4
27 Kulturpolitische Mitteilungen • Nr. 147 • IV/2014 Henning Fülle ist freier Dramaturg. Er lebt in Berlin und schreibt an seiner Dissertati- on über die Geschichte und Bedeutung des Freien Theaters. © David Balzer / bildbuehne.de D ie deutsche Theaterlandschaft ist einzigartig auf der Welt. Diese von der Politik und in den Feuilletons gerne getroffene Feststel- lung meint die Besonderheit des »deutschen Sys- tems«: etwa 150 Theaterhäuser mit angestelltem künstlerischen Ensemble und durchgehendem Re- pertoire-Spielbetrieb in allen Sparten der Darstel- lenden Künste, in öffentlicher (kommunaler und staatlicher) Trägerschaft. Doch einzigartig ist auch die Parallelstruktur des »Freien Theaters«, die sich seit Mitte der Siebziger- jahre herausgebildet und inzwischen so weit etab- liert hat, dass ihre Bedeutung und die Notwendigkeit ihrer Finanzierung wohlwollend anerkannt werden – nicht nur auf kommunaler und Länderebene, son- dern auch von der Enquete-Kommission »Kultur in Deutschland« des Deutschen Bundestages. So ist die deutsche Theaterlandschaft auf merk- würdige Weise zweigeteilt – und auch darin einzig- artig. Beide Systeme sind als (Interessen-)Verbände organisiert, beide existieren dank der Finanzierung aus öffentlichen Mitteln, freilich mit mehr als mar- kanten Unterschieden, was die Art und den Umfang der Unterstützung angeht. Freies Theater als Parallelsystem der deutschen Theaterlandschaft ist ein Faktum. Doch mit seiner Durchsetzung und Anerkennung ist zunehmend un- klar geworden, worin eigentlich seine besondere Funktion und Bedeutung besteht. Freie Gruppen in den Siebzigerjahren In den Siebzigerjahren war das in der BRD noch ziemlich klar: Als »frei« bezeichneten sich Theater- gruppen, die außerhalb des institutionellen Systems der »autoritär« regierten bürgerlichen Bildungstempel Theater für ein Publikum spielten, das von den Veran- staltungen der Hochkultur nicht erreicht wurde. Ihre Theaterarbeit bestand vor allem darin, politische, ge- sellschaftskritische und emanzipatorische Impulse zu vermitteln, konzeptionell eng verknüpft mit Strategien zur Umwälzung der bürgerlich-kapitalistischen Ge- sellschaft, die aus der antiautoritären Jugendrevolte der späten Sechzigerjahre hervorgegangen waren. Sie nann- ten sich selbst zunächst Freie Gruppen, die – ein Zusammenschluss von Aussteigerinnen und Ausstei- Freies Theater – Worüber reden wir eigentlich? Henning Fülle gern aus dem bestehenden Theatersystem und Laien – subversives »Volkstheater« für Zielgruppen jenseits des bildungsbürgerlichen Horizontes machten und sich dabei solidarisch, gemeinschaftlich und hierarchiefrei – »kollektiv« – organisieren wollten. Die Rote Rübe, das Theater K, die Zentrifuge, das Theaterkollektiv Transparent oder auch Hoffmanns Comic Teater und nicht zuletzt das Kindertheater des West-Berliner Reichskabarett, aus dem das Grips Theater hervor- ging, waren einige dieser etwa dreißig Freien Grup- pen, über die etwa auf dem Theaterpädagogischen Kongress 1973 in West-Berlin diskutiert wurde und die 1974 auf dem Frankfurter Festival argumenta (welches das elitäre Kunstfestival experimenta der Sechzigerjahre ablösen wollte) vertreten waren. Freie Szene: Die Achtzigerjahre Schon die Freie Szene, die zum Ende der Siebziger und in den Achtzigerjahren entstand, unterscheidet sich von diesen frühen Freien Gruppen, deren Orga- nisationen (»Volkstheater-Kooperativen«) Mitte der Siebzigerjahre zunächst wieder zerfielen. Sie entwi- ckelte sich mit der Herausbildung der »Alternativbe- wegung« und als deren Bestandteil, für die der TUNIX-Kongress 1978 in West-Berlin ein zentrales Fanal war: So wie für die Kindererziehung, die Schule, die Versorgung und Heilung von Kranken, die mediale Kommunikation, die Ernährung und den Umgang mit den natürlichen Ressourcen (und viele andere Bereiche) alternative Formen gesucht und praktisch-ausprobierend entwickelt wurden – als Modelle für eine andere Gesellschaft –, fanden sich Gruppen, die Alternativen zum traditionellen Thea- ter suchten und versuchten: Clownstheater, Anima- tionsspiele, Straßen- und Wandertheater, sowohl für »theaterfernes« Publikum als auch für die rasant wachsende Alternativszene und ihre Aktionen und Zusammenkünfte selbst. Internationale Festivals und Gastspiele (wie die Spielstraße zur Olympiade 1972, das Münchner Theaterfestival ab 1977) wirkten als Impulse, »an- deres Theater anders zu machen« und zeigten Mög- lichkeiten, dies auch praktisch umzusetzen – jenseits der Bildungsanstalten, aber auch jenseits der unmit- telbaren politischen Funktionalisierung.

