to and, i f you ind s in c e r i t y and r e l i g i ou s f e e l in g

at K., that’s the school to learn it, though one hates the ugliness of nakedness. I shall make no

41 „Fancy“ ist hier negativ im Sinne von „eingebildetes“ oder „sogenanntes“ Krankenhaus gemeint.

Abb. 3: Blick in die Straße „Auf dem Wall“, die heutige Fliednerstraße, mit den Gebäuden der Diakonissenanstalt. Links ist die Rückseite des Krankenhauses mit der Diakonissenkirche zu sehen, rechts von vorn nach hinten: Kindergarten, Asyl für haftentlassene Frauen, Waisenhaus, Fliedners Wohnhaus, Verwaltung, Ev. Stadtkirche, Pfarrhaus der Gemeinde, Mühlenturm (Lithograie von J.B. Sonderland 1850, Fotosammlung der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth).

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Annett Büttner

mention of your being at Kaiserswerth in any letter to England in case you have not named

it at home. Remember that I know every moment of your time is precious and don’t expect to

hear from you now that I know you are safe. The r e . I am happy and pray constantly that

your work may be blessed, if indeed it be God’s work.42

Wie musste Kaiserswerth im Jahr 1850, in dem es offenbar nicht einmal Wasser zum waschen gab, auf eine Angehörige der höchsten Kreise Englands wirken? Die Industrialisierung hatte in Kaiserswerth durch seine schlechte Verkehrsanbindung praktisch nicht stattgefunden, bisherige Einnahmequel-len, wie die Treidelschifffahrt, die Seidenweberei und die Versorgung der am Zollhaus anhaltenden Schiffe waren ersatzlos weggebrochen. Die Bewohner dieses verarmten Städtchens, dessen „Verhältnisse wir uns nicht klein und bescheiden genug vorstellen“43 können, bezogen beispielsweise ihr Wasser aus Brunnengemeinschaften, sogenannten „Pumpennachbarschaften“.44 Das Was-ser wurde an diesen Stellen mittels Pumpen nach oben befördert und musste mit Eimern in die Häuser getragen werden. Dienstpersonal gab es, anders als in Nightingales Lebenswelt, in der Anstalt kaum, so dass diese Arbeit dort höchstwahrscheinlich von Schwestern erledigt werden musste. Daher war offenbar selbst das Wasser zum Waschen ein kostbares Gut, über das nicht in ausreichendem Maße verfügt werden konnte. Die Abwässer liefen dann über die Straßen in den Rhein bzw. in den Graben unter die Klemensbrücke, zumindest seit den 1840er Jahren in gemauerten Rinnen. Zu dieser Zeit war man selbst in den sprichwörtlich schmutzigen Arbeitervierteln Londons schon dabei, unterirdische Kanalisationen anzulegen. Der Kaiserswerther Markt war die einzige geplasterte Straße des Ortes. Schon dieses äußere Erscheinungsbild wirkte auf Florence Nightingale, die an das Leben in geräumigen Landsitzen und den modernen Teilen Londons gewöhnt war, ernüchternd. Die erst 1836 gegründete Anstalt litt stets unter inanziellen Problemen und befand sich zu dieser Zeit noch in der Aufbauphase. Diese überall spürbare Unvollkom-menheit musste zwangsläuig zu einem negativen Eindruck bei einer Dame aus der Oberschicht führen. Mit der körperlichen Plege von Kranken hatte Nightingale bisher keine Erfahrungen und empfand wohl insbesondere ihre Nacktheit als abstoßend. Folgerichtig lenkte Selina Bracebridge Nightingales

42 Brief von Selina Bracebridge an Nightingale vom 3.8.1850, zit nach: McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 490–491, Hervorhebungen im Original.

43 Hugo Weidenhaupt, Kaiserswerth in der Biedermeierzeit, in: Clemens von Looz-Corswarem (Hrsg.), Aus Düsseldorfs Vergangenheit, Düsseldorf 1988, S. 307–326, hier S. 314.

44 Vgl. Annett Büttner, Baden in Kaiserswerth, in: Düsseldorfer Jahrbuch 86, 2016, S. 213–244, hier S. 218–219. Nightingale benutzte bei ihrem zweiten Besuch offenbar die unterhalb des Mühlenturms im Rhein liegenden Badehäuser, vgl. McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 533f.

91

Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

Aufmerksamkeit auf organisatorische Dinge und den religiösen Kontext des gesamten Unternehmens. An ihren Vater schrieb Nightingale selbstverständ-lich in ganz anderem Tenor als an die Bracebridges: I have had a delightful time at

Kaiserswerth, spending two or three days in each department, so as to make myself as much

acquainted with them as I could in that time.45

Nightingale freundete sich mit einigen Diakonissen und insbesondere mit Luise Fliedner (1830–1916), einer Tochter aus der ersten Ehe Fliedners an.46 Mit ihr korrespondierte sie auf Französisch, mit Theodor Fliedner und den übrigen Familienmitgliedern ebenfalls, teilweise aber auch in Englisch, das sich Flied-ner autodidaktisch angeeignet hatte. Mit den Schwestern sprach und schrieb Nightingale auf Deutsch.47 In das Album von Luise trug sie das folgende arabische Gebet ein. Es entspricht ganz dem Geist der evangelischen Erweckungsbewegung:

Four things, O God, I have to offer Thee,

Which Thou hast not in all Thy treasary,

My Nothingsness, – my sad Necessity, –

My fatal Sin, & earnest Penitence, –

Receive these gifts, – & take the giver hence.

Kaiserswerth – Aug. 13th 1850.

Florence Nightingale, – who, with

an overlowing heart, will alwaysremember the kindness of all her

friends at dear Kaiserswerth.

„I was a stranger & you took me in.“48

Gestärkt in ihrem Wunsch, sich in praktischer karitativer Arbeit zu enga-gieren, verließ sie Kaiserswerth am 13. August 1850 wieder und reiste mit den

45 Brief Nightingales an ihren Vater vom 15.08.1850, zit nach: McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 231.

46 Ihre Mutter Friederike (1800–1842) war die erste Frau Fliedners und Vorsteherin der Diakonissenanstalt. Luise Fliedner heiratete 1855 Pfarrer Julius Disselhoff, der Fliedners Nachfolger als Vorsteher wurde.

47 Vgl. einen Brief Nightingales in deutscher Sprache an Diakonisse Sophie Wagner vom 9.10.1851, in: AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, II Kb3. Sophie Wagner (1817–1886) war als „Hausmutter“ für die organisatorische Leitung des Mutterhauses zuständig, vgl. AFKS, 4-1 92 , Schwesternakte S. Wagner.

48 AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, Va 10.

Abb. 4: Eintragung eines arabischen Gebets in das Album von Luise Fliedner (AFKS, Bestand 1-1, Va10).

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Annett Büttner

Bracebridges nach Hause. Bei der Abreise notierte sie in ihr Tagebuch: Left

Kaiserswerth, feeling so brave as if nothing could ever vex me again.49

Um die Diakonissenbewegung auch in England bekannt zu machen, verfass-te Nightingale schon auf der Heimreise in Köln und Gent auf Fliedners Bitte hin eine wohlwollende Broschüre mit dem Titel The Institution of Kaiserswerth on

the Rhine, die 1851 in London erschien.50 Es handelt sich dabei um ihre erste Publikation, der viele weitere folgen sollten. Darin stellte sie die einzelnen Anstaltsteile, wie das Krankenhaus, das Asyl für haftentlassene Frauen, die Ausbildung von Gemeindeschwestern und die übrigen Bildungseinrichtungen in Kaiserswerth ausführlich vor. Dieser Beschreibung stellte sie ihre eigenen Überlegungen zur Rolle der Frau in der Gesellschaft voran: There is an old legend

that the nineteenth century is to be the „century of women“. Whatever the wisdom, or the

foolishness, of our forefathers may have meant by this, English women know but too well that

[…] it has not been theirs. […] And whose fault is this? Not man’s. For, in no century,

perhaps, has so much freedom, nay, opportunity, been given to women to cultivate her power,

as best might seem to herself.51 Der Nightingale-Biograf Mark Bostridge bezeichnete die Publikation The institution als „largely neglected document of mid-ninteenth-century feminism“.52 Doch Nightingale war keine Vertreterin des Feminismus im eigentlichen Sinn, sie setzte sich beispielsweise nicht für das Wahlrecht für Frauen ein, da sie die politischen Kenntnisse innerhalb ihres Geschlechtes für unzureichend hielt. Ihrer Meinung nach sollten die unverheirateten Frau-en insbesondere der middle classes zunächst einmal die bereits gebotenen Bildungs- und Berufsmöglichkeiten ausschöpfen, dabei aber nicht nur ihren Geist bilden, sondern sich praktisch betätigen, eine necessary occupation inden. Als beste Möglichkeit empfahl sie dafür eine evangelische Schwesternschaft nach biblischen Vorbildern, wie sie von Fliedner unter Bezugnahme auf die dort erwähnte erste Diakonisse Phöbe gegründet worden war.53 The institution zeugt von ihrem tiefen geistigen Ringen um eine theologische und theoretische

49 Cook, Life (wie Anm. 6), S. 92. Eintragung vom 13.8.1850. Siehe auch Martha Vicinus/Bea Nergaard, Ever Yours, Florence Nightingale. Selected Letters, London 1989, S. 43, dort mit einer Quellenangabe der British Library Bl Add 45846:f66.

50 Florence Nightingale, The institution of Kaiserswerth on the Rhine, London 1851. Abdruck in: McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 492–511. Die Schrift war bereits 1959 von der Kaiserswerther Diakonisse und Archivarin Anna Sticker erstmals in Deutschland wieder herausgegeben worden. Nightingale äußerte sich erst 1897 wieder zu dieser Schrift, als sie vom British Museum um die Überlassung eines Exemplars gebeten wurde und dazu bemerkte, sie hätte nach dem Druck nie wieder an sie gedacht nur noch einige wenige schlecht erhaltene Exemplare in ihrem Haus inden können. Vgl. Bostridge, Nightingale (wie Anm. 7), S. 146.

51 Nightingale, institution (wie Anm. 50), S. 492.52 Bostridge, Nightingale (wie Anm. 7), S. 145.53 Vgl. Robert Frick, Das Amt der Diakonisse – biblische Begründung, Düsseldorf 1959.

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Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

Begründung der Plegearbeit. Auf der anderen Seite übernahm sie unhinterfragt religiöse Deutungen von Krankheiten als Strafe Gottes. Für ihr Feingefühl spricht der Wunsch, das Heft anonym erscheinen zu lassen. In einem Brief an Pfarrer Fliedner schrieb sie zur Begründung: As I have undertaken this little

exercise in obedience to your wishes, I must be allowed to stipulate that my name may never

be mentioned in connection with it – and particularly that the sisters may never known of

it. Should I ever come among them again, it might make them feel shy of me.54 Unerwähnt ließ sie hier den Aspekt, durch ihre Anonymität auch den gesellschaftlichen Ruf ihrer Familie zu schützen. Weiterhin empfahl sie Fliedner eine möglichst preiswerte Ausgabe der Schrift, um auch weniger begüterten englischen Frauen den Kauf zu ermöglichen und sie für diese Arbeit zu interessieren.

Nach ihrer Rückkehr zur Familie geriet sie in dieselben Zwänge wie vor Antritt ihrer Reise. Ihre psychisch sehr labile Schwester Parthenope hatte sie so schmerzlich vermisst, dass Florence nun verplichtet wurde, sich ihr für sechs Monate ausschließlich zur Verfügung zu stellen. Obwohl es auch in England seit einiger Zeit protestantische Schwesternschaften gab, in die Töchter hoch angesehener Familien eintraten, beharrten Mutter und Schwester auf ihrer strikten Ablehnung einer Beschäftigung von Florence in der Krankenplege. Die erzwungene Untätigkeit stürzte Florence Nightingale schließlich Ende 1850 in eine tiefe Depression, die in dem Wunsch zu sterben mündete. Auf ihre erste Zeit in Kaiserswerth blickte sie kurz darauf in ihrem Tagebuch geradezu euphorisch zurück: I have never known a happy time, except at Rome and that fortnight

at Kaiserswerth.55

Die zweite Reise nach Kaiserswerth

Es spricht für den Ruf der Diakonissenanstalt Kaiserswerth als christliche und moralisch unbedenkliche Anstalt, dass die Familie sie, wenn auch widerwillig und heimlich, 1851 zum zweiten Mal nach Kaiserswerth reisen ließ.56 Andererseits spielte auch der Zufall eine große Rolle. Ihre Familie weilte im Sommer 1851 zur Kur im böhmischen Karlsbad. Von dort aus konnte Florence, unbemerkt vom großen Familien- und Bekanntenkreis in England ein zweites Mal, nun für drei Monate, nach Kaiserswerth reisen. Auch dieser Besuch begann nicht ohne

54 Brief von Nightingale an Fliedner vom 19.08.1850, Original in AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, II Kb3, Abdruck in: McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 512.

