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Frankfurt am Main 13. September 2016 www.epd.de Nr. 37 Freihandelsabkommen TTIP, CETA, TiSA – warum wir eine andere Globalisierung für alle Menschen brauchen Eine Stellungnahme des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) im Evangelischen Verband Kirche Wirtschaft Arbeitswelt (KWA), September 2016 Impressum Herausgeber und Verlag: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) gGmbH Anschrift: Emil-von-Behring-Str. 3, 60439 Frankfurt am Main. Briefe bitte an Postfach 50 05 50, 60394 Frankfurt Geschäftsführer: Direktor Jörg Bollmann Verlagsleiter: Bert Wegener epd-Zentralredaktion: Chefredakteur: Dr. Thomas Schiller epd-Dokumentation: Verantwortliche Redakteure: Uwe Gepp (V.i.S.d.P.) / Reinhold Schardt Tel.: (069) 58 098 –135 Fax: (069) 58 098 –294 E-Mail: [email protected] Der Informationsdienst epd-Dokumentation dient der persönlichen Unterrichtung. Nachdruck nur mit Erlaubnis und unter Quellenangabe. Druck: druckhaus köthen Friedrichstr. 11/12 06366 Köthen (Anhalt)

Freihandelsabkommen TTIP, CETA, TiSA – warum wir eine andere … · 2017. 7. 12. · men und christliche Ethik Über TTIP, CETA und das weni-ger bekannte TiSA, ein weltwei-tes Abkommen

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  • Frankfurt am Main 13. September 2016 www.epd.de Nr. 37

    Freihandelsabkommen TTIP, CETA, TiSA – warum wir eine andere Globalisierung für alle Menschen brauchen Eine Stellungnahme des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) im Evangelischen Verband Kirche Wirtschaft Arbeitswelt (KWA), September 2016

    Impressum

    Herausgeber und Verlag: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) gGmbH Anschrift: Emil-von-Behring-Str. 3, 60439 Frankfurt am Main. Briefe bitte an Postfach 50 05 50, 60394 Frankfurt

    Geschäftsführer: Direktor Jörg Bollmann Verlagsleiter: Bert Wegener epd-Zentralredaktion: Chefredakteur: Dr. Thomas Schiller

    epd-Dokumentation: Verantwortliche Redakteure: Uwe Gepp (V.i.S.d.P.) / Reinhold Schardt Tel.: (069) 58 098 –135 Fax: (069) 58 098 –294 E-Mail: [email protected]

    Der Informationsdienst epd-Dokumentation dient der persönlichen Unterrichtung. Nachdruck nur mit Erlaubnis und unter Quellenangabe. Druck: druckhaus köthen Friedrichstr. 11/12 06366 Köthen (Anhalt)

  • 2 37/2016 epd-Dokumentation

    Freihandelsabkom-men und christliche Ethik

    Über TTIP, CETA und das weni-ger bekannte TiSA, ein weltwei-tes Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen, wird seit Jahren verhandelt. Sowohl die Freihandelsabkommen selbst als auch die Art der Verhandlungs-führung sind politisch äußerst umstritten und stoßen auf vielfäl-tige zivilgesellschaftliche Kritik. Der Kirchliche Dienst in der Ar-beitswelt (KDA) im Evangeli-schen Verband Kirche Wirtschaft Arbeitswelt (KWA) legt mit die-ser Ausgabe von epd-Dokumen-tation bereits die zweite Stel-lungnahme zu Freihandelsab-kommen vor.

    »Wichtig ist uns, TTIP und die anderen geplanten Abkommen in einem größeren sozioökonomi-schen Kontext zu diskutieren und dabei interdisziplinär vorzuge-hen, um das Geschehen mög-lichst in seiner Ganzheit zu er-fassen«, schreiben die Autoren in ihrem Vorwort. Und weiter: »Die sozioökonomischen Probleme der gegenwärtigen Globalisierung haben nicht erst seit der Finanz- und Wirtschaftskrise epochalen Charakter: hohe Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung im in-ternationalen Maßstab; die z.T.

    drastische Zunahme sozialer und ökonomischer Ungleichheit zwi-schen dem reichen Norden und dem schwach entwickelten Sü-den, aber auch innerhalb der wohlhabenden und armen Staa-ten selbst; die mittlerweile sicht-bar werdenden negativen Effekte einer Wirtschafts- und Konsum-weise, die unsere Umwelt als Grundlage aller menschlichen Reproduktion fundamental be-droht; die wachsenden globalen Migrationsbewegungen, die nicht nur humanitäre Katastrophen produzieren, sondern auch hohe volkswirtschaftliche Kosten für die abgebenden wie die aufneh-menden Länder. (. . .) Während die Befürworter eines forcierten Freihandels langfristige Prosperi-tät und durch verstärkten inter-nationalen Wettbewerb induzier-te Innovationsschübe und sin-kende Produktionskosten erwar-ten, gibt es bei den Kritikern die Befürchtung, dass unter Regie der großen transnationalen Kon-zerne die neoliberale Globalisie-rung mit ihrer Agenda der Libe-ralisierung, Privatisierung und Deregulierung ihre dauerhafte Fortsetzung findet. Vor dem Hin-tergrund bestehender Erfahrun-gen wird vermutet, dass unter dem Druck dieser Globalisierung weitere Sozial-, Öko-, Verbrau-cher- und Arbeitsstandards abge-senkt werden. (. . .) Unser Her-angehen ist normativ geprägt, d.

    h., wir betrachten ‚Wirtschaft‘ aus der Sicht des Sein-Sollens, also mit ethischen Werturteilen, die wir dem System Wirtschaft als Subsystem der Gesellschaft zuschreiben. Dabei orientieren wir uns am christlichen Glauben, der den Menschen in seinem Tun und Lassen in Freiheit und Ver-antwortlichkeit vor Gott sieht, und an einer humanistischen und ethischen Haltung, die die Gren-zen der individuellen Freiheit dort sieht, wo die gesamtgesell-schaftlichen Interessen und die natürlichen Lebensgrundlagen negativ beeinflusst werden. Wirt-schaftliches Handeln ist aus un-serer Sicht kein Selbstzweck und schon gar nicht letzter Zweck des menschlichen Daseins. Es dient durch die Bereitstellung von Gü-tern und Dienstleistungen grund-sätzlich der Überwindung von Knappheiten und der Befriedi-gung menschlicher existenzieller und entwicklungsbezogener Be-dürfnisse. (…) Einsichten der christlichen Anthropologie und ökonomischer Theorietraditionen jenseits des derzeitigen Main-streams gilt es auch im Feld des Ökonomischen zu stärken, durch eine Handelspolitik, die sensibel ist für die ökologischen Heraus-forderungen sowie die sozialen und ökonomischen Ungleichge-wichte und die soziale Gerech-tigkeit und kooperatives, faires Handeln fördert.«

    Quelle:

    Freihandelsabkommen TTIP, CETA, TiSA – warum wir eine andere Globalisierung für alle Menschen brauchen

    Eine Stellungnahme des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) im Evangelischen Verband Kirche Wirtschaft Arbeits-welt (KWA), September 2016

  • epd-Dokumentation 37/2016 3

    Inhalt:

    Freihandelsabkommen TTIP, CETA, TiSA – warum wir eine andere Globalisie-rung für alle Menschen brauchen. Eine Stellungnahme des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) im Evangelischen Verband Kirche Wirtschaft Arbeitswelt (KWA), September 2016

    ► Dr. Axel Braßler / Michael Klatt: Vorwort 4

    ► Vorwort der Autor*innen-Gruppe 5

    ► 1. Hinführung zum Thema 5

    1.1. TTIP, CETA und TiSA – Freihandelsabkommen für mehr Globalisierung? 5

    1.2. Unser Blick auf das Wirtschaften und eine gelingende Handelspolitik 6

    ► 2. Historische Einordnung 7

    2.1. Was ist Freihandel? 7

    2.2. Lehren für die Neuordnung der Weltwirtschaft nach 1945 9

    ► 3. Ökonomische und politische Wirkungen der geplanten Freihandelsabkommen 9

    3.1. Die Bedeutung von Zöllen 10

    3.2. Die Bedeutung von nicht-tarifären Handelshemmnissen 10

    3.3. Auswirkung auf Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Wohlstand 11

    3.4. Geopolitische Bedeutung der geplanten Handelsabkommen 12

    3.5. Investorenschutz als zentrales Konfliktfeld 14

    3.6. Regulatorische Kooperation 15

    ► 4. Exemplarische Konfliktfelder 15

    4.1. Auswirkungen auf Entwicklungsländer 15

    4.2. Ernährungs- und Agrarsektor 16

    4.3. Umwelt- und Klimaschutz 18

    4.4. Öffentliche Güter und Daseinsvorsorge 18

    ► 5. Orientierungspunkte für zukunftsfähige Handelsordnungen 19

    5.1. Hinführung 19

    5.2. Das Konzept des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen 19

    5.3. Ziele nachhaltiger Entwicklung: SDGs 20

    5.4. Folgen für die Bewertung der Handelsabkommen 20

    ► 6. Biblische und ökumenische Perspektiven 21

    6.1. Freiheit, Freihandel und Lebensdienlichkeit 21

    6.2. Der gemeinsame Lernweg der Kirchen 21

    6.3. Das Zusammenspiel von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung 22

    ► 7. Schlussbetrachtung: Was sich ändern muss . . . 23

  • 4 37/2016 epd-Dokumentation

    Vorwort Von Dr. Axel Braßler, Geschäftsführer Evangelischer Verband Kirche Wirtschaft Arbeits-welt (KWA) / Michael Klatt, Bundesvorsitzender Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt (KDA) und Vorsitzender Evangelischer Verband Kirche Wirtschaft Arbeitswelt

    Freihandelsabkommen TTIP, CETA, TiSA – warum wir eine andere Globalisierung für alle Menschen brauchen. Eine Stellungnahme des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) im Evangelischen Verband Kirche Wirtschaft Arbeitswelt (KWA), September 2016

    Vor zwei Jahren hat der Kirchliche Dienst in der Arbeitswelt auf Bundesebene (KDA-Bund) eine erste Stellungnahme zum geplanten Freihandels-abkommen TTIP veröffentlicht. Darin war u. a. ausgeführt, dass die bis dato bekannten Inhalte des Abkommens zu einer Gefährdung von Wirt-schaftsdemokratie und Verbraucherschutz führ-ten, in Teilen die öffentliche Daseinsvorsorge in Frage stellt sowie Sozial- und Umweltstandards nicht ausreichend sichert.

    Mittlerweile sind zwei weitere Verhandlungsjahre vergangen und aufgrund öffentlichen Drucks mehr Details an die Öffentlichkeit gelangt.

    Wir freuen uns, dass die ökonomischen Experten im KDA-Bund die weitere Entwicklung aufgegrif-fen und die nachfolgende differenzierte Analyse

    zu TTIP und zu Freihandelsabkommen im Allge-meinen vorgelegt haben.

    Im Kern geht das Autorenteam der Frage nach, inwieweit Freihandelsabkommen dazu beitragen, die eine – globalisierte Welt – lebensdienlich zu gestalten. Dazu werden u. a. die Kriterien Gerech-tigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung zugrunde gelegt. Jedes Freihandelsabkommen muss sich daran messen lassen, ob es nur einem – privilegierten – Teil der Weltbevölkerung nutzt oder ob es einen positiven Beitrag zur Erfüllung der Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen entfaltet.

    Unser Ziel ist es, den Dialog zwischen Kirche, Wirtschaft und Arbeit zu fördern. Bitte kommen Sie darum auf uns zu und diskutieren Sie mit uns über die Herausforderungen transnationaler Frei-handelsabkommen. Ebenso freuen wir uns über schriftliche und mündliche Rückmeldungen.

    Wir danken den Autoren für ihre sorgfältige Aus-arbeitung und wünschen, dass die Schrift zu ei-nem kritischen und konstruktiven Diskurs bei-trägt.

