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338 © 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2013, 47, 338 – 342 komplexe chemische und biologi- sche Systeme zu untersuchen. Dabei kombinierten sie Newtons klassische Physik mit den Konzepten der Quan- tenmechanik. „Die Multiskalenmodel- lierung, wie sie im Nobel-Zitat be- trachtet wird, ist eine Mischung aus Quantenmechanik und klassischer Mechanik in der Potentialfunktion, die die Wechselwirkungen zwischen Atomen beschreibt“, erklärt Karplus. Der 83-jährige Chemiker, der 1953 in der Arbeitsgruppe des berühmten zweifachen Nobelpreisträgers Linus Pauling promovierte, betont, dass die Zusammenführung von klassisch und modern eine wesentliche Rolle in der heutigen Forschung spielt. Damit können beispielsweise wichtige en- zymatische Reaktionen oder die Funktion von vielen Proteinen unter- sucht werden, sagt er. „Mein entschei- dender Beitrag war, die molekulardy- namischen Simulationen von den frü- hen Anwendungen an kleinen Mole- külen in den 60er Jahren auf Systeme wie Proteine, Nukleinsäuren und ihre Komplexe zu erweitern“, so Karplus. Dabei galt die Untersuchung von solchen komplexen Systemen lange Zeit als „unerreichbares Ziel“ der theoretischen Chemie. Früher muss- ten Wissenschaftler entscheiden, ob sie für die Untersuchung ihres Sys- tems ein Com- puterpro- gramm verwen- den woll- ten, das auf klassischer Mechanik oder auf Quan- tenmechanik basiert. Beide hatten ih- re Vor- und Nachteile. Während die klassischen Programme die räumli- che Anordnung von Atomen in gro- ßen Molekülen mit wenig Rechenauf- wand ziemlich gut darstellen konn- ten, waren sie für die Simulierung chemischer Reaktionen nicht geeig- net. Bei solchen Prozessen werden chemische Bindungen gebrochen und geknüpft, und dies kann mit klas- sischer Physik nicht simuliert wer- den. Um chemische Reaktionen mo- dellieren zu können, musste also die Quantenmechanik einbezogen wer- den. Doch quantenmechanische Si- mulationen benötigen eine riesige Rechenleistung (und der Rechenauf- wand nimmt mit steigender System- größe sehr stark zu), weshalb früher nur kleinere Systeme damit behan- delt werden konnten. So einfach wie genial Die diesjährigen Nobelpreisträger ha- ben eine so einfache wie geniale Lö- sung zu diesem Problem gefunden, meint Walter Thiel. „Karplus, Levitt und Warshel haben ein Konzept vor- geschlagen, bei dem man unter- schiedlich genaue und unterschied- lich aufwändige Rechenmethoden für die wichtigen und die weniger wichtigen Teile eines Systems ver- wendet“, sagt er. Dabei wird der Be- reich, wo elektronisch relevante Pro- zesse (wie beispielsweise chemische Reaktionen oder elektronische Anre- gungen) stattfinden, quantenmecha- nisch behandelt, während der größe- re Rest des Systems mithilfe der ein- fachen, klassischen Methoden simu- liert wird. „Karplus, Warshel und Levitt haben gezeigt, dass man wesentliche Eigenschaften von Makromolekülen durch vereinfachte Ansätze TREFFPUNKT FORSCHUNG NOBELPREIS FÜR CHEMIE Forschung am Computer Rechner sind heute ein wichtiges Werkzeug in vielen Chemielabors. Mithilfe geeigneter Computerprogramme können Wissenschaftler hochkomplizierte molekulare Prozesse ver- stehen und sogar vorhersagen. Den Nobelpreis für Chemie 2013 teilen sich drei Forscher, die die Grundlage für solche Programme gelegt haben. Martin Karplus, Michael Levitt und Arieh Warshel werden für die Entwicklung von Computermodellen ausgezeichnet, die es ermöglichen, die Gesetze der klassischen Physik mit jenen der Quantenmechanik zu verei- nigen, um komplexe Prozesse zu simulieren. Mit dem gewonnenen Verständnis können beispielsweise neue Medikamente und Materialien entwickelt, die Wirkung von Katalysa- toren vorausberechnet oder die Funktion von Proteinen genauer untersucht werden. Ganz gleich, ob es um die Optimie- rung von Solarzellen oder um die Her- stellung besserer Arzneimittel geht, Computer sind für die meisten Fort- schritte in der heutigen Chemie ent- scheidend. „Sie werden heutzutage in allen Gebieten der Chemie eingesetzt, um Eigenschaften und Reaktionen von chemischen Verbindungen zu verste- hen“, erklärt Professor Walter Thiel, Di- rektor der Abteilung Theorie am Max- Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim an der Ruhr und führender Forscher auf dem Gebiet der Compu- terchemie. „Die Ergebnisse sind oft komplementär zum Experiment, sie können zur Erklärung experimenteller Befunde und zum Design neuer Expe- rimente beitragen“, so Thiel. Dabei er- lauben Computersimulationen detail- lierte Einblicke in komplexe chemi- sche Prozesse, die experimentell schwer oder gar nicht zu erhalten sind. Die Grundlage für viele der mo- dernen Computermethoden haben Karplus (Harvard University und Uni- versité de Strasbourg), Levitt (Stanford University) und Warshel (University of Southern California) bereits in den 70er Jahren gelegt. Nun wurden sie mit dem Nobelpreis für Chemie ge- ehrt. „Viele meiner Studenten und Kol- legen haben geschrieben, dass sie die- se Auszeichnung schon lange erwartet haben“, sagt Martin Karplus. „Ich bin natürlich glücklich, dass ich den Preis jetzt bekommen habe, selbst zu die- sem späten Zeitpunkt“. Gut kombiniert Er und seine zwei Kollegen haben Multiskalenmodelle entwickelt, um Abb. 1 a) 1,6-Diphenyl-1,3,5-hexatrien war eines der planaren Moleküle, die Martin Karplus und Arieh Warshel 1972 untersuchten [The Royal Swedish Aca- demy of Sciences]. Fotos: Martin Karplus [Stephanie Mitchell, Harvard University], Michael Levitt [L. A. Cicero, Stan- ford News Service] und Arieh Warshel [Mira Zimet, USC News].