55 Persönliche Aufzeichnung vom 7.1.1851, in: McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 97.

56 Vgl. zu dieser Reise McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 513–602. Ein die Reise vorbereitender Schriftwechsel ist nicht überliefert.

94

Annett Büttner

nervenaufreibende Szenen in der Familie. Vor der Abreise aus Karlsbad warf ihr ihre Schwester eine Perlenkette ins Gesicht, woraufhin Florence Nightingale in Ohnmacht iel. In Begleitung ihrer Mutter kam Florence schließlich am 6. Juli 1851 in Kaiserswerth an und zeigte ihr unter anderem das Pfarrhaus, in dem sie im Jahr zuvor untergebracht war. Während dieses Aufenthaltes bewohnte Nightingale ein Zimmer im benachbarten Waisenhaus. An ihre Mutter schrieb sie am 16. Juli 1851: I am no longer, I am sorry to say, in the room you saw, but I am not

at the pastor’s house at all, and therefore hardly ever seen them except when they make their

rounds. I eat now with the sisters in the great dining hall you saw, and sleep in a room in the

Orphan Asylum, the same house where my last year’s room was.57

Anlässlich dieses zweiten Besuches verfasste sie in Kaiserswerth den bereits mehrfach zitierten Lebenslauf.58 Möglicherweise hatte sie ursprünglich die Ab-sicht, sich längere Zeit in Kaiserswerth aufzuhalten, denn solch ein Curriculum Vitae wurde von jeder als Probeschwester eintretenden jungen Frau verlangt.

57 Brief von Nightingale an ihre Mutter vom 16.7.1851, zit. nach: McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 126. Vgl. auch den Brief an den Vater vom 15.8.1850, ebd., S. 231.

58 Nightingale, Curriculum Vitae (wie Anm. 22).

Abb. 5: Gartenansicht der Diakonieeinrichtungen in der heutigen Fliednerstraße. Im Vordergrund beindet sich der später verlegte Kittelbach (Lithograie von J.B. Sonderland 1850, Fotosammlung der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth).

95

Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

Interessanterweise ist Florence Nightingale sowohl im Diakonissenverzeichnis als auch im Pensionärinnenverzeichnis aufgeführt. In letzterem lautet der Eintrag:

Tag des Eintritts 6.7.1851, Abgang 7.10.1851, Bemerkungen: Wäre gern Schwester

geworden, musste aber ihrer Mutter wegen zurück, und ist jetzt Vorsteherin eines Kranken-

hauses für ausländische Gouvernanten in London.59

In der Diakonissenanstalt genoss Nightingale auch als Verfasserin der Institution of Kaiserswerth ihrem Wunsch gemäß keinen Sonderstatus und hatte sich in den streng geregelten Alltag zu fügen.60 Er begann gemäß der Haus-ordnung morgens um 5.00 Uhr, setzte sich mit Arbeit und vier zehnminütigen über den Tag verteilten spartanischen Mahlzeiten fort. Später schrieb sie, dass man mit der sparsamen Diät im Hause Fliedner nicht einmal eine Putzfrau in einem Londoner Hospital ernähren könnte.61 Fleisch gab es zweimal pro Woche, ansonsten meistens Gemüsesuppen mit Brot. Pastor Fliedner sah sie nur selten bei ofiziellen Anlässen, wie Bibelabenden oder Gottesdiensten. In einem Brief an ihre Mutter schrieb sie: The Pastor sent for me once to give me some of

his unexampled instructions; the man’s wisdom and knowledge of human nature is wonderful;

he has an instinctive acquaintance with every character in his place. Except that once I have

only seen him in his rounds.62

1851 scheint sie sich zumindest zeitweise ein Zimmer mit der Apotheken-schwester Pauline Keller geteilt zu haben, die sie auch mit den verschiedenen Arbeitsgebieten der Anstalt, wie der Zubereitung von Arzneimitteln oder der Nachtwache auf der Kinderstation, bekannt machte.63 Sie hospitierte und ar-beitete auf allen Stationen des Krankenhauses64 und der übrigen Anstaltsteile

59 AFKS, Bestand 2–1 AKD (Archiv der Kaiserswerther Diakonie, Altbestand), 93 Pensi-onärinnenverzeichnis 1845–1904. Es gibt zwei weitere Eintragungen Nightingales in das Diakonissenregister, die aber wenig aussagekräftig sind: AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, II Fg 1b Diakonissenverzeichnis 1836–1853, Nr. 389 und II Fg1e Diakonissenverzeichnis 1836–1862, Nr. 134. Eine Diakonissen-Personalakte ist nicht überliefert. Nightingale be-zahlte für ihre Unterkunft und Verplegung, was eher für den Status einer „Pensionärin“ spricht.

60 Allerdings erwähnte der nächste Jahresbericht ihren Besuch in Kaiserswerth: 15. Jahresbericht

der Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth am Rhein, Kaiserswerth 1852, S. 10. Einleitend hieß es dort: In unserem Mutterhause dahier hatten wir im letzten Jahre wieder die Freude, mehrere Chris-

tinnen aus höheren Ständen, aus verschiedenen Ländern für die christliche Liebesplege im Allgemeinen vorzubilden.

61 Vgl. Brief von Nightingale an Rev. James Hamilton vom 30.11.1864, in: AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, XIf12, Abdruck in McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 592f.

62 Brief von Nightingale an ihre Mutter vom 16.7.1851, zit. nach: McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 126–127.

63 Fr. Flad, Aus dem Leben einer Kaiserswerther Diakonisse. Schwester Pauline Keller, in: Der Armen- und Krankenfreund 1, 1930, S. 57–64, hier S. 62.

64 Das Krankenhaus verfügte über ca. 100 Betten, verteilt auf vier Stationen: Männer- und Frauenstation, Kinderstation für Mädchen unter 17 Jahren und Jungen unter sechs Jahren

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Annett Büttner

einschließlich des Waisenhauses, des Lehrerinnenseminars und des Asyls für haftentlassene Frauen.65 Wichtig für ihr eigenes Plegeverständnis waren das Baden und Verbinden von Patienten, ihre Tag- und Nachtwachen bei Sterbenden und die Anwesenheit bei den täglichen Visiten des Arztes, der nicht fest im Hospital angestellt war, sondern das Krankenhaus neben seiner Privatpraxis betreute.66 Allerdings erwähnte sie ihrer Mutter gegenüber nicht alle Tätigkeits-bereiche, so dass diese erst auf Umwegen über Mrs. Bracebridge erfuhr, dass Florence Nightingale auch bei Operationen anwesend war. Es handelte sich dabei u. a. um eine Amputation und ihre Nachsorge.67

In ihrem Tagebuch notierte sie die verschiedenen Tätigkeiten, so beispiels-weise für Freitag, den 1. August 1851:6–7 A.M. Pastor breakfasted with us and held prayers himself.

7–9 A.M Verbinden.

9–10:30 A.M. Doctors’ visit.

12–12:30 P.M. Took my place by Meurer [dem tags zuvor amputierten], who was going

on well. Every day read to the dying man and to the disigured man in the garret, who are

sowie eine Jungenstation.65 Vgl. Nightingales Tagebuch vom 6.7.1851 bis zum 25.9.1851, in: McDonald, Collected

Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 517–543.66 Erst 1867 wurde Dr. Wilhelm Hintze (1821–1892) fest angestellt, nachdem er zuvor

sowohl im Diakonissenkrankenhaus als auch im katholischen Marienkrankenhaus tätig war, vgl. AFKS, 3-1/01 Krankenhaus, 18 Die Ärzte der Diakonissenanstalt 1840–1900. Dr. Hintze hatte 1846 seine Arbeit für das Diakonissenkrankenhaus begonnen und nach seiner Festanstellung bis 1892 weitergeführt.

67 Brief von Nightingale an ihre Mutter vom 8.8.1851, zit. nach: McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 128. Siehe auch S. 231 und Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 526. Operationen wurden zur damaligen Zeit selten durchgeführt, da man sich noch in der Ära vor Einführung der Asepsis befand. Die Äther- oder Chloroformnarkose wurde dagegen seit 1847 durch den jungen Anstaltsarzt Dr. Hintze angewandt. Eine Narkose wurde bei einer Zahnextraktion 1844 durch den Bostoner Arzt Horace Wells zum ersten Mal eingesetzt, 1846 folgte dann ebenfalls in den USA die erste Operation in Vollnarkose. Vgl. Seidler/Leven, Geschichte (wie Anm. 9), S. 192. Im Jahr 1851 fanden im Diakonissenkrankenhaus nur vier Amputationen statt. Vgl. Anna Sticker, Die Ent-stehung der neuzeitlichen Krankenplege, Stuttgart 1960, S. 36 und 15. Jahresbericht der Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth am Rhein, Kaiserswerth 1852, S. 12. Üblicherweise wurden Diakonissen nur zu Operationen hinzugezogen, wenn kein Wundarzt oder Chirur-gengehilfe zu erreichen war. Vgl. das in der Diakonissenausbildung benutzte Lehrbuch: Handbuch der Krankenwartung. Zum Gebrauch für die Krankenwart-Schule der K. Berliner Charité-Heilanstalt sowie zum Selbstunterricht von Dr. C.F. Gedike, Berlin 1854, S. 106–108 sowie die Unterrichtsmitschriften: AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, Rep. II Fd3 Medizinischer Kurs, § 65, um 1840.

97

Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

not allowed to join the others. Today held prayers at 8 to the men assembled, instead of Sister

Reichardt68, who has been absent all this week.

3–3:30 Pastor came to me about the Zionsverein.69

3:30–4:15 P.M. Prayers with the men assembled.

8–9:30 Class with the preacher.70

Für ihre spätere administrative Arbeit konnte Nightingale nützliche Erfah-rungen sammeln. So kopierte sie sich Lehrmethoden und Dienstanweisungen für verschiedene Tätigkeitsgebiete, wie zum Beispiel die Küche und das Wä-schelager.71 Andererseits proitierte auch die Anstalt von ihr, da Nightingale Englischunterricht im Lehrerinnenseminar erteilte und sich in Kaiserswerth am Verkauf von Lotterielosen zu Gunsten der Anstalt beteiligte. Einen großen Teil ihrer Zeit verbrachte sie in Bibel- und Singstunden sowie Gottesdiensten und Andachten, wo sie häuig die Gebete leitete. Außerdem hatte sie das Glück, bei der Einsegnungsfeier einer Diakonisse anwesend zu sein.72 Mit Freude entdeckte sie auf einem ihrer Spaziergänge durch Kaiserswerth die Spuren ihres Landsmannes, des englischen Missionars Suitbertus, der im Jahr 713 hier verstorben und später in einem prächtigen Schrein beigesetzt worden war.73 Dem Besuch des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. in der An-stalt blieb Nightingale, anders als die meisten Diakonissen fern, da sie keine Sympathien für ihn empfand und zum anderen als einzige Aufsichtsperson auf ihrer Krankenhausstation blieb.74

68 Diakonisse Gertrud Reichardt, die erste Schwester, die sich 1836 zum Eintritt in die neu gegründete Diakonissenanstalt gemeldet hatte.

69 Unterstützungsverein für die Diakonissenarbeit im Nahen Osten, die 1851 mit der Grün-dung des Diakonissenhospitals in Jerusalem begonnen hatte.