Freies Theater – Worüber reden wir eigentlich?

  • Upload
    others

  • View
    5

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

27Kulturpolitische Mitteilungen • Nr. 147 • IV/2014

THEMA: FREIES THEATER

Henning Fülle istfreier Dramaturg.Er lebt in Berlinund schreibt an

seiner Dissertati-on über die

Geschichte undBedeutung des

Freien Theaters.

© D

avid

Bal

zer

/ bi

ldbu

ehne

.de

Die deutsche Theaterlandschaft ist einzigartigauf der Welt. Diese von der Politik und inden Feuilletons gerne getroffene Feststel-

lung meint die Besonderheit des »deutschen Sys-tems«: etwa 150 Theaterhäuser mit angestelltemkünstlerischen Ensemble und durchgehendem Re-pertoire-Spielbetrieb in allen Sparten der Darstel-lenden Künste, in öffentlicher (kommunaler undstaatlicher) Trägerschaft.

Doch einzigartig ist auch die Parallelstruktur des»Freien Theaters«, die sich seit Mitte der Siebziger-jahre herausgebildet und inzwischen so weit etab-liert hat, dass ihre Bedeutung und die Notwendigkeitihrer Finanzierung wohlwollend anerkannt werden– nicht nur auf kommunaler und Länderebene, son-dern auch von der Enquete-Kommission »Kultur inDeutschland« des Deutschen Bundestages.

So ist die deutsche Theaterlandschaft auf merk-würdige Weise zweigeteilt – und auch darin einzig-artig. Beide Systeme sind als (Interessen-)Verbändeorganisiert, beide existieren dank der Finanzierungaus öffentlichen Mitteln, freilich mit mehr als mar-kanten Unterschieden, was die Art und den Umfangder Unterstützung angeht.

Freies Theater als Parallelsystem der deutschenTheaterlandschaft ist ein Faktum. Doch mit seinerDurchsetzung und Anerkennung ist zunehmend un-klar geworden, worin eigentlich seine besondereFunktion und Bedeutung besteht.

Freie Gruppen in den SiebzigerjahrenIn den Siebzigerjahren war das in der BRD nochziemlich klar: Als »frei« bezeichneten sich Theater-gruppen, die außerhalb des institutionellen Systems der»autoritär« regierten bürgerlichen BildungstempelTheater für ein Publikum spielten, das von den Veran-staltungen der Hochkultur nicht erreicht wurde. IhreTheaterarbeit bestand vor allem darin, politische, ge-sellschaftskritische und emanzipatorische Impulse zuvermitteln, konzeptionell eng verknüpft mit Strategienzur Umwälzung der bürgerlich-kapitalistischen Ge-sellschaft, die aus der antiautoritären Jugendrevolte derspäten Sechzigerjahre hervorgegangen waren. Sie nann-ten sich selbst zunächst Freie Gruppen, die – einZusammenschluss von Aussteigerinnen und Ausstei-

Freies Theater – Worüber reden wir eigentlich?