  • epd-Dokumentation 37/2016 5

    Freihandelsabkommen TTIP, CETA, TiSA – warum wir eine andere Globalisierung für alle Menschen brauchen Von PD Dr. Ralf Ptak, Dr. Brigitte Bertelmann, Thomas Krämer, Dr. Jürgen Kehnscherper, Dr. Ralf Stroh

    Freihandelsabkommen TTIP, CETA, TiSA – warum wir eine andere Globalisierung für alle Menschen brauchen. Eine Stellungnahme des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt (KDA) im Evangelischen Verband Kirche Wirtschaft Arbeitswelt (KWA), September 2016

    »Wir verpflichten uns erneut, uns durch kriti-sches Hinterfragen von Freihandel und ein-schlägige Verhandlungen für gerechte internati-onale Handelsbeziehungen zu engagieren und in enger Zusammenarbeit mit sozialen Bewegun-gen für faire, gerechte und demokratische Han-delsabkommen einzutreten.«

    9. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK): Ein Aufruf zur Liebe und zum Handeln – Aufruf zu AGAPE (Alternative Globalisierung im Dienst von Menschen und Er-de), September 2005

    Vorwort der Autor*innen-Gruppe

    Seit 2013 verhandeln die Europäische Kommissi-on und das US-Handelsministerium in mittlerwei-le 14 Verhandlungsrunden (Stand August 2016) über das geplante Freihandelsabkommen TTIP.1 Dieses Abkommen reiht sich ein in eine ganze Reihe weiterer Verhandlungen zur Liberalisierung des Handels wie das CETA-Abkommen zwischen Kanada und der EU oder das multilaterale TiSA-Abkommen, bei dem es um die weitere Liberali-sierung von Dienstleistungen geht. Darüber hin-aus haben die USA mit diversen Pazifikstaaten Ende 2015 das TPP-Abkommen vereinbart, das wie das CETA-Abkommen seit Ende 2015 ausver-handelt, aber noch nicht ratifiziert ist. Nehmen wir all diese Abkommen zusammen, zeigt sich, dass gerade die »alten« Industriestaaten intensive Bemühungen gestartet haben, um die Spielregeln der Globalisierung für die nächsten Jahrzehnte festzulegen. Bemerkenswerterweise finden diese Bemühungen außerhalb der Welthandelsorganisa-tion (WTO) statt.

    Die intensive, öffentliche Debatte dieser Abkom-men um das Für und Wider, haben uns – eine Gruppe von Volkswirten*innen und Theologen innerhalb des KDA – veranlasst, in einem intensi-ven Arbeitsprozess ein Themenheft zu erstellen,

    das wir hiermit vorlegen. Wir wollen damit zur Diskussion beitragen und beziehen auch Stellung, ohne der Ansicht zu sein, damit absolute Wahr-heiten zu verbreiten. Wichtig ist uns, TTIP und die anderen geplanten Abkommen in einem grö-ßeren sozioökonomischen Kontext zu diskutieren und dabei interdisziplinär vorzugehen, um das Geschehen möglichst in seiner Ganzheit zu erfas-sen.

    Wir betrachten die gesellschaftliche Auseinander-setzung um die geplanten Freihandelsabkommen als eine Diskussion um die Zukunft der Globali-sierung und insofern als einen Beitrag zur Demo-kratisierung der Wirtschaft. Deshalb sollte stets Transparenz gewahrt sein, um eine breite öffent-liche Debatte über diese Abkommen zu gewähr-leisten. Dem stand in den letzten drei Jahren oft eine falsche Politik der Geheimhaltung entgegen, die jetzt durch die intensiven Proteste aufgebro-chen zu sein scheint. Allerdings ist es wenig sach-dienlich, dass etwa die Europäische Kommission erwägt, das ausverhandelte Freihandelsabkom-men CETA, das als Blaupause für TTIP gilt, nun-mehr vor der Ratifizierung der Mitgliedstaaten vorläufig in Kraft zu setzen und damit »Sach-zwänge« zu produzieren. Dies ist keine Achtung der europäischen Öffentlichkeit. Wir werden se-hen, was das Bundesverfassungsgericht zu dieser Praxis sagt.

    1. Hinführung zum Thema

    1.1. TTIP, CETA und TiSA – Freihandels-abkommen für mehr Globalisierung?

    Die sozioökonomischen Probleme der gegenwär-tigen Globalisierung haben nicht erst seit der Fi-nanz- und Wirtschaftskrise epochalen Charakter: hohe Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung im internationalen Maßstab; die z.T. drastische Zu-nahme sozialer und ökonomischer Ungleichheit zwischen dem reichen Norden und dem schwach entwickelten Süden, aber auch innerhalb der wohlhabenden und armen Staaten selbst; die mittlerweile sichtbar werdenden negativen Effek-te einer Wirtschafts- und Konsumweise, die unse-re Umwelt als Grundlage aller menschlichen Re-produktion fundamental bedroht; die wachsenden globalen Migrationsbewegungen, die nicht nur humanitäre Katastrophen produzieren, sondern

  • 6 37/2016 epd-Dokumentation

    auch hohe volkswirtschaftliche Kosten für die ab-gebenden wie die aufnehmenden Länder. Dabei ist die deutsche Sicht durchaus zwiespältig: Einer-seits profitiert Deutschland als führende Export-nation in besonderer Weise von einer internatio-nalen Ökonomie, andererseits produziert Deutschland durch seine hohen Exportüberschüs-se erhebliche wirtschaftliche und in der Folge soziale Ungleichgewichte, die zumindest in der deutschen Diskussion bisher (zu) wenig Beach-tung finden.

    Mit einer Vielzahl geplanter Freihandelsabkom-men soll in den kommenden Jahren die wirt-schaftsliberale Agenda der vergangenen drei Jahr-zehnte ihre Fortsetzung finden. Dieser geplante Freihandelsschub ist insbesondere von den alten, ökonomisch starken Industriestaaten angestoßen, die in einer Vielzahl bilateraler Verhandlungen quantitatives Wirtschaftswachstum anregen und die zukünftigen Spielregeln der Weltwirtschaft in-stitutionell fixieren wollen. Für Deutschland res-pektive Europa stehen die Abkommen CETA, TTIP und TiSA im Zentrum der Debatte. Dagegen hat sich in den vergangenen drei Jahren massiver Protest und Widerstand formiert, der seinen vor-läufigen Höhepunkt in der Großdemonstration am 3. Oktober 2015 in Berlin mit über 200.000 Teil-nehmer*innen hatte. Als weiteres Highlight kann man sicherlich die selbst organisierte Europäische Bürgerinitiative nennen, die im November 2015 über drei Millionen Unterschriften an die Europä-ische Kommission überreicht hat.

    Während die Befürworter eines forcierten Frei-handels langfristige Prosperität und durch ver-stärkten internationalen Wettbewerb induzierte Innovationsschübe und sinkende Produktionskos-ten erwarten, gibt es bei den Kritikern die Befür-chtung, dass unter Regie der großen transnationa-len Konzerne die neoliberale Globalisierung mit ihrer Agenda der Liberalisierung, Privatisierung und Deregulierung ihre dauerhafte Fortsetzung findet. Vor dem Hintergrund bestehender Erfah-rungen wird vermutet, dass unter dem Druck dieser Globalisierung weitere Sozial-, Öko-, Ver-braucher- und Arbeitsstandards abgesenkt wer-den. Diese Sorge verstärkte sich umso mehr, als die Verhandlungen über CETA und TTIP lange Zeit unter strenger Geheimhaltung geführt wur-den, die erst durch die öffentliche Kritik aufge-brochen und damit etwas transparenter wurden.

    1.2. Unser Blick auf das Wirtschaften und eine gelingende Handelspolitik

    Die vorliegende Auseinandersetzung mit der ak-tuellen Freihandelspolitik nimmt deshalb eine

    Perspektive ein, in der die möglichen Folgen und Auswirkungen der geplanten Abkommen im Zen-trum stehen. Dabei stützen wir uns sowohl auf die Ergebnisse der bisherigen auf Freihandelspoli-tik gestützten Globalisierung wie auch auf das umfangreiche Material zu den geplanten zukünf-tigen Freihandelsabkommen. Wir bemühen uns um eine einfache, d.h. verständliche Sprache, die allerdings wissenschaftlich gestützt ist. Zugleich versuchen wir aus einer interdisziplinären Per-spektive zu denken und zu analysieren, d.h., wir verbinden eine soziologische, politik- und wirt-schaftswissenschaftliche Sicht mit einem theolo-gischen Blick. Unsere Herangehen ist normativ geprägt, d. h., wir betrachten »Wirtschaft« aus der Sicht des Sein-Sollens, also mit ethischen Wertur-teilen, die wir dem System Wirtschaft als Subsys-tem der Gesellschaft zuschreiben. Dabei orientie-ren wir uns am christlichen Glauben, der den Menschen in seinem Tun und Lassen in Freiheit und Verantwortlichkeit vor Gott sieht, und an einer humanistischen und ethischen Haltung, die die Grenzen der individuellen Freiheit dort sieht, wo die gesamtgesellschaftlichen Interessen und die natürlichen Lebensgrundlagen negativ beein-flusst werden.

    Wirtschaftliches Handeln ist aus unserer Sicht kein Selbstzweck und schon gar nicht letzter Zweck des menschlichen Daseins. Es dient durch die Bereitstellung von Gütern und Dienstleistun-gen grundsätzlich der Überwindung von Knapp-heiten und der Befriedigung menschlicher exis-tenzieller und entwicklungsbezogener Bedürfnis-se. Neben dieser Elementarfunktion legen wir fol-gende Maßstäbe an lebensdienliches Wirtschaf-ten: a) Es bedarf einer Produktion und Konsump-tion, die im Einklang mit Mensch und Natur steht. Die Einhaltung der planetarischen Grenzen schließt eine Strategie rein quantitativen Wachs-tums aus und achtet konsequent die Einhaltung der Menschenrechte auch innerhalb der Arbeits-beziehungen; es bedarf b) neben der Sicherung einer rechtsstaatlichen Verfahrensgerechtigkeit einer Verteilung von Einkommen und Vermögen, die den Maßstäben sozialer Gerechtigkeit ent-spricht. Dies ist wesentliche Voraussetzung, um die Ungleichheit zu beschränken2 und damit den unabdingbaren gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Unter diesen Voraussetzungen kann wirtschaftliches Handeln eine friedensstiftende Funktion erfüllen. Um sicherzustellen, dass wirt-schaftliches Handeln diese Funktion auch tatsäch-lich erfüllen kann, bedarf es eines zuverlässigen rechtlichen Rahmens und einer entsprechenden Ordnung der wirtschaftlichen Kooperation des internationalen Handels. Unsere Kritik an der vorliegenden Gestalt der geplanten Handelsab-

  • epd-Dokumentation 37/2016 7

    kommen ist also keine prinzipielle Absage an Handelsabkommen, sondern eine produktive Kritik, die dazu dienen soll, Wege zu einer sach-gemäßeren Gestaltung solcher Abkommen zu weisen.

    In unserer Auseinandersetzung mit den Freihan-delsabkommen stützen wir uns auf ein christli-ches Menschenbild. Konstitutiv für dieses Ver-ständnis vom Menschen ist sein Gottesverhältnis. Im biblischen Sinne wird der Mensch zum Men-schen dadurch, dass er von Gott (ins Leben) ge-rufen wird, »geschaffen samt allen Kreaturen«.3 Als Geschöpf ist der Mensch Gottes Gegenüber. Daraus leitet sich in christlichem Sinn die Würde jedes Menschen ab, aber auch seine Verantwort-lichkeit. Die verantwortliche Inanspruchnahme des Menschen gegenüber der Schöpfung Gottes ist in christlich-ökumenischer Tradition4 ebenso ein Gebot des Glaubens wie die Rechenschafts-pflicht gegenüber und in Bezug auf die ökono-misch Schwachen: die Prekären, die Entrechteten, die Arbeitssklaven, die Armen, die Vertriebenen, die Flüchtenden, wobei Frauen die größte Gruppe der Betroffenen bilden. Die formale ökonomische Logik des ‚Homo Oeconomicus‘, die immer mehr zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden droht, bleibt – mit weitreichenden Folgen für die wirtschaftliche Praxis – hinter der anthro-pologischen Detailkenntnis des christlichen Men-schenbildes zurück: der Mensch ist weder allein ein rationales Wesen, das seine ökonomischen Entscheidungen aus kühler Zweckrationalität trifft, noch ein immer währender Nutzenmaxi-mierer, der stets nur auf seinen eigenen Vorteil, den Eigennutz, bedacht ist und kooperatives Handeln ablehnt. Der Mensch ist in seinem Sein vielfältig und hat – wie die jüngere Verhal-tensökonomik belegt – eine Neigung zu Empathie und vor allem zu Kooperationsbereitschaft.

