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Friedrich Nietzsche Die Kunst der Gesundheit VERLAG KARL ALBER A

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Friedrich Nietzsche

Die Kunst der Gesundheit

VERLAG KARL ALBER A

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Wie kein anderer Denker hat Nietzsche die vitale Dimension des Da-seins philosophisch akzentuiert, hat er »am Leitfaden des Leibes« phi-losophiert. Die Fragilität seiner eigenen Existenz, seine Einsamkeit,seine Krankheiten, seine vielfältige Abhängigkeit von Bedingungendes äußeren Lebens wie Ort, Klima, Ernährung usw. haben ihn gelehrt,deren lebenspraktische Relevanz gründlicher zu durchdenken und die-sen »nächsten Dingen« gegenüber achtsam zu bleiben. Sie bergenChancen einer gesteigerten Existenz, und wer sie vernachlässigt, lebtunter Umständen an seinen Möglichkeiten vorbei. Gesundheit ist fürNietzsche mithin nicht statisch und eindimensional. Der Weg zu ihrführt über die Kunst, selbstverantwortlich seine Lebensbedingungenund -bedürfnisse immer wieder zu prüfen, aktiv und kreativ zu gestal-ten und umzugestalten. Jeder muss (und kann) seine eigene Gesund-heit finden; sie ist ein Prozess, dessen Dynamik er selbst beeinflusst.Gesünder werden heißt für Nietzsche: langsamer, achtsamer werden,seine eigenen Rhythmen finden, heißt auch: Spannungen, Leiden undSchmerz als bewegende Kräfte dieses Prozesses annehmen zu lernen.

Die Herausgeber

Die Germanisten Mirella Carbone und Joachim Jung waren 15 JahreKuratoren des Nietzsche-Hauses in Sils-Maria (Engadin). Heute wir-ken sie als dessen wissenschaftliche Mitarbeiter und leiten das SilserKulturbüro KUBUS des Instituts für Kulturforschung Graubünden(ikg). Sie führen jährlich die Silser Kunst- und LiteraTourtage durchund bieten zudem ein reiches Vortrags- und Seminarprogramm zu lite-rarischen, philosophischen, kunst- und kulturgeschichtlichen Themenan, zu denen sie immer wieder auch Kulturwanderungen im Engadinund den Bündner Südtälern durchführen.

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Friedrich Nietzsche

Die Kunst derGesundheitHerausgegeben vonMirella Carbone und

Joachim Jung

Verlag Karl Alber Freiburg/München

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Neuausgabe von »Langsame Curen. Ansichten zur Kunst derGesundheit«, herausgegeben von Mirella Carbone und Joachim Jung,Verlag Herder, Freiburg 2000

© VERLAG KARL ALBERin der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012Alle Rechte vorbehaltenwww.verlag-alber.de

Coverfoto: © Joachim JungSatz: SatzWeise, FöhrenHerstellung: fgb · freiburger graphische betriebewww.fgb.de

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)Printed on acid-free paperPrinted in Germany

ISBN 978-3-495-48515-6

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1. »Wer will noch denken und forschen, um zu handeln?« –Philosophie als Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

2. »Seine Krankheit an den Pflug spannen« –Gesundheit und Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

3. »Vorwärts, Wanderer! Es sind noch viele Meere und Länder fürdich übrig« – Chancen des Unterwegsseins . . . . . . . . . 35

4. »Ich habe gehen gelernt: seitdem lasse ich mich laufen« –Die eigenen Rhythmen finden . . . . . . . . . . . . . . . 45

5. »Ich will den Menschen die Ruhe wiedergeben« –Moderne Hatz und Kunst der Muße . . . . . . . . . . . . 51

6. »Lieber frei mit schmaler Kost, als unfrei und gestopft« –Zur Frage der Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69

7. »Wir müssen wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden« –Von den Reichtümern des Alltags . . . . . . . . . . . . . . 77

8. »Das – ist nun mein Weg, – wo ist der eure?« –Den eigenen Weg suchen . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

9. »Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deinerbesten Weisheit« –Die Entdeckung des Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

10. »Wie alt ich schon bin und wie jung ich noch sein werde …« –Mut zur Verwandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

11. »Wenn ihr Augen habt zu sehen, so gebraucht auch den Mundzu sagen: ›ich sah es anders‹« – Spannungen aushalten . . . . 119

12. »Bleiben wir in uns hängen, woran sollten wir wachsen!« –Das Ich und die Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

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13. »Auf, lasst uns den Geist der Schwere tödten« –Philosophie der Freude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Zitatnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

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Inhalt

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Vorwort

»Wahrheitssinn. – Ich lobe mir eine jede Skepsis, auf welchemir erlaubt ist zu antworten: ›Versuchen wir’s!‹ Aber ich magvon allen Dingen und allen Fragen, welche das Experimentnicht zulassen, Nichts mehr hören. Diess ist die Grenze meines›Wahrheitssinnes… denn dort hat die Tapferkeit ihr Recht ver-loren«

