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Frank Vogelsang Offene Wirklichkeit FERMENTA PHILOSOPHICA A

Frank Vogelsang Offene Wirklichkeit - Verlag Karl Alber · Galileo Galilei und Francis Bacon . . . ... C. Genauere Charakterisierung der Medien ... haltenes Arsenal von Methoden oder

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Vogelsang (48465): p. / 4.2.2011

Frank Vogelsang

Offene Wirklichkeit

FERMENTA PHILOSOPHICA A

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Vogelsang (48465): p. / 4.2.2011

Zu diesem Buch:

Die Untersuchung zeigt die grundsätzliche Offenheit der Wirklichkeit, dieman zwar erfolgreich naturwissenschaftlich erforschen, die man abernicht in einer geschlossenen und vollständigen Darstellung abbildenkann. Sie knüpft an die phänomenologischen Arbeiten von Merleau-Ponty an, der eine Beschreibung der Wirklichkeit jenseits eines Subjekt-Objekt-Dualismus anstrebte. Aufgrund ihrer leiblichen Existenz könnenMenschen sich von der Wirklichkeit distanzieren, aber nicht vollständigaus ihr lösen. Weder monistische noch dualistische Ansätze können des-halb überzeugen. Einerseits werden die objektivierend arbeitenden Natur-wissenschaften bestätigt, andererseits werden zugleich jene irreduziblenErscheinungsweisen der Wirklichkeit freigelegt, die etwa in bestimmtenSinnerfahrungen, Emotionen und Intuitionen einen Ausdruck finden.Ein Schema, das sich aus der Metapher des Chiasmus ableitet, ist Grund-lage für die Entwicklung eines phänomenologischen Realismus. Aus die-ser Analyse der Wirklichkeit folgt die Forderung nach einer Kultur, die dielebensweltlichen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse in eine frucht-bare Beziehung setzt. Dem gemäß ist eine offene Erkenntnishaltung, diedie Anstrengungen des Verstehens mit einer Achtsamkeit auf die unver-standenen und unverstehbaren Anteile der Wirklichkeit verbindet.

Der Autor:

Dr. Frank Vogelsang, Diplom-Ingenieur und ev. Theologe, ist Direktor derEvangelischen Akademie im Rheinland. Er hat sich in Veröffentlichungenmit unterschiedlichen Aspekten des Verhältnisses von Philosophie undNaturwissenschaften beschäftigt.

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Frank Vogelsang

Offene WirklichkeitAnsatz einesphänomenologischen Realismusnach Merleau-Ponty

Verlag Karl Alber Freiburg /München

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Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

Satz: SatzWeise FöhrenDruck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)Printed on acid-free paperPrinted in Germany

ISBN 978-3-495-48465-4

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Meinen Eltern

»Il y a sens.«Maurice Merleau-Ponty

»If one must use metaphorical language, thenlet the metaphor be this: the mind and theworld make jointly up the mind and theworld.«

Hilary Putnam

»Our knowledge can only be finite, while ourignorance must necessarily be infinite.«

Karl R. Popper

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171. Die geschlossene Welt, der eingekapselte Mensch,

der ortlose Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182. Der Leib als Ausgangspunkt zur Erschließung einer

offenen Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233. Zum Gang der Argumentation . . . . . . . . . . . . . . . 27

I. Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

2. Der Aufbruch in das naturwissenschaftliche Zeitalter:der dualistische Ansatz von René Descartes . . . . . . . 35

1. Galileo Galilei und Francis Bacon . . . . . . . . . . . . . 372. René Descartes: Philosophie als Methode . . . . . . . . . 423. Der Weg des Zweifels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454. Der Substanzdualismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495. Die Radikalität des Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . 526. Die innovativen Aspekte des dualistischen Ansatzes

bei Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547. Bleibende Probleme des Dualismus . . . . . . . . . . . . 57

3. Unsere Wirklichkeit als Leonardo-Welt:der methodenmonistische Ansatz von Daniel Dennett . 61

1. Unsere Welt als Leonardo-Welt . . . . . . . . . . . . . . 622. Formen »wissenschaftlicher« Weltanschauung . . . . . . . 673. Die aktuelle Auseinandersetzung um das Bewusstsein . . . 704. Grundannahmen von Daniel Dennett . . . . . . . . . . . 725. Die heterophänomenologische Methode . . . . . . . . . . 756. Ein funktionalistisches Modell von Bewusstsein . . . . . . 80

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7. Intuitionen und Gegenintuitionen . . . . . . . . . . . . . 838. Beurteilung der Position von Dennett im Ganzen . . . . . 89

A. Zum Status von Sprache und Intentionalität . . . . . 91B. Die Wirklichkeit als geschlossene Welt . . . . . . . . 94C. Der Mensch als eingekapseltes Wesen . . . . . . . . 97D. Dennett als Denker der Leonardo-Welt . . . . . . . . 100

II. Die Bedingungen des phänomenologischenRealismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

4. Der leibphilosophische Ansatz vonMaurice Merleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

1. Rückblick auf Descartes und Dennett: Ortloses Erkennen . 1032. Charakteristika der phänomenologischen Methode . . . . 1073. Die Dimension zwischen Subjekt und Objekt . . . . . . . 112

A. Die Struktur – Was ist Handeln? . . . . . . . . . . . 113B. Die Gestalt – Was ist Wahrnehmen? . . . . . . . . . 116C. Was zeigt sich, wenn sich beide Hände berühren? . . 120D. Gibt es einen Weg zwischen Rationalismus und

Empirismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121E. Die Zeichen – Was ist Sprechen? . . . . . . . . . . . 124F. Späte Begriffe zur Bestimmung der Wirklichkeit:

Wahrnehmungsglaube, Fleisch, wildes Sein . . . . . . 1274. Was ist der Leib? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1345. Resümee: Der Leib als Schlüssel zum Verständnis der

Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1426. Das Verhältnis zu Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . 146

5. Der Leib und seine Erscheinungsweisen . . . . . . . . . 1481. Vorbemerkung zu dem Ansatz eines »phänomenologischen

Realismus« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1512. Die Phänomene des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . 1553. Die Erscheinungsweisen des Leibes . . . . . . . . . . . . 1644. Der Chiasmus als regulatives Schema . . . . . . . . . . . 170

A. Rückblick auf den dualistischen Ansatz von Descartes . 173B. Das Verhältnis zwischen dem Chiasmus und den

Erscheinungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

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C. Der Chiasmus als Ordnungsschema derErscheinungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

D. Interpretation der wichtigsten Eigenschaften desChiasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182

I. Die Größen Bewusstsein* und Körper* . . . . . 182II. Eigenschaften der Erscheinungsweisen im

Chiasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188III. Subjekt und Objekt im Verhältnis zum Chiasmus 191IV. Zur Interpretation des Chiasmus im Ganzen . . 196

5. Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus . . 1996. Der Leib als Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2057. Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus

(das Gefühl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210A. Zum Ertrag des Chiasmus als Schema . . . . . . . . . 212B. Zur Philosophie der Gefühle . . . . . . . . . . . . . 214C. Der Ansatz von Hermann Schmitz . . . . . . . . . . 220D. Der Dualismus als ein Reduktionismus . . . . . . . . 224

8. Zur Klarheit des Erkennens – erneut das Verhältniszu Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

6. Die unterschiedlichen Erscheinungsweisen derWirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

1. Drei Bestimmungen des Verhältnisses von Leib undWirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231A. Die Suche nach dem archimedischen Punkt . . . . . . 232B. Der Leib als partikulares Problem – Emergenztheorien 234C. Schopenhauers spekulativer Schluss vom Leib auf

die Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2402. Der Leib als Ausgangspunkt zur Bestimmung der

Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242A. Die Erscheinungsweisen in der Wirklichkeit . . . . . 244

I. Die Wirklichkeit ist unanschaulich . . . . . . . 244II. Der Umfang der Erscheinungsweisen . . . . . . 245

III. Gibt es weitere neue Erscheinungsweisen derWirklichkeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

IV. Begegnungen in der Wirklichkeit:der Andere, Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

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B. Der Leib in der Erscheinungsweise als Körper undseine Umgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

C. Die Wirklichkeit im Schema des Chiasmus dargestellt . 252D. Ist die Leibtheorie ein verdeckter Anthropozentrismus? 254

3. Die Erscheinungsweisen an den Rändern des Chiasmus . . 257A. 1.-Person-Perspektive und 3.-Person-Perspektive . . . 259B. Zur sprachlichen Form der Erscheinungsweisen . . . . 263