70 Zit. nach McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 526.71 Ebd., S. 543–581. Fliedner hatte der Hausordnung, die 1850 zum ersten Mal in gedruckter

Form erschien, elf Anhänge mit Regeln und Anweisungen, u. a. für Stationsschwestern, die Patienten des Krankenhauses, den Umgang mit Leichen und die Privatplege in Fa-milien angefügt, die Nightingale sicher zur Kenntnis genommen hat. Vgl. Bibliothek der Fliedner-Kulturstiftung, GrFl IV i3.

72 Brief von Nightingale an ihre Schwester vom 4.4.1851, Vgl. McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 304 und Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 528. Die Zahl der Diakonissen betrug damals ca. 100.

73 Vgl. Tagebucheintrag vom 21.8. und 23.8.1851 in: McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 532f. Den Schrein erwähnte sie allerdings nicht, da sie die Kirche of-fensichtlich nur von außen gesehen hatte. Tatsächlich hielt sie das Kapuzinerkloster für Suitbertus’ ehemalige Wirkungsstätte.

74 Brief von Nightingale an ihre Schwester vom 19.8.1851, Vgl. McDonald, Collected Works, Bd.1 (wie Anm. 1), S. 306 und Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 531. Es handelte sich um einen kurzen Aufenthalt des Königs auf dem Bahnhof Kalkum am 16.8.1851, bei dem er vom Vorsteherpaar, von zahlreichen Diakonissen, Schülerinnen des Lehrerinnense-minars und Waisenkindern begrüßt wurde. Nightingale stand dem Militarismus insgesamt

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Annett Büttner

In Kaiserswerth schien Nightingale am Ziel ihrer jahrelang gehegten Wün-sche, sie blühte trotz des äußerst spartanischen Lebenswandels auf und sah endlich einen Sinn in ihrem Leben. In einem Brief an ihre Mutter beschrieb sie einen Spaziergang am Rhein und stellte gleichzeitig Betrachtungen über die Landschaft und die für sie typischen Charaktereigenschaften der Deutschen an: On Sunday I took the sick boys a long walk along the Rhine. Two sisters were with

me to help me to keep order; they were all in ecstasies with the beauty of the scenery. It was

like Africa turned green, but really I thought it very ine too in its way: the broad mass of waters lowing ever on slowly and calmly to their destination and all that unvarying horizon, so like the slow, calm, earnest, meditative German character. […] The world here ills my life with interest and strengthens me body and mind.75 In einem weiteren Brief an ihre Mutter gab sie ihrer neu erwachte Lebensfreude angesichts eines sinnvollen Lebensinhalts Ausdruck und hoffte auf Verständnis, da gerade die Familie sie ja jahrelang am Erreichen dieses Ziels gehindert hatte: I ind the deepest interest in everything here and am so well, body and mind. This is life – now I know what it is to

live and to love life and really I should be sorry now to leave life. I know you will be glad to

hear, dearest Mother, this.76 Ein Schreiben mit umfassenden Erläuterungen ihrer Intentionen und des Glücks, das sie angesichts einer sinnvollen Beschäftigung empfand, folgte. In ihm bat sie zum wiederholten Mal um Verständnis und Unterstützung bei ihrer Berufswahl von Seiten der Familie: Give me time, give me

faith. Trust me, help me. I feel within me that I could gladden your loving hearts which now I

wound. Say to me, „follow the dictates of that spirit within thee.’“[…] Then will I prove that I

love home and parents and sister and friends. It shall not be necessary for them to conceal where

I am and what I am doing, for it shall come home to their hearts that I am doing nothing of

which they or you, my pure, my lovely one, will be ashamed.77 Ihre Mutter bemühte sich daraufhin, Verständnis für Florence Neigungen aufzubringen78, ihre Schwes-ter Parthenope dagegen emping sie nach ihrer Rückkehr frostig und führte ihr fortwährendes Unwohlsein während der Kur auf die Aufregung über den Aufenthalt von Florence in Kaiserswerth zurück. In einem Brief beschrieb sie selbst das schwierige Verhältnis zu ihren engsten Angehörigen in dieser Zeit: I was in disgrace with them for a twelvemonth for going to Kaiserswerth. My sister has never

und dem preußischen insbesondere sehr kritisch gegenüber, vgl. McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 75–80. Zum engen Verhältnis der Diakonissenanstalt zum preußischen Königshaus vgl. Annett Büttner, Die Kaiserswerther Diakonissenanstalt und das Haus Hohenzollern, in: Wittlaer Jahrbuch 36, 2015, S. 148–160.

75 Brief von Nightingale an ihre Mutter vom 16.7.1851, in: McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 126–127.

76 Brief von Nightingale an ihre Mutter vom 8.8.1851, ebd., S. 128.77 Brief von Nightingale an ihre Mutter vom 31.8.1851, ebd., S. 129–130. Vgl. auch den

ausführlichen Brief an ihre Schwester vom 9.9.1851, ebd., S. 306–309.78 Vgl. Bostridge, Nightingale (wie Anm. 7), S. 159.

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Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

spoken the word to me since, and I really believe

that it would give my dear people less pain for me

to become a Roman Catholic and marry, than for

me to become a sister of Charity.79

Außer den Bracebridges kam auch ihr langjähriger Vertrauter, der spätere Kriegs-minister Sidney Herbert (1810–1861)80 mit seiner Frau in dieser Zeit zu einem Kurz-besuch nach Kaiserswerth.81 Fliedner soll zu ihm die folgenden lobenden Worte über Nightingale gesagt haben: No person had ever

passed so distinguished an examination, or shown

herself so thoroughly mistress of all she had to learn

as Miss Nightingale.82 Sie wurden seither von vielen Autoren immer wieder in dem Sinne zitiert, Nightingale sei die beste Schülerin Fliedners gewesen. Tatsächlich war die examination nicht wörtlich gemeint, da es zur damaligen Zeit in Kaiserswerth weder ein Curriculum der Krankenplegeausbil-dung noch eine Abschlussprüfung gab.83 Lediglich eine Stunde in der Woche gab der Anstaltsarzt theoretischen Unterricht, den Nightingale nach Auskunft ihres Ta-gebuches aber nicht besucht hat.84 Nicht

79 Brief von Nightingale an Henry Manning vom 15.7.1852, in: McDonald, Collected Works, Bd. 3 (wie Anm. 28), S. 254. Nightingale trug sich zeitweise mit dem Gedanken, zum Katholizismus zu konvertieren und in eine Barmherzige Schwesternschaft einzutreten.

80 Zu den Herberts vgl. McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 771–775.81 AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, II Fq2 Fremdenbuch, S. 28 und 30 (Rückseiten).82 Cook, Life (wie Anm. 6), S. 113 und Cecil Woodham-Smith, Florence Nightingale

1820–1910, London 1950, S. 91. Dieses Zitat stammt aus einer Rede Herberts bei einer Sitzung des Nightingale Fund am 29.11.1855.

83 Beides gab es in Preußen erst 1907 mit der Einführung des staatlichen Krankenplege-examens. Vgl. Christoph Schweikardt, Die Entwicklung der Krankenplege zur staatlich anerkannten Tätigkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Das Zusammenwirken von Modernisierungsbestrebungen, ärztlicher Dominanz, konfessioneller Selbstbehauptung und Vorgaben der preußischen Regierung, München 2008.

84 McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 514. Eventuell fand zu dieser Zeit auch kein theoretischer Unterricht durch den Arzt statt, da es, wie bereits angeführt wurde, mit Dr. Hintze nur einen niedergelassenen Arzt gab, der bei Bedarf im Krankenhaus der Diakonissenanstalt arbeitete. Erst aus dem Jahr 1867 ist ein Vertrag über eine Festan-

Abb. 6: Titelblatt mit Widmung von F. Nightingale, Notes on hospitals, London 1859 (Bibliothek der Fliedner-Kulturstiftung Kr IV N 1.5).

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Annett Büttner

umsonst wird Nightingale in einer Widmung ihres Buches Notes on hospitals an Fliedner den Begriff education in Anführungszeichen gesetzt haben.

Dass Nightingale dennoch zu den intelligentesten, aufmerksamsten und interessiertesten Schülerinnen von Pastor Fliedner gehörte, liegt durchaus im Bereich des Möglichen, da die meisten Diakonissenschülerinnen der Mittel- und Unterschicht entstammten und teilweise noch nicht einmal richtig lesen und schreiben konnten.85 Die Leitung der Diakonissenanstalt hat auch selbst kräftig bei der Entstehung der Charakterisierung als „Fliedners beste Schülerin“ mitgewirkt. In einem umfangreichen Aufsatz in der Zeitschrift „Der Armen- und Krankenfreund“ aus dem Jahr 1904 wird bereits suggeriert, sie hätte einen

Kursus in der Krankenplege durchgemacht.86 In späteren Publikationen wird dann der Topos der besten Schülerin immer wieder aufgegriffen.87

Bereits nach ihrem ersten Aufenthalt in Kaiserswerth schätzte Nightingale Pastor Fliedner ihrerseits sehr nüchtern ein: He is a man of a thousand, not agree-

able, not interesting, but if you can fancy a Napoleon who has dedicated all his gifts to God,

without Napoleon’s vanity, that is Fliedner’s character. He directs this vast establishment

with a most wonderful power of organization.88 Seine Stärke sah sie später vor allem in der pädagogischen Arbeit: Ceteris paribus, of all the men I have ever known he was the

most amusing, the most invigorating, with children. Education, not hospitals, was his forte.89

Die Engländerin bewunderte die überwiegend aus einfachen Verhältnis-sen stammenden Schwestern für ihre christliche Einstellung und die darauf beruhende Veredelung ihres Intellekts und Charakters: I am convinced now there

stellung mit ihm erhalten. Neben dem Paragraf 3, der den Unterricht für die Schwestern regelte beindet sich die Randnotiz nicht geschehen!, AFKS, Bestand 3-1/01 Krankenhaus, 14, Vertrag vom 5.8.1867.

85 Jutta Schmitt hat in einer Studie die Berufe der Väter eintretender Probeschwestern erfasst. Entgegen der Hoffnungen Fliedners meldeten sich nur wenige Töchter aus gebildeten Kreisen zum Diakonissenamt. In mehreren Aufrufen hatte er insbesondere die evangelischen Pfarrer gebeten, eine ihrer Töchter für dieses neu geschaffene, jedoch nicht unumstrittene Amt, zur Verfügung zu stellen. Vgl.: Jutta Schmidt, Beruf Schwester. Mutterhausdiakonie im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1998, S. 161–216. Die mangelnde Vorbildung der eintretenden Schwestern hatte auch Unterrichtsfächer wie Lesen, Schreiben und Rechnen zur Folge.

86 O.A., Nightingale (wie Anm. 2), S. 142.87 So unter anderem in der ersten großen Fliedner-Biograie des Archivars und Diakonie-

historikers Martin Gerhardt, vgl. Martin Gerhardt, Theodor Fliedner. Ein Lebensbild, Bd. 2, Düsseldorf 1937, S. 553.

88 Brief Nightingales an ihren Vater vom 15.8.1850, in: McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 231–232. Dabei spielte sie wohl weniger auf Napoleons Körpergröße, als vielmehr seine Durchsetzungskraft an.

89 Brief Nightingales an Henry Bonham Carter vom 24.7.1867, in: McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 597.

101

Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

can be Protestant charity as beautiful, as sensible, i. e., as well prepared and educated for its

ends as Catholic.90

Die Erfahrungen in Kaiserswerth hinterließen auch tiefe emotionale Spuren bei ihr: Yesterday the sisters mounted an old tower, eight storeys high, which stands between

us and the Rhine, and sang their sweetest songs; I was just crossing the garden and knew not

whence it came. The trees hid the top of the tower and through the still hot midday summer air

across the blue sky, it came like the voice of the angels in heaven […] I thought of the home of

happy exertion, of peaceful labour which awaits us all, my old tears lowed. Everybody sings here so beautifully and the cook practices her voice at the piano.91

In Kaiserswerth bekam Nightingale die wichtigsten Impulse für ihre weitere Arbeit und fand ihre Berufung zur Krankenplege endgültig bestätigt.