Nietzsche und die Kunst der Gesundheit? – Manch einer mag sich beidieser Kombination skeptisch fragen, was denn wohl dabei herauskom-men kann, ausgerechnet jenen Denker zum Thema Gesundheit zu be-fragen, dessen Biographie sich eher als fortgesetzte, zuletzt in geistigerUmnachtung kulminierende Krankengeschichte liest. Tatsächlich wa-ren chronische Leiden Nietzsches Lebensbegleiter: Da ist zunächst dieschon beim Vierjährigen diagnostizierte Kurzsichtigkeit, die zu Beginnseiner Basler Professorenzeit bereits zweistellige Dioptrien-Werte er-reicht hat. Hinzu tritt gegen Ende der Studienzeit ein Magen-Darm-Leiden, das sich – offenbar verstärkt durch eine schlecht auskurierteRuhrinfektion – bald zu einer chronischen Gastritis entwickelt.Schließlich die anfallartig auftretenden, heftigen Kopfschmerzen, diesich seit Anfang der 70er Jahre häufen, oft mit Erbrechen verbundensind und sich nicht zuletzt in Phasen höherer physischer oder psychi-scher Belastung – z. B. auf Reisen oder beim Besuch bzw. Abschied vonFreunden – mit qualvoller Regelmäßigkeit einstellen. 1875 erleidetNietzsche in Basel erstmals einen förmlichen Zusammenbruch. Zahl-reiche Versuche mit Kuren verschiedenster Art bringen wenig Lin-derung; vier Jahre später muß der gerade erst 35jährige seine Professurendgültig niederlegen. Krampferscheinungen, Lähmungsgefühle,Sprachstörungen bis hin zu zeitweiliger Bewußtlosigkeit markiereneinen gesundheitlichen Tiefpunkt, von dem er sich erst zu Beginn der80er Jahre langsam wieder erholt. Nietzsches Briefe bezeugen zudemseine extreme Sensibilität gegenüber Witterungseinflüssen: hohe Luft-

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feuchtigkeit, bedeckter Himmel, Gewitterlagen, Föhn und Schirokkobewirken eine rapide Verschlechterung seines Gesundheitszustandes.Am Ende dann, im Januar 1889, der geistige Zusammenbruch, der bisheute Anlaß zu vielfältigen Spekulationen gibt1.

Nimmt man hinzu, daß – nachdem ihm kein Arzt zu helfen ver-mochte – auch Nietzsches Versuche, sein eigener Arzt zu sein, letztlicherfolglos blieben, so scheint die Skepsis, ob denn gerade von ihm Auf-schluß über Wege zur Gesundheit zu erwarten sei, mindestens ver-ständlich.

Und dennoch – es gibt gewichtige Gründe dafür, solcher Skepsisnicht vorschnell nachzugeben.

Zum einen wird die Antwort auf die Frage, ob Nietzsche sich imUmgang mit seinen Krankheiten hat helfen können, davon abhängen,welche Vorstellung von Gesundheit man zugrunde legt. Wer Gesund-heit auf der Grundlage des Gegensatzes »gesund-krank« zu bestimmengewohnt ist, wird sie vielleicht zunächst als »Abwesenheit vonSchmerz und Krankheit« begreifen. Gerade Nietzsche aber wird nichtmüde, den Begriff »Gesundheit« aus der Statik solcher Entgegenset-zungen herauszulösen, deren reduktionistische Logik man sich in derFrage veranschaulichen mag: Genügt es denn, nicht tot zu sein, um sichschon lebendig zu fühlen? Im Abweisen solch planer Entgegensetzun-gen berührt sich Nietzsches Auffassung übrigens mit der gegenwärti-gen WHO-Definition von Gesundheit, die sich gleichfalls nicht daringenügt, sie »nur durch die Abwesenheit von Krankheit oder Behin-derung« gewährleistet zu sehen.

Was Gesundheit sein kann, hat Nietzsche auf emphatische Weiseneu zu bestimmen versucht, und dies gleich in mehrfacher Hinsicht:

Gesundheit ist nicht als Zustand zu betrachten, der erreicht odereben nicht erreicht wird, sondern als Weg, auf dem wir bestimmte For-men im Umgang mit uns selbst erproben, schrittweise Voraussetzun-gen, Bedürfnisse, Kräfte und Möglichkeiten unserer je eigenen Lebens-ordnung erkunden und diese Ordnung selbst dabei als wandlungsfähigbegreifen lernen. »Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!«ruft Nietzsche dem »noch nicht-festgestellten Thier« Mensch zu.

Gesundheit in dieser Weise prozessual zu denken, sie als Suchenach immer neuen – und individuell verschiedenen – Möglichkeitender Balance zu begreifen, entzieht sie den Ansprüchen einer nach raschwirkender Arznei Ausschau haltenden Versorgungsmentalität. So we-nig es für Nietzsche »eine Gesundheit an sich«, eine »Normal-Gesund-

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Vorwort

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heit« gibt, so wenig kommen die Einsichten seiner Gesundheitslehredem Bedürfnis nach generalisierbaren Rezepturen entgegen, wie Ge-sundheit zu erhalten oder zurückzugewinnen sei.

Vielmehr fordert Nietzsche dazu auf, Gesundheit und Krankheitim Horizont der je eigenen Existenzbedingungen, Strebungen undVoraussetzungen als etwas zu begreifen, dem gegenüber der Einzelneeine aktive Verantwortung trägt. Jeder hat die Möglichkeit, seineRhythmen, Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten nicht nur immerwieder zu reflektieren, sondern sie auch zu beeinflussen und umzuge-stalten. Solche Verwandlungen erfordern Mut, der oft genug erst demverzweifelt Kranken erwächst. Wer die Muße, zu der eine Krankheitihn zwingt, für das Überdenken bisheriger Lebensmuster zu nutzenvermag und auf die Herausforderung des Leidens mit dem Willen derUm- und Neugestaltung des eigenen Lebens reagiert, der hat Nietzschezufolge eine höhere Gesundheit erreicht: eine Gesundheit, die Krank-heit nicht ausgrenzt, sondern sie für sich fruchtbar zu machen, sie »anden Pflug« zu spannen weiß.