Forschung am Computer

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Page 1: Forschung am Computer

338 © 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.chiuz.de Chem. Unserer Zeit, 2013, 47, 338 – 342

komplexe chemische und biologi-sche Systeme zu untersuchen. Dabeikombinierten sie Newtons klassischePhysik mit den Konzepten der Quan-tenmechanik. „Die Multiskalenmodel-lierung, wie sie im Nobel-Zitat be-trachtet wird, ist eine Mischung ausQuantenmechanik und klassischerMechanik in der Potentialfunktion,die die Wechselwirkungen zwischenAtomen beschreibt“, erklärt Karplus.Der 83-jährige Chemiker, der 1953 inder Arbeitsgruppe des berühmtenzweifachen Nobelpreisträgers LinusPauling promovierte, betont, dass dieZusammenführung von klassisch undmodern eine wesentliche Rolle inder heutigen Forschung spielt. Damitkönnen beispielsweise wichtige en-zymatische Reaktionen oder dieFunktion von vielen Proteinen unter-sucht werden, sagt er. „Mein entschei-dender Beitrag war, die molekulardy-namischen Simulationen von den frü-hen Anwendungen an kleinen Mole-külen in den 60er Jahren auf Systemewie Proteine, Nukleinsäuren und ihreKomplexe zu erweitern“, so Karplus.

Dabei galt die Untersuchung vonsolchen komplexen Systemen langeZeit als „unerreichbares Ziel“ dertheoretischen Chemie. Früher muss-ten Wissenschaftler entscheiden, obsie für die Untersuchung ihres Sys-tems ein Com-puterpro-grammverwen-den woll-ten, das aufklassischer Mechanik oder auf Quan-tenmechanik basiert. Beide hatten ih-

re Vor- und Nachteile. Während dieklassischen Programme die räumli-che Anordnung von Atomen in gro-ßen Molekülen mit wenig Rechenauf-wand ziemlich gut darstellen konn-ten, waren sie für die Simulierungchemischer Reaktionen nicht geeig-net. Bei solchen Prozessen werdenchemische Bindungen gebrochenund geknüpft, und dies kann mit klas-sischer Physik nicht simuliert wer-den. Um chemische Reaktionen mo-dellieren zu können, musste also dieQuantenmechanik einbezogen wer-den. Doch quantenmechanische Si-mulationen benötigen eine riesigeRechenleistung (und der Rechenauf-wand nimmt mit steigender System-größe sehr stark zu), weshalb frühernur kleinere Systeme damit behan-delt werden konnten.

