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Rei Gesing Frau Tolstoj und der schwule Gott

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Rei Gesing

Frau Tolstoj und der

schwule Gott

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agenda

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Rei Gesing

Frau Tolstoj und der schwule Gott

agenda VerlagMünster

2017

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

© 2017 agenda Verlag GmbH & Co. KGDrubbel 4, D-48143 MünsterTel. +49-(0)251-799610, Fax +49-(0)[email protected], www.agenda.de

Druck und Bindung: TOTEM, Inowroclaw, Polen

ISBN 978-3-89688-583-8

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Gewidmet meiner wundervollen TochterGewidmet auch meinen großartigen Söhnen

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Man sagt, die großartige Kälte Berlins sei nicht in den Herzen der Berliner, sondern im Herzen der Stadt begründet. Wäre es nicht ein epochaler Erfolg der Philosophie, wenn sie erklären könnte, worin die Substanz dieser glor-reichen, staubigen Aura eigensinniger Hässlichkeit besteht, mit der man so genussvoll das Bild der Stadt und ihrer Bewohner unterlegt? Die Verwun-derung mag beinahe so alt sein wie die Stadt selbst. Doch die Herzen, sie sind es nicht.

An diesem Morgen des achtzehnten Januars klingelt Carlos Wecker früh. Er gähnt herzhaft und versucht, das Sockenpaar des gestrigen Abends unter dem Bett hervor zu angeln, als er die aussichtslose Suche jäh beendet und erstarrt.

Wer hat das noch mal geschrieben?Trotz der Kühle dieses Januarmorgens sprintet er unbekleidet zum

Schreibtisch, greift nach den oberen Büchern eines recht instabil anmu-tenden Turmes, legt sie beiseite und nimmt das Fundament des Stapels zur Hand, einen kleinen, eselsohrigen Band mit dem schlichten Titel „Deut-sche Aphorismen“.

„Unfreundlich, rücksichtslos, rechthaberisch. Unfreundlich, rücksichts-los...“

Nach einigem Blättern stößt Carlo auf den Namen Anneliese Böde-cker, der nicht etwa neben Wittgenstein und Novalis abgedruckt, sondern in unsauberer Handschrift auf die untere Ecke eines zwischen den Seiten klemmenden Zettels geschrieben wurde, unter diese eine Sentenz, zu deren Worten Carlo an diesem Morgen erwacht ist. Für einige Augenblicke starrt er gedankenverloren auf das Zitat. Dann legt er das Buch unruhig zur Seite, mit der festen Absicht, sich wenigstens für ein paar Sekunden unter die Dusche zu stellen, und nicht allzu spät zu kommen.

„Hurra hurra, es ist wieder Gruselwoche! Hey guten, Prenze, meine Pumpe hämmert wieder wie beim Marathon. Machet dir schön heut‘, du Glückspilz!“, ruft Carlo im Vorbeigehen – oder besser: im Vorbeipoltern – Prenzow, seinem Nachbarn aus dem ersten Stock zu.

„Watt‘n, schon wieda Fresswoche, Jenosse Deimbrink? Na denn mach ma hinne, wah?“, entgegnet Prenzow, welcher von der Ausstellung, die Carlo jedes Jahr auf‘s Neue an den Nerven zerrt, ein ganz anderes Bild hat.

In Berlin ist Grüne Woche.Das Taxi wartet schon seit mehr als sieben Minuten mit eingeschalteter

Warnblinkanlage und geöffneter Fahrertür vor der Einfahrt zum Hinterhof. Leise vor sich hin schimpfend empfängt die grobschlächtige Taxifahrerin Carlo bereits an der Haustür. Vom Hauseingang bis zum Wagen bewegen sich beide teils breitbeinig watschelnd, teils hüpfend durch den drei Tage

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alten, graubraunen und von Tannennadeln durchsetzten Schneematsch, der sich gerade unter dem im Übergang von Schneeregen zu Regen befindli-chen Niederschlag auflöst. Carlo öffnet die Beifahrertür, was die Fahrzeug-führerin dazu veranlasst, den seit Monaten nicht mehr verstellten Beifah-rersitz kopfschüttelnd und augenverdrehend zurückzuruckeln.