90 Brief Nightingales an ihren Vater vom 15.8.1850, in: McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 232.

91 Brief Nightingales an ihre Schwester vom 4.8.1851,in: Ebd, S. 303. Fliedner legte beson-deren Wert auf Kirchenlieder und geistliche Musik. Für die Schwestern gab er ein immer wieder überarbeitetes Diakonissenliederbuch heraus und für die pädagogische Arbeit ein weiteres, vgl. Theodor Fliedner, Diakonissen-Liederbuch, Kaiserswerth 1857 sowie Theodor Fliedner, Lieder-Buch für Kleinkinder-Schulen und die untern Klassen der Elementar-Schulen, Kai-serswerth 1842.

Abb. 7: Der von der Diakonissenanstalt 1843 erworbene Mühlenturm in Kaiserswerth, von dessen Spitze die Diakonissen sangen (AFKS, Bestand 1-2 Fam. Fliedner/Disselhoff, 3 Geburtstagsalbum für Caroline Fliedner 1884).

102

Annett Büttner

Der weitere Lebensweg Nightingales

Den Fliedners blieb sie auch in den folgenden Jahren verbunden.92 Sie bezeichnete Pastor Fliedner in ihren Korrespondenzen als ihren alten Freund und unter-stützte seine Aufbauarbeit in Syrien und in Jerusalem inanziell.93 Nightingale wurde Patin des nach ihrem zweiten Besuch geborenen Fliednersohnes Carl (1853–1930), mit dem sie auch später noch korrespondierte.94 Sie bemühte sich 1880, wenn auch vergeblich, um seine Anstellung als Arzt beim German Hospital in London.95 Zuvor hatte sie sich an seiner Ausbildung inanziell beteiligt.96

Anlässlich Theodor Fliedners sechstem und zugleich letztem Besuches in London im Jahr 1853 empfahl Nightingale ihm, um einen Empfang bei Königin Victoria nachzusuchen. Sie hielt es jedoch für angebrachter, dass diese Audienz durch den preußischen Gesandten von Bunsen arrangiert würde. Gleichzeitig vermittelte sie die Begleitung Fliedners durch Charles Bracebridge und ein Treffen mit einem amerikanischen Bischof.97 Das äußerst breit gefächerte

92 Vgl. McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 581–602.93 McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 479, S. 745; Collected Works, Bd. 3

(wie Anm. 28), S. 200; Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 584–585.94 Vgl. McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 717, sowie Brief von Nightingale

an Fliedner vom 10.9.1853, in dem sie die Übernahme der Patenschaft bestätigte. Origi-nal in AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, II Kb3, Abdruck bei McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 721–722 sowie McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 582. Bei seiner Taufe war sie allerdings nicht persönlich anwesend. Carl Fliedner ließ sich später als Arzt in Monsheim (Rheinhessen) nieder und nahm seine Mutter Caroline nach ihrem Rücktritt als Vorsteherin der Diakonissenanstalt bei sich auf.

95 Briefe von Nightingale vom 19.11.1880 und 2.12.1880, Originale in AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, XII 8, Abdruck in McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 722–723 und Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 600–601.

96 Sie zahlte in die nach Flieders Tod gegründete Familienstiftung einen Betrag ein, der für die Ausbildung der Kinder bestimmt war, und bat auch den Herausgeber der Zeitschrift Evangelical Christendom um den Abdruck eines Spendenaufrufs. Vgl. Brief von Nightin-gale an Rev. James Hamilton vom 30.11.1864, Original in AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, XIf12 (dort auch drei weitere Briefe an Hamilton), Abdruck in McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 592–596 sowie den Abdruck des Spendenaufrufs ebd., S. 587–592. Vgl. auch Anm. 130.

97 Vgl. die Ausführungen bei McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 581–582 und zwei Briefe von Nightingale an Fliedner vom 9.5.1853 in: AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, II Kb3, die in den Gesammelten Werken nicht enthalten sind. Fliedners Reiseziel bestand in der Belebung der ‚Diakonissensache‘ in England und Schottland und der Sammlung von Spenden für den Ausbau des Diakonissenkrankenhauses in Kaiserswerth. Zu einer Audienz bei Königin Victoria scheint es nicht gekommen zu sein und Nightingale traf er bei seinem Besuch nicht an. Vgl. Gerhardt, Fliedner (wie Anm. 86), S. 555–557 sowie Brief von Nightingale an Fliedner vom 11.7.1853, in: O.A., Nightingale (wie Anm. 2), S. 145.

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Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

Interessenspektrum Nightingales spiegelt sich auch in der weiteren Korres-pondenz mit Kaiserswerth wieder. So bat Luise Fliedner, die in Kaiserswerth als Vorsteherin der 1852 gegründeten „Heilanstalt für gemütskranke Frauen“98 arbeitete, für diese Arbeit um entsprechende Fachliteratur, die Nightingale ihr von London aus zusandte.99

Florence Nightingales Vater bewilligte ihr 1853 eine jährliche Rente von 500 Pfund, die es ihr im August ermöglichte, ehrenamtliche Leiterin eines Hospitals für erkrankte adlige Frauen in London zu werden.100 Diese Tätig-keit erschien der Familie aufgrund der gehobenen Klientel gesellschaftlich gerade noch akzeptabel. Zuvor hatte sie einige Wochen bei den Barmherzigen Schwestern im Pariser Maison de la Providence hospitiert, wo sie sich mit den Masern inizierte und vorzeitig nach Hause zurückkehren musste. Sie hätte ihr Londoner Institut gern nach dem Kaiserswerther Modell eingerichtet, hielt es dafür aber bei näherer Betrachtung für nicht geeignet. So engagierte sie zwar Probeschwestern, musste sich aber in der praktischen Krankenplege auf lieblose und ungebildete Wärterinnen verlassen.101 Lange Zeit suchte sie einen geeigneten Reverend als Seelsorger. Die neue Leitungsrolle brachte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit ihrem Selbstbild überein. An Fliedner schrieb sie: La

supériotité ne ma va nullement – je voudrai bien être encore „Probeschwester“ á Kaiserswerth.

… J’envie souvent un peu mes chères seurs de Kaiserswerth, qui ont un père, une mere, tant

de guides et de secour spirituels. [Die Leitungsrolle gefällt mir gar nicht, ich wäre lieber noch Probeschwester in Kaiserswerth. Ich beneide oft ein wenig meine

98 Zur Geschichte der Heilanstalt vgl. Uwe Kaminsky, Hilfe für die „unglücklichsten aller Kranken“ – eine Heilanstalt für „Gemütskranke“ am Kaiserswerther Markt, in: Wittlaer Jahrbuch 40, 2019, S. 106–109. Die Anstalt zog in den 1880er Jahren vom Markt auf den Johannisberg vor den Toren Kaiserswerths, wo nach den modernsten Ansichten der Psychiatriereform gebaute neue Gebäude errichtet worden waren, vgl. Max Tippel, Die Heilanstalt Johannisberg bei Kaiserswerth während der ersten 50 Jahre ihres Bestehens 1852–1902, Kaiserswerth 1902. Sie existiert bis heute als Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Florence-Nightingale-Krankenhauses der Kaiserswerther Diakonie.

99 Brief von Nightingale an Luise Disselhoff, geb. Fliedner vom 23.04.1857, in: AFKS, 1–2 Familienarchiv Fliedner/Disselhoff, 64.

100 Sie selbst nannte es Institution for ill Gentlewomen, die ofizielle Bezeichnung lautete Estab-

lishment for Gentlewomen during Illness. Vgl. McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 26.

101 Brief von Nightingale an Caroline Fliedner vom 24.4.1853, in: O. A., Nightingale (wie Anm. 2), S. 143. Dort auch weitere Informationen zum Institut. Als Hinderungsgründe, es tatsächlich als Diakonissenanstalt zu organisieren, sieht sie die „undiakonische“ Kli-entel aus höheren Gesellschaftskreisen, obwohl sie lieber Arme geplegt hätte. Weitere Gründe sind für sie die Protektion durch höchste Stellen wie die Königin, Komitees und Bischöfe: So hat Kaiserswerth nicht angefangen. Tatsächlich konnte Fliedner sein Werk aber nur mit Unterstützung des preußischen Königs, preußischer Ministerien und Angehöriger der höchsten Gesellschaftskreise aufbauen, Vgl. Büttner, Diakonissenanstalt (wie Anm. 73).

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Annett Büttner

lieben Schwestern in Kaiserswerth, die einen Vater, eine Mutter, und so viele Führer und geistige Sicherheit haben.]102

Weltweit bekannt wurde Florence Nightingale dann vor allem durch ihren Einsatz im Krimkrieg, den Russland gegen eine Allianz aus Frankreich, England, die Türkei und Sardinien-Piemont zwischen 1854 und 1856 führte.103 Dabei starben von den fast 100.000 beteiligten britischen Soldaten nur 2.000 direkt auf dem Schlachtfeld und 1.800 später an ihren Verwundungen. 17.600 jedoch erlagen den verschiedensten Infektionen.104 Zeitweise war fast die Hälfte der englischen Expeditionsarmee wegen Krankheit kampfunfähig, die Sterblich-keitsrate in den Lazaretten lag höher als 40 %.105 Die britische Armee hatte ihr Sanitätswesen jahrzehntelang vernachlässigt und die Ausstattung der Soldaten weder auf einen langen Krieg noch auf die besonderen klimatischen Verhält-nisse in den feuchtkalten Schluchten der südwestlichen Krimküste eingerichtet. Da keine Lazaretteinrichtungen mit übergesetzt worden waren, wurden die Kranken und Verwundeten auf schlecht ausgerüsteten Schiffen an die Basis am Bosporus gebracht. Infektions- und Mangelkrankheiten wie Cholera, Typhus und Skorbut grassierten.106 Der Krimkrieg war auch die Geburtsstunde der modernen Kriegsberichterstattung.107 Informationen über das ungenügende britische Sanitätswesen in der London Times löste Empörung aus, denn „ein plegerisch schlecht versorgtes Heer war zur nationalen Schande geworden.“108 Damit wurde er zum Wendepunkt in der Militärmedizin und -krankenplege. Am 14. Oktober 1854 wandte sich Nightingale an Kriegsminister Sidney Herbert und bot ihm an, mit einer Gruppe von Krankenschwestern in den Hospitälern von Skutari (heute ein Stadtteil Istanbuls am asiatischen Ufer des Bosporus) zu

102 Brief von Nightingale an Pf. Fliedner vom 10.9.1853, in: AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, II Kb3. Abdruck in englischer Übersetzung bei McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 582.

103 Sue M. Goldie, „I have done my duty“: Florence Nightingale in the Crimean War 1854–56, Manchester 1987.

104 Nightingale, Bemerkungen (wie Anm. 21), S. 10.105 Dieter Riesenberger, Das Internationale Rote Kreuz 1863–1977. Für Humanität in Krieg

und Frieden, Göttingen 1992, S. 14.106 Peter Kolmsee, Unter dem Zeichen des Äskulap. Eine Einführung in die Geschichte des

Militärsanitätswesens von den frühesten Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Bonn 1997, S. 108f.

107 Vgl. Ute Daniel, Der Krimkrieg 1853–1856 und die Entstehungskontexte medialer Kriegsberichterstattung, in: Dies. (Hrsg.), Augenzeugen. Kriegsberichterstattung vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 40–67.

108 Herbert Grundhewer, Von der freiwilligen Kriegskrankenplege bis zur Einbindung des Roten Kreuzes in das Heeressanitätswesen, in: Johanna Bleker/Heinz-Peter Schmiedebach (Hrsg.): Medizin und Krieg. Vom Dilemma der Heilberufe 1865 bis 1985, Frankfurt a. M. 1987, S. 29–44, hier S. 31.