»Die Krankheit ist ein mächtiges Stimulans. Nur muß man ge-sund genug für das Stimulans sein.« Dieser Gedanke überschreitet einesich nur um wissenschaftliche Abgrenzung und Definitionen be-mühende Perspektive. Mit der Einsicht, daß »Gesundheit« und»Krankheit« nicht unabhängig von dem Verhältnis sind, das wir zuihnen einnehmen, beginnt die Arbeit des Philosophen. Der Reichtuman Perspektiven, die Intensität und Ausführlichkeit, mit der Nietzschesolche Verhaltensmöglichkeiten zu Krankheit und Gesundheit entwor-fen und durchdacht hat, suchen in der neuzeitlichen Philosophie ihres-gleichen. Gerade für ihn, den ewig Kranken, stellte dieses Thema nichtnur eine geistige, sondern eine existentielle Herausforderung dar.

»Was wird aus dem Gedanken selbst werden, der unter denD r u c k der Krankheit gebracht wird?« Mit dieser Frage scheint sichsein Philosophieren geradezu als Selbstversuch begründen zu wollen.Aber man übersehe dabei nicht die Weite des Horizonts, innerhalbdessen dieser Selbstversuch vorgenommen wird. Der AltphilologeNietzsche ist nicht nur mit der Gesundheitslehre der Antike bestensvertraut; aufmerksam verfolgt er, der nach seinem Philologiestudiumursprünglich ein naturwissenschaftliches Zweitstudium hatte absolvie-ren wollen, auch neueste Forschungen zur modernen Diätetik. Das Ver-zeichnis seiner Bibliothek führt zahlreiche Titel auf, die sich einer me-dizinisch-physiologischen Gesundheitslehre zuordnen lassen: so etwa

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Vorwort

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Werke, die dem Einfluß von Ort, Klima und Ernährung auf die Ge-sundheit nachgehen, andere, die das Verhältnis von Körper und Geistaus einer sinnesphysiologischen Perspektive neu zu begründen ver-suchen. So sehr sich Nietzsche für diese modernen Ansätze inter-essiert, so wenig ist er doch bereit, der positivistischen Verengung undden deterministischen Tendenzen beizustimmen, die diese Ansätze be-gleiten. Stets aufs neue geißelt er den Hang des 19. Jahrhunderts zur»fatalistischen Unterwerfung unter das Thatsächliche«, den krudenNaturalismus, die Selbstentmündigung des Menschen durch die Ver-absolutierung von Milieu-Theorien. Nachdrücklich erinnert er immerwieder daran, daß der Mensch sich zu jedem Faktum, soweit es über-haupt für ihn Bedeutung erlangen soll, als ein w e r t e n d e s Wesenverhält. Das ganze Leben ist eine Kette solcher Wert-Setzungen, dieNietzsche als Akte einer schöpferischen Aneignung von Welt begreift.Gegen den überschätzten Einfluß der äußeren Umstände macht er gel-tend, daß »das Wesentliche am Lebensprozeß (…) gerade die ungeheu-re gestaltende, von Innen her formschaffende Gewalt (sei), welche die›äußeren Umstände‹ a u s n ü t z t , a u s b e u t e t « . Der Nutzen, den dieUmstände haben können, bestimmt sich jedoch erst im Kontext indivi-dueller Wertsetzungen; er ist den Fakten nicht schon eingeschrieben.

Die Art und Weise, wie Nietzsche die Erkenntnisse der modernen Na-turwissenschaft, speziell die der Sinnesphysiologie, in sein Philoso-phieren aufnimmt, läßt eine doppelte Strategie erkennen. Einerseitssetzt er diese Erkenntnisse strategisch ein, um eine philosophische Tra-dition anzugreifen, die noch ganz in der Metaphysik befangen ist. Sostellt er die ketzerische Frage, inwieweit deren Einsichten sich mögli-cherweise der unbewußten Verkleidung physiologischer Bedürfnisseunter die »Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen« verdan-ken könnten. Derart verdächtigt, erschiene Philosophie dann plötzlichunter dem Primat der Leiblichkeit, ja geradezu als – sich selbst unbe-wußt gebliebene – Auslegung leiblicher Symptome. Ihre Ausprägun-gen würden lesbar als die verborgenen Gesundheits- bzw. Krankheits-bedingungen ihrer Urheber. Gesundheit und Krankheit wären nunnicht mehr nur Gegenstände der Philosophie, sondern diese selbst ab-hängig von Bedingungen der Leiblichkeit.

Wenn Nietzsche diese Perspektive zunächst forciert, so ist esgleichwohl nicht seine Absicht, die bisherige Einseitigkeit einer Orien-tierung am Rein-Geistigen durch die neue Einseitigkeit eines bio-

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Vorwort

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physischen Reduktionismus ersetzen zu wollen. Nichts liegt ihm fer-ner, als sich zu den Wertsetzungen neuzeitlicher Naturwissenschaftaffirmativ zu verhalten. Leiblichkeit ist für ihn keine bloße Determi-nante, sie kann und soll ein Leitfaden sein. Voraussetzung dafür ist, sienicht länger als einen abspaltbaren Aspekt der Existenz zu betrachten,sondern die Ansprüche, Abhängigkeiten und Bedürfnisse, die sich ausunserem Dasein als einem leibhaften ergeben, neu zu durchdenken.Erst auf der Basis eines ganzheitlichen, den Leib einbeziehenden Ver-ständnisses seiner selbst erlernt der Mensch die Kunst praktischer Le-bensführung, eröffnen sich ihm Wege zu seiner Gesundheit als einemProzeß fortgesetzter Selbstgestaltung.