Carlo steigt ein und empfiehlt der Frau, in der Hofeinfahrt zu drehen, um über die Mommsenstraße statt über die Niebuhrstraße, in der gerade die entsorgten Christbäume aufgeladen würden, zur Kantstraße zu gelangen, „damit nicht noch mehr Zeit drauf geht als ohnehin schon.“

„Sie sind mir ja ein ganz Schlauer“, erwidert die Frau ruppig, „wer is‘ jetzt der Taxifahrer, ich oder Sie?“

Carlo setzt ein bewusst künstliches Lächeln auf, das verdächtig an ein höhnisches Grinsen erinnert, und dreht seinen Kopf um neunzig Grad nach links.

„Ihr Bart gefällt mir. Drei Tage? Sieben Tage?“Die Fahrerin bremst abrupt. „Jetzt reicht‘s! Erst warte ich ewig und dann

noch unverschämt werden. Raus!“ Ihr fleischiger Zeigefinger, im Takt zu ihrem schnaufenden Atem erzitternd, deutet hinaus auf den Gehsteig. Carlo kramt nach seinem Portemonnaie, wirft geschätzte fünf Euro in möglichst kleinen Münzen in einen leeren Coffee-to-go-Pappbecher und steigt aus. Im Taxi hat es ohnehin fürchterlich nach Rauch, Haarspray und Urin ge-stunken, sodass er nun froh ist, wieder frische Luft zu atmen. Vermutlich wäre der Geruch in seiner Kleidung haften geblieben und seine heutigen Gesprächspartner hätten womöglich ihn als die Quelle dieser olfaktori-schen Unzumutbarkeit ausgemacht.

Er läuft schnellen Schrittes die Bleibtreustraße hoch in Richtung Savig-nyplatz, um die S5 Richtung Spandau zu nehmen. Auf seinem Weg strömt ganz Berlin auf ihn ein: Die Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, die vielen Autos, der Lärm und die Luft, die nach Großstadt schmeckt. Das ist es wohl, was Frau Bödecker gemeint haben muss, als sie die folgenden Zeilen schrieb:

„Die Berliner sind unfreundlich und rücksichtslos, ruppig und rechtha-berisch, Berlin ist abstoßend, laut, dreckig und grau, Baustellen und ver-stopfte Straßen, wo man geht und steht – aber mir tun alle Menschen leid, die hier nicht leben können!“1

Als Carlo am S-Bahnhof eintrifft, fährt die S5 gerade am Gleis ein. Rasch mischt er sich unter die Wartenden, die sich schon in engen Trauben um die Zugtüren scharen. Zwar ist im Abteil längst kein Sitzplatz mehr frei, als sich hinter ihm auch schon die Türen mit dem üblichen Zischlaut schließen, aber da Carlo an diesem Morgen seine grauen Lederhandschuhe

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trägt, stört es ihn nicht weiter, im Mittelgang zu stehen und sich während des Beschleunigens und Bremsens an den senkrecht verlaufenden, gelben Stangen festzuhalten. Letztens noch hat er irgendwo gelesen, dass es in Berlin noch nie so viele Taxen gegeben hat wie heute – beinahe achttau-send, wenn er sich richtig erinnert.

Ob es unter diesen achttausend Taxifahrern wohl auch dieses eine schwarze Schaf, diesen einen freundlichen, gut gekleideten und achtsam fahrenden Gesellen in einem Meer aus übellaunigen Schwarzsehern und Kurvenschneidern gibt?

Carlo sieht auf die Armbanduhr, die sein verrutschter Jackenärmel frei-gelegt hat: Es ist viertel nach acht.

„Passt noch“, murmelt er, atmet einmal tief durch und blickt verträumt nach Norden in Richtung Kantstraße aus dem Fenster.

Zwölf Jahre lebt er nun schon in diesem kleinen Appartement in Char-lottenburg, das ihm die Welt bedeutet, arbeitet als freier Journalist und schreibt eine breite Varianz an Artikeln, überwiegend für Gourmet- und Lifestyle-Zeitschriften. Obgleich er seine beruflichen Ziele vor einigen Jahren noch ein wenig unbescheidener formuliert hätte als heute, hadert er nie so sehr mit dieser seltsamen Verquickung seines früheren und heutigen Berufslebens wie im Januar.