Henning Fülle

gern aus dem bestehenden Theatersystem und Laien –subversives »Volkstheater« für Zielgruppen jenseitsdes bildungsbürgerlichen Horizontes machten und sichdabei solidarisch, gemeinschaftlich und hierarchiefrei– »kollektiv« – organisieren wollten. Die Rote Rübe,das Theater K, die Zentrifuge, das TheaterkollektivTransparent oder auch Hoffmanns Comic Teater undnicht zuletzt das Kindertheater des West-BerlinerReichskabarett, aus dem das Grips Theater hervor-ging, waren einige dieser etwa dreißig Freien Grup-pen, über die etwa auf dem TheaterpädagogischenKongress 1973 in West-Berlin diskutiert wurde unddie 1974 auf dem Frankfurter Festival argumenta(welches das elitäre Kunstfestival experimenta derSechzigerjahre ablösen wollte) vertreten waren.

Freie Szene: Die AchtzigerjahreSchon die Freie Szene, die zum Ende der Siebzigerund in den Achtzigerjahren entstand, unterscheidetsich von diesen frühen Freien Gruppen, deren Orga-nisationen (»Volkstheater-Kooperativen«) Mitte derSiebzigerjahre zunächst wieder zerfielen. Sie entwi-ckelte sich mit der Herausbildung der »Alternativbe-wegung« und als deren Bestandteil, für die derTUNIX-Kongress 1978 in West-Berlin ein zentralesFanal war: So wie für die Kindererziehung, dieSchule, die Versorgung und Heilung von Kranken,die mediale Kommunikation, die Ernährung und denUmgang mit den natürlichen Ressourcen (und vieleandere Bereiche) alternative Formen gesucht undpraktisch-ausprobierend entwickelt wurden – alsModelle für eine andere Gesellschaft –, fanden sichGruppen, die Alternativen zum traditionellen Thea-ter suchten und versuchten: Clownstheater, Anima-tionsspiele, Straßen- und Wandertheater, sowohl für»theaterfernes« Publikum als auch für die rasantwachsende Alternativszene und ihre Aktionen undZusammenkünfte selbst.

Internationale Festivals und Gastspiele (wie dieSpielstraße zur Olympiade 1972, das MünchnerTheaterfestival ab 1977) wirkten als Impulse, »an-deres Theater anders zu machen« und zeigten Mög-lichkeiten, dies auch praktisch umzusetzen – jenseitsder Bildungsanstalten, aber auch jenseits der unmit-telbaren politischen Funktionalisierung.

28 Kulturpolitische Mitteilungen • Nr. 147 • IV/2014

THEMA: FREIES THEATER

Anders als in Deutschland, wo der Begriff desTheaters fest mit der Tradition des literarisch orien-tierten Bildungstheaters verschweißt war, hatten sichin Frankreich, England, Italien, den USA und ande-ren westlichen Ländern, aber auch in Osteuropanach dem Zweiten Weltkrieg neue ästhetische For-men der Bühnenkunst herausgebildet: Das LivingTheatre, Bread&Puppet Theatre, La Mama, PeterBrook, Ariane Mnouchkine, Richard Schechner, Eu-genio Barba, Jerzy Grotowski, Tadeusz Kantor aberauch der Clown Jango Edward und viele andereentwickelten künstlerische Umgänge mit dem ehr-würdigen Medium, die sich ästhetisch oder politisch

(oder beides)durch höchsteAktualität undRelevanz imHinblick aufzeitgenössische,gesellschaftli-che und kulturel-le Fragen und

Konflikte auszeichneten. Ob es der Vietnamkriegwar oder die Verklemmtheit der Individuen in denStrukturen der bürgerlichen Kleinfamilie: Im Aus-land entstanden Theaterarbeiten, die – wenn sie nachDeutschland kamen – atemberaubende und fassungs-lose Bewunderung (oder auch schockierte Ableh-nung) auslösten; und die beispielhaft und beispiel-gebend wirkten, was die Ausdrucks- und Wirkungs-möglichkeiten von Theater anging.

»Das wollen wir auch (können)« – die Achtziger-und frühen Neunzigerjahre waren das Jahrzehnt, indem sich Angehörige und Anhänger der westdeut-schen Freien Szene, Autodidaktinnen und Autodi-dakten oft oder zumeist, in zahllosen Workshopsqualifizierten und professionalisierten, um solchesTheater auch in Deutschland zu entwickeln und zuzeigen.

Freies Theater – alternative ProduktionsweiseSo entstand auch in Westdeutschland allmählicheine Theaterszene, der es um selbstbestimmte Ar-beitsweisen, künstlerische Zeitgenossenschaft unddie Begegnung mit dem Publikum auf Augenhöheging; sie erkämpfte und entwickelte mit ersten öf-fentlichen Förderprogrammen und ersten Häusernihre – prekären – Produktionsstrukturen und Auf-trittsmöglichkeiten.