    Diese Einsichten der christlichen Anthropologie und ökonomischer Theorietraditionen jenseits des derzeitigen Mainstreams gilt es auch im Feld des Ökonomischen zu stärken, durch eine Handelspo-litik, die sensibel ist für die ökologischen Heraus-forderungen sowie die sozialen und ökonomi-schen Ungleichgewichte und die soziale Gerech-tigkeit und kooperatives, faires Handeln fördert. Dazu kommt: Märkte und Marktwirtschaften kön-nen ein wichtiger Koordinationsmechanismus sein, um die Bedarfe von Gesellschaften zu de-cken und über den Mechanismus von Angebot und Nachfrage zu bedienen. Märkte sind in die-sem Sinne, wie es Alfred Müller-Armack – der Begriffsschöpfer der Sozialen Marktwirtschaft – einmal sagte, ein Instrument mit gesellschaftli-chem Nutzen. Sie sind aber kein Selbstzweck,

    sonst werden sie zur Ideologie, denn Märkte ken-nen genau wie die Natur von sich aus weder Gut noch Böse, sie kennen auch keine Gerechtigkeit, keine Barmherzigkeit, keine Solidarität. Moral gibt es in der Marktwirtschaft nur, wenn sie vom Menschen selber hineingebracht und verantwor-tet wird. Auch wenn es uns immer wieder so scheint, als würden in der Wirtschaft die Sach-zwänge dominieren, handelndes Subjekt ist und bleibt der Mensch.

    Eine gesellschaftlich und sozialstaatlich eingebet-tete Marktwirtschaft gründet auf anthropologi-schen und ethischen Vorentscheidungen. »Sie geht aus von einem Menschenbild, das Freiheit und persönliche Verantwortung wie Solidarität und soziale Verpflichtung beinhaltet.« Sie beruht »auf Voraussetzungen, welche sie selbst nicht herstellen und auch nicht garantieren kann, ohne die sie aber auf Dauer nicht lebensfähig ist.«5 Gerade in Krisen- und Umbruchzeiten, so haben es der Rat der Evangelischen Kirche in Deutsch-land und die Deutsche Bischofskonferenz in ih-rem gemeinsamen Wort von 1997 angemahnt, ist die Besinnung auf dieses Menschenbild und die Grundwerte einer sozial regulierten Marktwirt-schaft »die unerlässliche Voraussetzung« für eine Beurteilung und nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage. »Hier liegt auch der genuine Beitrag der Kirchen. Denn das Menschenbild des Christentums gehört zu den grundlegenden geistigen Prägekräften der gemein-samen europäischen Kultur und der aus ihr er-wachsenden wirtschaftlichen und sozialen Ord-nung.«

    In diesem Sinne ist es die große Aufgabe unserer Zeit, das Sachgemäße unseres Wirtschaftens mit dem Menschengerechten zusammenzuführen zu einer Lebensdienlichkeit.6 Dabei ist unser Hori-zont weit geworden: Die eine – globalisierte – Welt ist für alle Menschen lebensdienlich zu ge-stalten. Eine lediglich marktgerechte Globalisie-rung wird naturgemäß wenige Gewinner und viele Verlierer hervorbringen. Die Lebensdienlich-keit der Globalisierung wird sich am Zusammen-spiel von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung messen lassen müssen.

    2. Historische Einordnung

    2.1. Was ist Freihandel?

    »Freihandel« bezeichnet Handelsbeziehungen zwischen Staaten, die (weitgehend) ohne staatli-che Regulierungen (sog. nicht-tarifäre Handels-hemmnisse) auskommen und – möglichst weit-gehend – auf Import-/Exportzölle (sog. tarifäre

  • 8 37/2016 epd-Dokumentation

    Handelshemmnisse) verzichten. In diesem Sinne ist der »Freihandel« ebenso ein Idealtypus wie der »freie Markt«, also eine abstrakte Kategorie, die in der Realität praktisch nicht vorkommt. Kein Staat verzichtet vollständig auf die rechtliche und mo-netäre Regulierung seiner Importe und Exporte, erst recht nicht, wenn er in einer schwachen ökonomischen Position mit ungenügendem Wirt-schaftswachstum und hoher Arbeitslosigkeit ist und/oder starke ökonomische Entwicklungsrück-stände hat. Wirtschaftshistorisch betrachtet hat es deshalb auch niemals einen vollendeten Freihan-del gegeben. Zwar stand im Merkantilismus, der ab dem 16. Jahrhundert den Weg in die moderne Wirtschaftsgesellschaft markiert, der Handel (und nicht die Produktion) im Zentrum des wirtschaft-lichen Geschehens. Aber selbst in dieser Hoch-phase des Handels praktizierten die sich heraus-bildenden Nationalstaaten keineswegs Freihandel, sondern steuerten ihre Ex- und Importe durch Zölle und eine Vielzahl politischer Maßnahmen. Lediglich eine kurze Zeit in der frühen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gilt aus wirtschaftsli-beraler Perspektive als »Goldenes Zeitalter«, da in dieser dynamischen, frühkapitalistischen Phase nur wenige ökonomische Regulierungen als Res-triktionen wirkten. Allerdings setzte mit der lan-gen wirtschaftlichen Depression seit den 1870er-Jahren (in Deutschland: »Gründerkrise«) eine strenge Re-Nationalisierung der Wirtschafts- und Handelspolitik ein, die letztlich ab 1914 nicht nur in zwei imperialen Kriegen endete, sondern jed-weden »freien« Handel zum Erliegen brachte.7 Gerade diese historischen Erfahrungen zeigen, dass ohne eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, die allen Ländern gleichermaßen faire Entwick-lungschancen lässt, der Frieden gefährdet ist.

    Es ist nicht verwunderlich, dass die bis heute verwendete Freihandelstheorie (wie im Übrigen die meisten Kerntheorien der modernen Wirt-schaftswissenschaft) aus England bzw. Schott-land stammt. England war in der Phase der Ent-stehung moderner Wirtschaftstheorie die unange-fochten führende ökonomische Weltmacht. Ein erster Impuls kam von Adam Smith mit seinem Hauptwerk »The Wealth of Nations« von 1776, in dem er der Vorstellung einer prästabilierten Har-monie der »freien« Marktwirtschaft das Pendant des Freihandels hinzufügte. Smith, der den Me-chanismus von Märkten zu ergründen suchte, be-schäftigte sich auch mit der Arbeitsteilung als neuem Organisationsprinzip der Produktion. Der durch sie bewirkte Produktivitätsfortschritt könne durch Internationalisierung der Arbeitsteilung aufgrund der unterschiedlichen Ausstattung mit Produktionsfaktoren der einzelnen Länder noch weiter gesteigert werden. Dabei ging Smith von

    absoluten Kostenvorteilen aus, d.h., die internati-onale Arbeitsteilung lohne sich immer dann, wenn die beteiligten Länder sich auf Güter spe-zialisieren, bei denen ihre jeweiligen Produktions-faktoren am kostengünstigsten eingesetzt werden. Allerdings verkannte er das Problem ungleicher ökonomischer Entwicklung, denn fortgeschrittene Länder wie England hatten bei der Herstellung fast aller Güter absolute Kostenvorteile, so dass es für potentielle Handelspartner keinen produktiven Anreiz zur Entwicklung der eigenen Volkswirt-schaft gab.

    Dieses Problem griff David Ricardo in seinem 1818 erschienenen Hauptwerk »Über die Grund-sätze der Politischen Ökonomie und der Besteue-rung« auf. Mit seinem Theorem der komparativen Kostenvorteile plädierte er leidenschaftlich für die Vorteile des Freihandels. Die Beteiligung an der internationalen Arbeitsteilung lohne sich auch für die Länder, so Ricardo, die absolute Kostennach-teile bei allen Gütern haben – mithin Ländern, die ökonomisch weniger entwickelt sind. Jedes Land solle sich auf die Produktion derjenigen Güter spezialisieren, die es relativ am kostengünstigsten herstellen kann und die übrigen Güter importie-ren. Durch diese Spezialisierung seien Wohl-fahrtsgewinne für alle beteiligten Länder der Glo-balisierung zu realisieren, weil die Güterproduk-tion so den effizientesten Output hervorbringt. Allerdings war es eine – aus heutiger Sicht völlig unrealistische – Grundannahme des ricardiani-schen Theorems, dass es keinen signifikanten Kapitalverkehr und keine Mobilität der Arbeits-kräfte zwischen den Handelspartnern gibt. Diese Annahme von der Immobilität der Produktions-faktoren wird von den Vertretern der orthodoxen Außenhandelstheorie allerdings nicht ausreichend gewürdigt, was umso schwerer wiegt, weil das Theorem von den komparativen Kostenvorteilen bis heute das wesentliche Leitbild der internatio-nalen Arbeitsteilung ist.

    Ein wichtiger Kritiker der englischen Freihandels-theorie war der Deutsche Ökonom Friedrich List, der als Liberaler in seinem Werk von 1841 »Das nationale System der politischen Ökonomie« für »Schutzzölle« eintrat und damit den handelspoli-tischen Protektionismus aus einer entwicklungs-ökonomischen Perspektive begründete. Für ihn konnte es nur dann (begrenzt) freien Handel geben, wenn die Handelspartner sich auf ökono-mischer Augenhöhe begegnen. Da Deutschland zu seiner Zeit dem ökonomisch überlegenen Eng-land in wesentlichen Produktionsbereichen tech-nologisch gnadenlos unterlegen war, forderte er Schutzzölle, um die einheimische Industrie vo-rübergehend zu schützen und ihr die Möglichkeit

  • epd-Dokumentation 37/2016 9

    zu einer nachholenden Entwicklung zu geben. Dieser Gedanke ist bis in die Gegenwart eine wichtige Fragestellung in der ökonomischen Ent-wicklungstheorie, vor allen Dingen im Hinblick auf die Länder des Südens. Protektionismus ist also nicht per se entwicklungshemmend, wie um-gekehrt der Freihandel weder nur wohlstandsför-dernd zum Nutzen aller wirkt noch ausschließlich allein dem Stärkeren dient.

    2.2. Lehren für die Neuordnung der Weltwirtschaft nach 1945

    Aus der Erfahrung der ökonomischen Verwerfun-gen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zwei fürchterlichen Weltkriegen wurden 1944 Konsequenzen für die Ordnung der Weltwirt-schaft gezogen: Im Abkommen von Bretton Woods verständigten sich die Siegermächte mit über 40 Staaten auf eine regulierte Globalisierung mit fixen Wechselkursen, Möglichkeiten zu Kapi-talverkehrskontrollen, um volkswirtschaftlich schädliche Kapitalströme einzudämmen, und das Leitbild ausgeglichener Leistungsbilanzen, um die wirtschaftlichen Ungleichgewichte möglichst zu begrenzen. Diese Form einer eingebetteten Globa-lisierung war bis in die späten 1970er-Jahre sehr erfolgreich, zuvorderst für die Industriestaaten, aber zumindest in Teilen auch für die jungen Entwicklungsstaaten, die in der Phase nach der Entkolonialisierung mühsam ein eigenes ökono-misches Fundament aufbauen konnten. Diese Debatte schlug sich nicht zuletzt auf der Ebene der UNO nieder, die 1974 in der »Erklärung über die Errichtung einer neuen internationalen Wirt-schaftsordnung« mündete, die den Entwicklungs-ländern durch bessere ökonomische und techno-logische Bedingungen sowie Kapitaltransfers mehr Möglichkeiten einer eigenständigen ökono-mischen Entwicklung geben sollte.