Joe Kallnig, der recht ungeschlachte, aber erfolgreiche Chefredakteur des Marktführers dieser Branche, verlangt nun bereits seit zehn Jahren je-des Jahr auf‘s Neue eine umfassende Reportage über die Grüne Woche. Kallnig hat von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass die pünktli-che Abgabe dieser Reportage eine elementare und indiskutable Vorausset-zung für den Fortbestand von Carlos freier Mitarbeiterschaft sei.

„Da kommst du mir nicht drum rum“, hat Kallnig vergangenes Jahr in den Telefonhörer geschnaubt, als Carl es gewagt hat, die vorsichtig for-mulierte Anfrage zu stellen, ob denn nicht ein anderer Mitarbeiter mehr Freude an dieser Reportage habe. Die Antwort fiel in etwa so aus, wie er erwartet hatte: „Du bist der einzige studierte Bauer, den ich kenne, und wenn wir weiterhin regelmäßig Beiträge von dir abdrucken sollen, bestehe ich auf den Bericht über die Grüne Woche mitsamt Kommentar. So wie jedes Jahr. Das ist der Deal! Punkt.“

Die Grüne Woche selbst ist vielleicht nicht die interessanteste Messe, die Berlin je gesehen hat – doch als die weltgrößte Messe für Ernährung, Landwirtschaft und Gartenbau weist sie natürlich ihre ganz eigenen, vor-nehmlich kulinarischen Vorteile auf, die sich in allerlei Spezialitäten von Obst über Fleisch bis hin zu bio-zertifizierten Alkoholika präsentieren. Als problematisch empfindet Carlo auch nicht die Waren, um welche sich die

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Messe rankt, sondern vielmehr die Personen, die hinter den Tischen mit den feilgebotenen Ausstellungsstücken lauern.

Er hatte der Agrarbranche ein für alle Mal den Rücken kehren wollen. Nach all den Demütigungen, die er in der ostwestfälischen Heimat erfahren hatte, wollte er Landwirtschaftsbetriebe und alles, was mit diesen in Ver-bindung steht, am Liebsten nur noch skeptisch aus der Ferne begutachten.

Carlo war als erster Sohn eines Ackerbauers in der Vellertheimer Börde geboren worden, doch das traute Familienglück war nur von kurzer Dauer gewesen; wenige Wochen nach seiner Geburt hatte sein Vater einen schwe-ren Schlaganfall erlitten. Carlos Mutter war nicht weiter verwundert gewe-sen, als ihr Mann eines Abends um halb zwölf noch nicht mit dem Traktor vom Feld zurück war. Es war Anfang Oktober gewesen und der Weizen musste „drin“, also gesät werden. Sie war schulterzuckend zu Bett gegan-gen, um sich einem ihrer innig geliebten Frauenromane zu widmen, und hatte ihren Ehemann erst am nächsten Morgen bewusstlos auf dem alten Fendt gefunden, der mit den Vorderrädern bis in den an das Feld angren-zenden Graben gerollt war. Man hatte den einzigen Allgemeinmediziner im Dorf aus dem Bett geklingelt und so kam die ärztliche Versorgung zwar spät, aber nicht zu spät, um das Leben ihres Mannes zu retten. Bernhard Deimbrink hatte nie die vollständige Kontrolle über die Bewegungen sei-ner Arme und Beine zurückerlangt, doch der Sprache – oder zumindest des Nuschelns – war er nach einiger Zeit wieder mächtig geworden, sodass er sich zumindest mit all jenen Menschen, die ihn gut kannten, einigermaßen verständigen konnte.

Carlo war das einzige Kind seiner Eltern geblieben. Bereits im Kin-desalter war ihm nur allzu deutlich gewesen, welchen Weg er einzuschla-gen hatte. Schon damals hatte er begonnen, mit seiner Mutter „den Hof zu schmeißen und die Pflege vom Alten zu wuppen“, wie er sich selbst aus-drückte. Seine Mutter hatte ihn, wie sie später immer wieder beteuerte, „ja nie gezwungen, den Hof zu übernehmen“, dessen ungeachtet jedoch immer lauthals gelacht, wenn er während der Familienfeiern seiner Kindheit von Verwandten gefragt worden war, was er denn später mal werden wolle und er „Journalist“, „Schriftsteller“, „Arzt“ oder „Tischler“ geantwortet hatte. Und so hatte er neben den ersten Teilzeitjobs seines Lebens als Ackerbau-er, persönliche Pflegekraft des eigenen Vaters und hauseigener und -ge-machter Knecht der Mutter das bischöfliche Gymnasium besucht, das der Volksmund liebevoll als Nonnenbunker bezeichnete, Abitur gemacht, die Ausbildung zum Landwirt absolviert, Landwirtschaft studiert, unter seinen Kommilitonen eine Frau gefunden, mit ihr gemeinsam die Eltern bis zu