Der Anspruch auf künstlerische, ästhetische Zeit-genossenschaft und Relevanz stand von Anbeginn inengem Zusammenhang mit alternativen Produktions-weisen von Theater, die dafür als unabdingbare Vor-aussetzung galten: Mit dem Bestehen auf Souveräni-tät in allen künstlerischen, materiellen und personel-len Entscheidungen waren sie frei von den Zwängender Repertoire- und Ensemblepolitik der Häuser, dem

Entscheidungsmonopol von Intendanten; die Projekt-orientierung stand für die Souveränität in allen thema-tischen, inhaltlichen und produktionsrelevanten Fra-gen. Allerdings wurden die politisch motiviertenAnsprüche der Freien Szene auf prinzipielle Kollek-tivität, auf Gleichbehandlung und der Anspruch aufdie Gemeinsamkeit von »Leben und Arbeiten«, diedie Normative der Freien Szene der Achtzigerjahrenoch geprägt hatten, überwiegend aufgegeben.

Das Freie Theater professionalisierte sich, entwi-ckelte sich auch künstlerisch weiter, differenziertesich. Mit der »Eroberung« von regelmäßiger Förde-rung (West-Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main,München), der Etablierung erster Produktionshäu-ser (Kampnagel, Mousonturm, Pumpenhaus Müns-ter, Theatermanufaktur/Theater am Halleschen UferWest-Berlin, das neue TaT in Frankfurt am Main)und ersten regelmäßigen Festivals – seit 1985 aufKampnagel und seit 1990 auch Impulse – wurde eszum kulturpolitischen Fakt.

Daneben bestanden und bestehen viele der Ansät-ze der Freien Szene der Achtzigerjahre fort undentwickelten sich weiter: Vor allem die breite Etab-lierung von eigenständigem Kinder- und Jugendthe-ater ist aus diesen Impulsen hervorgegangen; dasPuppen- und Figurentheater als Kunstform erfuhreine kräftige, bis heute wirksame Belebung, die mitder deutschen Wiedervereinigung durch die in derDDR gepflegte Tradition kräftig gestärkt wurde.Und auch Kabarett und Kleinkunst wurden in denspäten Siebzigern gleichsam runderneuert durchGruppen wie die Drei Tornados, Heinrich Pachl undder Wahre Anton, Matthias Beltz mit Karl NappsChaos Theater und dem Vorläufigen FrankfurterFronttheater und vielen anderen.

Auch im Feld des Staats- und Stadttheaters entwi-ckelte sich die Kunst weiter, wenn auch vor allem inwenigen Zentren, in denen wagemutige Intendant-innen und Intendanten (wie Frank Baumbauer!) neuekünstlerische Ansätze aus der Freien Szene durch-setzten, im Gegensatz zur großen Mehrheit der Häu-ser, die weitgehend unbeeinflusst ihr Bildungsthea-ter weiter betrieben. Neben der Berliner Schaubühnegab es nur eine handvoll Orte, an denen risikobereiteIntendanten Regisseure wie Peter Zadek, Hans Neu-enfels, Claus Peymann und aus der DDR auswei-chende renitente Brecht-Schüler (im weitesten Sin-ne) arbeiten ließen. Und Anfang der Neunzigerjahresetzte die Schule der Dekonstruktion zumal mitFrank Castorf an der Berliner Volksbühne neuekünstlerische Maßstäbe.

Die folgenden Generationen von Schauspiel- undRegie-Studierenden wurden von solchen Vorbil-dern beeinflusst und einzelne entwickelten bereits inihren Ausbildungsgängen entsprechende Ideen zeit-genössischer Theaterkunst, die sich von den über-kommenen Traditionen abwandten. Hans-Thies Leh-

Dieser Beitragwurde 2012 aufder Website des

Festivals Impulsein NRW veröffent-licht. Online unter:www.festivalimpulse.de/

de/news/96/henning-fuelle-ueber-die-freie-

szene (aufgerufenam 13.11.2014).

Er wurde vomAutor für die

KulturpolitischenMitteilungen

überarbeitet undgekürzt.