4. Die Wirklichkeit als Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . 2675. Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus

(die Atmosphäre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269A. Der Schatten eines Baumes . . . . . . . . . . . . . . 270B. Atmosphäre und Raumkonzept . . . . . . . . . . . . 271C. Atmosphäre und Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . 273D. Anmerkungen zur Qualia-Diskussion . . . . . . . . 274

6. Bemerkungen zu Raum und Zeit . . . . . . . . . . . . . . 276

7. Die soziale Dimension der Wirklichkeit nachGeorge Herbert Mead . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

1. Der sozialphilosophische Ansatz von George Herbert Mead 285A. Mead deutet die soziale Welt von »innen« her . . . . 285

I. Akzeptanz der parallelistischen Erfahrungen . . 286II. Der Ausgangspunkt beim Behaviorismus . . . . 287

III. Der neue Ansatz: Sozialbehaviorismus . . . . . 289B. Die Erscheinungsweisen der Wirklichkeit als Gedanke

und als Ding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2922. Die Medien Wahrnehmen Sprechen und Handeln . . . . . 301

A. Wahrnehmen, Sprechen und Handeln bei Mead undMerleau-Ponty . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

B. Die Verortung der Medien im Chiasmus . . . . . . . 305I. Die Medien sind nicht nur Teil der Erscheinungs-

weisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305II. Die Medien als Vermittlung von Bewusstsein*

und Ding* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306III. Unterschiedliche Grade der Vermittlung in den

Erscheinungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . 308C. Genauere Charakterisierung der Medien . . . . . . . 309

I. Die Einheit der Medien . . . . . . . . . . . . . 310II. Unterschiede zwischen den Medien . . . . . . . 310

III. Intentionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

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3. Erfahrungen von Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3164. Die biographische und kulturelle Entwicklung der

Erscheinungsweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320A. Die biographische Entwicklung . . . . . . . . . . . . 324B. Die kulturelle Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . 327

5. Die Sonderrolle der Erscheinungsweise X in der Mitte desChiasmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328

III. Vertiefungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

8. Die Frage nach der Wahrheit: die Theorie desInteral Realism von Hilary Putnam . . . . . . . . . . . . 338

1. Das Konzept des Internal Realism . . . . . . . . . . . . . 3402. Charakteristika der Wirklichkeit im Internal Realism . . . 3453. Zur Wahrheitsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347

A. Gegen einen Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . 348B. Das Wahrheitskriterium der Bewährung . . . . . . . 350C. Das Wahrheitskriterium der Kohärenz . . . . . . . . 351D. Wahrheit als Wahrhaftigkeit . . . . . . . . . . . . . 354E. Die Suche nach der einen Wahrheit . . . . . . . . . . 358

9. Die Erscheinungsweise X in der Mitte des Chiasmus unddie Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

1. Lebenswelt in der Leonardo-Welt . . . . . . . . . . . . . 3652. Charakteristika der Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . . 3723. Einige bekannte, alltägliche Begriffe . . . . . . . . . . . . 374

10. Die wissenschaftliche Erforschung der Wirklichkeit . . . 3771. Wissenschaftliches Erkennen führt zur Abstraktion . . . . 3782. Der wissenschaftliche Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . 3813. Das Verhältnis von Theorie und Empirie . . . . . . . . . . 3854. Transdisziplinarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3885. Wissenschaften unter den Bedingungen der Leonardo-Welt 393

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11. Wissenschaft und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . 3951. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt . . . . 395

A. Die Bedeutung der Lebenswelt für die Wissenschaft . 395B. Lebenswelt als Apriori . . . . . . . . . . . . . . . . 400

2. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Kultur . . . . . . . 4033. »Ordnung der Wirklichkeit«.

Der Ansatz von Werner Heisenberg . . . . . . . . . . . . 411A. Grundannahmen Heisenbergs . . . . . . . . . . . . . 411B. Die Kopenhagener Deutung . . . . . . . . . . . . . . 414C. Die Wirklichkeit zwischen Subjekt und Objekt . . . . 416D. Anmerkungen zu einzelnen Wissenschaften . . . . . 418E. Wisenschaft und Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . 421

12. Zur prinzipiellen Offenheit der Wirklichkeit –Plädoyer für eine Kultur der Achtsamkeit . . . . . . . . 422

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 427

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

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Vorwort

Die zentrale Frage des Buches lautet: Wie ist die Wirklichkeit zu be-schreiben, wenn wir die Bedingungen unserer leiblichen Existenzberücksichtigen? Die Beachtung dieser Bedingungen führen zu einerumfassenden Darstellung der Wirklichkeit, die sowohl das wissen-schaftlich Erforschbare wie auch jene Erscheinungsformen der Wirk-lichkeit umfasst, die sich einer wissenschaftlichen Darstellung weit-gehend entziehen. Die Wirklichkeit zeigt sich auf diese Weise alsoffen und unausmesslich. Die Möglichkeiten des menschlichen Erken-nens werden in unserer Zeit zugleich unterschätzt und überbewertet.Während nach der Postmoderne in der professionellen Philosophiegroße Thesen über unsere Welt eher verpönt sind, haben sie in derpopularisierten Wissenschaft Konjunktur. Die Thesen der Populärwis-senschaft über die Welt zeichnet eine eigentümliche Unbekümmertheitaus. Die Wirklichkeit ist hiernach eine Sphäre von Objekten, die manwissenschaftliche methodisch analysieren und auf die man in der Regelauch technisch handelnd einwirken kann. Eine solche Leichtfertigkeitin der Auffassung von der Wirklichkeit färbt auf viele Bereiche derKultur ab und findet sich auch in vielen alltäglichen Vorstellungen wie-der. Anlass für die Arbeit an dem vorliegenden Buch war die Einsicht,dass mit dem überzogenen Anspruch einer bestimmten Deutung nichtnur spekulative Elemente in die Auffassung von der Wirklichkeit Ein-zug halten, sondern zugleich die Vorstellungen über die Wirklichkeitund die Erwartungen ihr gegenüber verarmen. Das mag erstaunen.Wer mehr behauptet, als er einzulösen vermag, sollte doch zumindestdem Schein nach reicher dastehen. Tatsächlich verhält es sich aber um-gekehrt. Wenn wir Aussagen des Typs »Die Wirklichkeit ist nichtsals …« Glauben schenken, verlieren wir die Fähigkeit, auf überseheneDimensionen und unergründliche Tiefen zu achten, die Wirklichkeitverflacht zu einer geschlossenen Welt von Objekten.

Dieses Buch soll eine Basis bieten, die in unseren zeitgenössischenVorstellungen verschütteten Dimensionen der Wirklichkeit freizu-legen, ohne dabei die Errungenschaften wissenschaftlicher Erkennt-

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nisse in Frage zu stellen. Wir können die vielfältigen Dimensionen derWirklichkeit uns aber nur dann erschließen, wenn wir die Bedingun-gen unserer leiblich-existentiellen Situation in der Wirklichkeit be-rücksichtigen und beachten. Auch die Wissenschaft beginnt mit demStaunen und Fragen im Hier und Jetzt. Das meint streng genau dieses:Es geht um die oder den, die oder der gerade über die Wirklichkeitnachdenkt oder über sie eine Aussage macht, es geht nicht um dasNachdenken und Erkennen im Allgemeinen und Abstrakten. Wir sindschon selbst, in unserer eigenen Existenz gefordert, wenn wir verste-hen wollen, was die Wirklichkeit ausmacht. Doch ist die Achtsamkeitauf die eigene leibliche Existenz nicht eine Einladung zu freier Assozia-tion, sondern die Auferlegung einer besonderen Strenge in der Argu-mentation. Tatsächlich verhält es sich umgekehrt: Unfreiwillige Spe-kulation entsteht immer dann, wenn man sich zu Behauptungenhinreißen lässt, die den Ort der Erkenntnis, die die eigene leiblicheExistenz außer Acht lassen. Eines der zentralen Probleme des folgen-den Textes wird es sein, den Ausdruck »die leibliche Existenz« genauerzu bestimmen. Das ist ein unumgänglicher erster Schritt. Wenn wirAussagen über die Wirklichkeit machen, müssen wir zugleich immerauch Rechenschaft darüber ablegen, wie wir, die wir diese Aussagenmachen, in dieser Wirklichkeit verortet sind. Je umfassender die Aus-sagen werden, die wir über die Wirklichkeit machen, desto kritischermüssen wir die Tragfähigkeit der Behauptungen prüfen. Die Erschei-nungsweisen der Wirklichkeit sind zu vielfältig, als dass ein eng ge-haltenes Arsenal von Methoden oder gar nur eine einzige zu ihrer Er-schließung ausreichen könnte. Von hierher begründet sich auch dieungewöhnliche Kombination des Titels: »phänomenologischer Realis-mus«. Die phänomenologische Methode ist offen, umfasst sehr hetero-gene Erscheinungsformen der Wirklichkeit. Andererseits hält sie denAusgangspunkt des Erkenntnisweges stets im Blick, unsere leiblicheExistenz. Gegen die Selbstvergessenheit mancher »Realisten« und ge-gen deren Verengung des Blickwinkels durch die Vernachlässigungihrer leiblichen Existenz sollte man ausrufen: Realistischer sollten die»Realisten« sein!