    Dieser Trend änderte sich aufgrund verschiedener politischer und ökonomischer Faktoren zu Beginn der 1980er-Jahre. Ein massiver Liberalisierungs-schub erfasste sukzessive fast alle Ebenen der Weltwirtschaft und zerstörte das Regulierungs-fundament der Nachkriegszeit. An seine Stelle trat das Programm der »neoliberalen Konterrevo-lution« (Milton Friedman)8 mit seinen vier Grund-paradigmen der Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung und des Freihandels. Das führte nicht nur zu der Etablierung wahnwitziger Fi-nanzmärkte, die, statt Realinvestitionen zu för-dern, zu Orgien der Spekulation führten. Auch in der Handelspolitik wurden die Weichen neuge-stellt: der IWF nutzte seine Stellung als Finanzge-ber (Lender of last resort), um die hochverschul-deten Entwicklungsländer über seine Strukturan-

    passungsprogramme (SAPs) zu einer bedingungs-losen Weltmarktintegration zu zwingen, d.h. die Märkte voll zu öffnen und, statt auf die eigenstän-dige Entwicklung zu setzen, sich im Sinne der komparativen Kostenvorteile zu organisieren. Das bedeutet, jene arbeits- und rohstoffintensive Pro-duktion zu fördern, die der »Weltmarkt fordert«. Nachdem es auf der handelspolitischen Ebene keine Fortschritte in diesem Sinne gegeben hatte, wurde die World Trade Organisation (WTO) 1995 als Nachfolgeorganisation des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) gegründet, um der weiteren Liberalisierung einen institutionellen Schub zu verleihen.9

    Diese Liberalisierungsbestrebungen der Globali-sierung finden sich im sogenannten »Washington Consens« wieder, einer neoliberalen Agenda der Weltwirtschaft, ein wirtschaftsliberales Maßnah-menpaket im Weltmaßstab, auf das sich die füh-renden Institutionen und Staaten zu Beginn der 1990er-Jahre verständigt haben10. Trotz weiterhin sehr hoher Armutsquoten (relativ, aber global auch absolut), forcierter Ungleichheit und immer sichtbarer werdender Folgen des Klimawandels soll diese Politik nun mit den geplanten Freihan-delsabkommen nicht nur fortgesetzt werden, sondern durch seine institutionellen Settings wie bspw. die Stillhalte- und Ratchet-Klausel11 mög-lichst unumkehrbar gestaltet werden. Bemer-kenswert ist dabei die Tatsache, dass mittlerweile selbst die WTO als globales Forum ungenutzt bleibt, weil – so der frühere kanadische Handels-diplomat Pierre Sauvé – bereits diese Institution als »zu demokratisch« gilt.12 Stattdessen scheint es so, als versuchen die alten Industriestaaten ohne Einbeziehung der Entwicklungs- und Schwellen-länder ihre ökonomische Vormachtstellung noch eine Zeitlang retten zu wollen. Das allerdings ist eine gefährliche Strategie, die Konflikte ver-schärft, die den Boden für Krieg und Terror berei-ten können und eine der Ursachen globaler Mig-ration darstellt.

    3. Ökonomische und politische Wirkungen der geplanten Freihandelsabkommen

    Mit den transatlantischen Handels- und Investiti-onsabkommen sind große Erwartungen verbun-den. Insbesondere positive Effekte für das Wirt-schaftswachstum und die Beschäftigung in den Partnerländern sollen z. B. durch eine weitgehen-de Abschaffung von Zöllen, durch die Vereinfa-chung und Beschleunigung von Zulassungsver-fahren und die Harmonisierung technischer Stan-dards erreicht werden.

  • 10 37/2016 epd-Dokumentation

    3.1. Die Bedeutung von Zöllen

    Zölle sind Abgaben, die auf die Einfuhr oder Aus-fuhr von Waren von einem Land in ein anderes bei Überschreiten der Grenze erhoben werden. Befinden sich Länder in einer Zollunion, besteht zwischen ihnen keine Zollgrenze. Im Wesentli-chen werden Import- und Exportzölle erhoben, wobei in den meisten Industrieländern nur Im-portzölle eine Rolle spielen. Dagegen haben Ex-portzölle in Entwicklungsländern eine größere Bedeutung. Um den freien Warenverkehr zu ge-währleisten, erheben die Mitgliedstaaten der EU untereinander seit 1968 bzw. 1970 (für landwirt-schaftliche Güter) keine Zölle mehr. Beim Handel mit Nicht-Mitgliedsländern gilt ein gemeinsamer Außentarif. Die Zolleinnahmen werden z.B. von der Bundeszollverwaltung erhoben und fließen abzüglich eines Verwaltungskostenanteils in den EU-Haushalt.

    Neben der fiskalischen Wirkung kommt den Zöl-len aber vor allem eine wirtschafts- und außenpo-litische Lenkungsfunktion zu. Sie werden einge-setzt, um die heimische Wirtschaft vor ausländi-scher Konkurrenz zu schützen. Dies kann bei ungleicher Subventionspraxis und -möglichkeit der Fall sein, aber auch, um im Handel zwischen Ländern mit erheblichen Unterschieden in der technischen Entwicklung dem ökonomisch schwächeren Land Zeit zu einer aufholenden Entwicklung zu bieten. Ausfuhrzölle, z.B. im Bereich des Exports von Rohstoffen, werden überwiegend von Entwicklungsländern erhoben, um nicht zuletzt die übermäßige Ausfuhr von einheimischen Rohstoffen zu begrenzen. Der Druck von westlichen Industrieländern auf Ent-wicklungs- und Schwellenländer, Importzölle auf Industriegüter oder Exportzölle auf Rohstoffe abzubauen, kann daher häufig nicht als faires Abkommen unter gleichstarken Handelspartnern eingestuft werden. Vielmehr besteht die Gefahr, dass dadurch die Möglichkeiten zur wirtschaftli-chen Entwicklung eigener wettbewerbsfähiger Produktionsstätten und Wertschöpfungsketten und einer besseren, nachhaltigeren Verwertung und Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen in Entwicklungsländern be- oder gar verhindert werden.

    Bezogen auf die Zölle zwischen der EU und den USA bzw. Kanada ist heute bereits von einem sehr niedrigen Niveau auszugehen. Im Agrarsek-tor liegen die durchschnittlichen Zollsätze in der EU für Güter aus den USA bei 4,87%. Überpro-portional hoch liegen die durchschnittlichen Zölle für Milchprodukte – in der EU bei 57%, in den USA bei 20%. Berechnet man allerdings den ge-

    wichteten durchschnittlichen Zollsatz für alle Agrarprodukte, so liegt dieser bei nur 2,62%, da der Handel mit den hochbelasteten Waren nur einen relativ geringen Anteil am gesamten Han-delsvolumen ausmacht. Vor diesem Hintergrund ist nicht zu erwarten, dass die Eliminierung die-ser relativ niedrigen Zölle im Aggregat zu starken Handels- und Wohlfahrtseffekten führen wird,13 wobei negative Zollwirkungen bei einzelnen Pro-dukten/Branchen durchaus eine Rolle spielen können.

    Auch der Zollsatz bei Industriegütern im Handel zwischen den USA und der EU ist mit durch-schnittlich ca. 3% gering. Das gilt gleichermaßen für den Handel zwischen der EU und Kanada. EU-Zölle auf kanadische Einfuhren betragen durch-schnittlich rund 1%, kanadische Zölle auf EU-Waren durchschnittlich 2,56%. Deutschland ex-portiert nach Kanada hauptsächlich Produkte des Fahrzeug- und Maschinenbaus sowie chemische Erzeugnisse, wobei die Automobilindustrie den mit Abstand wichtigsten Bereich ausmacht: Ka-nada erhebt Zölle auf PKW (Zollsatz 6,1%) und KFZ-Teile (3,16%).14 Neben der Höhe der Zölle spielen die oft langwierigen und aufwändigen Ab-wicklungsverfahren und z.B. die Dokumentation für den Herkunftsnachweis (auch von Kompo-nenten) eine wesentliche Rolle, die dazu führen können, dass der Export in die USA und Kanada gerade für kleinere und mittlere Unternehmen auch bei niedrigeren Zöllen unattraktiv bleibt.

    In einzelnen Branchen und für bestimmte export-orientierte Unternehmen könnten sich daher Kos-tensenkungen ergeben, wenn diese Verfahren vereinfacht und die Zölle weitgehend abgeschafft würden. Bei funktionierendem Wettbewerb könn-te dies möglicherweise zu sinkenden Preisen für die Verbraucher führen und schließlich zu höhe-rer Nachfrage und einer Steigerung des Handels-volumens. Bisher vorliegende Studien gehen al-lerdings davon aus, dass die erhofften Wachs-tumseffekte, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), und mögliche positive Beschäftigungseffek-te durch Zollsenkungen allein kaum zu erreichen sein werden. Bedeutenderen Einfluss auf die Prei-se und die Wettbewerbssituation haben in der Regel durch Währungsspekulationen ausgelöste Wechselkursschwankungen und die politischen Rahmenbedingungen der beteiligten Staaten und ihrer Unternehmen.

    3.2. Die Bedeutung von nicht-tarifären Handelshemmnissen

    Ökonomisch und vor allem politisch bedeutender sind die sog. nicht-tarifären Handelshemmnisse,

  • epd-Dokumentation 37/2016 11

    die aus Sicht der Unternehmen den Marktzugang erschweren und verteuern. Dazu zählen alle For-men politischer Regulierung wie zum Beispiel Grenzwerte, Kennzeichnungs- und Verpackungs-vorschriften, Hygieneanforderungen, Bestimmun-gen über die Herstellung, Prüfung und Verarbei-tung von Produkten sowie Genehmigungen und Zertifizierungen. Insbesondere die Zulassungsver-fahren, die jeweils für den europäischen und den amerikanischen Markt durchgeführt werden müs-sen, bedeuten zusätzliche Kosten und können da-mit ein gewisses Handelshemmnis darstellen. Kostensenkungen beim Import könnten also durch die Harmonisierung technischer Vorgaben etwa im Automobilbau, im Maschinenbau, im Bereich Elektrotechnik erreicht werden, die bisher teure Umbauten und doppelte Zertifizierungsver-fahren erforderlich machen oder dazu führen, dass getrennte Produktionslinien für Exportartikel eingerichtet werden müssen. Sofern es nicht um tatsächlich sicherheitsrelevante Unterschiede geht, sondern eher um einen historisch bedingten oder politisch gewollten Schutz und Wettbe-werbsvorteil einheimischer Produzenten, könnte hier eine Erleichterung des Marktzugangs und damit eine Erweiterung des Marktes und des möglichen Handelsvolumens erreicht werden.

    Als vordergründig einfachste Lösung wird dafür oft die gegenseitige Anerkennung gefordert. Dies wiederum könnte die Vorteile der gemeinsamen, einheitlichen Normen auf dem europäischen Markt und die leichtere Vergleichbarkeit schmä-lern. Gerade kleinere und mittlere Unternehmen weisen außerdem darauf hin, dass es innerhalb der USA einen vergleichbar harmonisierten Bin-nenmarkt für viele Produkte und Standards nicht gibt. Dies könne zur Folge haben, dass amerika-nische Unternehmen zwar einen einfachen Zu-gang zum europäischen Markt bekommen, euro-päische Unternehmen aber weiterhin regionale Besonderheiten und Zulassungsanforderungen im amerikanischen Markt berücksichtigen müssten. Während also amerikanische Anbieter sich relativ leicht auf einen einheitlich normierten europäi-schen Markt einstellen könnten, stünden europäi-sche Anbieter selbst bei grundsätzlicher Zulas-sung zum amerikanischen Markt weiterhin vor dem Problem der uneinheitlichen Normierung und der Rechtsunsicherheit bezüglich der regio-nalen bzw. lokalen Zulassung ihrer Produkte15. Deshalb ist zu befürchten, dass dies vor allem für mittelständische Unternehmen zu Wettbewerbs-nachteilen führt. Nicht zuletzt deshalb unterstüt-zen 2500 Unternehmen die Initiative »KMU gegen TTIP«.

    Die unterschiedliche Bewertung politischer Regu-lierung einerseits als nicht-tarifäre Handels-hemmnisse, andererseits als notwendige und sinnvolle Verbraucher-, Arbeitnehmer- oder Um-weltschutzmaßnahmen kennzeichnet einen grundlegenden Konflikt in der Debatte um die neuen Freihandelsabkommen.

    3.3. Auswirkung auf Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und Wohlstand

    Der Abbau von Handelshemmnissen und die Steigerung transatlantischer Direktinvestitionen, um zwischen den USA und Europa Wirtschafts-wachstum anzukurbeln und Arbeitsplätze zu schaffen, waren und sind nicht erst die Aufgabe der aktuellen Freihandelsabkommen. 2007 wurde zu ebendiesem Zweck der Transatlantische Wirt-schaftsrat gegründet. Diese Institution reicht bei entsprechendem Willen zur Einigung durchaus aus, um Handelserleichterungen zu bewirken, ohne ein so umfangreiches Abkommen mit sehr weitreichenden ordnungspolitischen und geopoli-tischen Implikationen abschließen zu müssen (siehe dazu die Ausführungen im folgenden Ab-schnitt 3.4.).