Der Versuch, Denken und Bewußtsein aus der Hybris der Leib-vergessenheit und -mißachtung zu befreien, steht im Kontext einerumfassenden Moral- und Kulturkritik. Hier tritt Nietzsche gegen einezweitausendjährige Tradition an, die es sich angelegen sein ließ, alleszu Verteufelnde mit dem Namen des »Leibhaftigen« zu bezeichnen.

Zur Rehabilitierung der Leiblichkeit bezieht er dabei nicht nurErkenntnisse der modernen Sinnesphysiologie ein; der zweite Refe-renzpunkt, von dem aus seine Kulturkritik ihre Schärfe gewinnt, liegtin der Antike. Dort war »Diätetik« ursprünglich als umfassende Le-bens- und Gesundheitslehre begründet worden, innerhalb derer dieSphären höchster Geistigkeit und Sinnlichkeit vereint erschienen.Nietzsche hat in seinem Werk mehrfach darauf hingewiesen, daß dasWort »sophos« (der Weise) etymologisch sich von sapiens herleite, wasnicht nur den »Wissenden«, sondern zugleich den »Schmeckenden«bezeichnet. Weise ist demnach derjenige, der aus der Menge des Wiss-und Verfügbaren dasjenige auszuwählen, herauszuschmecken gelernthat, was im Horizont der eigenen Bedingungen und Bedürfnisse wach-sen, reifen und fruchtbringend weiterwirken kann. Zugleich muß ervieles beiseite lassen, abscheiden können, was langfristig gesehen nichtzu seinem Wohlbefinden beiträgt. Ein Urteilsvermögen, eine Ge-schmacksbildung dieser Art erwächst aus dem Zusammenspiel leib-licher, geistiger und seelischer Prozesse, nie aber aus bloßer Reflexion.

Wie sehr Nietzsche selbst daran gelegen ist, die Sphäre des Leib-lich-Sinnlichen nicht nur gegenüber dem Denken, sondern vor allemauch für das Denken zu rehabilitieren, wird dort deutlich, wo er daranerinnert, daß der Mensch ein rhythmen- und formenbildendes Wesenist. Was immer ihn erreicht, findet Eingang erst durch diese Formenund Rhythmen.

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Vorwort

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Dies gilt nicht zuletzt für das Lesen, auf das man sich vorbereiten,für das man Zeiten auswählen sollte, in denen man für die Lektüreaufnahmefähig ist. Auch hier ist es wichtig, die eigenen »guten Stun-den und ihre fruchtbaren und kräftigen Momente« zu kennen und aus-zuwählen, das, was die Griechen »kairos«, die erfüllte, intensive Zeitnannten. Und so, wie das Denken »duften soll wie ein Kornfeld anSommerabenden«, so soll auch ein Leser mit offenen Sinnen, »mit zar-ten Fingern und Augen«, mit einem Ohr für Rhythmus, Takt und Tem-po, mit einem Gespür für den Atem und Schritt des Denkens lesen.

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Vorwort

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1.

»Wer will noch denken und forschen,um zu handeln?« –

Philosophie als Praxis

Philosophie wie Nietzsche sie verstanden wissen will – als Praxis –, hatmit der Universitätsphilosophie wenig gemein. Dem professoralen Ge-lehrten, der sich einem lebensfernen Schwelgen in abstraktem Wissenhingibt, stellt er die Figur des Weisen gegenüber, wie sie ihm in derantiken Vorstellung vom »sophos« musterhaft vorgeprägt erscheint.Diesem ist Erkenntnis in erster Linie Mittel zum Handeln, Weg zumLeben. Die gelehrte »Stubenkultur« ist ihm fern, sein Bemühen umEinsicht beschränkt sich nicht aufs Bücherwälzen, er läßt sich von derVielfalt scheinbar gleichwertiger Gedankensysteme nicht in die Irreführen. Er bildet sich durch Reisen, durch persönlichen Umgang mitMenschen, denen er offen und vorurteilsfrei gegnübertritt. Er gibt sichder Welt hin, nicht, um sich an sie zu verlieren, sondern um sich diePolyphonie ihrer Stimmen zu erschließen und in der Absicht, allesErlebte für sich fruchtbar zu machen.

Die umfängliche Kenntnis von Menschen und Dingen, die er sichauf seiner Wanderschaft erwirbt, gerinnt ihm nicht zu einer Lehre, diemit erhobenem Zeigefinger weiterzugeben wäre. Er überzeugt durchdie Demut des Beispiels, im exemplarischen Vorleben eines Weges, denjeder für sich selbst zu gehen hat und auf dem er seiner eigenen Vor-aussetzungen, Bedürfnisse und Qualitäten im Austausch mit der Weltinne werden kann.