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deren Tode gepflegt, das Amt des Ortslandwirtes ausgeübt; er hatte im Auf-sichtsrat der Bäuerlichen Bezugs- und Absatzgenossenschaft, im örtlichen Kirchenvorstand, im Vorstand des Acker- und Waldbauernverbandes und im Vorstand der Kreisjägerschaft gesessen; alle diese Ämter hatten auch schon sein Vater und vor ihm sein Großvater bekleidet.

„Dat hat immer einer von Deimbrink gemacht un dat soll auch so blei-ben.“ Mit diesen Worten hatte ihn der Ortsbürgermeister zum Kandidaten für den Kirchenvorstand der katholischen Kirchengemeinde St. Ludgeri gekürt.

All diesen Umständen zum Trotz war Carlo schon damals ein Schöngeist gewesen, hatte heimlich, manchmal sogar nachts auf dem Traktor gelesen und sogar eigene Gedichte geschrieben, derer er sich später so sehr schäm-te, dass er seine Schreibhefte vernichtete, indem er sie in einem kleinen, nächtlichen Lagerfeuer jugendlicher Unsicherheit allesamt verbrannte. Seine Mutter hatte unter seinem Bett einmal, er musste vielleicht neunzehn oder zwanzig gewesen sein, ein dickes Buch über die griechischen Philo-sophen mit zahlreichen, seitenlangen Zitaten aus deren Werken gefunden und ihn zur Rede gestellt.

„Wie kommst du eigentlich dabei?“, hatte sie geschrien, „so‘n Blödsinn, nachher bisse ganz für die Arbeit verdorben!“

Tatsächlich mochte sein großer Fehler nicht darin gelegen haben, ein solches Buch in seinem Schlafzimmer herum liegen zu lassen; unter an-deren Umständen hätte sie es wahrscheinlich nie eines Blickes gewürdigt, doch ein so außergewöhnlich dicker, in langweiliges braun gekleideter Band musste einer Frau wie seiner Mutter, wie er gemutmaßt hatte, die ja nur schmale, in Papier gebundene und pastellfarbene Heftchen mit aussa-gekräftigen Titeln wie: Augen, die so strahlen oder: Eine schicksalhafte Be-gegnung las, sofort ins Auge fallen. Er hatte sich das Buch im Andenken-laden in Telgte gekauft, einem bekannten Marienwallfahrtsort im Münster-land und das Ziel der jährlichen, von der Kirchengemeinde ausgerichteten Pilgerreise. Diese Ausreise war der einzige „Urlaub“, der ihm von Muttern jemals genehmigt worden war. Sie hatte das Buch konfisziert und es bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit dazu verwandt, das Kaminfeuer anzufachen.

Als Kind war Carlo seiner Mutter immer mit einer skeptischen Faszi-nation begegnet. Sie hatte nicht nur eine an den Trommelfellen zerrende Neigung zum Schreien gezeigt, sondern ganz allgemein eine ausgeprägtes Gespür für publikumswirksame Szenen, die sich vornehmlich um sie selbst gedreht hatten. Ganz gleich, ob es vor den Nachbarn, während des Früh-stücks oder auf einem Volksfest geschehen war: Sie hatte sich in Szene gesetzt, als könne sie sich nur durch die Augen der Anderen erblicken.