In Westdeutschland entstand allmählich eine

Theaterszene, der es um selbstbestimmte

Arbeitsweisen, künstlerische Zeitgenossen-

schaft und die Begegnung mit dem Publikum

auf Augenhöhe ging.

29Kulturpolitische Mitteilungen • Nr. 147 • IV/2014

THEMA: FREIES THEATER

mann hat die neuen Formen in seinem Opus mag-num Postdramatisches Theater beschrieben und derneuen Ästhetik damit eine begriffliche Fassung ge-geben. Dieser Trend wurde insbesondere verstärktdurch die Einrichtung des Instituts für AngewandteTheaterwissenschaft in Gießen (durch den polni-schen Kantor-Schüler und ersten Vermittler der per-formativen Theaterkunst Richard Schechners undRobert Wilsons: Andrzej Wirth), die Neuorganisie-rung des kulturwissenschaftlichen Studiums an derUniversität Hildesheim (Hajo Kurzenberger, Hart-win Gromes), die Gründung des »Regieinstituts«durch Manfred Brauneck und Jürgen Flimm an derHamburger Universität.

In den Neunzigerjahren wuchs so eine jungeGeneration von professionell ausgebildeten Thea-termacherinnen und Theatermachern heran, die zwarmit der politischen Herkunft der Freien Szene ausder Alternativbewegung kaum noch etwas am Huthatte, deren Räume und Förderstrukturen aber nutz-te, um ihre ersten eigenen und selbstständigen künst-lerischen Schritte zu tun – mit nachhaltigen Wirkun-gen bis heute: von René Pollesch, Rimini Protokollbis She She Pop, Showcase Beat le Mot, NicolasStemann, Falk Richter und Matthias von Hartz, undin der »nächsten Generation« mit andcompany&Co.,Turbo Pascal, Monster Truck und vielen anderenund inzwischen noch jüngeren.

Damit gibt es heute ein Feld von Theatermacher-innen und -machern sowie Gruppen, die frei produ-zieren, die projektorientiert und in künstlerischerund organisatorischer Souveränität arbeiten; die sichzumindest anfangs, manchmal auch halbwegs dau-erhaft, über die Fördersysteme für Freies Theaterfinanzieren. Und dieses Feld hat sich – auf zwar nachwie vor äußerst prekärem Niveau – konsolidiert underneuert sich stetig, teils aus den genannten Ausbil-dungsgängen, teils aber auch immer noch aus künst-lerischen Impulsen, aus der Musik, der BildendenKunst, der Literatur, der Popkultur und dem Kino.Dieses Feld ist höchst produktiv und innovativ undmanche der Gruppen schaffen es zu halbwegs siche-ren Förderperspektiven beziehungsweise an einigeStadttheater, die dieses Potenzial künstlerischer Zeit-genossenschaft und Innovation an sich zu bindenversuchen.

Aber neben den frei produzierenden Künstler-gruppen, die zeitgenössische ästhetische – oft oderzumeist postdramatische – Theaterformen vertretenund auch in den großen Feuilletons sowie internati-onal wahrgenommen werden, hat sich auch einebreit gefächerte Struktur von Kinder- und Jugend-theatern, Puppen- und Figurentheatern, Straßenthe-atern (im öffentlichen Raum) und soziokulturellenTheatergruppen konsolidiert, die aus der Theater-landschaft nicht mehr wegzudenken ist.

ChristophWinkler wurdeim November2014 für seinefreie Tanzpro-duktion »Das

Wahre Gesicht«mit dem FAUST

desDeutschen

Bühnenvereinsin der KategorieChoregraphie

ausgezeichnet.Szenenfoto:

Heiko Marquardt/ frischefotos.de

30 Kulturpolitische Mitteilungen • Nr. 147 • IV/2014

THEMA: FREIES THEATER

Erneuerung verteidigt worden. Die streckenweiseverbissene Abwehr – wer die Repräsentantinnen undRepräsentanten des Deutschen Bühnenvereins dazuverfolgt, weiß, wovon die Rede ist – hat die Parallel-strukturen zementiert, die wir jetzt vorfinden.