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E t wa s f ü r A r b e i t s a m e . – (…) Hat man schon die verschiedeneEintheilung des Tages, die Folgen einer regelmässigen Festsetzung vonArbeit, Fest und Ruhe zum Gegenstand der Forschung gemacht? Kenntman die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel? Giebt es einePhilosophie der Ernährung? (Der immer wieder losbrechende Lärmfür und wider den Vegetarianismus beweist schon, dass es noch keinesolche Philosophie giebt!) Sind die Erfahrungen über das Zusammen-leben, zum Beispiel die Erfahrungen der Klöster, schon gesammelt? Istdie Dialektik der Ehe und Freundschaft schon dargestellt? Die Sittender Gelehrten, der Kaufleute, Künstler, Handwerker, – haben sie schonihre Denker gefunden? Es ist so viel daran zu denken! Alles, was bisjetzt die Menschen als ihre »Existenz-Bedingungen« betrachtet haben,und alle Vernunft, Leidenschaft und Aberglauben an dieser Betrach-tung, – ist diess schon zu Ende erforscht?2

* * *

E r z i e h u n g d e s P h i l o s o p h e n .Durch frühe Reisen gegen das Nationale abzustumpfen.Die Menschen kennen, wenig lesen.Keine Stubenkultur.Den Staat und die Pflichten einfach zu nehmen. Oder auszuwandern.Nicht gelehrtenhaft. Keine Universitäten.Auch keine Geschichte der Philosophie; er soll für sich die Wahrheit

suchen, nicht um Bücher zu schreiben.3

* * *

Namenlos oder leicht verspottet leben, zu niedrig, um Neid oderFeindschaft zu erwecken, mit einem Kopf ohne Fieber, einer HandvollWissen und einem Beutel voll Erfahrungen ausgerüstet, gleichsam einArmenarzt des Geistes sein und Dem und Jenem, dessen Kopf d u r c hM e i n u n g e n v e r s t ö r t ist, helfen, ohne dass er recht merkt, werihm geholfen hat! Nicht vor ihm Recht haben und einen Sieg feiernwollen, sondern so zu ihm sprechen, dass er das Rechte nach einemkleinen unvermerkten Fingerzeig oder Widerspruch sich selber sagtund stolz darüber fortgeht! Wie eine geringe Herberge sein, die Nie-manden zurückstösst, der bedürftig ist, die aber hinterher vergessenoder verlacht wird! (…) Niedrig sein können, um Vielen zugänglich

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und für Niemanden demüthigend zu sein! Viel Unrecht auf sich liegenhaben und durch die Wurmgänge aller Art Irrthümer gekrochen sein,um zu vielen verborgenen Seelen auf ihren geheimen Wegen gelangenzu können! (…) – Das wäre ein Leben! Das wäre ein Grund, lange zuleben!4

* * *

Die einzige Kritik einer Philosophie, die möglich ist und die auch etwasbeweist, nämlich zu versuchen, ob man nach ihr leben könne, ist nieauf Universitäten gelehrt worden: sondern immer die Kritik der Worteüber Worte. Und nun denke man sich einen jugendlichen Kopf, ohneviel Erfahrung durch das Leben, in dem fünfzig Systeme als Worte undfünfzig Kritiken derselben neben und durch einander aufbewahrt wer-den – welche Wüstenei, welche Verwilderung, welcher Hohn auf eineErziehung zur Philosophie! In der That wird auch zugeständlich garnicht zu ihr erzogen, sondern zu einer philosophischen Prüfung: derenErfolg bekanntlich und gewöhnlich ist, dass der Geprüfte, ach Allzu-Geprüfte! – sich mit einem Stossseufzer eingesteht: »Gott sei Dank,dass ich kein Philosoph bin, sondern Christ und Bürger meines Staa-tes!«5

* * *

Wir sind ohne Bildung, noch mehr, wir sind zum Leben, zum richtigenund einfachen Sehen und Hören, zum glücklichen Ergreifen des Näch-sten und Natürlichen verdorben und haben bis jetzt noch nicht einmaldas Fundament einer Cultur, weil wir selbst davon nicht überzeugtsind, ein wahrhaftiges Leben in uns zu haben. Zerbröckelt und ausein-andergefallen, im Ganzen in ein Inneres und ein Aeusseres halb me-chanisch zerlegt, mit Begriffen wie mit Drachenzähnen übersäet, Be-griffs-Drachen erzeugend, dazu an der Krankheit der Worte leidendund ohne Vertrauen zu jeder eignen Empfindung, die noch nicht mitWorten abgestempelt ist: als eine solche unlebendige und doch un-heimlich regsame Begriffs- und Wort-Fabrik habe ich vielleicht nochdas Recht von mir zu sagen cogito, ergo sum, nicht aber vivo, ergocogito.6

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Philosophie als Praxis

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Die Griechen als Entdecker und Reisende und Kolonisatoren. Sie ver-stehen zu lernen: ungeheure Aneignungskraft.

Unsre Zeit soll nicht glauben, in ihrem Wissenstrieb so viel höherzu stehen: nur wurde bei-den-Griechen alles Leben! Bei uns bleibt esErkenntniß!7

* * *

Die plötzliche Bereicherung eines Volkes birgt dieselben Gefahrenwie die plötzliche Überfüllung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen.Der Weg von der Einsicht zum Leben, vom Kennen zum Können, vonder Kunde zur Kunst wird vergessen: ein luxuriöses Schwelgen imWissen beginnt. Das ruhige Fortarbeiten derjenigen, welche die Kulturproduziren, wird plötzlich durch die Erkenntnißstolzen überfluthet:niemand will die kleinen Wege mehr praktisch gehen, sondern be-schränkt sich egoistisch ein Besserwissen zu haben.8

* * *

Wenn wir noch je eine Kultur erringen sollen, so sind unerhörteKunstkräfte nöthig, um den unbeschränkten Erkenntnißtrieb zu bre-chen, um eine Einheit wieder zu erzeugen. Höchste W ü r d e d e sP h i l o s o p h e n z e i g t s i c h h i e r, w o e r d e n u n b e s c h r ä n k -t e n E r k e n n t n i ß t r i e b c o n c e n t r i r t , z u r E i n h e i t b ä n -d i g t . 9