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Doch während es dem jungen Carlo stets so vorgekommen war, als sei seine Mutter wenigstens ein Wesen von einem anderen Stern, hatte sie in der Dorfgemeinde als eine anständige, wenn nicht gar respektable Frau gegolten. Er hatte früh die Erfahrung machen müssen, dass nicht etwa sie, sondern er, Carlo, der Sonderling gewesen war. Als das folgsame Kind, das er zumindest die meiste Zeit über gewesen war, hatte er sich gehorsam in die Kulisse eingefügt, vor der Frau Deimbrink ihre Stücke aufgeführt hatte. Heute kann er sich nicht mehr an den Zeitpunkt erinnern, an dem ihm dieser Umstand bewusst geworden war, und er neigt zu der Annahme, dass dies nur bedeuten kann, dass es sich dabei um eine besonders frühe Einsicht handeln muss.

Egal, wo er sich bewegt hatte – ob zuhause, im Gemeinde- oder Ver-einsleben – überall hatte er den vorherrschenden Geist als seltsam fremd und ihm äußerlich empfunden. Bei allen Zusammenkünften war es bei den Männern immer nur um Geld, um die Erfolge und Misserfolge der Land-wirtschaft im Allgemeinen und bestimmter Landwirte im Besonderen und bei Festen vor allem um das Saufenkönnen gegangen, während man im Hintergrund gelegentlich das schrille, geheimnisvolle Lachen der sich um-einander scharenden Frauen gehört hatte.

An einem denkwürdigen Abend hatte er, aus einer ihm unerklärlichen und äußerst leichtsinnigen Laune heraus, seinen Tischnachbarn bei einem Vereinstreffen gefragt, ob er schon einmal von Paul Cézanne gehört habe. Der Name musste ihm wohl gerade durch den Kopf gegangen sein, weil in dem Laden in Telgte ein großformatiger Kalender mit Kunstdrucken im Schaufenster gelegen hatte; auf dem Titelbild war ein besonders fruchtrei-ches Stillleben Cézannes abgebildet gewesen.

Der Mann, der gerade damit beschäftigt gewesen war, mit der Serviette einen imposanten Bierfleck auf seinem Hemd zu betupfen, hatte innegehal-ten und zu Carlo aufgesehen.

„Wer soll‘n das sein?“„Ein französischer Künstler“, hatte Carlo hastig gemurmelt, um es mög-

lichst rasch hinter sich zu bringen.„So so, der feine Herr Deimbrink. N‘ Künstler also. Die wollen doch

alle nicht arbeiten, die Künstler! Liegen dem Staat auf der Tasche und per-vers sinze meist au noch! Bleib mir bloß vom Leib mit dem Gesocks.“

Dieser Abend war ihm noch lange im Gedächtnis geblieben und ob-gleich er eigentlich als recht gewöhnlich bezeichnet werden kann, hatte er sich zu einer Art Leitbild für das Leben des Jugendlichen entwickelt, der aus seiner vagen Frustration, den eigenen Interessen nicht nachgehen zu können, schließlich die Schlussfolgerung gezogen hatte, dass es besser für

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ihn sei, so zu sein, wie er geglaubt hatte, dass man es von ihm erwartete. Und weil er schon damals fest zu seinen Beschlüssen gestanden hatte, hatte er sich fortan standhaft bemüht, keine weiteren Sehnsüchte aufkommen zu lassen, die ihn unter jenen, die er als Seinesgleichen verstanden hatte, als andersartig hervorgehoben hätten.

Er wurde älter. Er studierte und heiratete. Nach dem Tod seiner Eltern nahm er einige betriebliche Wachstumsschritte in Angriff und vergrößerte den Hof um zwanzig Hektar. Er schaffte neue Maschinen an. Neue Scheu-nen und Unterstellhallen wurden errichtet. Wenn er einmal aus Versehen zu lange oder intensiv über sein Privatleben nachdachte, neigte er dazu, dem Mann, dem er morgens im Spiegel beim Älterwerden zusah, in der folgenden Woche Tag für Tag ein gemurmeltes „manmussjazufriedensein“ entgegen zu schleudern und dabei geflissentlich dessen flehenden Blick zu vermeiden. Seine Frau war ihm von Beginn an eine große Hilfe gewesen; was auch immer er in Angriff nahm – sie unterstützte ihn rückhaltlos. Mit der Kinderlosigkeit kam sie allem Anschein nach gut zurecht und ließ im-mer, wenn das heikle Thema kurz angerissen wurde, verlauten: „Mach dir keinen Kopf, Carlo, du kannst doch nichts für dein Leiden!“ Immerhin sei-en sie doch auch so, ohne Kinder, ein gutes Team, das volle Befriedigung und Erfüllung durch seine Arbeit erlange.