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Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

arbeiten. Am 21. Oktober 1854 reiste sie mit einer ersten Gruppe von 38 Kran-kenplegerinnen, davon zehn katholische Schwestern, ab. Eine zweite mit 48 Schwestern folgte im Dezember. Dem Einluss Florence Nightingales ist es zu verdanken, dass Barackenlazarette auf der Krim und am Bosporus errichtet und erträgliche hygienische Bedingungen geschaffen wurden. Die Sterblichkeit der erkrankten Soldaten sank von 25 % im Winter 1854/1855 auf 2,21 % in den folgenden Monaten.109 Dies gelang ihr vor allem dank ihres hohen gesellschaft-lichen Ranges, der persönlichen Bekanntschaft mit Kriegsminister Herbert und der ihr aus Spendenmitteln zur Verfügung gestellten Ausrüstungsgegenstände.110 Sie selbst übernahm die Rolle einer „Plegedienstleiterin“, schrieb Briefe an die Familien der Soldaten und sah nachts mit einer Lampe in der Hand nach ihnen. Daher ist sie als „Lady with the lamp“ in die Geschichte des Lazarettwesens eingegangen. Fliedner bezeichnete sie in Anlehnung an die alttestamentliche Prophetin Deborah als mother in Israel, Nightingale empfand dagegen mother

in the Coldstream passender.111 Auch eine Kaiserswerther Diakonisse, die im Deutschen Hospital in Konstantinopel im Dienst war, half vierzehn Tage im englischen Lazarett, ehe sie wegen ihrer mangelhaften Englischkenntnisse und der im eigenen Krankenhaus erhöhten Patientenzahl ihren Dienst wieder aufgeben musste.112 Der Vorsteher der Kaiserswerther Anstalt bot Nightingale daraufhin brielich sechs bis sieben Diakonissen an, von denen wenigstens drei der englischen Sprache mächtig waren. Trotz der mittlerweile auf etwa 5.000 angewachsenen Zahl der Kranken und Verwundeten lehnte Nightingale das Angebot dankend ab, da sie keine Unterkünfte für die Plegerinnen bieten könne und diese auch zwingend englisch sprechen müssten.113

Die interkonfessionelle Konkurrenz zwischen den evangelischen und der katholischen Kirche machte sich auch auf dem Kriegsschauplatz in einem „Wettlauf“ um die Präsenz in den jeweiligen Hospitälern bemerkbar. In deut-schen Publikationen wurde Nightingale als Vertreterin der Protestanten und als evangelischer Vorposten unter den von Frankreich gesandten Barmherzigen

109 Kolmsee, Äskulap (wie Anm. 106), S. 109.110 Mark Harrison, Krieg und Medizin im Zeitalter der Moderne, in: Melissa Larner (Hrsg.):

Krieg und Medizin, Göttingen 2009, S. 12–29, hier S. 16.111 Brief Nightingales an einen unbekannten Empfänger vom 5.5.1855, in: McDonald, Coll-

ected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 141.112 Vgl. Brief Nightingales an Sydney Herbert vom 25.11.1854, in: Lynn McDonald, The

collected works of Florence Nightingale, Bd. 14: Florence Nightingale: the Crimean war, Waterloo 2010, S. 67.

113 Brief in französischer Sprache von Nightingale an Caroline Fliedner vom 18.01.1855 in: AFKSK, Nachlass Fliedner Rep. IV b2; Abdruck in englischer Übersetzung in McDonald, Collected Works, Bd. 14 (wie Anm. 111), S. 120. Wie die Diakonissen, so sprach auch Nightingale die Vorsteherin als „Mutter“ an.

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Annett Büttner

Schwestern im Krimkrieg angesehen.114 Die Zeitschrift des Diakonissenmut-terhauses Kaiserswerth schrieb dazu: Wir haben in den Zeitungen gelesen von den

kathol i s ch en ba rmhe r z i g en Schwes t e r n , daß sie zu Hunderten nach dem Mor gen -

l and e geschifft sind, um dort die v e r wunde t en Sol da t en , besonders die französischen,

zu plegen. Da sind wir brielich und mündlich gefragt worden: „Was thun die evangelischen Schwestern und andere Plegerinnen auf diesem Feld der Barmherzigkeit, wo noch lange nicht Hülfe genug vorhanden ist? Und wie wird sonst noch in s e e l so r g e r l i ch e r Hins i ch t f ü r

d i e v e r wund e t en Pr o t e s tan t en unt e r d i e s en So l da t en g e so r g t?“ Da freut es

uns antworten zu können, daß auch unsere e vange l i s ch e K i r ch e nicht säumig gewesen

ist, ihre Mannschaften der Barmherzigkeit auf die Felder des Bluts und der Thränen zu

senden.115 Der Beitrag hebt insbesondere die kurzzeitige Tätigkeit Nightingales im Krankenhaus der Diakonissenanstalt Kaiserswerth und ihre „protestantischen Tugenden“ Bescheidenheit, Demut, Selbstverleugnung, Umsicht und Liebe116 hervor, die auch von einer Diakonisse als vorherrschende Eigenschaften gewünscht wurden.

In den letzten Jahren mehren sich in der britischen Öffentlichkeit kritische Stimmen zu Nightingales Einsatz im Krimkrieg und ihrer Person im Allgemei-nen, die teilweise in ein regelrechtes „trash Nightingale movement“ ausarten.117 Die Nightingale-Gegner schrecken dabei nicht vor Falschinformationen zu-rück, wie etwa einer behaupteten Drogensucht oder einer Syphiliserkrankung. In jüngster Zeit entzündet sich die Kritik unter anderem an der Person von Mary Seacole (1805–1881), die ebenfalls im Krimkrieg, allerdings direkt auf der Krim als Hotelbetreiberin und Krankenplegerin tätig war und angeblich von Nightingale behindert und diskriminiert wurde.118

114 Die französische Heeresverwaltung gewann bis zum November 1854 62 Ordensschwestern für ihre Feldlazarette. Dabei handelte es sich u. a. um Vinzentinerinnen und Niederbronner Schwestern. Vgl. dazu: Luzian Pleger, Die Kongregation der Schwestern vom Allerhei-ligsten Heilande, genannt: „Niederbronner Schwestern“, Freiburg i. B. 1921, S. 124f.

115 O. A., Die protestantische Plege der kranken und verwundeten Soldaten in den Hospitälern der Türkei in leiblicher und geistlicher Hinsicht, in: Der Armen- und Krankenfreund 6, 1854, S. 2–9, hier S. 2, Hervorhebung im Original. Zur Kriegskrankenplege in Deutschland Vgl. Annett Büttner, Die konfessionelle Kriegskrankenplege im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2013. Zur Konkurrenz katholischer und evangelischer Organisationen in diesem Krieg vgl. den Briefwechsel Fliedners mit Nightingale in: O.A. Florence Nightingale und Kaiserswerth (wie Anm. 2), S. 146–152.

116 O.A., Plege (wie Anm. 114), S. 2.117 McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 4, S. 843–847, sowie Collected Works,

Bd. 14 (wie Anm. 111), S. 32–40.118 Mary Seacole war gebürtige Jamaikanerin. Vor dem Londoner St. Thomas Hospital, dem

auch die von Nightingale gegründete Krankenplegeschule angegliedert war, beindet sich seit 2016 eine überlebensgroße Seacole-Statue. 2004 war sie bei einer BBC-Umfrage zur „Bedeutendsten schwarzen Britin“ (Greatest Black Briton) gewählt worden, siehe: http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/3475445.stm; (14.7.2019). Vgl. dazu auch: Lynn McDonald, Mary Seacole. The Making of the Myth, Toronto 2014.

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Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

Aus dem Krieg kehrte Nightingale als chronisch Kranke zurück. Sie hatte sich bei ihrem Besuch auf der Krim mit der damals unheilbaren Brucellose, einer auch als Mittelmeeriber bezeichneten Bakterieninfektion angesteckt. Die Krankheit nahm bei Nightingale einen chronischen Verlauf, der sich insbesondere durch Entzündungen an der Wirbelsäule, in den Gelenken und mit wechselnden Symptomen wie Fieber, unregelmäßigem Herzschlag etc. bemerkbar machte.119 Seither führte sie ein völlig zurückgezogenes Leben und verließ ihr Haus nur noch selten. Nur mit größter Willensanstrengung verfass-te sie in den folgenden Jahren zahlreiche Gutachten und Publikationen, u. a. zur Verbesserung der Sanitätsverhältnisse in den britischen Hospitälern und der britischen Armee sowie in der indischen Kolonie. Darin schlug sie unter anderem den Ausbau des militäreigenen Sanitätswesens vor, da sie Kriege als eine staatliche Angelegenheit betrachtete, deren Folgen auch vom Staat zu tragen seien. Der Schweizer Philanthrop Henry Dunant (1828–1910), Gründer des Internationalen Roten Kreuzes, der Nightingale sehr verehrte und von ihr angeregt wurde, propagierte andere Lösungsansätze. Er schlug die Verwen-dung freiwilliger Hilfskräfte vor, da die Behörden im Kriegsfalle außer Stande seien, ausreichend für die Verwundeten zu sorgen. Analog zum bürgerlichen Familienmodell kamen für ihn überwiegend Frauen in Frage, die dank ihrer vermeintlich angeborenen Fähigkeiten, wie Hingabe, Liebe und Zartgefühl für die Plege von Verwundeten prädestiniert erschienen, während Mietlinge fast immer teilnahmslos und unfreundlich seien.120 Sein kostengünstigeres Modell setzte sich schließlich international durch.121

Ein zu ihren Ehren gesammelter „Nightingale Fund“ ermöglichte der Engländerin 1860 die Gründung einer weltlichen Krankenplegeschule am privaten St. Thomas Hospital in London, auf die an späterer Stelle noch einmal eingegangen wird. Agnes Jones (1832–1862), eine der ersten Absolventinnen,

119 Seit ihrer Rückkehr aus dem Krimkrieg wird über die Art ihrer Erkrankung spekuliert. So war in der Öffentlichkeit u. a. die Rede von Bleivergiftung, Drogensucht, Syphilis oder psychosomatischen Reaktionen auf das schwierige Verhältnis zu Mutter und Schwester. Vgl. McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 845–846. Die folgende Publika-tion hat jedoch eine Erkrankung an Brucellose schlüssig nachgewiesen: David B. Young, Florence Nightingale’s fever, in: British Medical Journal 311, 1995, S. 1697–1700.

120 Henry Dunant, Der preussische Hof und seine Sympathien für das internationale Humanitätswerk.

Aufgabe der Frauen in Kriegs- und Friedenszeiten, in: Rudolf Müller, Entstehungsgeschichte des Roten Kreuzes und der Genfer Konvention, Stuttgart 1897, S. 332–380, hier S. 370.

121 1864 wurde die Genfer Konvention unterzeichnet und erste Rot-Kreuz-Vereine gegründet. Zur Entwicklung in Deutschland vgl. Büttner, Kriegskrankenplege (wie Anm. 114). Zu Nightingales Beschäftigung mit der Genfer Konvention, dem Deutsch-Französischen Krieg und anderen Kriegen siehe: Lynn McDonald, The collected works of Florence Nightingale, Bd. 15: Florence Nightingale on wars and the war ofice, Waterloo 2011.

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Annett Büttner

Abb. 8: Florence Nightingale im Alter (National Portrait Gallery London).