Der folgende Text schlägt also einen Weg zur Beantwortung derFrage nach der Wirklichkeit vor, der zunächst bei uns selbst beginnt,also bei dem- bzw. derjenigen, die oder der die Wirklichkeit zu erfassensucht. Es ist scheinbar eine Trivialität, dass wir, die wir die Wirklichkeiterforschen wollen, ihr zugleich angehören. Aber schon die Vorstellung,

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Vorwort

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wir könnten unsere Beteiligung berücksichtigen, indem wir auf unsselbst reflektieren, führt in der Regel zu voraussetzungsreichen An-nahmen darüber, wer wir sind, die wir die Wirklichkeit betrachten.Deshalb soll hier ein Weg beschritten werden, der mit möglichst weni-gen Vorannahmen bei dem beginnt, was sich zeigt. Dabei werde ichmich maßgeblich auf die philosophischen Einsichten von Maurice Mer-leau-Ponty beziehen. Der phänomenologische Ansatz Merleau-Pontysist so reich an Einblicken, weil er stets eine schwebende Balance zu hal-ten versucht hat zwischen dem Wissen und dem Nichtwissen. Der hiervorzustellende Ansatz ist in gewisser Weise das Ergebnis einer länge-ren kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Merleau-Ponty. Diezentralen Gedanken und Konzepte, die ich hier vorschlagen möchte,sind entweder seinen Schriften direkt entnommen oder ein Versuchihrer Weiterentwicklung. Eine Auseinandersetzung setzt auch Diffe-renzen voraus, die ich an den entsprechenden Stellen deutlich machenwerde.

Eine der großen Herausforderungen auf diesem Wege ist die kon-sistente Verknüpfung der stets anfänglichen und elementaren Einsich-ten unserer leiblichen Existenz mit den komplexen Ordnungen, wie siedie Naturwissenschaften, die Mathematik oder die Logik erarbeitet ha-ben. Nur wenn das gelingt, wenn gezeigt werden kann, dass diese Ord-nungen nicht einfach eine ganz andere Sicht der Welt darstellen, son-dern Teil eines Prozesses sind, in den wir leiblich eingebunden sind,wird es auch möglich sein, die selbstverschuldete Verarmung unsererVorstellungen von der Wirklichkeit durch eine Pluralität von Metho-den aufzuheben. Die Erforschung unserer Wirklichkeit ist auch im21. Jahrhundert keine Sache für hoch spezialisierte Experten, die dieverbliebenen Lücken im Universum erkunden, sondern ein allgemei-nes Abenteuer, weil auch heute noch viel Elementares in unserer nahenUmwelt unerschlossen ist. Wenn es uns gelingt, die Wirklichkeit, auchdie, die sich gerade in diesem Moment vor unseren Augen ausbreitet,als in den Grundfesten unverstanden wahrzunehmen, mag auch wiedereine Kultur der Neugierde und der Offenheit entstehen, die uns hilft,Neues zu entdecken.

Meinen Dank möchte ich den vielen Gesprächspartnerinnen und-partnern aussprechen, mit denen ich in meiner beruflichen Tätigkeitan der Evangelischen Akademie im Rheinland im Austausch sein kann.Ein besonderer Dank gilt Dr. Thomas Ulrich, dessen Anregungen nichtnur am Anfang des Weges standen, ebenso Prof. Dr. Christian Link,

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Vorwort

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Dr. Christian Hoppe und Prof. Dr. Christian Bermes, die mir in Diskus-sionen so manche wertvolle Hinweise gegeben haben und schließlichnicht zuletzt meiner Frau, die den mehrjährigen Arbeitsprozess mitviel Rücksichtnahme und einer hilfreichen Portion Skepsis begleitethat.

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Vorwort

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1. Einleitung

Unsere gegenwärtige Kultur ist dadurch gekennzeichnet, dass es popu-läre und vorherrschende Vorstellungen darüber gibt, was der Menschund was die Welt ist. Diese Vorstellungen sind vage und bestimmendzugleich, sie bilden keine ausformulierte Lehre, vielmehr sind sieGrundannahmen, auf die man sich zumeist eher indirekt bezieht unddoch als fest gegeben voraussetzt. Sie helfen, einen Rahmen auf-zuspannen, innerhalb dessen neue Erkenntnisse eingeordnet und ver-arbeitet werden können. Auf eine kurze Formel gebracht lauten sie:Der Mensch ist ein körperliches Wesen mit einem Innenleben. Er istin gewisser Weise ein in seinem Körper eingekapseltes Wesen. DieWelt ist ein durch Raum und Zeit strukturiertes Gesamt von Objekten,die zueinander in Beziehungen stehen. Zu diesen Objekten gehört auchder Mensch.

Der folgende Text ist von der Erkenntnis motiviert, dass diese An-nahmen nicht nur unbegründet, sondern auch von gravierenden undfolgenreichen Verkürzungen und Fehldeutungen bestimmt sind. DieAnnahmen legen zum Beispiel nah, dass sich die beiden Fragen nachdem Menschen und nach der Welt weitgehend getrennt voneinanderbearbeiten lassen. Doch wie ließe sich diese Annahme begründen? Sindes doch immer menschliche Verständnisbemühungen, die Auskunftüber Mensch und Welt geben! Was meinen wir, wenn wir »Welt« oder»Mensch« sagen?

Im Folgenden möchte ich dagegen die Vermutung stark machen,dass wir die Wirklichkeit nur verstehen, wenn wir bei einer unauflös-lichen Verbindung von »Welt« und »Mensch« beginnen und sie nichtals Konzession oder nachträgliche Korrektur oder erkenntniskritischenVorbehalt schon fertigen Bildern von »Welt« und »Mensch« anfügen.Ich möchte deshalb von Beginn an den Begriff der Wirklichkeit demder Welt vorziehen, da letzterer eine Geschlossenheit impliziert, diemit den zu vermeidenden Fehlschlüssen im Zusammenhang stehen.Der Text ist von der Grundhaltung bestimmt, dass wir uns in eine of-fene, weitgehend unbekannte Wirklichkeit vortasten, dass wir nicht bei

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dem Großen und Ganzen beginnen können, dass Vermutungen überdas Große und Ganze immer spekulativ bleiben müssen. Die Wirklich-keit, die wir uns erschließen können, ist eine offene Wirklichkeit indem Sinne, dass wir sie niemals ganz erfassen können, weil wir leiblichin ihr existieren. Denn nur allzu schnell entstehen spekulative Verzer-rungen, wenn wir den Ausgangspunkt vergessen, der uns unausweich-lich in das einbindet, was wir zu erkennen trachten.

1. Die geschlossene Welt, der eingekapselte Mensch,der ortlose Blick

Kennen wir die Welt, in der wir leben? Na, im Großen und Ganzen ja,so glauben wir antworten zu können. Wir haben einiges über das Uni-versum erkannt, wir wissen, dass es vor etwa 13,7 Milliarden Jahren ineinem Urknall entstand und sich seitdem kontinuierlich ausdehnt. Wirwissen, dass die Erde sich vor etwa 4, 6 Milliarden Jahren bildete unddass vor etwa 3,5 Milliarden Jahren sich erstes Leben auf dem nochjungen Planeten entwickelte. Wir haben eine recht gute Vorstellung,wie sich diese ersten Lebensformen vermehrten und sich in den folgen-den Generationen veränderten, wie insbesondere im Kabrium eine un-glaubliche Zahl von Arten entstand. Und schließlich wissen wir, dassdie ersten Exemplare der Gattung Homo vor etwa 2,5 Millionen Jahrenihre Spuren hinterließen, aus denen sich über einige Zwischenstufenschließlich vor etwa 200000 Jahren der heutige Mensch entwickelte,der homo sapiens. Zu der Geschichte des Menschen wissen wir aucheine Menge, wenn auch noch lange nicht alles. Wie war der Menschzu einer derart erstaunlichen kulturellen Entwicklung in der Lage?Die Neurowissenschaften geben uns Antworten, in dem sie Schritt fürSchritt das menschliche Gehirn analysieren und seine funktionalenTeile bestimmen und so seine besonderen Fähigkeiten erschließen.Das Gehirn zeigt sich als das wohl Komplexeste, was das Universumbislang hervorgebracht hat. Der Mensch lässt sich so als einen Orga-nismus beschreiben, dessen Eigenschaften und dessen Vermögen ausseinen internen Zuständen resultieren. Der Mensch ist ein in den eige-nen Körper eingekapseltes Wesen.