Du vielleicht, dachte er in einem Augenblick und verabscheute sich im nächsten selbst für diese Unaufrichtigkeit und Feigheit. Immer wieder ge-schah es nach derlei Gesprächen, dass eine solche Wut in ihm aufbrodelte, dass er sich, um nicht zu platzen, auf einen Traktor setzte, in den Wald fuhr und eine ganze Weile schreiend gegen Bäume trat. Er hatte es ihr nie erzählt; ihr nicht und auch sonst niemandem. Die Erfahrungen mit den griechischen Philosophen und dem guten, doch eher harmlosen Cézanne hatten ihn in etwa erahnen lassen, wie sein Umfeld auf diese Offenbarung wohl reagiert hätte. Eines Sonntags, als seine Frau von der Frühmesse in St. Ludgeri zurückkam, saß er auf der Eckbank am Frühstückstisch, mit weit aufgerissenem Mund, die Augen auf die Deckenleuchte gerichtet. Der Krankenwagen brachte ihn zunächst in das örtliche Hospital, doch noch am selben Tag verlegte man ihn auf die geschlossene Abteilung der psychia-trischen Klinik des Universitätsklinikums Münster, in der er die nächsten acht Monate verbrachte. Die ersten drei Monate befand er sich in einer Art Wachkoma. Nicht eher als in der dreizehnten Woche seines Aufenthaltes in der Psychiatrie schlugen die Medikamente an; als er wieder zu sprechen anfing, konnte eine engmaschige Psychotherapie beginnen. Ihm wurde im Verlauf der Gespräche mit seinem Therapeuten schnell deutlich, dass nun, falls er seine Krankheit, die zu diesem Zeitpunkt den wohlverdienten Sta-

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tus einer mittelschweren Depression erreicht hatte, überwinden und dauer-haft ein lebenswertes Leben leben wollte, der Augenblick gekommen war, an dem er schlussendlich zu sich stehen musste, mit all den Konsequenzen, die das haben würde.

Dorothee, mit der Carlo zu diesem Zeitpunkt schon mehr als zehn Jah-re verheiratet war, reagierte sehr gelassen auf sein Bekenntnis, schwul zu sein. Auch sein Wunsch, sich von ihr trennen zu wollen, vermochte sie nicht aus der Ruhe zu bringen.

„Ich bin einfach nur froh, dass du lebst, dass du wieder mit mir sprichst, dass es dich wieder gibt und dass ich dich weiter zum Freund haben werde. Wir bleiben doch Freunde?“

„Ach, Doro“, erwiderte Carlo, während er sich verstohlen die Augen-winkel mit dem Hemdsärmel betupfte, „Ich bin so froh, dass es raus ist und es macht mich so demütig und dankbar, dass du trotzdem für mich da bist. Trotz der ganzen Scheiße, die wir in den letzten Monaten ertragen muss-ten. Für einen unglücklichen Ehemann bin ich ein echter Glückspilz.“ Er drückte sie fest an sich und tat etwas, das er noch nie getan hatte: Er heulte und weil es sich, obwohl er sich vor Dorothee schämte, ganz gut anfühlte, heulte er gleich noch ein wenig mehr.

„Entschuldige“, murmelte er, als er sich von ihr löste und die dunklen Flecken auf ihrer Bluse sah. Sie blickte an sich hinunter und zuckte leicht-hin mit den Schultern. „Also, beim Traktor müsste jetzt Wasser nachgefüllt werden.“

Erleichtert stimmte er in ihr Lachen mit ein.Von da an ging es rasch bergauf mit ihm. Ebenfalls sehr schnell einigten

sich Doro und Carlo darauf, wie es weitergehen sollte: Doro, die gleichfalls ausgebildete Landwirtin war und für die es keine Alternative zu einem Le-ben als Bäuerin gab, blieb auf dem Hof und bewirtschaftete ihn fortan ohne die Hilfe ihres Ehemannes. Carlo vererbte ihr diesen im Zuge der vorweg-genommenen Erbfolge, „damit du Sicherheit hast.“ Er bekam eine kleine Abfindung, die Dorothee in monatlichen Raten zahlen konnte, die aber nur dann gezahlt werden sollten, wenn der Hof es auch abwarf.