So einfach wie genialDie diesjährigen Nobelpreisträger ha-ben eine so einfache wie geniale Lö-sung zu diesem Problem gefunden,meint Walter Thiel. „Karplus, Levittund Warshel haben ein Konzept vor-geschlagen, bei dem man unter-schiedlich genaue und unterschied-lich aufwändige Rechenmethodenfür die wichtigen und die wenigerwichtigen Teile eines Systems ver-wendet“, sagt er. Dabei wird der Be-reich, wo elektronisch relevante Pro-zesse (wie beispielsweise chemischeReaktionen oder elektronische Anre-gungen) stattfinden, quantenmecha-nisch behandelt, während der größe-re Rest des Systems mithilfe der ein-fachen, klassischen Methoden simu-liert wird.

„Karplus, Warshel und Levitt haben gezeigt, dass man wesentlicheEigenschaften von Makromolekülendurch vereinfachteAnsätze

T R E F F P U N K T FO R SC H U N G

N O B E L PR E I S F Ü R C H E M I E

Forschung am ComputerRechner sind heute ein wichtiges Werkzeug in vielen Chemielabors. Mithilfe geeigneterComputerprogramme können Wissenschaftler hochkomplizierte molekulare Prozesse ver-stehen und sogar vorhersagen. Den Nobelpreis für Chemie 2013 teilen sich drei Forscher,die die Grundlage für solche Programme gelegt haben. Martin Karplus, Michael Levitt undArieh Warshel werden für die Entwicklung von Computermodellen ausgezeichnet, die esermöglichen, die Gesetze der klassischen Physik mit jenen der Quantenmechanik zu verei-nigen, um komplexe Prozesse zu simulieren. Mit dem gewonnenen Verständnis könnenbeispielsweise neue Medikamente und Materialien entwickelt, die Wirkung von Katalysa-toren vorausberechnet oder die Funktion von Proteinen genauer untersucht werden.

Ganz gleich, ob es um die Optimie-rung von Solarzellen oder um die Her-stellung besserer Arzneimittel geht,Computer sind für die meisten Fort-schritte in der heutigen Chemie ent-scheidend. „Sie werden heutzutage inallen Gebieten der Chemie eingesetzt,um Eigenschaften und Reaktionen vonchemischen Verbindungen zu verste-hen“, erklärt Professor Walter Thiel, Di-rektor der Abteilung Theorie am Max-Planck-Institut für Kohlenforschung inMülheim an der Ruhr und führenderForscher auf dem Gebiet der Compu-terchemie. „Die Ergebnisse sind oftkomplementär zum Experiment, siekönnen zur Erklärung experimentellerBefunde und zum Design neuer Expe-rimente beitragen“, so Thiel. Dabei er-lauben Computersimulationen detail-lierte Einblicke in komplexe chemi-sche Prozesse, die experimentellschwer oder gar nicht zu erhaltensind. Die Grundlage für viele der mo-dernen Computermethoden habenKarplus (Harvard University und Uni-versité de Strasbourg), Levitt (StanfordUniversity) und Warshel (University ofSouthern California) bereits in den70er Jahren gelegt. Nun wurden siemit dem Nobelpreis für Chemie ge-ehrt. „Viele meiner Studenten und Kol-legen haben geschrieben, dass sie die-se Auszeichnung schon lange erwartethaben“, sagt Martin Karplus. „Ich binnatürlich glücklich, dass ich den Preisjetzt bekommen habe, selbst zu die-sem späten Zeitpunkt“.

Gut kombiniertEr und seine zwei Kollegen habenMultiskalenmodelle entwickelt, um

Abb. 1 a) 1,6-Diphenyl-1,3,5-hexatrienwar eines der planaren Moleküle, dieMartin Karplus und Arieh Warshel 1972 untersuchten [The Royal Swedish Aca-demy of Sciences].

Fotos: Martin Karplus [StephanieMitchell, HarvardUniversity], Michael Levitt[L. A. Cicero, Stan-ford News Service]und Arieh Warshel[Mira Zimet, USCNews].

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ersten Mal eine enzymatische Reakti-on modellierten (Abbildung 2) [3].Dieser Ansatz konnte bei allen Mole-külarten eingesetzt werden, und dieGröße eines chemischen Systemswar keine Hinderung mehr.