Damit ist der Rahmen gespannt für ein umfassendes Wissen überdie Welt, die Welt wird als eine geschlossene Menge von Entitäten vor-gestellt. Da gibt es natürlich noch jede Menge weißer Flecken, manches

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wissen wir nur ungefähr, vieles besteht noch aus Hypothesen. Unwahr-scheinlich aber scheint, dass durch die Bearbeitung der weißen Fleckensich herausstellen sollte, dass der Rahmen sich noch einmal ändernmuss. Er spannt die Fläche auf, auf der jedes künftig zu erwerbendeWissen seinen Platz finden muss. Wir bewegen uns in der Wirklichkeitein wenig wie ein Gutsbesitzer, der seine ausgedehnten Ländereiennicht im Detail kennt, der aber weiß, welchen Umfang sein Besitz hatund der hin und wieder genauere Vermessungen vornimmt.

Ein erstes Misstrauen gegenüber einer allzu homogenen Darstel-lung der naturwissenschaftlichen Beschreibung der Welt sollte entste-hen, wenn man auf die Metapher des Rahmens näher eingeht und da-nach fragt, was das Bild in dem Rahmen eigentlich darstellen soll undwer es sich ansieht. Innerhalb dieses Rahmens bildet sich, das ist dieBehauptung, die Wirklichkeit ab. Wer aber betrachtet denn die Wirk-lichkeit auf diese Weise? Wir selbst sind natürlich die Betrachter. Wel-che Konsequenzen ergeben sich aber daraus, dass wir nun zugleichauch Teil des Bildes sind, das wir betrachten wollen, welchen Ausdruckfinden wir dafür, dass wir selbst an der Wirklichkeit beteiligt sind? DieVorstellung, man könne einen vollständigen Überblick über die Wirk-lichkeit erlangen, hat unmittelbar zur Folge, dass unser eigener Stand-punkt, von dem wir die Wirklichkeit in ihrer Vollständigkeit beobach-ten, ortlos wird. Man kann diese vorherrschende Haltung, ein wenigzugespitzt, den »Bullaugen«-Blick auf die Welt nennen. Ein Bullaugeist ein Fenster aus besonders dickem Glas, das die Eigenschaft hat, das,was man beobachtet, und den Beobachter selbst sorgsam voneinanderzu trennen. So können an einem Schiff an den Stellen Bullaugen ange-bracht werden, wo Gefahr besteht, dass bei Sturm Wasser eindringt.Durch ein Bullauge kann man gefahrlos nach außen blicken, die Tren-nung ist durch das dicke Glas gesichert. Unsere Zeit ist geprägt durchdiesen Bullaugen-Blick. Wir betrachten die Welt und sehen sorgsamdarauf, dass wir selbst nicht beteiligt sind. Wir leisten uns einen Blick»von außen« auf die Welt. Damit wird zugleich unser eigener Stand-punkt ortlos. Wir können uns keine Rechenschaft mehr darüber able-gen, von wo aus wir die Wirklichkeit betrachten. Wenn wir allerdingsuns auf den Ort besinnen, von dem aus wir die Wirklichkeit betrach-ten, werden wir ihn in dem verorten müssen, was wir betrachten. DieVerortung des Betrachters hat aber weitreichende Folgen für die Be-trachtung selbst. Es ist schwierig, die Position des Beobachters mitdem in einen Zusammenhang zu bringen, was sie oder er beobachtet.

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Diese Ortlosigkeit ist die Kehrseite eines überzogenen Anspruchs. DerAnspruch kann metaphysisch begründet werden mit der Behauptungeiner Gründung des Weltbildes in einem Absoluten oder scheinbarwissenschaftlich mit der Verabsolutierung einer bestimmten Erkennt-nismethode. Oft äußert sich diese Neigung in Ausdrücken wie dieWirklichkeit sei »nichts anderes als«. Wer so redet, katapultiert sichins Nirgendwo und verleugnet seine Verortung in der Wirklichkeit.

Die obige Haltung ignoriert auf diese Weise genau jene Voraus-setzungen, die erst den Erfolg der Naturwissenschaften möglich ge-macht haben, nämlich das methodisch kontrollierte Erkennen. Es gibtkeinen voraussetzungslosen Blick auf die Wirklichkeit, es gibt folglichauch kein absolutes Wissen. Die Erkenntnis der Wirklichkeit findetnicht in einer Gottesperspektive statt, sie sieht die Welt eben nicht,wie Gott sie sah, als er sie schuf, sondern wir sehen sie immer unterbestimmten methodischen Prämissen. Methoden sind in der naturwis-senschaftlichen Forschung nichts Nebensächliches. Die Bedeutung derMethoden können für das Selbstverständnis der Wissenschaften garnicht hoch genug eingeschätzt werden und sie werden in seriösen wis-senschaftlichen Veröffentlichungen deshalb auch minutiös beachtet.Das zentrale Problem entsteht also nicht durch die naturwissenschaft-liche Forschung, im Gegenteil, Forschung hat immer eine Ahnung vondem Unverstandenen, wohl aber richtet sie sich gegen eine zu weit-gehende und spekulative Interpretation der wissenschaftlichen Er-kenntnisse. Entscheidend ist die offene oder versteckte Behauptung,diese Erkenntnisse würden sich zu einem geschlossenen und in sichstimmigen Bild von der Wirklichkeit fügen. Das hat mehrere Nachteilezur Folge. Die Geschlossenheit ist für alle Bemühungen abträglich,mehr über die Wirklichkeit herausfinden zu wollen. Der Blick auf dieWirklichkeit steht darüber hinaus in Gefahr, im Modus der Objektivi-tät starr zu werden und die Fähigkeit zu verlieren, für die Zwischentö-nungen und -farben empfänglich zu sein. Der Blick wird aber starr,wenn er von einem imaginären Irgendwo auf die Wirklichkeit blickt,wenn diese Wirklichkeit als eine Welt angefüllt mit Objekten er-scheint. Der starre Blick führt also nicht nur zu einer Ortlosigkeit desBetrachters, sondern auch zu einer Verarmung dessen, was der Be-trachter sehen kann.

Manche Wissenschaftler sind an dem Missstand der Fehldeutun-gen nicht unschuldig, einige erheben die wissenschaftlichen Erkennt-nisse über die Welt zu einem unumstößlichen Weltwissen (»Die Wis-

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senschaft hat gezeigt, dass …«) und schreiben Bücher mit großen Auf-lagen zur umfassenden naturwissenschaftlichen Deutung der Welt.Gegen diesen Missbrauch, gegen die nahezu »priesterliche« Verwen-dung des naturwissenschaftlichen Wissens, gegen die Vorstellung, hiersei der singuläre und unüberbietbare, der eine und wahre Zugang zurWirklichkeit, werden wir argumentieren. Auf dem Spiel steht dasSelbstverständnis unserer Kultur, die sich über einen Rahmen defi-niert, innerhalb dessen eine Haltung der Offenheit und Neugier nureine untergeordnete Rolle spielt. Zukunft erscheint nur noch untereiner meist negativ konnotierten Prognose (Klima, Rohstoffe, Bevölke-rung), welche nichts anderes ist, als die Fortschreibung der Gegenwartunter den Bedingungen des gegenwärtigen Wissens. WissenschaftlicheForschung ist in diesem geschlossenen Rahmen lediglich die Verfeine-rung bestehender Annahmen.