    In verschiedenen wissenschaftlichen Studien, die die EU-Kommission, die Bundesregierung und die Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegeben haben, wurden mögliche volkswirtschaftliche Szenarien modelliert, um Prognosen für ein mögliches Wirt-schaftswachstum zu erstellen. Auffällig ist dabei, dass mögliche volkswirtschaftliche Kosten keine Berücksichtigung finden und dass die prognosti-zierten Wachstumswerte aufgrund unterschiedli-cher Annahmen stark variieren, mithin also sehr unsicher sind. Die prognostizierten Werte reichen von 0,24% des europäischen BIPs bis zu 4,68% unter der Bedingung optimaler Freihandelsbedin-gungen. Diese Zahlen beziehen sich allerdings auf einen Zeitraum von 10 Jahren, so dass die Leite-rin des Referats Ökonometrie der Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in Düsseldorf zu der Einschätzung gelangt, dass »(selbst) unter außerordentlich optimistischen Annahmen die erwarteten Wachstums- und Be-schäftigungseffekte winzig (sind)«.16 In diesem Zusammenhang haben sich maßgebliche deut-sche Befürworter der geplanten Freihandelsab-kommen einen Fauxpas geleistet, indem sie mit falschen Zahlen zu den Wachstums- und Beschäf-tigungseffekten an die Öffentlichkeit gegangen sind, die FAZ spricht von »schönrechnen«, die Nichtregierungsorganisation Foodwatch gar von einer »Fehl- und Desinformationskampagne«.17

  • 12 37/2016 epd-Dokumentation

    Während bisher die meisten EU-Mitgliedsländer den größten Teil ihrer Exporte in anderen EU-Ländern absetzen, ist bei weiteren Exporterleich-terungen im Handel mit den USA auch von einer Umlenkung von Handelsströmen zulasten europä-ischer Handelspartner auszugehen. Unternehmen, die bereits auf dem amerikanischen Markt sind, können dann leichter ihr Exportgeschäft erwei-tern18. Weltmarktorientierte mittelständische Un-ternehmen, insbesondere in der Automobilzu-bringerindustrie, im Maschinenbau und in der Elektrotechnik sowie Teilen der chemischen In-dustrie, sehen bei geringeren Kosten und erleich-tertem Marktzugang eine Chance, sich den ame-rikanischen Markt zu erschließen bzw. dort noch profitabler als bisher ihre Produkte und Leistun-gen anbieten zu können. Sie sprechen sich des-halb ausdrücklich für einen zügigen Abschluss des TTIP und CETA aus und verbinden damit überwiegend positive Erwartungen in Bezug auf Wachstumschancen für ihre Betriebe und zur Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland.19

    Bei den erwarteten Beschäftigungseffekten durch TTIP wird in den vorliegenden Studien ebenfalls eine sehr weite Spanne festgestellt. Einmal wird von einem Zuwachs von ca. 180.000 Arbeitsplät-zen in Deutschland (ca. 1,08 Mio. für die USA) ausgegangen; in einer anderen Studie vom glei-chen Ifo-Institut (München) lediglich von einem positiven Beschäftigungseffekt von 25.000 zusätz-lichen Arbeitsplätzen für Deutschland und 69.000 in den USA. Diese Beschäftigungseffekte könnten, soweit sie überhaupt realisiert werden, ebenfalls erst über einen Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren unter der Voraussetzung eines sehr weit-gehenden Abbaus von Zöllen und nicht-tarifären Handelshemmnissen eintreten. Gleichzeitig muss auch von Anpassungseffekten in Form von Ar-beitsplatzverlusten ausgegangen werden, da ins-gesamt von wirtschaftlichen Konzentrationspro-zessen auszugehen ist, die am ehesten größere, kapitalstarke Unternehmen am Markt überleben lässt. Während für wettbewerbsstarke Länder, Branchen oder Unternehmen Wachstums- und Beschäftigungschancen durch den Abbau von Handelshemmnissen gesehen werden, muss gleichzeitig mit deutlichen Verlusten für Länder, Branchen und Unternehmen gerechnet werden, die diese Möglichkeiten nicht im gleichen Umfang nutzen können.20 Die Arbeitsplatzeffekte werden also aller Voraussicht nach sehr unterschiedlich ausfallen, in toto ist bestenfalls ein marginaler positiver Effekt zu vermuten, wobei auch Stagna-tion oder Beschäftigungsabbau vorstellbar sind.

    Wohlfahrtseffekte werden in den vorliegenden Studien mit Auswirkungen auf das reale Ein-

    kommen gleichgesetzt.21 Die seit Jahren geführte Debatte um alternative Kriterien für die Wohl-fahrtsentwicklung bleibt weitgehend unbeachtet. Für die umfassende Beurteilung der mittel- und längerfristigen Folgen einer primär auf quantitati-ves Wachstum des Handelsvolumens und des Bruttoinlandsprodukts (BIP) oder des Durch-schnittseinkommens ausgerichteten Handelspoli-tik ist es allerdings unabdingbar, dass auch sozia-le und ökologische Kosten und Belastungen des transatlantischen und globalen Handels berück-sichtigt werden, die nicht direkt von Unterneh-men getragen und daher meist nicht in unter-nehmerische und oft auch nicht in (kurzfristige) politische Entscheidungen einbezogen werden. Hilfreiche Kriterien dafür wurden z.B. von Hans Diefenbacher und anderen für die Berechnung von nationalen oder regionalen Wohlfahrtsindices entwickelt.22 Auch die Enquetekommission des Deutschen Bundestages »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität« hat in ihrem Abschlussbericht empfohlen, einen neuen Wohlfahrtsbegriff einzu-führen und zur besseren Bewertung von Wachs-tum auch soziale und ökologische Kriterien ein-zubeziehen.23

    3.4. Geopolitische Bedeutung der geplanten Handelsabkommen

    Führende Politiker*innen wie Bundwirtschafts-minister Gabriel und Unternehmensvertreter*in-nen betonen, dass mit den transatlantischen Han-delsabkommen weltweite Maßstäbe gesetzt wer-den sollen und damit zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen Globalisierung und zur Durchsetzung westlicher Werte beigetragen wer-den kann.24 Welche »Werte« damit genau gemeint sind und woraus das Recht für die angestrebte normative Gestaltung der globalen Wirtschafts-ordnung nach westlichem Vorbild abgeleitet wird, wird nicht diskutiert. Vielmehr wird eine als be-drohlich empfundene Machtverschiebung (power-shift) zugunsten der großen Schwellenländer, ins-besondere China bzw. der BRICS-Staaten25 insge-samt konstatiert, der entschlossen entgegengetre-ten werden soll.26 Damit wird die Erwartung ver-bunden, dass »ein atlantischer Wirtschaftsraum beiden Seiten wirtschaftlich nutzen, sie politisch zusammenbringen und strategisch stärken wird«.27

    Schon in den 1960-er Jahren hatten die USA eine Nordatlantische Freihandelszone zur Stärkung und Unterstützung der NATO im Kalten Krieg vorgeschlagen. Die geopolitische Bedeutung der Verknüpfung zwischen engen wirtschaftlichen Beziehungen und der Sicherheitspartnerschaft im Rahmen der NATO wurde seitdem immer wieder

  • epd-Dokumentation 37/2016 13

    betont.28 So entstand der Begriff der »Wirtschafts-NATO«, der in der Rezeption meist Hillary Clin-ton während ihrer Zeit als Außenministerin der USA zugeschrieben wird. Die Verbindung von wirtschaftlichen, diplomatischen und Sicherheits-beziehungen wurde aber auch im Juni 2013 von Präsident Barack Obama29 hergestellt, als er ge-meinsam mit den Staatschefs der EU den Beginn der Verhandlungen für das TTIP verkündete. Auch die EU-Handelskommissarin Cecilia Malm-ström betonte im Juni 2015 bei einer Rede an der Karls-Universität in Prag die Verbindung von wirtschaftlichen und strategischen Sicherheitsin-teressen die durch das geplante TTIP-Abkommen gefördert werden könnten.30 Das Ziel und die Not-wendigkeit, die noch bestehende ökonomische Überlegenheit und Wettbewerbsvorteile des trans-atlantischen Wirtschaftsraumes zu festigen, wer-den damit begründet, dass sonst »andere« – konk-ret auch »die Chinesen« – zukünftig zum Nachteil der westlichen Industrieländer Normen und Stan-dards setzen würden.

    Im Rahmen des amerikanischen Vorwahlkampfes 2016 ist allerdings auch Hillary Clinton inzwi-schen von ihrer ursprünglich positiven Haltung zu den großen Handelsabkommen, die die USA kürzlich mit Partnern im pazifischen Raum abge-schlossen hat, abgerückt.31 Eine gleichermaßen deutliche Distanzierung vom noch nicht abschlie-ßend verhandelten Abkommen zwischen den USA und der EU liegt zwar noch nicht vor. Aller-dings hat Hillary Clinton durchblicken lassen, dass, sollte dieses Abkommen unter Obama nicht mehr abgeschlossen oder zu den Akten gelegt werden, sie nichts unternehmen würde, um diese Verhandlungen neu zu beleben.

    Vor dem Hintergrund, dass auf die USA, Kanada und die EU fast die Hälfte des globalen Bruttoin-landsprodukts, fast 60% des Bestandes an Direkt-investitionen und über ein Drittel des globalen Handels entfallen, wird erwartet, dass durch ei-nen einheitlichen Markt dieser Größenordnung, durch das Umlenken von Handelsströmen und den Gewinn von Marktanteilen weiterreichende Wettbewerbsvorteile für die dazugehörigen Un-ternehmen entstehen werden. Dem stünden aller-dings Verluste in Ländern und bei Unternehmen außerhalb der Präferenzzone dieser Handelsab-kommen gegenüber. Gemeinsame Standards und Werte in einem enger zusammengerückten trans-atlantischen Wirtschaftsraum sollen also durch dessen Größe und wirtschaftliche Macht dazu führen, dass sich andere Länder diesen Standards anschließen und diese übernehmen. Dies ist al-lerdings keineswegs gesichert. Gerade angesichts der wachsenden Wirtschaftskraft und dem Stre-

    ben der großen Schwellenländer (BRICS-Staaten) nach zunehmendem politischem Einfluss und Anerkennung auf globaler Ebene kann es zu einer verstärkten konfrontativen Blockbildung und einem Zusammenschluss dieser Staaten gegen die westliche Dominanz kommen. Angesichts der Vielzahl von multinationalen, plurinationalen und bilateralen Handelsabkommen bleiben Zweifel, ob es gelingen kann, durch CETA (EU und Kana-da), TTIP (EU und USA) und TPP (beteiligte Län-der: USA, Australien, Brunei, Chile, Japan, Kana-da, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singa-pur und Vietnam), die jeweils die großen Schwel-lenländer, insbesondere Russland, China und Indien ausschließen, auf globaler Ebene eine schrittweise Annäherung an westlich geprägte Standards zu erreichen. Auch die parallel verhan-delten Handelsabkommen zwischen China und mehreren ASEAN-Staaten lassen befürchten, dass es eher zu einer weiteren Verhärtung von Interes-senskonflikten kommen wird.

    Es ist zu befürchten, dass feindlich gesonnene Machtblöcke entstehen, wie wir sie aus der Zeit des Kalten Krieges kannten und die wir hofften seit über 25 Jahren überwunden zu haben. Dar-über hinaus führt es auch zu einer stärkeren Aus-grenzung und potenziellen Benachteiligung von Entwicklungsländern, die es sich vermutlich kaum leisten könnten, sich einem solchen Ab-kommen nicht anzuschließen, die aber aufgrund ungleicher Voraussetzungen und geringerer Wett-bewerbsfähigkeit kaum Chancen für eine aufho-lende Entwicklung hätten. Die EU und vor allem Deutschland muss sich fragen und offen darüber diskutieren, ob dies tatsächlich in ihrem bzw. sei-nem Interesse sein kann. Verhandlungen mit so weitreichenden geopolitischen Zielen und Folgen sind nicht mehr durch ein EU-Mandat gedeckt, das sich allein auf die gemeinsame Regelung der Handelsbeziehungen bezieht. Vielmehr müsste ein so weitreichendes Mandat vor Beginn der ent-sprechenden Verhandlungen gesellschaftlich transparent sein, deutliche »Rote Linien« beinhal-ten und in demokratischen Gremien offen disku-tiert und beschlossen werden. Bei der Frage, wel-che Regeln die Grundlage einer Weltwirtschafts-ordnung sein sollen und von welchen Werten sich die Mitgliedsstaaten der EU dabei leiten las-sen wollen, geht es um weit mehr als um Han-delspolitik. Individuelle Freiheit in Verbindung mit gesellschaftlichem Zusammenhalt, echte De-mokratie auch in wirtschaftlichen Belangen, be-dingungsloser Schutz der Menschenrechte und fairer Wettbewerb, die vielfach als westliche Wer-te und Basis der transatlantischen Wertegemein-schaft bezeichnet werden, müssen der Maßstab

  • 14 37/2016 epd-Dokumentation

    sein, damit wirtschaftliches Handeln allen Men-schen dient.