* * *

Ve rw u n d e r u n g ü b e r W i d e r s t a n d . – Weil Etwas für unsdurchsichtig geworden ist, meinen wir, es könne uns nunmehr keinenWiderstand leisten – und sind dann erstaunt, dass wir hindurchsehenund doch nicht hindurch können! Es ist diess die selbe Thorheit und dasselbe Erstaunen, in welches die Fliege vor jedem Glasfenster geräth.10

* * *

Das zuversichtlichste Wissen oder Glauben kann nicht die Kraft zurThat, noch die Gewandtheit zur That geben, es kann nicht die Übungjenes feinen, vieltheiligen Mechanismus ersetzen, welche vorher-

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gegangen sein muss, damit irgend Etwas aus einer Vorstellung sich inAction verwandeln könne. Vor Allem und zuerst die Werke! Das heisstÜbung, Übung, Übung!11

* * *

Au s d e r P r a x i s d e s We i s e n . – Um weise zu werden, muss mangewisse Erlebnisse erleben w o l l e n , also ihnen in den Rachen laufen.Sehr gefährlich ist diess freilich; mancher »Weise« wurde dabei auf-gefressen.12

* * *

N i c h t u n z e i t i g s e h e n w o l l e n . – So lange man Etwas erlebt,muss man dem Erlebniss sich hingeben und die Augen schliessen, alsonicht d a r i n schon den Beobachter machen. Das nämlich würde diegute Verdauung des Erlebnisses stören: anstatt einer Weisheit trügeman eine Indigestion davon.13

* * *

L i e b e a l s K u n s t g r i f f. – Wer etwas Neues wirklich k e n n e nlernen will (sei es ein Mensch, ein Ereigniss, ein Buch), der thut gut,dieses Neue mit aller möglichen Liebe aufzunehmen, von Allem, wasihm daran feindlich, anstössig, falsch vorkommt, schnell das Auge ab-zuwenden, ja es zu vergessen: so dass man zum Beispiel dem Autoreines Buches den grössten Vorsprung giebt und geradezu, wie beieinem Wettrennen, mit klopfendem Herzen danach begehrt, dass ersein Ziel erreiche. Mit diesem Verfahren dringt man nähmlich der neu-en Sache bis an ihr Herz, bis an ihren bewegenden Punct: und diessheisst eben sie kennen lernen. Ist man soweit, so macht der Verstandhinterdrein seine Restrictionen; jene Ueberschätzung, jenes zeitweiligeAushängen des kritischen Pendels war eben nur der Kunstgriff, dieSeele einer Sache herauszulocken.14

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Philosophie als Praxis

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D e r g u t e A c k e r . – Alles Abweisen und Negiren zeigt einen Man-gel an Fruchtbarkeit an: im Grunde, wenn wir nur gutes Ackerlandwären, dürften wir Nichts unbenützt umkommen lassen und in jedemDinge, Ereignisse und Menschen willkommenen Dünger, Regen oderSonnenschein sehen.15

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»Wer will noch denken und forschen, um zu handeln?«

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2.

»Seine Krankheit an den Pflug spannen« –Gesundheit und Krankheit

Philosophie ist bei Nietzsche eng mit Anforderungen an eine persönli-che Lebenspraxis verknüpft, einer Praxis zudem, die sich eine ganz-heitliche Betrachtungsweise vom Menschen zu eigen macht, d. h. dieKörper, Seele und Geist in Wechselwirkung zueinander begreift.

Krankheit und Gesundheit sind unter dieser Perspektive weder alsstreng zu definierende Zustände noch als Gegensätze aufzufassen, dieeindeutig positiv oder negativ besetzt wären.

Aus eigener Erfahrung weiß der Philosoph um die Chancen, dieKrankheit und Schmerz bieten: Sie können wertvolle Indikatoren see-lischer Bedürfnisse und Notstände sein, die ihrerseits oft aus einer unsnicht entsprechenden Lebensweise resultieren. Wenn der Einzelne zulange »selbstlos« lebt, d. h. sich unreflektiert der Vielzahl von Anfor-derungen, die von außen an ihn gestellt werden, unterwirft, dannkommt ihm manchmal die Natur zu Hilfe – mit einer Krankheit. Siewirft den Menschen aus dem Gleis seiner Alltagsvollzüge, zwingt ihnzur Muße, schafft ihm so den Raum und die Bedingungen zur Selbst-besinnung. Plötzlich hat er Gelegenheit, seine Existenz aus der Di-stanz, gleichsam von außen zu betrachten, vielleicht mit dem ge-schärften Blick, der die Folge des Schmerzes sein kann und der einemlangsam die Augen dafür öffnet, wie vieles man allzulange schon er-tragen hat, ohne es je für sich gewählt zu haben.

Dergestalt kann Krankheit der erste Schritt zu einer »höherenGesundheit« sein, die uns Nietzsche nicht als definitives Ziel, sondernals individuelles Lebensprojekt vorstellt. Jeder ist aufgefordert, mitEntschiedenheit nach dem zu suchen, was für seinen Körper, seinenGeist, seine Seele fruchtbar ist, was er sich aneignen, in Kraft undLeben verwandeln kann. Schmerz und Krankheit haben in dieser Hin-sicht Signalcharakter. Nietzsche begreift sie als Versuche der Natur,zur Gesundheit zu kommen. Es sind Stimulanzien, starke Reize, dieverborgene Ressourcen mobilisieren oder aber lehren, mit seinen

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Kräften besser hauszuhalten. Schmerz geht allem Wandel und Wachs-tum voraus, ist der Begleiter jeder neuen Schöpfung.