Dabei ist die kontinuierliche Kritik an den Wissensbeständeneine wichtige wissenschaftliche Tugend und einer der Grundpfeilerdes Selbstverständnisses wissenschaftlicher Forschung. Gerade dieerste Hälfte des 20. Jahrhunderts war von großen wissenschaftlichenInnovationen und Erkenntnissen geprägt, die scheinbar unerschütter-lich fundierte Weltbilder ins Wanken gebracht haben.1 Umso erstaun-licher ist es, dass sich das Abenteuer der Forschung in der öffentlichenDarstellung immer mehr zu einer Verkündung scheinbar gesicherterBesitzstände verengt. Natürlich gibt es einige Gründe für diese Ent-wicklung. Dazu gehört die erfolgreiche Umsetzung der wissenschaft-lichen Erkenntnisse in eine verlässlich funktionierende Technik imAlltag, dazu gehört auch ein Wissenschaftsbetrieb, der immer stärkervon einer einseitigen Anwendungsorientierung und durch ökonomi-sche Kriterien geprägt ist. Innovative Wissenschaft war und ist abergerade dadurch ausgezeichnet, dass sie, angetrieben durch eine Ah-nung von dem noch Unverstandenen, die Aussagekraft und –reich-weite der gegebenen Thesen kritisch befragt und bereit ist, auch unterVerlust scheinbarer Selbstverständlichkeiten neue und ungebahnteWege zu gehen.

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1 Sehr weitgehende Konsequenzen sah Heisenberg: »(…) denn die heutige Naturwis-senschaft ist durch ihre erkenntnistheoretischen Erfahrungen gezwungen worden, so-fort die Frage zu stellen, was die Behauptung von der ›Existenz der objektiven, realenAußenwelt‹ bedeuten könne. Wahrscheinlich kann sie nicht mehr bedeuten, als die vor-sichtigere Aussage: ein großer Ausschnitt aus der Welt unserer Erfahrungen lässt sichmit Erfolg objektivieren.« Heisenberg 1942: 285.

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Eine Kritik an szientistischen Verengungen ist nun weder neunoch originell. Viele Positionen der Philosophie des 20. Jahrhundertshaben sich kritisch mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnismetho-den auseinander gesetzt und sie im Namen des Eigentlichen, des un-mittelbaren Lebens, der Existenz, des Seins, dem Verstehen und auchder Leiblichkeit in Frage zu stellen versucht. Zu Beginn des 21. Jahr-hunderts zeigt sich, wie gering die langfristigen kulturellen Wirkun-gen all dieser philosophischen Ansätze waren. Die Aufmerksamkeit,die sie auf sich zogen, blieb mehr oder minder innerhalb der Grenzengeisteswissenschaftlicher Diskurse, wohingegen die Popularität der ge-schilderten Deutungsangebote, die an naturwissenschaftliche Erkennt-nisse anknüpfen, unverändert hoch ist. Durch eine allzu simple Wis-senschaftskritik entsteht der Eindruck eines Streites zwischen zweiSeiten, zwischen zwei Kulturen, der schnell zu einem weltanschauli-chen Streit eskaliert. Auf der einen Seite stehen die nüchternen und»aufgeklärten Naturwissenschaftler«, auf der anderen Seite stehen die»Romantiker«, die sich alternativen Lebensstilen hingezogen fühlenund die Verbundenheit des Menschen mit dem Leben auf der Erde be-tonen. Ich möchte im Folgenden dafür plädieren, dass beide Sichtwei-sen sich nicht ausschließen, sondern beide gerade durch die Beachtungder Bedingungen des phänomenologischen Realismus aufeinander be-zogen sein müssen. Bei aller Kritik an einem rein distanzierten Blickauf die Wirklichkeit gilt: Es wäre viel zu einfach, im Namen einer dif-fusen Unmittelbarkeit, im Namen von Erfahrung und Betroffenheitdie naturwissenschaftliche Forschung zu verwerfen. Ökologisch, poe-tisch, spirituell oder religiös sich verstehende Protestformen gegendas wissenschaftliche Denken sehen oft nicht, in welchem Umfang siedurch die einfache Negation an das gebunden sind, was sie negieren.Auch sie zehren von der Vorstellung einer geschlossenen Wirklichkeit,jedoch tun sie das so, dass sie ihre auf Bewahrung zielende Haltung mitmoralischen Appellen an die Grenzen des Handelns verbinden. Man-che Argumente um das Weltklima zeigt die Vorstellung einer geschlos-senen Weltsicht in besonderer Deutlichkeit: Die Erde wird dann zueinem zu regelnden technischen System. Manche kritische bioethischePositionen suggerieren, der Mensch sei nun dem Menschen auf demLabortisch vollständig verfügbar. Die Positionen, die in positiver oderauch in kritischer Haltung meinen, sich auszukennen und die »Welt«im Griff zu haben, sollen unter der Bezeichnung Leonardo-Welt be-sprochen werden. Ein Protest darf sich nicht auf die Wissenschaft im

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engeren Sinne konzentrieren, sondern muss unsere Kultur des Um-gangs mit Wissensbeständen in den Blick nehmen: Unser Wissen istbei weitem nicht so vollständig, wie viele suggerieren.

2. Der Leib als Ausgangspunkt zur Erschließungeiner offenen Wirklichkeit

Der Schlüssel zu einer neuen Betrachtung der Wirklichkeit, die derenOffenheit beachtet, liegt in der Berücksichtigung unserer leiblichenExistenz. Wir haben aber immer schon einen Ort in der Wirklichkeit,die wir betrachten wollen. Deshalb können wir streng genommen dieWirklichkeit nie »von außen«, sondern immer nur »von innen« erkun-den. Das ist eine der zentralen Einsichten eines Ansatzes des phänome-nologischen Realismus, wie er hier im Anschluss an die Arbeiten vonMerleau-Ponty konzipiert werden soll. Wir müssen uns die Wirklich-keit »von innen« her erschließen.

Dabei wollen wir an die Tradition der Erkenntniskritik im Sinneder Aufklärung anknüpfen. Die Vertreter der Aufklärung haben sichstets gegen alle dogmatischen Festsetzungen eine vorurteilsfreie Er-kenntniskritik gefordert, die immer auch eine Kritik der eigenen Posi-tion einschließt. Doch es ist schwer von jenen Vorurteilen zu lassen, diewir im Alltag teilen und die uns von vielen Seiten immer wieder nahegelegt werden. Der phänomenologische Ansatz, den wir hier vorschla-gen wollen, enthält sich zunächst ziemlich rigoros weit reichender Ur-teile, was der Mensch sei, was die Welt sei, aber auch, was die Wirk-lichkeit sei oder was ein Leib sei. Nur wenn wir diese Spannung füreine ganze Weile aufrecht erhalten, wenn es uns gelingt, unseren festgefügten Vorstellungen von der Welt und dem Menschen zu suspen-dieren, mag auch eine Ahnung davon entstehen, wie wenig wir tatsäch-lich wissen.

So kann es gelingen, sowohl das Bild einer abgeschlossenen Weltals auch das Bild eines eingekapselten Menschen zu vermeiden. Manbekommt eine Ahnung von der grundlegenden Offenheit beider, diesich nicht mehr einer einzigen, schon gar nicht einer objektiven Per-spektive fügen. Doch es geht nicht darum, alte Begriffe durch neue zuersetzen. Denn auch die neuen Begriffe sind schnell kontaminiert undmit klaren Inhalten gefüllt. Schon jetzt möchte ich davor warnen, fürden Begriff »Leib« eine bereits existierende Vorstellung einzusetzen.

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Natürlich haben wir ein intuitives Verständnis, wenn wir den Begriffnutzen. Doch darf gerade am Anfang des Weges nur eine Minimaldeu-tung stehen. Der Begriff steht eher für ein methodisches Programm.Der phänomenologische Weg ist deshalb von definitorischer Zurück-haltung geprägt.

Als leiblich existierende Menschen erschließen wir uns die Wirk-lichkeit »von innen« her. Auch die räumliche Metapher des »Innen«(wie natürlich auch die oben gebrauchte des »Außen«!) ist mit Vorsichtzu gebrauchen, denn wir diskutieren hier nicht räumliche Verhältnisse.Doch ist die Metapher in der Lage, einen ersten Eindruck zu vermit-teln, worum es geht. Wenn man etwas »von innen« sieht, sieht mannie alles zugleich. Es ist die leiblich-existentielle Bindung all unsererErkenntnis, die mit der offenen Wirklichkeit korrespondiert. Erst dieBerücksichtigung der eigenen Bindung ermöglicht die Fähigkeit, dieOffenheit der Wirklichkeit wahr zu nehmen. Schließlich sind auch dieMetaphern »Sehen«, »Blick«, »Bild« und »Perspektive« hoch ambiva-lent. Denn sie transportieren immer wieder das verfälschende Verhält-nis eines eindeutigen und räumlichen Gegenübers in die Argumentati-on. Wir nutzen sie hier, in den einleitenden Bemerkungen, um einenersten Eindruck davon vermitteln zu können, worum es im Folgendengeht. Tatsächlich bekommen wir die umfassende Wirklichkeit »nie zuGesicht«, »in den Blick«, sie ist uns nicht als Objekt gegeben, wir habenkeine klare oder distinkte Vorstellung. Es würde eine Untersuchunglohnen, inwieweit die Verfechter einer szientistischen Position in derBegründung ihrer Position von dieser räumlichen Metaphorik be-stimmt sind.