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Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

wurde zu einer wichtigen Mitstreiterin Nightingales.122 Sie hatte ebenfalls Kaiserswerth besucht und übernahm 1865 die Leitung der neu eingerichteten Krankenstation des Liverpooler Arbeitshauses, wo sie bereits drei Jahre später an Typhus verstarb. Nightingale widmete ihr einen ausführlichen Nachruf in der Monatsschrift Good Words.123 Aus dieser Schrift stammt der oft zitierte aber selten mit einer Quellenangabe versehene Ausspruch „Die Krankenplege ist eine Kunst“, die im Original wie folgt lautet: … this is no holiday work. Nursing

is an art and, if it is to be made an art, requires as exclusive a devotion, as hard a prepara-

tion, as any painter’s or sculptor’s work, for what is the having to do with dead canvas or

cold marble compared with having to do with the living body, the temple of Gods spirit?124

Mit der Publikation Notes on Nursing: What it is, and what it is not aus dem Jahr 1860 schuf Florence Nightingale das erste von einer Frau verfasste Lehrbuch der Krankenplege.125 Sie gilt damit als Begründerin der Plegewissenschaft. Neben ärztlichem Wissen gab es nun eigenes, theoretisch begründetes plegerisches Fachwissen. Die Publikation war überwiegend für die häusliche Plege gedacht und wurde bald um eine spezielle Ausgabe für die Arbeiterklasse ergänzt.126 Nightingale brachte mehrere überarbeitete Nachaulagen beider Bücher heraus, die in viele Sprachen übersetzt wurden.127

Ab 1896 war Nightingale weitgehend ans Bett gefesselt, ihr Seh- und Er-innerungsvermögen ließen zunehmend nach, so dass sie kaum noch Besucher emping. Eine in London weilende Kaiserswerther Diakonisse war 1904 wohl die letzte nicht zur Familie gehörende Person, die ihr einen Besuch abstattete.128

122 Agnes Jones war 1853 für kurze Zeit und 1860 für ein ganzes Jahr in Kaiserswerth. 1861 gab es Unstimmigkeiten zwischen ihr und Nightingale, weil die strikt evangelikal eingestellte Jones gegenüber Fliedner behauptet hatte, es gebe keinerlei christliche Unterweisung in Nightingales Krankenplegeschule in London. Vgl. Lynn McDonald, The collected works of Florence Nightingale, Bd. 6: Florence Nightingale on public health care, Waterloo 2004, S. 240–325, S. 678 und ders., Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 583.

123 Florence Nightingale, Una and the Lion, Abdruck in McDonald, Collected Works, Bd. 6 (wie Anm. 121), S. 290–301. Deutsche Übersetzung unter dem Titel: O. A., Erinnerungen

an Agnes Elisabeth Jones von ihrer Schwester. Aus dem Englischen von der Verfasserin der „Erinnerungen an Gräin Mathilde von der Recke-Volmerstein“ [Marie de Lanburg, geb. Gräin von der Recke-Volmerstein], Breslau 1875.

124 McDonald, Collected Works, Bd. 6 (wie Anm. 121), S. 291.125 Nightingale, Bemerkungen (wie Anm. 21).126 Vgl. Nightingale, Notes on Nursing for the Labouring Classes 1861, in: McDonald, Collected

Works, Bd. 6 (wie Anm. 121), S. 17–162. Dies war eine preiswertere und an die Bedürfnisse der Arbeiterfrauen angepasste Ausgabe und enthielt ein Kapitel über Säuglingsplege.

127 Vgl. McDonald, Collected Works, Bd. 6 (wie Anm. 121), S. 17–29.128 McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 517; O. A., Nightingale (wie Anm. 2),

S. 153.

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Annett Büttner

Florence Nightingale starb 1910 im Schlaf und wurde auf dem Friedhof East Wellow (Hampshire) in der Nähe des Familiensitzes ihrer Schwester beerdigt.

Das Verhältnis Nightingales zu Kaiserswerth zwischen Kritik und In-spiration

Als Theodor Fliedner am 4. Oktober 1864 starb, schrieb sie an die Tochter Luise: Quelle nouvelle m’apprenez vous. C’est comme si j’avais perdu mon père. C‘est lui

qui fut mon premier maître ici. Quand j’atais presque enfant, un de les premiers Rapports

m‘ est tombé dans les mains. Et c’est la ce qui a déterminé ma vie. [Welche Neuigkeit schreiben Sie mir. Es ist, als hätte ich meinen Vater verloren. Er war hier mein erster Lehrmeister. Als ich noch fast ein Kind war, iel mir einer seiner ersten Berichte in die Hände. Das hat mein Leben bestimmt.]129 Ende des Jahres veröffentlichte Nightingale einen Nachruf auf Fliedner in der englischen Zeitschrift Evangelical Christendom. Darin gab sie nicht nur eine detaillierte Schilderung seines Todes, die sie offensichtlich von der Familie bekommen hatte, sondern auch einen ausführlichen Überblick zum aktuellen Stand der Diakonissenarbeit in Deutschland und auf den Auslandsstationen. Sie berich-tete über die Weiterführung der Arbeit in Kaiserswerth durch die Vorsteherin und Witwe Fliedners Caroline (1811–1892) und ihren Schwiegersohn Pfarrer Julius Disselhoff (1827–1896)130 und bat zugleich um Spenden, sowohl für die Diakonissenanstalt als auch die Fliedner-Familienstiftung.131

Nach ihrer Rückkehr aus Kaiserswerth hatte sich Nightingale zunächst für den Export des Diakonissenmodells nach England eingesetzt, bevor sie auf diesem Feld andere Wege beschritt. I wish the system could be intruduced in England,

where thousands of women have nothing to do and where hospitals are ill nursed by a class of

129 Brief von Nightingale an Luise Disselhoff, geb. Fliedner vom 18.10.1864, Original in: AFKSK, 111 Nachlass Fliedner, II Mb 6. Abdruck in: McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 585–586. In gleichem Sinn äußerte sich Nightingale in einem Brief an Mary Jones, vgl. ebd., S. 586–587.

130 Pfarrer Disselhoff beurteilte sie kritisch, vgl. McDonald, Collected Works, Bd. 3 (wie Anm. 28), S. 452, S. 455, S. 469–470.

131 Aufsätze Nightingales in: Quartalszeitschrift der Evangelischen Allianz Evangelical Christendom: Its state and prospects 12, 1864, S. 1–4, Abdruck in: McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 587–591. Der Spendenaufruf war nicht erfolgreich, von Seiten der Öffentlichkeit kamen lediglich 17 Pfund ein, Nightingale sammelte von persön-lichen Freunden 200 Pfund. Vgl. Brief von Nightingales Cousin Henry Bonham Carter an Caroline Fliedner vom 31.7.1865, in: AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, IV b2. Carter erbot sich auch, in England im Namen Nightingales Werbung für das Mädchenpensionat der Diakonissenanstalt in Hilden zu machen, da Nightingales Gesundheitszustand ihr dies persönlich unmöglich machte.

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Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

women not it to be household servants132, schrieb sie 1852 in einem Brief. Ihre und Fliedners Intentionen deckten sich mit dem bereits angeführten transnationalen Charakter von Religion und insbesondere der evangelischen Erweckungsbewe-gung.133 Dennoch ließ sich dieser Wunsch nur rudimentär umsetzen und kam über einzelne kleinere Schwesternschaften, wie die North London Deaconess Institution (heute Deaconess Community of St. Andrew), die ihre innere Verfas-sung sehr schnell an britische Verhältnisse anpasste, nicht hinaus. Nightingale selbst formulierte ihre Bedenken in einem Brief an die Kaiserswerther Vorste-herin Caroline Fliedner: Ich sehe da manches, was dem Erfolg der Diakonissensache in

England schaden könnte.134 Wie Michael Czolkoss herausgearbeitet hat, standen dem vor allem gesellschaftliche Gründe entgegen. Seine Thesen besagen, dass beispielsweise das liberalere Frauenbild in England mit der patriarchalischen Kultur der Diakonissenmutterhäuser kollidierte und eine Berufstätigkeit von Frauen auch außerhalb religiöser Institutionen in einer hoch entwickelten Wirtschaft schon möglich war.135 Weitere Hinderungsgründe bestanden in der konfessionellen Zersplitterung der evangelischen Kirche, die zu einer Vielzahl miteinander konkurrierender Neugründungen von Schwesternschaften führte, die sich zudem stets gegen den Anschein wehren mussten, eine den katholischen Schwesternschaften auch nur annähernd ähnliche Organisation zu sein. Nicht zuletzt stand das Distinktionsbemühen der upper-class-ladies dem Egalitätsprin-zip innerhalb diakonischer Schwesternschaften gegenüber. Die Vertreterinnen dieser gehobenen Gesellschaftsschicht wollten sich überwiegend innerhalb ihrer eigenen Klasse in sozialen Berufen ausbilden lassen und dann Leitungs-funktionen übernehmen. In Schwesternschaften nach Kaiserswerther Vorbild mussten sie jedoch zunächst die Probezeit mit allen anderen neu eingetretenen Schwestern aus der Mittel- und Unterschicht gemeinsam absolvieren, ehe sie, aufgrund ihrer besseren Vorbildung, meist sehr schnell in Leitungspositionen aufstiegen. Wie noch gezeigt wird, berücksichtigte Nightingale später in der

132 Brief Nightingales an Samuel Gridley Howe vom 20.6.1852, zit. nach McDonald, Collec-ted Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 581. S. a. Brief von Nightingale an Theodor Fliedner vom 10.1.1861 über das Diakonissenwerk in England, in: AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, II Kb 3 und Brief Nightingales an Theodor Fliedner vom 29.7.1861 über den Einseg-nungsgottesdienst von Diakonissen, in: AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, II Kb 3, Abdruck in McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 582–583.

133 Vgl. Osterhammel, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 31), S. 473.134 Nicht im Original überlieferter Brief von Nightingale an Caroline Fliedner vom 24.4.1853,

abgedruckt in: O. A., Nightingale (wie Anm. 2), S. 143–145, hier S. 143.135 Czolkoss, English Ladies (wie Anm. 37), S. 277–279 und Ders., Möglichkeitsräume (wie

Anm. 17), S. 37–50. Vgl. auch: Carmen M. Mangion, „No nurses like the deaconesses?” Protestant deaconesses and the medical marketplace in late-nineteenth-century England, in: Kreutzer/Nolte, Deaconesses (wie Anm. 32), S. 161–184.

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Annett Büttner

von ihr gegründeten Krankenplegeschule diese Klassenunterschiede. „Dass mit Florence Nightingale, trotz aller freundschaftlichen Verbundenheit, die wichtigste Akteurin der Reform der englischen Krankenplege der Kranken-plegediakonie letztlich ablehnend gegenüberstand, war sicherlich ein wichti-ger Grund für das Scheitern der Etablierung von Diakonissenanstalten nach deutschem Vorbild auf der Insel.“136

War Nightingales Publikation The institution von 1851 weitgehend von Wohl-wollen und Bewunderung für das Werk Theodor Fliedners geprägt, stellte sich das Verhältnis Jahre später ambivalenter dar. Insbesondere die hygienischen Verhältnisse im Krankenhaus beurteilte sie aus der Perspektive einer erfahre-nen Plegetheoretikerin sehr kritisch, die geistliche Betreuung der Kranken durch die Diakonissen und den Unterricht der Schülerinnen des Lehrerinnen-seminars hob sie dagegen lobend hervor.137 Ihren Aufenthalt in Kaiserswerth erklärte sie vor allem mit der Tatsache, dass Kaiserswerth zu dieser Zeit die einzige Möglichkeit geboten habe, überhaupt etwas über Plege zu lernen. In einem Brief aus dem Jahr 1896 äußerte sie sich wie folgt: Kaiserswerth – the nurse

was nil, the hygiene horrible, but the tone was excellent, admirable and Pastor Fliedner’s

addresses to the pupil schoolmistresses the very best I ever heard, and the penitentiary outdoor

work and vegetable gardening under a very capable sister excellently adapted to the case.138

And Pastor Fliedner’s solemn and reverential teaching to us of the sad secrets of hospital life

what I have never heard given in England. But the hospital was certainly the worst part of

Kaiserswerth Institution. […] I took all the training that was to be had – there was none to

be had in England.139 Tatsächlich waren im Jahr 1850 225 der 605 Patienten des Diakonissenkrankenhauses von Krätze befallen, weitere 42 hatten anderen Hautkrankheiten.140 In den folgenden Jahren sehen die Zahlen ähnlich aus. Dies lag vor allem an den beengten Wohnverhältnissen und den mangelhaften hygienischen Bedingungen, die die Ausbreitung von Parasiten beschleunigten und den Ausbruch ansteckender Krankheiten begünstigten. Bei der Bewertung dieses Urteils ist der bereits geschilderte ungeplegte Gesamteindruck zu be-rücksichtigen, den der wirtschaftlich schwache Ort auf Nightingale gemacht

136 Czolkoss, Möglichkeitsräume (wie Anm. 17), S. 302.137 Die mangelhafte Hygiene hatte bereits im German Hospital London 1857 zur Trennung

von den Kaiserswerther Schwestern geführt, vgl. Wessel (wie Anm. 33).138 Es handelt sich dabei um das zur Diakonissenanstalt gehörende Asyl für strafentlasse

Frauen.139 Brief von Nightingale an Mrs. Charles Roundell vom 4.8.1896, in: McDonald, Collected

Works, Bd. 6 (wie Anm. 121), S. 307.140 14. Jahresbericht der Diakonissenanstalt zu Kaiserswerth, Kaiserswerth 1850, S. 11. Selbst die

Kinder Fliedners sollen teilweise an Krätze gelitten haben, gegen die es damals kein wirkungsvolles Mittel gab. Sie wurde vielmehr mit Bleisalbe behandelt, was Vergiftungs-erscheinungen nach sich zog.