Dabei spricht es allerdings für die Kraft und dasPotenzial der alternativen Ansätze, dass sie eine gewis-se Stabilisierung erreicht haben, die ihnen den Statuseiner Parallelwelt und eine ihren Möglichkeiten ent-sprechend große Aufmerksamkeit verleiht: She ShePop beim Theatertreffen, René Pollesch an der Volks-bühne, Rimini Protokoll als Exportartikel auf der gan-zen Welt (und Christoph Marthaler und seine »family«müsste man eigentlich auch hinzuzählen) repräsentie-ren zeitgenössische Produktionsweisen und Theateräs-thetiken, die im Parallelsystem der Freien entwickeltworden sind und für die an Stadt- oder Staatstheater nurmühsam und in der Regel nur dank der hellsichtigenund unbeugsamen Überzeugung einiger weniger In-tendantinnen und Intendanten der Raum freigeschau-felt wurde, den diese Künstlergruppen für ihre Arbeitenbrauchen. Und für das mühsame »Andocken« solcherGruppen und Projekte an die Strukturen der Stadt- undStaatstheater bedarf es ganz offenbar der Extraförde-rung durch die Programme »Heimspiel« und »Doppel-pass« der Bundeskulturstiftung …

So ist die deutsche Theaterlandschaft geteilt: in dasTraditionssystem der Repertoire- und Ensemble-Be-triebe und das System der freien Produktionsweisen,in dem die künstlerischen Modernisierungs-, Innova-tions- und Erneuerungsimpulse der Theaterkunst unddie Anstrengungen, Publikum jenseits der bildungs-bürgerlichen Schichten zu erreichen, eingehegt sind.

Die zeitgenössische Modernisierung der Theater-kunst hat sich in Deutschland in diesen Parallel-strukturen des Freien Theaters entwickelt und ihreProtagonistinnen und Protagonisten arbeiten nachwie vor unter den prekären Bedingungen einer – imVergleich zur Finanzierung der Stadt- und Staatsthe-ater – Nischenförderung. Nach wie vor gilt die Formdes literarischen Bildungstheaters mit festem En-semble und Repertoire-Spielplan (und den entspre-chenden Produktionsweisen) in Deutschland als dasTheater schlechthin – auch wenn dieses Kernge-schäft oft notgedrungen auszufransen beginnt undauch in Häusern »der Provinz« neue künstlerischeFormate Einzug halten. Doch bleibt die Förderungder neuen Produktionsweisen und Verständnissedessen, was zeitgenössische Theaterkunst heute sei,in Randbereiche abgedrängt. Darüber muss gespro-chen werden, zumal die Legitimität der öffentlichenFinanzierung der Theaterlandschaft immer wiederbezweifelt oder sogar in Abrede gestellt wird.

Die Frage, welches Theater wir heute und für dieZukunft brauchen, wie und wo und unter welchenBedingungen dieses entstehen soll und kann, stehtauf der Agenda – aber das Gespräch darüber kommtbislang kaum voran.

»Testament.Verspätete

Vorbereitungenzum Generati-

onswechsel nachLear« von She

She Pop (Berlin)war eine der

erfolgreichstenfreien Theater-

produktionen derSaison 2010/11und erhielt nichtnur Einladungenbis nach Japan,sondern auchzum Berliner

Theatertreffen.Szenenfoto:Doro Tuch

ParalleluniversumSeit den Neunzigerjahren besteht nun in Deutschlanddieses Parallelsystem der professionellen freien The-aterproduktion, das neben Künstlerinnen und Künst-lern sowie Gruppen auch die Produktionshäuser, dieLandesverbände und den Bundesverband Freier The-ater umfasst, das von Förderstrukturen auf Kommu-nal-, Landes- und Bundesebene getragen wird, demeigene Festivals gewidmet sind und in denen die»künstlerische performative und Theateravantgarde«funktionieren kann. Dieses Paralleluniversum ist in-ternational orientiert und hat inzwischen auch An-schluss an die europäischen und weltweiten Entwick-lungen der zeitgenössischen Theaterkunst gefunden.

Anders als in anderen gesellschaftlichen Berei-chen – wie etwa im Sozial- und Erziehungswesen, inder Medienpolitik oder auch im Ernährungswesenund der Energiepolitik, wo die Modernisierungsim-pulse der Siebziger- und Achtzigerjahre zu ziemlichnachhaltigen Veränderungen der Mainstream-Struk-turen geführt haben – ist das deutsche Theater vonseinen Sachwaltern weitgehend erfolgreich in sei-nen herkömmlichen Strukturen gegen Impulse der