Die Skepsis gegenüber fixierenden Begriffen zeigt: Unser Verhält-nis zur Wirklichkeit beginnt nicht mit einer philosophischen Debatteum das Für und Wider bestimmter Ontologien. Es gibt also keinen reinargumentativen Anfangspunkt, von dem aus wir eine gesicherte Refle-xion und Diskussion starten könnten. Wenn wir über die Wirklichkeitreden wollen, müssen wir erst einmal anerkennen, dass wir immerschon voll und ganz einbezogen sind. Die unterschiedlichen Weisen,in der uns die Wirklichkeit immer schon erscheint, als Tisch etwa oderals kluger Gedanke oder als Magenschmerz, sollten wir erst einmal indieser Unterschiedlichkeit belassen, ohne sie auf eine fixe Vorstellungvon etwas Gegebenem zu reduzieren. Wir wurden geboren, sind ge-bunden an einen begrenzten Körper, wachsen auf, suchen unseren Platzim Leben in einem wechselhaften Auf und Ab, partizipieren an unserer

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Kultur, sind ständig im Kontakt mit unserer Umwelt, lernen uns zuorientieren, zu sprechen, wir lieben und freuen uns, wir erlebenSchmerzen, wir engagieren uns. Wir beginnen unser Nachdenken alsomitten im Strom der Wirklichkeit und sollten mit all ihren Erscheinun-gen deshalb behutsam umgehen, und sie nicht zu schnell auf eine be-stimmte Weltsicht fixieren. Maurice Merleau-Ponty hat die Maxime inausdrucksstarker Weise formuliert, wenn er sich auch auf den Wesens-begriff Husserls und damit auf einen Kern einer bestimmten Aus-legung der phänomenologischen Methode bezog, der wir hier nicht fol-gen wollen: »Wie Netze vom Meeresgrund das zuckende Leben derFische und Algen ans Licht heben, so müssen die Wesen Husserls insich die Erfahrung in all ihren lebendige Bezügen einfangen.«2 Dieleibliche Verortung, die Erkenntnis der eigenen Endlichkeit und desBeteiligtseins muss wie ein solches Netz wirken, sie darf die Aufmerk-samkeit nicht einschränken, sondern muss fähig sein, sie für alle mög-lichen divergenten Phänomene geöffnet zu halten. Das endliche Erken-nen erfasst die unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Wirklichkeitund entwickelt eine Ahnung, dass ein einziger Blick auf die Wirklich-keit, dass eine einzige Perspektive, dass eine einzelne Methode nichtausreichen, um die Vielfalt der Wirklichkeit zu erfassen. Wer dies ver-sucht, dessen Blick wird starr und unbeweglich. Die Wirklichkeit zeigtsich nur in einer Vielzahl von Erscheinungsweisen.

Aber ist diese Übung wirklich notwendig, erleben wir nicht dieWirklichkeit auch schon im Alltag in offenen Bezügen mit wechseln-den und fließenden Kontexten und Deutungen? Kann man etwa dieErfahrung von Zuneigung zu einem anderen Menschen in jenes me-thodisch reduktive Bild von der Wirklichkeit integrieren, das wir anden Anfang gestellt haben? Es ist für uns im Erleben in der Tat schwie-rig, dieses distanzierte Bild und die eigenen intimen Erfahrungen inEinklang zu bringen. Die unregulierbaren Erfahrungen sind bleibendeStachel im Fleisch einer Kultur der geschlossenen Weltinterpretatio-nen. Die meisten von uns haben eine klare Intuition, dass Phänomenewie die Liebe in der Tat weit über eine distanzierte, methodenverengteDarstellung der Wirklichkeit hinausragen. Es gibt eine Weisheit des»common sense«. Doch müssen wir genauer hinsehen und danach fra-gen, wie wir diese abweichenden Erfahrungen verarbeiten und deuten.Hier zeigt sich: Unsere Kommunikation darüber verarmt gerade hier

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2 Merleau-Ponty 1945: 12.

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zunehmend und es wird immer schwieriger, für diese Erfahrungen star-ke Metaphern anzubieten, die wir miteinander teilen. So bleiben wirisoliert mit den diffusen Vorstellungen, die als Repräsentanten vonsehr individuellen Erfahrungen nur schwer anderen mitgeteilt werdenkönnen. Unsere Kultur der Kommunikation dieser Erfahrungen ist ver-kümmert, erst recht existiert nur eine rudimentäre kulturelle Fähigkeitder Vermittlung dieser Erfahrungen in unseren gesellschaftlich ausdif-ferenzierten Institutionen. Dieser Mangel fungiert wie ein Tor, durchdas eine wunderliche Mischung von religiösen Versatzstücken, esoteri-schen Vorstellungen und psychologisierenden Einsichten dringen. EineKultur, die eher auf Wissensbesitzstände ausgerichtet ist und festeDeutungsrahmen bevorzugt, hat hier wenig zu bieten. Die Deutungder fließenden Erfahrungen bleibt dem Einzelnen überlassen, sie ist»subjektiv«. Die verbreiteten Synkretismen, die man sich je einzelnaneignet, zwischen denen man gegebenenfalls wechselt, stets auf derSuche nach einer gültigen und bleibenden, sind ihrerseits in ihrer kul-turellen Prägekraft schwach, dienen eher als individualisierter Ersatz,entwickeln aber kaum eine gestalterische soziale Energie. Sie wirkennicht zurück auf unser gesellschaftliches Institutionsgefüge, sie beein-flussen den Gang von Wissenschaft und Technik so wenig wie die Ent-wicklungen in Wirtschaft oder Politik, sie sind geprägt von einer pri-vaten und zumeist isoliert rezeptiven Haltung. Kurz, sie sind eherindividuelles Refugium als kulturelle Kraftquelle. Die Rezeption derVersatzstücke führen zu keiner existentiell verpflichtenden Bindung.Stabilisiert wird die Situation isolierter Erfahrungen durch die Leitvor-stellung des eingekapselten Menschen mit der Differenz von Innenund Außen. Diese hilft, beide Bereiche voneinander zu trennen und sozu fixieren: auf der einen Seite die geschlossene Welt der objektivenDinge, auf der anderen die persönlichen Erfahrungen. Wir brauchendagegen eine Kultur, in der wir uns wieder selbstverständlicher überdas schwer Verständliche austauschen können. Wir brauchen eine Kul-tur, in der die eigenen Erfahrungen achtsam wahrgenommen werdenund andere daran Anteil haben können, eine Kultur in der die isolier-ten und privatisierten Suchbewegungen mit den sozialen Prozessenvermittelt werden. Nur eine solche Kultur kann unsere humane Situa-tion adäquat zum Ausdruck bringen und uns befähigen, denn wir lebenals leiblich existierende Wesen in einer offenen Wirklichkeit und habenso stets das Bedürfnis nach Orientierung.