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Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

haben muss. Fortschrittliche Entwicklungen, wie den Einsatz der Chloroform-narkose im Diakonissenkrankenhaus schon wenige Jahre nach ihrer erstmaligen Anwendung in den USA erwähnte Nightingale in ihren Ausführungen zwar, würdigt sie aber nicht.141 „She herself never described the experience as good training, and even acknowledges how rudimentary the nursing standards were. But the atmosphere was serious and devout and she learned discipline and order in a health care environment that was excellent for its day, if unsatisfactory by later standards. None of the nurses there were gentlewomen and some were of peasant background, which formed up her meritocratic inclinations.“142 Schließlich führten die Zustände in Kaiserswerth bei Nightingale zu einer produktiven kritischen Auseinandersetzung mit dem Diakonissenmodel und zur Erarbeitung neuer Konzepte der Plege- und Krankenhausorganisation. Vor allem störte sie rückblickend die religiöse Bevormundung der Ärzte durch den Vorsteher und das Fehlen einer weltlichen Krankenhausverwaltung: You

know I have myself seen him [Pastor Fliedner] interfere with the doctors in the hospital in

a way no secular hospital ought to or would tolerate for a moment. You know how dearly I

loved Kaiserswerth, but I have never in all my life seen a hospital so ill-managed, so beastly, so

unhealthy.143 In einem anderen Brief urteilte sie noch deutlicher über die religiösen Formen in der Diakonissenanstalt: But what, curiously enough, no one seems to know

(and what I certainly shall never tell) is that it had the worst faults of the most bigoted order

in the Roman Catholic Church or of the most exclusive order in the Anglican. There was no

secular government in the hospital whatever. The religious principle overruled everything, even

the medical treatment. The nurses were not good nurses. And certainly, the (headquarters)

hospital was very much worse nursed and administered generally than the worst London

hospital twenty years ago.144 Folgerichtig betonte Nightingale in ihrer Schrift Notes

141 Zur Narkose vgl. Anm. 66. Auch die Desinfektion von Patientenzimmern mit Chlorkalk und Vitriolsäure, die dem damaligen medizinischen Wissen entsprachen, nahm sie kom-mentarlos zur Kenntnis.

142 McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 19. S. a.: McDonald, Collected Works, Bd. 7 (wie Anm. 39), S. 601–602. Später riet sie einer Bekannten davon ab, in der Volks-schule und im Lehrerinnenseminar in Kaiserswerth zu hospitieren. Die Lehrinhalte seien zwar auf einem höheren Standard als in vergleichbaren Einrichtungen in England, die Unsauberkeit, das schlechte Essen und die fehlende Privatsphäre wären dagegen uner-träglich. Vgl. Brief Nightingales an Emily Verney, in: McDonald, Collected Works, Bd. 1 (wie Anm. 1), S. 611. Das schlechte Essen wurde auch von anderen Besucherinnen der Anstalt erwähnt, vgl. Czolkoss, Möglichkeitsräume (wie Anm. 17), S. 262.

143 Notes for Dr. Sutherland on the Sisters of St. Johns House vom 12.1.1868, in: McDonald, Collected Works, Bd. 3 (wie Anm. 28), S. 475.

144 Brief Nightingales an Henry Bonham Carter vom 16.12.1866, in: McDonald, Collected works, Bd. 3 (wie Anm. 28), S. 459–460.

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Annett Büttner

on hospitals 1859 die Notwendigkeit einer professionellen, weltlichen Leitung eines Krankenhauses, auch wenn dort konfessionelle Schwestern tätig waren.145

Die Ausbildung in Nightingales Krankenpflegeschule am St. Thomas Hospital war unabhängig von kirchlichen Strukturen. In der Folge etablierte sich in der Plege das sogenannte Nightingale-System. Die Ausbildung von Krankenschwestern erfolgte darin durch erfahrene Schwestern und nicht durch Ärzte. Nach erfolgreicher Ausbildung wurden die Absolventinnen im sogenannten Nightingale-Trust, einer Registrierungsstelle für professionelle Krankenschwestern aufgenommen, was wesentlich zur Herausbildung eines selbständigen Berufsstandes beigetragen hat.

Zahlreiche Aspekte der Plegeorganisation, wie Nightingale sie in Kaisers-werth kennengelernt hatte, fanden dagegen Eingang in ihr Plegekonzept und die Ausbildungsstandards an der Krankenplegeschule.146 Ihr Dienstverständnis war aus der permanenten Verfügbarkeit konfessioneller Schwestern erwachsen, die vom frühen Morgen bis zum späten Abend auf den Stationen anwesend waren, auch Nacht- und Sterbewachen bei den Patienten übernahmen und diese unbequemen Arbeiten nicht an Dienstmägde übertrugen.147 Eine Selbstver-ständlichkeit war ihr ebenfalls die absolute Unterordnung der Schwestern unter die ärztliche Weisungsbefugnis, die ihr bereits aus den Mutterhaushospitälern bekannt war.148 Sie forderte aber einen intelligenten Gehorsam, verbunden mit einer guten Beobachtungsgabe, eigenständigem Denken und Verantwor-tungsgefühl. In den Notes on Nursing schrieb sie: Kein Mann jedoch, nicht einmal ein

Arzt, gibt je eine andere Deinition von dem, was eine Krankenschwester sein sollte, als die folgende – „hingebungsvoll und gehorsam“. Diese Deinition würde genauso für einen Pförtner zutreffen. Sie könnte sogar für ein Pferd gelten.149

Anders als in Kaiserswerth traten in der von ihr in London gegründeten Krankenplegeschule nicht nur einfache, ungebildete Mädchen, sondern auch Angehörige des Bürgertums ein. Letztere hatten für ihre Ausbildung zu zah-len und stiegen in der Praxis schnell in Führungspositionen auf (ward sisters), während mittellose Schülerinnen ein Taschengeld erhielten und später einfache

145 Nightingale, Notes on Hospitals, in: McDonald, The collected works of Florence Nightingale, Bd.16 Florence Nightingale and hospital reform, Waterloo 2012, S. 79–229, hier S. 219.

146 Vgl. auch Czolkoss, Möglichkeitsräume (wie Anm. 17), S. 48–50.147 Brief Nightingales an den katholischen Geistlichen Henry Manning vom 19.8.1852, vgl.

McDonald, Collected Works, Bd. 3 (wie Anm. 28), S. 260.148 Zur Bedeutung des Gehorsams in der Diakonissenerziehung vgl. Annett Büttner, Erzie-

hung zum Gehorsam-Gefahren und Chancen im Blick auf die historische Entwicklung der Diakonissenanstalt Dresden, in: Herbergen der Christenheit. Jahrbuch für deutsche Kirchengeschichte 38/39, 2014/2015, Leipzig 2017, S. 207–232.

149 Nightingale, Bemerkungen (wie Anm. 21), S. 204. Sinngemäß auch bei Nightingale, Notes on Nursing, in: McDonald, Collected Works, Bd. 6 (wie Anm. 121), S. 144.

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Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

nurses blieben, die die alltägliche Arbeit auf den Stationen zu verrichten hatten. Die Leitung lag bei einer als matron bezeichneten Vorsteherin. Wie Fliedner war Nightingale davon überzeugt, dass die Krankenplege mehr Berufung als Beruf sei. Nightingale meinte mit Berufung aber auch einen über die christ-liche Grundlage hinausgehenden Enthusiasmus für diesen schwierigen und verantwortungsvollen Beruf, der die Plegerin dazu befähigte, auch ohne ausdrückliche Anweisung des Arztes verantwortungsvoll und engagiert zu beobachten und zu handeln.

Die innere Einrichtung der neuen Schule erinnerte stark an die eines kon-fessionellen Mutterhauses, auch wenn Nightingale dies nicht explizit hervorge-hoben hat. Die Schülerinnen wohnten während ihrer einjährigen Ausbildung

Abb. 9: Das nach Plänen von F. Nightingale bis 1871 errichtete St. Thomas Hospital, in dem sich auch die von ihr gegründete Krankenplegeschule befand. Im Hintergrund ist das Parlamentsgebäude zu sehen. Im Zweiten Weltkrieg wurde ein Teil des Gebäudekomplexes zerstört und später durch einen Neubau ersetzt. Holzschnitt von T. Sulman, 1871 (Wellcome Collection London).

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in einem Plegerinnenheim im Obergeschoss eines Krankenhauslügels.150 Der theoretischen Ausbildung durch Vorlesungen und Vorträge wurde in Nigh-tingales Schule große Aufmerksamkeit geschenkt. Die Anfänge einer solchen hatte sie zuvor in Kaiserswerth kennengelernt. In katholischen Plegeorden gab es zu dieser Zeit keine theoretische, sondern nur eine praktische Ausbildung am Krankenbett. Fliedner kaufte für die Diakonissenausbildung das einzige in Deutschland existierende Krankenplegelehrbuch151 und verplichtete den Anstaltsarzt, den Schwestern einmal wöchentlich Unterricht zu erteilen. Die Unterweisung in der geistlichen Betreuung von Patienten nahm er selbst vor. In London hörten die Schülerinnen zweimal wöchentlich die Ansprache ei-nes Geistlichen. In Kaiserswerth und London wurde schon die ganzheitliche Plege von Körper und Geist praktiziert, noch bevor es diesen Fachbegriff überhaupt gab.

An Fliedner hatte Nightingale besonders dessen pädagogisches Geschick und seine Erziehungsmethoden im Umgang mit den Probeschwestern und Schülerinnen fasziniert. Bei ihm hatte sie die moralischen Erziehung weniger gebildeter Mädchen und Frauen im christlichen Sinn verbunden mit einem hohen Berufsethos kennengelernt, die sie schließlich charakterlich für plegerische und soziale Aufgaben geeignet gemacht habe.152 Wie er verlangte auch Nightingale ein Führungs-Zeugnis des Ortsgeistlichen von den neu eintretenden Frauen. Nicht zufällig erinnern die von der Matron monatlich abzugebenden Berichte an das „Plegerinnenbuch“ Fliedners mit Eintragungen über jede einzelne Schülerin.153 Die darüber hinaus geforderten Tagebücher der Schülerinnen, die ebenfalls monatlich vorgelegt werden mussten, verweisen auf die Selbstprü-fungsfragen, die Fliedner ab 1853 seinen Schwestern wöchentlich aufgab.154 Sie ermunterten zur regelmäßigen inneren Einkehr und Überprüfung der eigenen Verhaltensweisen gegenüber Vorgesetzten, Mitschwestern und Patienten, sodass zu vermuten ist, dass Nightingale dieses Erziehungsmittel Fliedners bekannt war. Nightingale „war völlig eingenommen von dem Gedanken an

150 Vgl. zum Folgenden Woodham-Smith, Nightingale (wie Anm. 81), S. 353–355. 151 Dieffenbach, Anleitung (wie Anm. 13).152 Brief Nightingales an ihren Vater vom 15.8.1850, in: McDonald, Collected Works, Bd. 1

(wie Anm. 1), S. 232. Vgl. auch Nightingale, Bemerkungen (wie Anm. 21), S. 201–204 sowie McDonald, Collected Works, Bd. 6 (wie Anm. 121), S. 142–143.

153 AFKS, 1-1 Nachlass Fliedner, II Fg1a und b Plegerinnenbücher 1836–1853. Zu den persönlichen Berichten, die in ein moralisches Protokoll und ein Fertigkeits-Protokoll unterteilt waren vgl. Woodham-Smith, Nightingale (wie Anm. 81), S. 354f.