„Das ist fair!“, rief sie aus und anhand ihres ehrlichen Lächelns ließ sich beim besten Willen nicht erahnen, dass ihr Mann gerade im Begriff war, sich von ihr zu trennen.

Direkt im Anschluss zur Reha begann Carlo damit, Journalismus zu stu-dieren. Zunächst lebte er noch einige Monate auf dem Hof, um die Über-gabe zu vollziehen, und fuhr jeweils zu den Vorlesungen nach Berlin. Au-ßerhalb des Hofes konnte er sich zu jener Zeit kaum noch aufhalten, denn nachdem er alle Ehrenämter aufgegeben und sich aus den Vereinen zu-

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rückgezogen, nachdem er alle Mitgliedschaften, sogar die im Schützenver-ein, gekündigt hatte und auch aus der Kirche ausgetreten war („Das ganze Gerede von Schuld und Sünde, von ‚du bist nicht würdig‘ und so weiter, das hat mich doch erst in diese Lage gebracht!“, hatte Carlo seinen Austritt gegenüber Pfarrer Beitling begründet, der sich nur mit Mühe dazu hatte breitschlagen lassen, sich noch einmal mit ihm zu unterhalten), schüttelte man nur entsetzt den Kopf, wenn er im Dorf in der Volksbankfiliale, im Postamt, beim Arzt, in der Bäckerei oder beim Metzger auftauchte. Ehema-lige Freunde – die Sorte, die sich auf Dorffesten zum Saufen trifft, um sich über ihr so genanntes häusliches Glück zu beschweren – wandten sich teils sichtlich angewidert ab, andere wechselten die Straßenseite, wenn sie ihn sahen. Sprüche wie: „Die arme Doro, weißt du überhaupt, was du ihr damit antust?“, „Deine Eltern drehen sich im Grab rum!“, „Das wird dir noch leid tun!“, „Wir sind dir wohl nicht mehr gut genug?“, „Der Herr Journalist und Popopiekser, haha!“, „War dat ne Gehirnwäsche da in der Klapse?“ oder auch: „Ham se da ne Schwuchtel von dir gemacht oder haste dat schon bei de Bundeswehr gelernt?“ blieben auch nach Monaten nicht aus und eines Dienstagabends, als er zur Vorlesung fahren wollte und sich, ganz wie im-mer, mit einer herzlichen Umarmung von Doro verabschiedete, sprach er ganz leise in ihr Ohr: „Ich komme jetzt nicht mehr, Doro.“

„Das verstehe ich gut“, erwiderte sie ebenso leise, „Ich wünsche dir viel Glück, lass uns am Wochenende telefonieren.“ Und sie zog an seinem linken Ohrläppchen, ganz wie eine Mutter, die ihren Sohn einen Lausbub schalt und kein bisschen wie eine Ehefrau, die ihren Mann ziehen ließ. Während der darauf folgenden Fahrt nach Berlin musste er einige Male rechts ranfahren, weil ihm Tränen die Straße vor seinen Augen verschwim-men ließen, aber das war es dann auch. Seitdem hatte er nie wieder mit seinem Entschluss gehadert. Ihm war klar, dass es keinen anderen Weg geben konnte, als noch mal ganz neu anzufangen.

„Nächster Halt: Messe Süd. Ausstieg links.“Carlo schreckt aus seinen Gedanken hoch. „Muss ja schon raus hier,

Mamma Mia“, murmelt er vor sich hin, während er sich eilig an einigen Passagieren vorbei drückt, die, starr wie Pappaufsteller, blicklos den Gang entlang starren. Als er einer lederjackentragenden Punkerin mit rosafarbe-nem Irokesenschnitt aus Versehen seinen Ellenbogen in die Seite rammt, entschuldigt er sich flüchtig, ehe er rasch durch die Zugtür hindurch auf die Plattform des Gleises springt. Trotz seiner Eile ist Carlos Laune an diesem Morgen beschwingt. Er ist zuversichtlich, dass es diesmal gar nicht so schlimm wird auf der Messe, wie das in den letzten Jahren der Fall