Eine differenzierte Wahrnehmung der Wirklichkeit, eine Sensi-

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blität für ihre unterschiedlichen Erscheinungsformen der Wirklichkeitlässt aufmerksam werden für jene Erscheinungsformen, die sich jederTotalordnung entziehen, die aber dennoch unser Leben vom Anfangbis zum Ende begleiten. Merleau-Ponty hat sie in immer wieder neuenAnläufen zu beschreiben versucht, notwendig scheiternd an dem Ver-such, sie clare et distincte zu bestimmen. Doch ist die Annäherung andiese Erscheinungsweise von großer Wichtigkeit für einen phänome-nologischen Realismus. Merleau-Ponty schreibt: »Unser Ausgangs-punkt wird nicht sein: das Sein ist, das Nichts ist nicht – und nichteinmal: es gibt nur Sein – das sind Formulierungen eines totalisieren-den, eines überfliegenden Denkens –, sondern: es gibt Seiendes, es gibtWelt, es gibt etwas; im starken Sinne, wie die Griechen von to legeinsprechen: es gibt Zusammenhang, es gibt Sinn.«3 Dieser eigenartigeSinn, den es gibt, verhindert einen totalen Skeptizismus und zugleicheine völlige Weltbejahung, dieser Sinn zeigt sich uns immer wiederneu, ohne dass wir über ihn verfügen. Er ist innerhalb der Begrenztheitund des Ephemeren, in dem er sich zeigt, ganz und gar nicht trivial,sondern strahlt aus auf alles andere und lässt uns an seiner Kraft par-tizipieren. Dieser erlebte Sinn fügt sich keinen Ordnungen, man kannihm nachspüren, doch immer hat er einen Eigen-Sinn. Deshalb lässt ersich auch nicht in geschlossene Weltbilder zwingen. Das lässt alle Ver-suche einer abgeschlossenen Weltdeutung so eigentümlich schwankenzwischen den Extremen von Weltverneinung und Weltbejahung. Esmuss darum gehen, die Verbindungen der Kultur zu jener Region derWirklichkeit wieder zu stärken, der diese Sinnerfahrungen entstam-men. Am Ende des Textes soll deshalb ein Aufruf zu einer Kultur derAchtsamkeit und der Offenheit stehen, geprägt durch die Bereitschaft,neue Blicke auf die Wirklichkeit zu wagen, jenseits der bestehendenOrdnungen.

3. Zum Gang der Argumentation

Der folgende Text ist in drei Teile gegliedert. In einem ersten Teil, derdie Kapitel zwei und drei umfasst, soll die zentrale Herausforderunganhand einer Position der philosophischen Tradition und anhand einesaktuellen Beitrags zur Debatte herausgearbeitet werden. Man kann die

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Zum Gang der Argumentation

3 Merleau-Ponty 1964: 121.

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Frage nach einem Verständnis der Wirklichkeit auch reformulieren alseine zentrale Frage der Moderne, als die Frage nach dem Status desBewusstseins. Am Ende dieses Durchgangs soll die Erkenntnis stehen,dass sowohl dualistische, als auch methodenmonistische Ansätze starkeVerkürzungen und ungeklärte Probleme in der Darstellung der Wirk-lichkeit zur Folge haben. Der zweite Teil, in den Kapiteln vier bis siebenwird eine systematische Entwicklung des Ansatzes eines phänomeno-logischen Realismus auf der Grundlage der Arbeiten von Merleau-Ponty vorgenommen. Der dritte Teil fragt in den Kapiteln acht biszwölf nach Folgerungen aus dem vorgeschlagenen Ansatz für das Ver-ständnis von Wahrheit und das Verhältnis von Lebenswelt, Kultur undWissenschaft.

Das zweite Kapitel konzentriert sich auf den Ansatz von RenéDescartes, dessen substanzdualistischer Ansatz in der philosophischenDiskussion heute kaum noch Anhänger findet. Dennoch folgt die Dar-stellung nicht nur einem historischen Interesse. Descartes hat mit derphilosophischen Etablierung eines Bewusstseins, das abgesondert vonder materiellen Welt existiert, einen Grundstein für viele zentrale mo-derne philosophische Diskurse gelegt. Wie haben wir das von der ma-teriellen Welt getrennte Bewusstsein zu deuten? Zudem hat Descarteszugleich ein Paradigma geschaffen, das die popularisierten Vorstellun-gen von naturwissenschaftlicher Wirklichkeitsbeschreibung nach wievor zumindest implizit prägt: Die Welt wird zu einem zu betrachten-den Gegenüber. In diesem Ansatz ist die Vorstellung des »äußeren Be-obachters« angelegt und philosophisch begründet. Man kann die Moti-vation der Philosophie von Merleau-Ponty besser verstehen, wennman den expliziten und auch impliziten Bezug zu Descartes berück-sichtigt.

Im dritten Kapitel wenden wir uns dann der Gegenwart zu undstellen dabei mit Daniel Dennett den Vertreter einer Philosophie vor,die von der Behauptung bestimmt ist, dass die Wirklichkeit in Gänzemit wissenschaftlichen Methoden erfasst und beschrieben werdenkann. Im Zentrum seiner Schriften steht die Behauptung, dass auchdas Bewusstsein sich durch einen wissenschaftlichen Zugang vollstän-dig erschließen lässt. Die Untersuchung seiner Thesen wird zeigen,dass dieser Anspruch, die Wissenschaften hätten die alleinige Kom-petenz zur Deutung der Welt, zu kurz greift. Die von ihm vorgeschla-gene Methode der Heterophänomenologie hat gravierende Einschrän-kungen und systematische Tücken, die den Anspruch der Methode,

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neben materiellen Prozessen auch das Bewusstsein erfassen zu können,außer Kraft setzen.

Wenn aber sowohl ein dualistischer wie auch ein methodenmonis-tischer Weg zu erheblichen Schwierigkeiten führen, stellt sich die Fra-ge nach einer Alternative. Im zweiten Teil der Arbeit werden wir einenphänomenologischen Ansatz vorstellen, der sich eng an die Arbeitenvon Maurice Merleau-Ponty anlehnt. Ein entscheidender Schritt wirddabei sein, die Vorstellung von einem Bewusstsein als gegebener, festumrissener Größe möglichst zu meiden. Im vierten Kapitel sollenwichtige Einsichten und grundlegende Argumentationsweisen des An-satzes von Merleau-Ponty vorgestellt werden, die die Erkenntnis derWirklichkeit an die leibliche Existenz binden und damit die Bedingun-gen eines endlichen Erkennens berücksichtigen.

Diese grundlegenden Einsichten von Merleau-Ponty bilden denAusgangspunkt für einen systematisierenden Ansatz eines phänome-nologischen Realismus, der in den drei folgenden Kapiteln schrittweiseentfaltet werden soll. Im Zentrum steht dabei die Herausforderung,derart heterogene Zugänge zur Wirklichkeit, wie sie die naturwissen-schaftlichen Methoden und die phänomenologische Theorie der Ge-fühle darstellen, so miteinander zu verbinden, dass sie in ihren jeweili-gen Stärken bestätigt und ihnen jedoch zugleich die je eigenen Grenzengesetzt werden. Von dem fünften Kapitel an wollen wir deshalb sukzes-sive die Bedingungen entfalten, die für einen phänomenologischenRealismus bedacht werden müssen. Nicht alles kann zur gleichen Zeitschon gesagt werden, deshalb ist ein schrittweises Vorgehen notwen-dig, das die einzelnen Aspekte der Wirklichkeit sukzessive entfaltet.

Zunächst beginnt der Weg im fünften Kapitel mit der Betrachtungdes eigenen Leibes. Endliches Erkennen ist dadurch geprägt, dass wirdie Wirklichkeit nur »von innen« her erschließen können. Also müssenwir an dem Ort beginnen, wo wir gerade sind, das »wir« hier nicht ver-standen als ein Abstraktum der Menge nachdenkender Menschen, son-dern in der Konkretion derjenigen, die diesen Text hier lesen (oder ihnschreiben). In diesem ersten Zugang ist alles durch die Erscheinungs-weisen des eigenen Leibes bestimmt. Auf der Grundlage der Theorievon Merleau-Ponty wird ein Schema entwickelt, das helfen soll, dieverschiedenen Erscheinungsweisen einander zuzuordnen. Die hier vor-geschlagene Beschreibung der Bedingungen des phänomenologischenRealismus durch das Schema des Chiasmus macht einige wenige hypo-thetische Annahmen notwendig, die den Charakter regulativer Prinzi-

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pien haben. Sie sind und bleiben hypothetisch und begründen ihreExistenz allein durch ihre Funktion, eine gute Systematik für die Er-scheinungsweisen des Leibes bereit zu stellen. Das Schema hilft, diePluralität der Erscheinungsweisen zu erfassen und sie einander zu zu-ordnen. Damit wird es möglich, Gedanken, Gefühle und auch die Er-scheinungsweisen des Körpers in gleicher Weise zu berücksichtigen.

In einem zweiten Schritt erst werden im sechsten Kapitel die zu-vor gewonnenen Erkenntnisse auf die weitere, uns umgebende Wirk-lichkeit hin ausgeweitet. Es wird zu zeigen sein, dass bei dieser Aus-weitung das regulative Schema des Chiasmus nur wenig modifiziertwerden muss und keine qualitativ neuen Elemente braucht, um die Er-scheinungsweisen der Wirklichkeit zu erfassen. Es folgt eine kritischeAnalyse einiger heute verbreiteter Argumentationsschemata, die dasVerhältnis von Bewusstsein und materieller Welt thematisieren wiedie Unterscheidung zwischen der 1.-Person-Perspektive und der 3.-Per-son-Perspektive oder die Theorie der Emergenz. Besonderheiten einersich so erschließenden Wirklichkeit werden beschrieben durch Anmer-kungen zur Erscheinungsweise der Wirklichkeit als Atmosphäre oderin Bemerkungen zu Raum und Zeit.