Heute sind theoretische Rech-nungen eine sehr große Hilfe in derForschung, und zwar nicht nur inden Lebenswissenschaften, sondernauch in der Materialforschung oderder Katalyse. „Jeder Aspekt der Che-mie und Biologie, von der Reaktions-planung zur Vorhersage von Spek-tren, von der Analyse von Genomda-ten bis zur Vorhersage freier Bin-dungsenthalpien, beruht heute auf einer Vielzahl von rechnerischenSchritten“, erklärt Martin Stahl. „Inder Wirkstoffforschung hat man heu-te oft Zugang zu dreidimensionalenStrukturen von Proteinen, deren Akti-vität (z.B. als Rezeptor oder als En-zym) man zu therapeutischen Zwe-cken verändern möchte. Wirkstoff-kandidaten wechselwirken mit die-sen Proteinen meist über nichtkova-lente Bindungen, z.B. Wasserstoffbrü-cken und van-der-Waals-Kräfte, zudenen dann im Wasser hydrophobeEffekte dazukommen. Im struktur -basierten Design versucht man, dieseWechselwirkungen zu berechnenund dann neue, bessere Wirkstoff -kandidaten gezielt zu designen. Dafür

rechnerisch abbilden kann“, erklärtDr. Martin Stahl, Leiter der Abteilungfür Moleküldesign und chemischeBiologie bei einem großen SchweizerPharmaunternehmen. „Sie haben vielGrundlagenarbeit geleistet, um Mole-külmechanik für größere Systemekonsistent anwendbar zu machen.Die Kopplung mit quantenchemi-schen Verfahren ist als zweiter we-sentlicher Schritt zu verstehen, derauf dem ersten aufbaut“, sagt er.

Eine ganze Reihe von EntwicklungenLaut Stahl haben diese Ansätze eineganze Reihe von Entwicklungen er-laubt. Die Bewegungen und die Fal-tung von Proteinen wurden dadurchbesser verstanden, die theoretischeBestimmung von Bindungsenergienin Protein-Ligand-Komplexen wurdeerstmals möglich, und Modelle vonProteinstrukturen konnten auf derGrundlage von Röntgen- und NMR-Untersuchungen leichter erstellt wer-den. „Eine Kopplung von Molekülme-chanik und Quantenchemie in soge-nannten QM/MM-Methoden erlaubtdann sogar die Quantifizierung vonenzymatischen Katalyseschritten“,sagt Stahl, Preisträger des renommier-ten Award on Computers in Che-mistry der American Chemical Socie-ty (ACS) für das Jahr 2014.

Den ersten Schritt in der Ent-wicklung von Multiskalenmodellenmachten Warshel und Karplus Anfangder 70er Jahre, als sie gemeinsam einComputerprogramm entwarfen, mitdem sie die Spektren von verschiede-nen planaren Molekülen gut vorher-sagen konnten [1]. Die Effekte von σ-Elektronen und Atomkernen habensie mithilfe klassischer Näherungensimuliert, während sie die Effekte derπ-Elektronen mit quantenchemischenPariser-Parr-Pople (PPP)-Annäherun-gen [2] modellierten. Dieses Konzeptwar damals bahnbrechend, aber eshatte eine wichtige Beschränkung: eskonnte nur bei planaren Molekülenbenutzt werden (Abbildung 1).

1976 formulierten Warshel undLevitt dann ein allgemein gültigesQM/MM-Schema, mit dem sie zum

gibt es verschiedenste Näherungsver-fahren, ganz genau sind solche Rech-nungen nie“, so Stahl. Um solchekomplexe Systeme untersuchen zukönnen, sind Computerprogrammewie MOLARIS, AMBER (Assisted Mo-del Building with Energy Refine-ment), GROMOS (GROningen MOle-cular Simulation) oder das von No-belpreisträger Martin Karplus mitent-wickelte CHARMM (Chemistry atHARvard Molecular Mechanics) welt-weit im Einsatz. „Anwendungen die-ser Methodik, die in Programmen wieCHARMM enthalten ist, haben Simu-lationen zu einem zentralen Leitbildin der Chemie und mittlerweile auchin der Strukturbiologie gemacht“,sagt Karplus zufrieden.

LiteraturOriginalartikel (Auswahl):[1] A. Warshel, M. Karplus, J. Amer. Chem. Soc.

1972, 94, 5612.[2] a) R. Pariser, R. Parr, J. Chem. Phys. 1953, 21,

466; b) J. A. Pople, Trans. Faraday Soc. 1953,49, 1375.

[3] A. Warshel, M. Levitt, J. Mol. Biol. 1976, 103,227.

Übersichtsartikel[4] Development of multiscale models for com-

plex chemical systems, The Royal SwedishAcademy of Sciences, 2013.

[5] W. Thiel, Nachrichten aus der Chemie 2013,61, 1095.

Weblinks:The Nobel Foundation (http://nobelprize.org)

Abb. 2 Um zu verstehen, wie Lysozym eine Glykosidkette spaltet, müssen nur die relevanten Teile desSystems quantenmechanisch modelliert werden, während der größte Teil der Umgebung mithilfe der Mo-lekülmechanik und eines Kontinuum-Modells behandelt wird. [The Royal Swedish Academy of Sciences].

Kira Welter