154 Diakonissenanstalt Kaiserswerth (Hrsg.), Selbstprüfungs-Fragen für Diakonissen und Probeschwes-

tern, Kaiserswerth 1853. Vgl. zu diesem Fragenkomplex der internalisierten Überwachung Silke Köser, Denn eine Diakonisse darf kein Alltagsmensch sein. Kollektive Identitäten Kaiserswerther Diakonissen 1836–1914, Leipzig 2006, S. 294–303.

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Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

die Bedeutung dieser jungen Frauen. Die Zukunft der Krankenplege hing an ihrer Führung“.155 Jeder vermeintliche moralische Fehltritt, jeder Flirt hatte die sofortige Entlassung der Schülerin zur Folge, denn diese Schwestern sollten der Gegenentwurf zu den als unmoralisch geltenden Wärterinnen sein. In gleicher Weise handhabte Fliedner den Ausschluss charakterlich ungeeigneter Kandidatinnen, etwa die Hälfte der Kaiserswerther Probeschwestern verließ das Mutterhaus vor der Einsegnung.156

Für Nightingales Krankenplegesystem schwebte ihr eine von der Medizin unabhängige, von Frauen dominierte und durch eine qualiizierte Ausbildung legitimierte Profession vor. Ihr ist wichtig gewesen, dass die Plege „zwar von einem christlichen Ethos geprägt, aber nicht konfessionell ausgerichtet sein sollte“.157 Darin bestand der wesentliche Unterschied zum Kaiserswerther Diakonissenmodell und die eigentliche Pionierleistung Nightingales. Wenn Nightingale in der Literatur als Begründerin der weltlichen Krankenplege gefeiert wird, sollte die von ihr favorisierte weltliche Krankenhausverwaltung keinesfalls mit atheistischen Schwestern gleichgesetzt werden.

Die Übernahme des Nightingale-Modells in der Plegeausbildung im gesamten anglo-amerikanischen Raum und die Befreiung von männlich-medizinischer und kirchlicher Bevormundung führte, wie bereits angedeutet, in diesen Ländern zu einer schnellen Professionalisierung des Plegeberufes und einer starken Verdrängung konfessioneller Plegeorganisationen. Der gesellschaft-liche Status der Schwestern verbesserte sich wesentlich, so dass die Plege zu einem allgemein anerkannten weltlichen bürgerlichen Frauenberuf wurde und auch die Ärzteschaft diesem neuen Schwesterntypus hohe Anerkennung entgegenbrachte.158 In den USA existierte bereits ab 1899 an der Columbia Uni-versity New York ein universitärer Weiterbildungslehrgang für Leitungs- und Unterrichtsfunktionen in der Krankenplege. 1907 wurde Adelaide M. Nutting (1858–1948) dort zur ersten Professorin für Kranken- und Gesundheitsplege ernannt. In Deutschland gab es erstmals 1907 im Land Preußen ein staatliches Krankenplegeexamen nach einjähriger Ausbildung, eine reichsweite gesetzliche

155 Woodham-Smith, Nightingale (wie Anm. 81), S. 355.156 Birgit Funke, Gehorsam als ‚diakonische Gesinnung‘? Kaiserswerther Schwestern erzählen

von ihrer Probezeit, in: Siri Fuhrmann/Ute Gause (Hrsg.), Soziale Rolle von Frauen in Religionsgemeinschaften, Münster 2003, S. 105–118, hier S. 115.

157 Christoph Schweikardt, Entwicklung (wie Anm. 82), S. 58.158 Karin Wittneben, Die Entwicklung der berulichen und wissenschaftlichen Plegeausbil-

dung in den USA von 1872–1990, in: Maria Mischo-Kelling/Karin Wittneben (Hrsg.), Plegebildung und Plegetheorien, München 1995, S. 11–33; Sylvelyn Hähner-Rombach, Probleme der Verberulichung der Krankenplege im Deutschen Reich Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts im Vergleich mit den Vereinigten Staaten, in: Medizinhistorisches Journal 47, 2012, S. 129–159.

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Regelung erfolgte 1938, nun allerdings unter den Vorzeichen nationalsozialisti-scher Ideologie und Rassenlehre.159 Bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde hier das Postulat vertreten, dass Plege eine dem Wesen der Frau entsprechende christliche Berufung und kein Beruf im weltlichen Sinne sei. Die Befürworter einer wissenschaftlichen Ausbildung konnten sich in Deutschland erst mit ca. einhundertjähriger Verspätung durchsetzen.

Das Gedenken an Florence Nightingale in Kaiserswerth

In Kaiserswerth wurde der vom Diakonis-senmodell deutlich abweichende Berufs-weg Nightingales über Jahrzehnte nicht thematisiert. Lediglich ihrer Tätigkeit im Krimkrieg widmete sich ein Beitrag in der anstaltseigenen Zeitschrift „Der Ar-men- und Krankenfreund“.160 In derselben Zeitschrift folgte 1904 eine ausführlichere Würdigung ihrer Beziehung zum Kaisers-werther Mutterhaus, Nightingales Tod einige Jahre darauf fand allerdings keine Erwähnung.161 Erst die langjährige Ar-chivarin und Diakonisse Anna Sticker (1902–1995) bearbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg dieses Thema in zahlreichen Publikationen, brachte Nightingale in die Erinnerungskultur der Kaiserswerther Diakonie zurück und hob ihren Beitrag zur Entwicklung der modernen Kran-kenplege hervor.162 Die Kaiserswerther

159 Vgl. Schweikardt, Entwicklung (wie Anm. 82), sowie Eva-Maria Ulmer, „Krankenplege ist Dienst an der Volksgemeinschaft“. Zur Entwicklung der Plege im Nationalsozialismus, in: Geschichte der Plege 2, 2013, S. 79–85.

160 O. A., Plege (wie Anm. 114).161 O. A., Nightingale (wie Anm. 2), S. 141–153. Ihr Tod wurde in einer anderen Publikation

der Diakonissenanstalt lediglich mit zwei Sätzen und einem kleinen Porträt erwähnt, vgl. Diakonissen-Anstalt zu Kaiserswerth (Hrsg.), Jahrbuch für christliche Unterhaltung, Kaiserswerth 1912, S. 104 und 106.

162 Vgl. Anm. 1 und 50, sowie Klaus Peter Wahner, Die Bedeutung Anna Stickers (1902–1995) für die Traditionsbildung und die Geschichtsschreibung der Kaiserswerther Diakonie:

Abb. 10: Grundsteinlegung für das Florence Nigh-tingale Krankenhaus der Kaiserswerther Diakonie 1970, links Vorsteher Pfarrer Dr. Ferdinand Schlin-gensiepen, rechts Prinzessin Anne von Windsor (Fotosammlung der Fliedner-Kulturstiftung Kai-serswerth).

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Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

Abb. 11: Enthüllung der Nightingale-Büste im Park hinter der Kaiserpfalz (Fotosammlung der Fliedner-Kulturstiftung Kaiserswerth).

Diakonie benannte schließlich das 1975 eingeweihte neue Diakoniekrankenhaus nach Nightingale.163 Zur öffentlichkeitswirksamen Grundsteinlegung 1970 kam Prinzessin Anne als Vertreterin des englischen Königshauses.

Weitere überwiegend populärwissenschaftliche Publikationen der Kaisers-werther Diakonie folgten.164

Bereits 1959 konnte eine von Engländern gestiftete Büste Nightingales im Park hinter der Pfalzruine aufgestellt werden.165 Sie reiht sich dort ein in Plas-tiken anderer verdienter Persönlichkeiten, die mit Kaiserswerth in Verbindung standen, u. a. Theodor Fliedner und der katholische Geistliche und Kämpfer gegen die Hexenverfolgung Friedrich Spee von Langenfeld. Zur Enthüllung am 4. Oktober 1959 kamen hochrangige Gäste der Stadtverwaltung, der britische Generalkonsul, englische, kanadische und US-amerikanische Schwestern der

das Beispiel Florence Nightingale, Bochum, Ruhr- Univ. Diss., 2008, S. 61–66.163 Vgl. Wahner (wie Anm. 162), S. 104–115. Diese Namensgebung empfand Anna Sticker

allerdings als unzulässige Vereinnahmung eines progressiveren Ausbildungsmodells durch die immer noch bildungspolitisch konservative und inanziell schlecht ausgestattete Diakonie. Vgl. ebd., S. 115–119.

164 Vgl. u. a.: Kaiserswerther Diakonie (Hrsg.), Florence Nightingale. Kaiserswerth und die britische Legende, Düsseldorf 2001.

165 Es handelt sich um einen Abguss des 1862 von John Steell geschaffenen Originals. Vgl. Wolfgang Funken, Ars Publica Düsseldorf, Bd. 3, Düsseldorf 2012, S. 1231.

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alliierten Streitkräfte und Dia-konissen in ihren Trachten.166

Am Vorabend von Nightin-gales Geburtstag wurde im Mai 1979 eine Nachbildung dieser Büste im Foyer des Nightingale-Krankenhauses aufgestellt. Am gleichen Tag planzte die Schwes-ternschaft auf der Wiese westlich des neuen Krankenhauses eine „Nightingale-Eiche“. Diakonisse Anna Sticker regte an, sie mit Steinpfeilern und einer Kette zu umgeben, ähnlich wie die beiden „Kaisereichen“, die 1877 und 1887 auf dem Diakoniege-lände gesetzt worden waren, was aber offenbar nie geschehen ist.167 Büste und Baum sind heute weit-gehend in Vergessenheit geraten.

Fazit

Kaiserswerth übte auf die junge Florence Nightingale eine große Anziehungs-kraft aus. Die Bekanntschaft mit der christlichen Krankenplege evangelischer Prägung, wie sie in der weltweit ersten Diakonissenanstalt praktiziert wurde, lenkte ihr lange Zeit sehr unspeziisches Interesse an sozialer Betätigung in Richtung der Krankenplege. Zunächst lernte sie die Arbeit der Schwestern theoretisch mit Hilfe der Jahresberichte der Diakonissenanstalt kennen, bald darauf besuchte sie das von ihnen betreute German Hospital in London persön-lich. Der massive Widerstand ihrer Familie verhinderte noch für mehrere Jahre den persönlichen Besuch in Kaiserswerth. Dass Florence Nightingale dennoch 1850 und 1851 dorthin reisen konnte, spricht für ihre Durchsetzungskraft auf der einen und den moralisch unbedenklichen Ruf als christliche Anstalt auf der anderen Seite. Der anfänglichen Bewunderung folgte eine fruchtbare Ausein-andersetzung Nightingales mit dem Plegekonzept Fliedners. So übernahm sie

166 Anna Sticker, Volksfest in Kaiserswerth, in: Kaiserswerther Mitteilungen 2, 1960, S. 18–19.167 Grüße des Kaiserswerther Mutterhauses an seine Schwestern 5, 1979, S. 42–44.

Abb. 12: Florence Nightingale um 1850 (Foto von H. Lenthall, London, gemeinfrei).

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Florence Nightingales Beziehungen zu Kaiserswerth

zahlreiche Aspekte der inneren Organisation einer Schwesternschaft, wie eine straffe Leitung und Disziplin, hohe moralische Anforderungen und die sowohl praktische als auch theoretische Ausbildung der Schülerinnen. Gleichzeitig befreite sie die Plege von kirchlicher Bevormundung in Form geistlicher Kran-kenhausleitungen und der Dominanz der Medizin in Gestalt der bis dahin die Schülerinnen unterrichtenden Ärzte. Ihre Publikationen legten den Grundstein für die Entstehung der Plegewissenschaft als selbständiger Disziplin. Damit leistete Nightingale einen wesentlichen Beitrag zur Professionalisierung der Plege und zur Herausbildung einer eigenen, nun im wesentlichen weltlichen Berufsidentität.

Ihr Geburtstag am 12. Mai wird weltweit als Tag der Krankenplege be-gangen. Anlässlich ihres 200. Jubiläums erklärte die WHO das Jahr 2020 zum „Internationalen Jahr der Plegenden und Hebammen“. Dies sollte auch in Deutschland von den Plegenden zum Anlass genommen werden, ihre Positi-onen selbstbewusst zu vertreten und die ihnen zukommende gesellschaftliche Achtung einzufordern.