Gemäß dem von Pindar entlehnten Aufruf »werde, der du bist«,den Nietzsche sich zu einer Art Lebensmotto erkor, verzichtet er dar-auf, seinen Lesern für diesen Weg zu sich selbst irgendwelche Vor-gaben inhaltlicher Art zu machen. Wer seine Werke als schnelleLebenshilfe gebrauchen möchte, wird enttäuscht. Auch für die metho-dischen Fingerzeige, wie man auf diesen Weg zu sich gelangen könne,hält Nietzsche nur die wenigen für aufnahmebereit, die den Mut unddie Kraft zu genauer, ehrlicher Selbstbeobachtung aufbringen und dieBedingungen und Abhängigkeiten, in denen sie erzogen wurden undleben, genau studieren. Nicht eine noch zu findende Wahrheit, son-dern Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst führt den Menschen aufseinen Weg – einen Weg, der ihm ein lebenslanges, mutiges Experi-mentieren mit sich, den eigenen Bedürfnissen, Trieben, Leidenschaftenund Idealen abverlangt, sollen auf ihm die individuellen Bedingungenfür ein gesundes Leben gefunden werden.

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»Seine Krankheit an den Pflug spannen«

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Ein Psychologe kennt wenig so anziehende Fragen, wie die nach demVerhältniss von Gesundheit und Philosophie, und für den Fall, dass erselber krank wird, bringt er seine ganze wissenschaftliche Neugierdemit in seine Krankheit (…)

Was wird aus dem Gedanken selbst werden, der unter den Druckder Krankheit gebracht wird? Dies ist die Frage, die den Psychologenangeht: und hier ist das Experiment möglich.16

* * *

Wi d e r d e n S t r i c h . – Ein Denker kann sich Jahre lang zwingen,wider den Strich zu denken: ich meine, nicht den Gedanken zu folgen,die sich ihm von Innen her anbieten, sondern denen, zu welchen einAmt, eine vorgeschriebene Zeiteintheilung, eine willkürliche Art vonFleiss ihn zu verpflichten scheinen. Endlich aber wird er krank: denndiese anscheinend moralische Überwindung verdirbt seine Nervenkraftebenso gründlich, wie es nur eine zur Regel gemachte Ausschweifungthun konnte.17

* * *

Die Krankheit ist ein plumper Versuch, zur Gesundheit zu kommen:wir müssen mit dem Geiste der Natur zu Hülfe kommen.18

* * *

Der Mensch weicht nach Kräften dem Leiden aus, aber noch mehrdem Sinne des erlittenen Leidens, in immer neuen Zielen sucht er dasdahinten-Liegende zu vergessen. Wenn der Arme und Geplagte sichgegen das Schicksal aufbäumt, welches ihn gerade an diese rauhesteKüste des Daseins warf, so weicht er dem tiefen Auge aus, das ihn ausder Mitte seines Leides fragend ansieht: als ob es sagen wollte: ist es dirnicht leichter gemacht, das Dasein zu begreifen?19

* * *

Damals entschied sich mein Instinkt unerbittlich gegen ein noch län-geres Nachgeben, Mitgehn, Mich-selbst-verwechseln. Jede Art Leben,die ungünstigsten Bedingungen, Krankheit, Armut – Alles schien mir

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Gesundheit und Krankheit

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jener unwürdigen »Selbstlosigkeit« vorziehenswerth, in die ich zuerstaus Unwissenheit, aus J u g e n d gerathen war, in der ich später ausTrägheit, aus sogenanntem »Pflichtgefühl« hängen geblieben war. –Hier kam mir, auf eine Weise, die ich nicht genug bewundern kann,und gerade zur rechten Zeit jene s c h l i m m e Erbschaft von Seitenmeines Vaters her zu Hülfe, – im Grunde eine Vorbestimmung zueinem frühen Tode. Die Krankheit l ö s t e m i c h l a n g s a m h e r a u s :sie ersparte mir jeden Bruch, jeden gewaltthätigen und anstössigenSchritt. Ich habe kein Wohlwollen damals eingebüsst und viel nochhinzugewonnen. Die Krankheit gab mir insgleichen ein Recht zu einervollkommnen Umkehr aller meiner Gewohnheiten; sie erlaubte, sieg e b o t mir Vergessen; s i e beschenkte mich mit der N ö t h i g u n gzum Stillliegen, zum Müssiggang, zum Warten und Geduldigsein …Aber das heisst ja denken!20

* * *

We r t h d e r K r a n k h e i t. – Der Mensch, der krank zu Bette liegt,kommt mitunter dahinter, dass er für gewöhnlich an seinem Amte,Geschäfte oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Be-sonnenheit über sich verloren hat: er gewinnt diese Weisheit aus derMusse, zu welcher ihn seine Krankheit zwingt.21