    3.5. Investorenschutz als zentrales Konfliktfeld

    Verträge zum Schutz von Investoren sind seit Jahrzehnten Bestandteil der internationalen Han-delspolitik. Meist wurden sie unabhängig von Handelsverträgen geschlossen. Deutschland war eines der ersten Länder, die Investitionsschutzab-kommen abgeschlossen haben. Sie sollten Unter-nehmen, die im Ausland investieren, vor Korrup-tion und willkürlicher, entschädigungsloser Ent-eignung in politisch unsicheren Ländern sowie vor Diskriminierung schützen. Gleichzeitig sollten Investitionsförderungs- und -schutzabkommen als politisch unsicher geltende Länder für Investoren attraktiver machen, nicht zuletzt weil solche Ab-kommen die Voraussetzung für die Übernahme von Bundesgarantien für deutsche Direktinvesti-tionen im Ausland zur Absicherung politischer Risiken waren. Seit 1959 hat die Bundesrepublik Deutschland über 130 bilaterale oder multilaterale Investitionsförderungs- und -schutzabkommen abgeschlossen. Die ersten dieser Abkommen sa-hen nur Staat-Staat-Schiedsverfahren vor, in de-nen sich der Heimatstaat eines Unternehmens im Ausland für die Interessen eines diskriminierten Investors einsetzen konnte. Zur Beschleunigung dieser Verfahren und Entmachtung der Politik wurden Investor-Staat-Schiedsgerichtsverfahren eingeführt, die es ermöglichen, dass ein Investor seine Ansprüche auf völkerrechtlicher Ebene, un-abhängig von nationalen Gerichten und auch un-abhängig von staatlicher Unterstützung geltend machen kann. Die Investitionsschutzverträge re-geln dabei die Arbeitsweise sowie die Zusammen-setzung der Schiedsgerichte. Zurzeit sehen 88 der geltenden bilateralen Investitionsschutzverträge Deutschlands Investor-Staat-Schiedsverfahren vor.

    Das International Centre for Settlement of Invest-ment Disputes (ICSID) ist die bedeutendste Insti-tution zur Beilegung von Investitionsstreitigkei-ten. Es ist ein Teil der Weltbank-Gruppe und dort seit 1966 aufgrund der ICSID-Konvention angesie-delt. Die ICSID-Konvention wurde am 18. März 1965 unterzeichnet und ist zwischenzeitlich von 150 Staaten ratifiziert worden, darunter Deutsch-land, das Gründungsmitglied ist. Einzelne Länder wie Bolivien, Ecuador oder Venezuela sind in den letzten Jahren wieder ausgetreten. Bemerkens-wert ist, dass die Zahl der Investor-Staat-Streit-schlichtungsfälle seit Mitte der 1990er-Jahre sprunghaft angestiegen ist, 2013 auf die kumulier-te Fallzahl von 459. Neben der Ausweitung der Streitfälle ist vor allen Dingen eine bedenkliche

    Ausweitung des Investitionsbegriffs zu konstatie-ren. Dabei wird der seit Jahren bestehende Begriff der »indirekten Enteignung« insbesondere von großen transnationalen Unternehmen derart radi-kal interpretiert, dass zunehmend politische Re-gulierungen im Zusammenspiel mit vermeintlich entgangenen Gewinnen zum Gegenstand des der-gestalt erweiterten Enteignungsbegriffs werden. Diese Entwicklung bewertet der Wirtschaftswis-senschaftler Rudolf Hickel folgendermaßen: »Bei Lichte besehen führt der Schutz der ausländi-schen Megainvestoren vor indirekter Enteignung zu einer Enteignung der nationalen Demokra-tie.«32

    Hier besteht die Gefahr eines unzulässigen Ein-griffs in die demokratisch legitimierte Gestal-tungsmacht von Regierungen und Parlamenten durch ausländische Investoren und damit außer-dem eine Diskriminierung inländischer Investo-ren. Der vertragsschließende Staat gibt damit einen Teil seiner gesetzgeberischen Freiheit und gesellschaftlichen Verantwortung auf. Dies ist be-sonders kritisch zu sehen, wenn davon empfind-liche Gebiete wie das Arbeits-, Verbraucher- und Umweltschutzrecht sowie des Haushalts- und Steuerrecht betroffen sind. Insbesondere der Ver-lust von staatlicher Souveränität, der mit dem Eingriff in das Haushaltsrecht verbunden sei, kann verfassungsrechtlich bedenklich werden, zumal wir es hier mit einer Teilprivatisierung des Rechts zu tun haben. Weitere Kritik an den priva-ten Schiedsgerichten bezieht sich auf deren feh-lende Transparenz, die mangelnde Unabhängig-keit von in den Schiedsgerichten eingesetzten Personen sowie die fehlende Berufungsinstanz als auch die grundsätzlichen Frage, ob ein besonde-rer Investitionsschutz ausschließlich für ausländi-sche Investoren in Staaten mit unabhängigen Ge-richten und einem demokratisch legitimierten Rechtswesen überhaupt notwendig und zulässig ist.

    Nach der intensiven öffentlichen Kritik an der geplanten Institutionalisierung eines einseitigen Investorenschutzes in den avisierten Freihandels-abkommen wurden einige Punkte der Kritiker*in-nen aufgegriffen. Mit dem Vorschlag der Einfüh-rung eines Investitionsgerichts mit Berufungsin-stanz, einer differenzierteren Definition von un-bestimmten Rechtsbegriffen wie »berechtigtes Interesse« oder »faire und angemessene Behand-lung« und vor allem einer Festschreibung des ungeschmälerten Regulierungsrechts der beteilig-ten Staaten zugunsten des Gemeinwohls hat die Handelskommissarin Cecilia Malmström einen Vorschlag vorgelegt, der über bestehende Investi-tionsschutzregelungen hinausgeht.33 Dieser Vor-

  • epd-Dokumentation 37/2016 15

    schlag wird auch von einigen bisher skeptischen Politikern als zukunftsfähig begrüßt, sollte er mit allen genannten Punkten tatsächlich in das TTIP-Abkommen aufgenommen und umgesetzt wer-den. Für das Freihandelsabkommen CETA mit Kanada wurden diese Veränderungen teilweise in Nachverhandlungen aufgenommen, um den in 2016 beginnenden Ratifizierungsprozess nicht zu gefährden.

    Allerdings gibt es scharfe Kritik an den Reformen des Investorenschutzes, die aus Sicht vieler NGOs eher als Kosmetik betrachtet werden.34 Aber auch der Deutsche Richterbund lehnt den Reformvor-schlag der EU-Kommission ab, im Rahmen von TTIP ein Investitionsgericht (ICS) einzuführen. Er sieht durch ein ICS die Rechtssetzungskompetenz der EU und der Mitgliedsstaaten eingeschränkt. Für eine solche Doppelgerichtsbarkeit gäbe es we-der eine Rechtsgrundlage noch eine Notwendig-keit, da die Mitgliedsstaaten und die Union über »ein bewährtes System von nationalem und euro-päischem Rechtsschutz« verfügten. Die Schaffung von Sondergerichten für einzelne Gruppen von Rechtssuchenden (hier: Investoren) ist der falsche Weg, um Rechtssicherheit zu gewährleisten. Viel-mehr fordert der Deutsche Richterbund den deut-schen und europäischen Gesetzgeber auf, den Rückgriff auf Schiedsverfahren im Bereich des internationalen Investorenschutzes weitgehend einzudämmen.35

    3.6. Regulatorische Kooperation

    Ein wesentlicher Bestandteil des geplanten TTIP-Abkommens ist die Institutionalisierung perma-nenter Anpassungen auch nach einer möglichen Ratifizierung. Es wird deshalb als »living agree-ment« bezeichnet und beinhaltet Vereinbarungen über die zukünftige, dauerhafte regulatorische Kooperation. Dafür sollen die beiden Vertrags-partner einen »Rat für Regulatorische Kooperati-on« einrichten. Ihm würden Beamte des General-sekretariats der Europäischen Kommission, der Handelsbehörden der USA und der EU sowie des US Office of Information and Regulatory Affairs (OIRA) angehören. Ihre Aufgabe soll es sein, das umstrittene Ziel weiterer Liberalisierungen und Harmonisierungen für den Handel mit Produk-ten/Produktgruppen oder Leistungen voranzu-treiben, für die dies in den Verträgen bisher nicht im Detail umgesetzt werden konnte, sowie für alle neuen Produkte und Dienstleistungen, die zukünftig auf den Markt kommen. Er soll u.a. dazu dienen, Gesetzesvorhaben bereits im vor-parlamentarischen Verfahren so zu gestalten, dass sie nicht den Interessen von Exportunter-nehmen und einer freihandelsorientierten Welt-

    wirtschaft entgegenstehen. Dazu sollen deren Stakeholder und Lobby-Vertreter einen privile-gierten Zugang zu den zuständigen Stellen erhal-ten, vorrangig über Gesetzesvorhaben informiert und in deren Gestaltung einbezogen werden. Damit würde eine erhebliche Einschränkung der Regulierungs- und Gesetzgebungskompetenz demokratisch gewählter und den Wählern re-chenschaftspflichtiger Institutionen erfolgen, was eine grundsätzliche Schwächung des demokrati-schen Rechtsstaates bedeuten würde.36

    Unklar bleibt, ob und inwieweit auch NGOs als Vertreter zivilgesellschaftlicher oder Gewerkschaf-ten als Vertreter von Arbeitnehmer*innen-Inter-essen in diese Prozesse einbezogen werden wür-den und ob sie (auch angesichts begrenzter per-soneller und materieller Ressourcen) in der Lage wären, ihre Interessen wirksam durchzusetzen. Die grundsätzliche Ausrichtung der Handelsver-träge – Deregulierung und Liberalisierung als lei-tende Maxime, die Begrenzung von regulatori-schen Ausnahmen auf die in Negativlisten erfass-ten Güter oder Leistungen, die Verpflichtung auch über bestehende Regulierungen zu verhandeln, wenn eine Seite darin ein Handelshemmnis sieht, die Stillhalte-Klauseln (vgl. Anmerkung 6) – be-stätigt die Sorge, dass mit diesem Instrument und mit der Ausrichtung der transatlantischen Han-delsverträge insgesamt, eine erhebliche Ein-schränkung und Relativierung demokratisch legi-timierter politischer Handlungs- und Gestaltungs-freiräume verbunden ist.

    4. Exemplarische Konfliktfelder

    4.1. Auswirkungen auf Entwicklungsländer

    Durch die Bündelung ihrer Interessen konnten die Entwicklungs- und Schwellenländer in multilate-ralen Verhandlungen im Rahmen der WTO wie der DOHA-Runde37 ihre Interessen noch mit einer gewissen Wirksamkeit vertreten, zumindest aber Beschlüsse, die gegen ihre berechtigten Interessen verstoßen, teilweise verhindern. Dies ist in bilate-ralen Verhandlungen der TTIP oder CETA ausge-schlossen. Die evangelischen Kirchen plädieren daher für eine Wiederaufnahme multilateraler Verhandlungen, insbesondere auch der DOHA-Entwicklungsrunde, in denen auch die Interessen der Entwicklungs- und Schwellenländer angemes-sene Berücksichtigung finden können. Aufgrund der Größe und des ökonomischen und damit auch politischen Gewichts einer transatlantischen Freihandelszone würde der Druck auf die Ent-wicklungsländer weiter steigen, ihre Schutzmaß-nahmen gegenüber den Agrarexporten aus den USA und der EU weiter abzubauen. D.h., die im

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    Land produzierten Güter werden i. d. R. nicht mit den (ebenfalls zumindest indirekt subventionier-ten) billigeren Agrarexporten aus den USA und der EU konkurrieren können. Kleinbäuerliche Strukturen und Möglichkeiten der regionalen Selbstversorgung und Ernährungssicherung wä-ren noch stärker gefährdet, die Entwicklung hin zu mehr wirtschaftlicher Unabhängigkeit und der Auf- und Ausbau weiterer Verarbeitungsstufen zumindest wesentlich erschwert, wenn nicht zerstört.