Doch wie kann man verhindern, wenn man bei dem eigenen Leibbeginnt und von dort die Wirklichkeit erschließt, dass man nicht zu-gleich den eigenen Standort absolut setzt, so dass allein das, was sichgerade zeigt, bestimmt, was wirklich ist? Denn es ist doch zum Beispielsehr offensichtlich, dass unsere leibliche Existenz keine Insel ist, son-dern durch und durch biographisch, kulturell, sozial und geschichtlichgeprägt. Der Leib, wie er uns erscheint, ist nur eine Momentaufnahmein einer Entwicklung, die unser Leben bestimmt und die auch in dieGeschichte der Kultur, der wir angehören, eingeordnet werden muss.Der Ort des Erkennens wäre also unzureichend bestimmt, wenn mansich allein auf das beziehen würde, was sich gerade zeigt, ohne es durchseine soziale, kulturelle und geschichtliche Genese zu relativieren. Imsiebten Kapitel werden wir uns dazu der sozialphilosophischen Theorievon George Herbert Mead zuwenden. Sein Ansatz verhilft uns zu einerAufnahme sozialer Einflüsse, biographischer und soziokultureller Ent-wicklungen, ohne dass wir dadurch unsere Verankerung in der Wirk-lichkeit, den leiblich bestimmten Ort des Erkennens verlassen müssten.Wir können über die Begrifflichkeit, die Mead für eine Fundamental-analyse des Sozialen ausgearbeitet hat, die soziale Dimension unsererleiblichen Existenz erschließen. Unser Standpunkt erweist sich so als

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ein relativer Ausgangspunkt innerhalb unserer eigenen biographischenund innerhalb der soziokulturellen Entwicklung, der wir zugehören.

Die Kapitel fünf bis sieben verstehen sich als systematisch ge-schlossener Vorschlag zu einem konsistenten Ansatz eines phänome-nologischen Realismus, die die Bedingungen unserer leiblichen Exis-tenz von Beginn an berücksichtigt. Ein solcher Ansatz muss einerseitsnach der Kohärenz der Argumentation beurteilt werden, zum anderenaber auch nach seiner Fruchtbarkeit zur Erschließung neuer Erkennt-nisse und Perspektiven. Letzteres kann hier nur in Andeutungen undskizzenhaft geschehen unter Bezug auf zwei Fragestellungen, die imdritten Teil als Vertiefungen diskutiert werden sollen.

Welches Verständnis von Wahrheit ergibt sich aus einem solcher-maßen begründeten phänomenologischen Realismus? Es ist ja offen-kundig, dass ein Erkennen, dass sich in dem zu Betrachtenden lokali-siert, nicht mit der klassischen Wahrheitsdefinition von »adaequatiointellectus et rei«, also der Übereinstimmung zweier getrennter Berei-che von Beschreibung und Sache arbeiten kann. Im achten Kapitel wer-den wir uns auf die Theorie von Hilary Putnam beziehen, die er ineinigen Schriften als internal realism vertreten hat. Dieser Ansatz istbestimmt durch die Einsicht, dass zur hinreichenden Bestimmung derBedeutung eines Begriffes die Sache, auf die der Begriff verweisen will,notwendig hinzu gehören muss. Dementsprechend kann Wahrheitnicht mehr als die Qualität einer Beziehung zwischen zwei getrenntenBereichen verstanden werden. Ausgehend von dem Schema des Chias-mus stellt sich die Frage, ob in den unterschiedlichen Erscheinungswei-sen von Wirklichkeit, ohne der Gefahr eines Relativismus zu erliegen,unterschiedliche Auffassungen von Wahrheit zum Tragen kommen.Hier soll der Vorschlag gemacht werden, Wahrheit sowohl als Kohä-renz, als Bewährung wie auch als Wahrhaftigkeit zu fassen.

Die zweite Fragestellung, bei der die Fruchtbarkeit des Ansatzesgeprüft werden soll, ist die Frage nach Ausrichtung und Gestaltungder wissenschaftlichen Forschung in unserer Kultur. Das soll in mehre-ren Schritten geschehen. Im neunten Kapitel werden wir die mittlereRegion des Schemas des Chiasmus neu interpretieren als einen ele-mentaren Bestandteil der Lebenswelt. Auch unter den schon beschrie-benen Bedingungen der wissenschaftlich-technisch formierten Leonar-do-Welt kann die Lebenswelt als Ressource für Sinnerfahrungen, fürdie Haltung der Wahrhaftigkeit und für Wertorientierungen fungie-ren. Aber es entsteht die weitergehende Frage, wie diese lebensweltlich

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verbürgten Zugänge mit der abstrahierenden Form des wissenschaft-lichen Erkennens in Beziehung gesetzt werden können.

Das zehnte Kapitel macht einige Anmerkungen zur wissenschaft-lichen Erkenntnis. Ohne Zweifel haben wir viele Erkenntnisse über dieWirklichkeit der wissenschaftlichen Forschung zu verdanken. Der Fort-gang der Wissenschaften lässt sich im Rahmen des phänomenologi-schen Realismus als sukzessive Ausweitung unseres Umgangs mit derWirklichkeit deuten. Durch die Überwindung traditioneller metaphy-sischer Unterscheidungen leisten die Wissenschaften einen nicht unbe-deutenden Beitrag zur Aufklärung. Wissenschaften sind aber in ersterLinie durch ihre Methoden definiert. Einer offenen Wirklichkeit, derenErscheinungsformen nicht auf die von Ordnungen fixiert oder redu-ziert werden können, wird am ehesten eine Forschung gerecht, in derdie Methoden ihrerseits nicht fixiert sind, sondern immer wieder neuvariiert werden. Am Ende dieses Kapitels muss allerdings ein Blick aufdie augenblickliche Situation wissenschaftlichen Forschens gerichtetwerden. Auch wissenschaftliche Forschung unterliegt den Bedingun-gen der Leonardo-Welt. Dies schafft aber Einschränkungen und eineKonzentration auf das Machbare, die die innovative Kraft der Wissen-schaften zu schwächen drohen.

Das folgende Kapitel fragt danach, wie die methodisch abstrahie-rende Wissenschaft mit den lebensweltlichen Bezügen verbunden wer-den kann. Die Klage einer Entfernung der Wissenschaften von der Le-benswelt ist schon seit vielen Jahrzehnten präsent und auch berechtigt.Die Wissenschaften müssen durch ihre spezifizierte Methodik be-stimmte Erscheinungsweisen der Wirklichkeit vernachlässigen. Des-halb ist der Appell einer direkten Anbindung des wissenschaftlichenErkennens an die Lebenswelt kaum hilfreich. Die vermittelnden kultu-rellen Kräfte müssen gestärkt werden, die in der Lage sind, Lebensweltund Wissenschaften miteinander in Kontakt zu bringen. Dies weist aufden großen Bereich der Kultur. Der Physiker Werner Heisenberg bietetmit dem Text »Ordnung der Wirklichkeit« einen Entwurf, der kultu-relle und wissenschaftliche Deutungen der Wirklichkeit konzeptionellverbinden will.

Am Ende steht deshalb ein Aufruf zu einer Kultur der Offenheitund Achtsamkeit, die die wissenschaftliche Forschung mit unserer Le-benswelt in einem lebendigen Austausch zu halten in der Lage ist. Derkurze Überblick über den vor uns liegenden Weg zeigt, dass wir aufbegrenztem Raum viele Themen nur kurz und knapp darstellen kön-

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1. Einleitung

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nen. Manches müsste eingehender behandelt werden. Im Zentrum desBuches steht der Vorschlag für einen phänomenologischen Realismus,ein »Realismus«, der die Offenheit der Wirklichkeit und unserer leib-lichen Existenz darzustellen in der Lage ist. Dadurch soll deutlich wer-den, wie rätselhaft nach wie vor unsere Wirklichkeit ist und dass wir inden wirklich großen Fragen nur dann weiter kommen, wenn wir bereitsind, nicht nur auf die »großen Fragen« zu achten, sondern auch auf diekleinen Antworten aufmerksam und für diese achtsamer zu werden.

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Zum Gang der Argumentation