    Aufgrund der enormen Unterschiede in Bezug auf Betriebsgrößen, die weitgehende Technisierung der amerikanischen und von Teilen der europäi-schen Agrarindustrie und die sehr unterschiedli-chen Standards und Produktionsmethoden er-scheint eine Angleichung auf hohem Niveau kaum vorstellbar. Die meisten Entwicklungslän-der (und auch viele Mitgliedsländer der EU) wer-den in einem Preiswettbewerb auf weitgehend offenen Märkten nicht bestehen können. Für an-dere droht ein »race to the bottom«, um in einem Wettbewerb allein über die Preise mithalten zu können. Z. B. wird die EU Produkte wie Baum-wolle, Tabak, Zitrusfrüchte und Fisch verstärkt aus den USA beziehen, weil diese dank der Ab-senkung der Zölle und der günstigeren Produkti-onsbedingungen in den großen Agrarbetrieben günstiger produzieren können als die bisherigen Lieferanten in Entwicklungsländern. Das vorran-gige Ziel des Handels mit Entwicklungsländern kann es aber nicht sein, möglichst umfassenden unbegrenzten Marktzugang für die wirtschafts-starken Länder zu erreichen (level playing field). Fairer Handel muss für einen gewissen Zeitraum auch Schutzräume und Hilfe für eine aufholende Entwicklung und die Möglichkeit des Ausbaus eigener Wertschöpfungsketten bieten.

    So setzen sich bspw. die evangelischen Kirchen in Hessen gemeinsam mit Brot für die Welt und anderen NGOs für die Kohärenz von Handels-, Agrar- und Entwicklungspolitik ein, wie sie auch im EKD-Text 121 »Unser tägliches Brot gib uns heute. Neue Weichenstellung für Agrarentwick-lung und Welternährung« gefordert wurde.

    Handel soll eine soziale und ökologische Entwick-lung fördern und nicht verhindern. Alle gegen-wärtigen und künftigen Handelsabkommen müs-sen eine verbindliche Menschenrechtsklausel enthalten und damit deutlich machen, dass Wirt-schaft dem Leben dienen soll und nicht umge-kehrt. Wachstum und Wettbewerb stellen keinen Wert an sich dar, sondern müssen im Sinne der großen globalen Ziele wie Klimaschutz, Bekämp-fung von Hunger und Armut sowie Schutz der

    globalen Gemeingüter eingesetzt werden. Wir brauchen eine starke nationale und internationale Politik, die dafür hohe ökologische und soziale Standards durchsetzen kann. So wie sich die transatlantischen Handelsabkommen derzeit dar-stellen, ist zu befürchten, dass sie solche sozialen und ökologischen Standards erschweren und verhindern werden. Angesichts der fast aus-schließlich auf weitergehende Öffnung und Libe-ralisierung der Märkte ausgerichteten Handelspo-litik mit den beschriebenen sozialen und ökologi-schen Folgen sind Ausgleichmechanismen zur Begrenzung sozialer Disparitäten und zur Ein-dämmung irreversibler ökologischer Schäden dringend erforderlich.

    4.2. Ernährungs- und Agrarsektor

    Mit dem Chlorhühnchen fing es an. Die Sorgen um unterschiedliche Standards in der Lebensmit-telsicherheit und dem Verbraucherschutz haben anfangs wesentlich dazu beigetragen, dass die laufenden Verhandlungen zwischen der EU und den USA bzw. die bereits fast abgeschlossenen Verhandlungen zwischen der EU und Kanada seit Anfang 2014 zunehmend öffentliche Aufmerk-samkeit erhalten haben.

    In der EU bzw. in den USA gibt es ein sehr unter-schiedliches Verständnis von Risiken für Ver-braucher, Tiere und Umwelt. In der EU gilt das Vorsorgeprinzip – ein Grundpfeiler europäischen Rechts. Produzenten müssen einen gesicherten wissenschaftlichen Beweis für die Ungefährlich-keit ihrer Produkte vorlegen. Es findet eine stän-dige Verbesserung des Systems statt. Der Staat ist für die Lebensmittelsicherheit sowie die Sicher-heit des Trinkwassers etc. zuständig. Ganz anders in den USA: Es gilt das Wissenschaftsprinzip in Verbindung mit dem Nachsorgeprinzip. Ein Pro-dukt gilt so lange als ungefährlich, bis seine Schädlichkeit wissenschaftlich bewiesen ist. Die Beweislast dafür liegt bei den Behörden, die ent-sprechende Gerichtsverfahren durchfechten müs-sen. Der Markt soll die Mindest-Lebensmittel-qualität garantieren. Dies führt zu grundlegenden Unterschieden bei den Hygiene- und Sicherheits-anforderungen in der Lebensmittelproduktion. In den USA ist der Anbau von gentechnisch verän-derten Pflanzen (GVO) bei den Hauptkulturen längst Standard. Eine GVO-Kennzeichnung exis-tiert nicht. In der EU wird hingegen auf nur sehr geringen Flächen GVO angebaut. Es besteht eine GVO-Kennzeichnungspflicht. Während für viele europäische Bürger*innen die GVO-Kennzeich-nung ein Ausdruck für Verbraucherinformation und -(wahl)freiheit ist, sehen die USA und auch manche europäische Produzenten darin eine

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    nicht-tarifäre Handelsdiskriminierung bzw. ein Handelshemmnis. Ähnliche große Diskrepanzen bestehen in Bezug auf Biopatente, Klonierung von Zuchttieren, regionale Ursprungskennzeich-nung, Oberflächenbehandlung von Fleisch (mit Chlorlauge), Einsatz von (nicht-)hormonellen Wachstumsförderern bei Milch- und Fleischer-zeugung, Tierschutzstandards in der Nutztierhal-tung etc. In der EU wurden bisher etwa 30.000 Chemikalien in Hinblick auf ihre Gesundheits- und Umweltverträglichkeit getestet – in den USA sind es etwa 540. In den USA sind dadurch zahl-reiche Chemikalien zugelassen, die in der EU strikt verboten sind. Dazu zählen auch einzelne Pflanzenschutzmittel.

    Diese sehr unterschiedlichen Systeme und Ver-fahren des Verbraucherschutzes in der EU mit dem Vorsorgeprinzip und in den USA mit dem »Sound-Science-Prinzip« (Prinzip der wissen-schaftlichen Begründung) wirken sich deutlich auch im Ernährungs- und Agrarsektor aus. Diese Sorgen gibt es in gleicher Weise auf beiden Seiten des Atlantiks. Auch in den USA befürchten Ver-braucher*innen, dass durch die geplanten Han-delsabkommen amerikanische Standards bei Le-bensmittelsicherheit und Verbraucherschutz be-schädigt würden. Darüber hinaus gibt es inner-halb der USA sehr unterschiedliche Standards und Verfahren, die zu Rechtsunsicherheit für europäische Exporteure führen können, weil auch zwischen den Staaten und teilweise sogar bis auf die Landkreis-(County)-Ebene unterschiedliche Standards gelten und Siegel von einer offiziellen Stelle keinen Schutz vor Schadensersatzklagen an anderer Stelle bieten.

    Deutliche Unterschiede zwischen den USA und der EU gibt es z. B. bei:

    der Zulassung, Kennzeichnung und Rückver-folgbarkeit von gentechnisch veränderten Or-ganismen (GVO),

    dem Einsatz von Hormonen und Wachstums-förderern in der Masttierhaltung,

    der Oberflächenbehandlung von Fleisch (Chlorlauge),

    Pflanzenschutzmittelzulassung und Rück-standshöchstgehalte für Pflanzenschutzmittel-rückstände in Lebens- und Futtermitteln,

    dem Einsatz von Antibiotika in der Veterinär-medizin,

    dem Schutz regionaler Herkunftsbezeichnun-gen.

    Das Bundeslandwirtschaftsministerium lehnt eine Gleichwertigkeitsanerkennung in diesen Berei-chen ab. Es begründet dies damit, dass sie »auf Basis der vorliegenden Erkenntnisse mit einer möglichen Absenkung des aktuellen einschlägi-gen Schutzniveaus der europäischen Verbraucher verbunden und daher inakzeptabel« wäre. Aller-dings liegen dem Bundesministerium für Ernäh-rung und Landwirtschaft (BMEL) nach eigenen Angaben zu diesen Themen auch nur zum Teil detaillierte Informationen zu den US-Vorschriften vor.38

    Auch wenn natürlich keine genauen Prognosen zu den Auswirkungen von TTIP auf den Ernäh-rungs- und Agrarsektor der EU möglich sind, so treffen mit den USA und der EU extrem unter-schiedliche Agrarstrukturen sowie verschiedene Ernährungsphilosophien aufeinander. Dies birgt Risiken nicht nur für die Verbraucher*innen, son-dern vor allem auch für die Zukunft der europäi-schen Land- und Ernährungswirtschaft. In den USA dominieren agrarindustrielle Strukturen. Im vor- und nachgelagerten Bereich bestehen oft Oli-gopole. In Teilen der EU bestehen hingegen noch viele bäuerliche Familienbetriebe, die in direkter Konkurrenz zu den US-amerikanischen Großbe-trieben kaum Überlebenschancen hätten. Teilwei-se bestehen noch hohe Agrarzölle zwischen den USA und der EU. Verschiedene Szenarien zum Abbau dieser Agrarzölle im Rahmen von TTIP gehen davon aus, dass der derzeitige Agrarexpor-tüberschuss der EU sich in seiner Gesamtsumme zugunsten der USA umdrehen würde. In einzel-nen Agrarsparten wie z. B. bei Milch, Fleisch, Zucker oder einigen Getreidesorten kann das allerdings anders aussehen.

    In Deutschland hat sich neben zahlreichen Nicht-regierungsorganisationen auch die Agrarminister-konferenz sehr kritisch zu den TTIP-Verhandlun-gen geäußert. Forderungen, den Agrarbereich aus den TTIP-Verhandlungen auszuklammern, schei-terten aber. Die USA haben ein starkes Interesse an einer weiteren Öffnung des europäischen Marktes für amerikanische Agrarprodukte. Beim Handelsvolumen zwischen der EU und den USA dominieren Industriegüter und Dienstleistungen. Agrargüter machen nur einen Bruchteil aus. Des-halb wird befürchtet, dass die Belange der EU-Agrarwirtschaft bei den TTIP-Verhandlungen un-zureichende Berücksichtigung finden werden.

    Die Hauptkritik an TTIP dreht sich um die sehr verschiedenen Standards beim Tier-, Umwelt- und Verbraucherschutz. Während zahlreiche Regelungen beim Gesundheitsschutz als zwar unterschiedliche, aber grundsätzlich mindestens

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    gleichwertig betrachtet werden, gelten Regelun-gen bei der Tiermast und beim Tierschutz in Eu-ropa teilweise als deutlich höherwertig als in den USA. Aufgrund der geplanten »regulatorischen Kooperation« besteht außerdem die Sorge, dass zukünftig Standard-Verschärfungen in der EU nicht mehr möglich wären.

    4.3. Umwelt- und Klimaschutz

    Um den großen globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel, der Energiewende und dem Schutz regionaler und globaler Gemeingüter (z. B. Biodiversität, unterirdische Süßwasserreservoirs, wertvolle Ackerböden, Weltmeere) Rechnung zu tragen, geht es nicht nur darum, dass bisherige Standards, die ja bereits zu erheblichen Umwelt-schäden und -gefährdungen geführt haben, nicht abgesenkt werden. Vielmehr bedarf es Anstren-gungen, um ausreichend hohe Standards zu ent-wickeln und auf breiter, auch internationaler Ebene mit völkerrechtlicher Verbindlichkeit um-zusetzen, die tatsächlich nachhaltige Entwick-lung, Klimastabilität etc. gewährleisten. Diesen zentralen Anforderungen werden die geplanten Freihandelsabkommen in keiner Weise gerecht.

    Diese berechtigten Interessen der globalen Zivil-gesellschaft dürfen nicht den partikularen Interes-sen von Investoren untergeordnet werden. Insbe-sondere darf die weitere, global völlig unzurei-chend beschränkte Förderung und Nutzung fossi-ler Energieträger nicht zu irreversiblen Klima-schäden führen. Das Verbot von extrem umwelt-schädlichen Förderverfahren wie Fracking zur Gasgewinnung oder der Gewinnung von Öl aus Teersanden und die Einschränkung des Imports von auf diese Weise gewonnenen Rohstoffen oder das Anheben von Emissionsgrenzwerten für CO2 und andere klimaschädliche Gase darf nicht durch die transatlantischen Handelsverträge aus-gehebelt werden. Das gleiche gilt für die Förde-rung von Wind- und Solarenergie, die in Deutsch-land neben den großen Offshore Windparks viel-fach in kommunaler Hand bzw. in der Hand regi-onaler Bürgergesellschaften liegt. Die steuerpoliti-sche oder sonstige Förderung dieser dezentralen Strukturen darf nicht als Handelshemmnis klassi-fiziert und damit gefährdet werdet. Die impliziten energiepolitischen Ziele der transatlantischen Handelsabkommen, so wie sie sich derzeit dar-stellen, gefährden die Erreichung des im Pariser Abkommen zum Klimaschutz sowie durch die G-7-Verhandlungen kürzlich wieder bekräftigten 1,5 bis 2°-Zieles des Weltklimarates.39 Deshalb müs-sen die Handelsabkommen auf ihre Kohärenz mit umfassenderen Zielen überprüft und entspre-chend angepasst werden.

    Alle Handelsabkommen und insbesondere solche, die für sich in Anspruch nehmen, Standards mit möglichst globaler Gültigkeit zu setzen, müssen darauf überprüft werden, welche Prioritäten sie setzen. Liberalisierung des Handels und Wachs-tum des BIP oder einzelner Unternehmen sind keine »Werte an sich«, die es zu schützen gilt. Es bedarf Handelsabkommen, die eine Folgen- und Gesamtkostenevaluation vornehmen und die negative externe Effekte für globale und regionale Gemeingüter sowie die Gesundheit und die Ent-wicklungsmöglichkeiten von Menschen einbezie-hen.

    4.4. Öffentliche Güter und Daseinsvorsorge

    Den transatlantischen Handelsabkommen liegt ein wirtschaftsliberaler Denkansatz zugrunde, der öffentliche Güter der Daseinsvorsorge sowie staat-lich subventionierte Kultur- und Bildungssysteme als »Öffentliche Monopole« versteht und solche Dienstleistungen tendenziell liberalisieren, d. h. privatisieren und als öffentliche Aufgaben ab-schaffen will. Das Argument und die Zusage, dass von dem grundsätzlichen Privatisierungsziel »ho-heitliche Aufgaben« ausgenommen seien, über-zeugt hier nicht, da mit hoheitlichen Aufgaben in den Abkommen, insbesondere im TiSA-Abkom-men, nur solche Aufgaben gemeint sind, die nicht im Wettbewerb mit privaten Anbietern erbracht werden. Tatsächlich aber werden seit den Libera-lisierungs- und Privatisierungswellen der 1990er-Jahre ein Großteil der öffentlichen Daseinsvorsor-ge, einschließlich sozialer Dienstleistungen sowie bestimmte Bereiche von Kultur und Bildung, auf Märkten und damit unter Wettbewerbsbedingun-gen angeboten, so dass dieser gemischte öffent-lich-private Bereich im Falle der Realisierung der Abkommen unter verstärktem Liberalisierungs- und Privatisierungsdruck geraten würde.40

    Die Aufrechterhaltung des GATS-Status (General Agreement on Trade in Services), der die öffentli-che Finanzierung bzw. Subventionierung für Inländerangebote ausdrücklich vorsieht, könnte nur durch klare rechtliche Ausnahmen in den Verträgen erreicht werden. Andernfalls besteht die Gefahr, dass es zu erzwungenen Marktöff-nungen in der Daseinsvorsorge kommt. Dies könnte z. B. durch den vertraglich vorgesehenen Konsultationsmechanismus mit dem Ziel der Be-seitigung von öffentlichen Zuwendungen als Handelshemmnis oder durch den Investoren-schutz, der sich auch auf nicht realisierte, berech-tigte Gewinnerwartungen bezieht, ausgelöst wer-den. Ob vor diesem Hintergrund die grundsätz-lich bereits im CETA enthaltene Zusicherung des »right to regulate« (für die TTIP ist dies noch

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    nicht offiziell bekannt) Bestand hat (und wenn ja, wie weitgehend), wird sich erst zeigen müssen.

    Problematisch bleibt im Hinblick auf öffentliche Leistungen und Dienstleistungen die Tatsache, dass das grundsätzliche Prinzip der WTO und auch der Handelsabkommen der 2. Generation die weitere Liberalisierung und Deregulierung des Handels und in der Folge der weltwirtschaftlichen Ordnung ist und dass diesbezüglich die meisten sozialen Dienstleistungen, ja selbst Bildung, wie Waren behandelt werden. Dass insbesondere der Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen nicht primär einer Marktlogik, sondern im Sinne der Daseinsvorsorge einer Bedarfslogik nach dem Solidaritätsprinzip unterliegen sollte, wird dabei nicht berücksichtigt. Der gesellschaftliche Aus-gleich, der dadurch möglich wird, dass die Betei-ligung an den Kosten dieser Leistungen und die Gestaltung von »Preisen« in Form von Gebühren, Beiträgen oder Steuern anderen Regeln folgt, als Bildung von Marktpreisen unter Wettbewerbsbe-dingungen, kann dadurch folgenschwer beschä-digt werden. Auch deshalb können die zur Dis-kussion stehenden Handelsabkommen weitrei-chende Folgen für die wirtschafts- und gesell-schaftspolitische Entwicklung mit sich bringen und müssen folglich auch vor diesem Hinter-grund und nicht nur als Handelsabkommen im engeren Sinn diskutiert und beurteilt werden.

    5. Orientierungspunkte für zukunftsfähige Handelsordnungen

    5.1. Hinführung

    Wenn wir über Alternativen zu den geplanten Freihandelsabkommen nachdenken, brauchen wir ebenso einen intellektuellen Rahmen zur Orien-tierung wie die zur Diskussion stehenden Abkom-men, die in erster Linie in der Tradition des Wirt-schaftsliberalismus bzw. des Neoliberalismus ste-hen. Letztere gehen davon aus, dass »freie Märk-te« ohne starken Einfluss der Politik den bestmög-lichen wirtschaftlichen Output und damit Wohl-stand hervorbringen. Durch den sog. trickle-down-Effekt, so die Annahme, sei gewährleistet, dass alle Bevölkerungsteile an diesen Erfolgen teilhaben.

    Abgesehen davon, dass die letztgenannte These empirisch nicht haltbar ist, zeigt sich, dass Märk-te möglichweise zwar effiziente Outputs bereit-stellen, aber gegenüber sozialen und ökologi-schen Anforderungen blind sind. Bereits in den 1940er-Jahren hatte der ungarisch-österreichische Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi diese Verbin-dung zwischen »freien Märkten« und mangelnder

    gesellschaftlicher Integration herausgearbeitet. In seinem bis heute diskutierten Werk »Die Große Transformation« von 1944 sieht er die Gefahr einer »Entbettung« der Ökonomie, wenn Märkte nicht ausreichend politisch reguliert werden. Aus heutiger Sicht besteht die Blindheit »freier Mark-te« darin, dass sie die Probleme sozialer Un-gleichheit und den für die Menschheit bedrohli-chen Klimawandel verschärft, zumindest nicht eindämmt. Deshalb ist Polanyis These von der »Entbettung« sehr aktuell, was im Umkehrschluss bedeutet, eine Wirtschafts- und Lebensweise zu finden, die unser ökonomisches Handeln in die globalgesellschaftlichen Anforderungen einbettet. Eine solche Denkweise findet sich etwa bei den Vorstellungen zur »Großen Transformation« des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen oder den Sus-tainable Development Goals (kurz: SDGs) der Vereinten Nationen. Aber auch theologische An-sätze können uns helfen, wirtschaftliches Han-deln in seiner gesamtgesellschaftlichen Verant-wortung zu denken (vgl. Kapitel 6).

    5.2. Das Konzept des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen

    Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) nutzt den von dem österreichisch-ungarischen Wirt-schaftshistoriker Karl Polanyi entliehenen Begriff der Großen Transformation, um damit die not-wendigen sozioökonomischen Veränderungsan-forderungen zu beschreiben, die sich aus der Endlichkeit der Ressourcen unserer Erde ergeben. Es sind sowohl die Ressourcen, die wir ihr ent-nehmen können, als auch ihre Kapazität, Stoffe aufzunehmen, die wir Menschen in der Umwelt entsorgen (Erde als Senke), absolut begrenzt. Die Menschheit hat aber inzwischen so stark auf die Umwelt eingewirkt, dass sie Megatrends ausge-löst und/oder verstärkt hat, die erhebliche Rück-wirkungen auf Menschen und Gesellschaft haben werden.41 Der Klimawandel ist einer der größeren Megatrends. Sich aber nur auf dessen Lösung zu konzentrieren, wäre zu kurz gesprungen.

    Die Art zu leben, zu wirtschaften, zu arbeiten und zu konsumieren hat sich so weit weg von einer nachhaltigen Weise entwickelt, dass wir laut Global Footprint Network42 weltweit 2012 1,6 Erden benötigt hätten, hätten wir wirklich nach-haltig leben, wirtschaften, arbeiten und konsu-mieren wollen. Für den Lebensstandard in der EU hätte es einer 2,1-fachen Landfläche bedurft und in Deutschland hätte die Landfläche sogar 2,3-mal so groß sein müssen. Sollte der Standard überall

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    so sein, wie in der EU, dann würden 2,8 Erden verbraucht, bezogen auf Deutschland wären es sogar 3,1 Erden.43 Es wird deutlich: So, wie wir Menschen heute leben, wirtschaften, arbeiten und konsumieren, können wir nicht weitermachen. Andernfalls wird die Erde »zu einem unwirtlichen und unsicheren Ort«.44

    Wollen wir dies verhindern, so müssen wir den sozial-ökologischen Umbau einer Großen Trans-formation aktiv gestalten. Dies bedeutet aber, dass erstens unsere Lebens-, Arbeits-, Wirt-schafts- und Konsumweise innerhalb der planeta-rischen Grenzen nachhaltig erfolgen und zweitens die Veränderungen dahin innerhalb eines »engen Zeitfensters mit großer Priorität vorangetrieben werden«45 müssen. Dabei ist das Ziel der Großen Transformation eine Weltwirtschaft und –gesell-schaft, »die innerhalb der Grenzen des Erdsys-tems Wohlstand, Stabilität und Demokratie si-chern kann«46. Die Veränderungen betreffen jeden einzelnen Menschen, aber auch die Gesellschaft und ihre Subsysteme, wie bspw. Wirtschaft und Politik. Konkret müssen sich vor allem Produkti-on (dekarbonisiert, ressourceneffizient, men-schengerecht), Konsummuster, Lebensstile und Kultur ändern. Dies gelingt nur, wenn eine »glo-bale Kooperationsrevolution«47 die Politikblocka-den überwindet und mit generationsübergreifen-den Langfristveränderungen verantwortungsvoll umgegangen wird. Die Große Transformation hat dabei drei untrennbare Zieldimensionen: eine ökologische, eine ökonomische und eine soziale.

    Um all dies zu erreichen, bedarf es radikaler In-novationen. Allerdings reichen Veränderungen rein technischer Natur oder technologisch deter-minierte Veränderungen nicht aus. Die Große Transformation kann nur gelingen, wenn der Wandel durch zivilgesellschaftliche Partizipation erfolgt, die Demokratie weiterentwickelt und ein Wertewandel hin zur Nachhaltigkeit erreicht wird. Es braucht »veränderte Narrative, Leitbild oder Metaerzählungen, die die Zukunft von Wirt-schaft und Gesellschaft neu beschreiben«48. All dies setzt eine Veränderung der »Anreizsysteme, Institutionen, normative Maximen und Wissen-schaftsdisziplinen (allen voran die Wirtschafts-wissenschaften)« voraus. Auch wenn wir in Eu-ropa und der Welt erste politische Erfolge im Kampf gegen den Klimawandel erringen konnten, so steht die Menschheit an einem kritischen Punkt. Richtung Klimaverträglichkeit ist in Ab-kommen viel erreicht worden. Aber es besteht immer noch »die Gefahr, dass die Dynamik aus Wandel und Beharrungskräften in Lock-in- bzw. Einschließungspfaden mündet«, selbst dann, wenn man beginnt, die Abkommen umzusetzen.

    Es kann nur gelingen, wenn alles, was in »Ein-schließungspfade« führt, vermieden wird.

    5.3. Ziele nachhaltiger Entwicklung: SDGs

    Mit den Sustainable Development Goals (kurz: SDGs) werden wesentliche Aspekte der Großen Transformation aufgegriffen, konkretisiert und ergänzt, insbesondere im Hinblick auf die Ent-wicklungsmöglichkeiten der weniger oder am geringsten entwickelten Länder (LDC). Die SDGs umfassen 17 Ziele (siehe Kasten Seite 23), die in 169 Zielvorgaben konkretisiert sind. Sie wurden am 25. 9. 2015 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet und sollen eine ökonomisch, sozial und ökologisch nachhaltige Entwicklung fördern. Allerdings wird, alleine auf die SDGs gestützt, die Große Transformation nicht gelingen. Nicht nur weil es den SDGs an Verbindlichkeit mangelt, sondern auch, weil diese nicht alle Aspekte einer Großen Transformation erfassen. Es fehlen unter anderem die Aspekte der zivilgesellschaftlic