* * *

Vo n d e r E r k e n n t n i s s d e s L e i d e n d e n . – Der Zustand kran-ker Menschen, die lange und furchtbar von ihren Leiden gemartertwerden und deren Verstand trotzdem dabei sich nicht trübt, ist nichtohne Werth für die Erkenntniss, – noch ganz abgesehen von den intel-lectuellen Wohlthaten, welche jede tiefe Einsamkeit, jede plötzlicheund erlaubte Freiheit von allen Pflichten und Gewohnheiten mit sichbringen. Der Schwerleidende sieht aus seinem Zustande mit einer ent-setzlichen Kälte h i n a u s auf die Dinge: alle jene kleinen lügnerischenZaubereien, in denen für gewöhnlich die Dinge schwimmen, wenn dasAuge des Gesunden auf sie blickt, sind ihm verschwunden: ja, er selberliegt vor sich da ohne Flaum und Farbe. Gesetzt, dass er bisher in irgendeiner gefährlichen Phantasterei lebte: diese höchste Ernüchterungdurch Schmerzen ist das Mittel, ihn herauszureissen: und vielleichtdas einzige Mittel. (…) Die ungeheure Spannung des Intellectes, wel-

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cher dem Schmerz Widerpart halten will, macht, dass Alles, worauf ernun blickt, in einem neuen Lichte leuchtet: und der unsägliche Reiz,den alle neuen Beleuchtungen geben, ist oft mächtig genug, um allenAnlockungen zum Selbstmorde Trotz zu bieten und das Fortleben demLeidenden als höchst begehrenswerth erscheinen zu lassen. Mit Ver-achtung gedenkt er der gemüthlichen warmen Nebelwelt, in der derGesunde ohne Bedenken wandelt; mit Verachtung gedenkt er der edel-sten und geliebtesten Illusionen, in denen er früher mit sich selberspielte (…) Unser Stolz bäumt sich auf, wie noch nie: es hat für ihneinen Reiz ohne Gleichen, gegen einen solchen Tyrannen wie derSchmerz ist, und gegen alle die Einflüsterungen, die er uns macht, da-mit wir gegen das Leben Zeugniss ablegen, – gerade das L e b e n gegenden Tyrannen zu v e r t r e t e n . (…) Und nun kommt der erste Däm-merschein der Milderung, der Genesung – und fast die erste Wirkungist, dass wir uns gegen die Übermacht unseres Hochmuthes wehren.(…) Wir sehen wieder hin auf Menschen und Natur – mit einem ver-langenderen Auge: wir erinnern uns wehmüthig lächelnd, dass wirEiniges in Bezug auf sie jetzt neu und anders wissen, als vorher, dassein Schleier gefallen ist, – aber es e r q u i c k t uns so, wieder die g e -d ä m p f t e n L i c h t e r d e s L e b e n s zu sehen und aus der furcht-baren nüchternen Helle herauszutreten, in welcher wir als Leidendedie Dinge und durch die Dinge hindurch sahen. Wir zürnen nicht,wenn die Zaubereien der Gesundheit wieder zu spielen beginnen, –wir sehen wie umgewandelt zu, milde und immer noch müde. In die-sem Zustande kann man nicht Musik hören, ohne zu weinen.22

* * *

Der Weg [ist] noch weit bis zu jener ungeheuren überströmenden Si-cherheit und Gesundheit, welche der Krankheit selbst nicht entrathenmag, als eines Mittels und Angelhakens der Erkenntniss, bis zu jenerr e i f e n Freiheit des Geistes, welche ebensosehr Selbstbeherrschungund Zucht des Herzens ist und die Wege zu vielen und entgegengesetz-ten Denkweisen erlaubt –, bis zu jener inneren Umfänglichkeit undVerwöhnung des Ueberreichthums, welche die Gefahr ausschliesst,dass der Geist sich etwa selbst in die eignen Wege verlöre und verliebteund in irgend einem Winkel berauscht sitzen bliebe, bis zu jenemUeberschuss an plastischen, ausheilenden, nachbildenden und wieder-herstellenden Kräften, welcher eben das Zeichen der g r o s s e n Ge-

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sundheit ist. (…) Dazwischen mögen lange Jahre der Genesung liegen,Jahre voll vielfarbiger schmerzlich-zauberhafter Wandlungen, be-herrscht und am Zügel geführt durch einen zähen W i l l e n z u r G e -s u n d h e i t , der sich oft schon als Gesundheit zu kleiden und zu ver-kleiden wagt. Es giebt einen mittleren Zustand darin, dessen einMensch solchen Schicksals später nicht ohne Rührung eingedenk ist:ein blasses feines Licht und Sonnenglück ist ihm zu eigen, ein Gefühlvon Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick, Vogel-Uebermuth, etwas Drittes,in dem sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben.23

* * *

So in der That erscheint mir j e t z t jene lange Krankheits-Zeit: ichentdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet, ichschmeckte alle guten und selbst kleinen Dinge, wie sie Andre nichtleicht schmecken könnten, – ich machte aus meinem Willen zur Ge-sundheit, zum L e b e n , meine Philosophie.24

* * *

I m G e f r i e r p u n c t d e s W i l l e n s . – »Endlich einmal kommt siedoch, die Stunde, die dich in die goldene Wolke der Schmerzlosigkeiteinhüllen wird: wo die Seele ihre eigene Müdigkeit geniesst und glück-lich im geduldigen Spiele mit ihrer Geduld den Wellen eines See’sgleicht, die an einem ruhigen Sommertage, im Widerglanze einesbuntgefärbten Abendhimmels, am Ufer schlürfen, schlürfen und wie-der stille sind – ohne Ende, ohne Zweck, ohne Sättigung, ohne Bedürf-niss, – ganz Ruhe, die sich am Wechsel freut, ganz Zurückebben undEinfluthen in den Pulsschlag der Natur.« Diess ist Empfindung undRede aller Kranken: erreichen sie aber jene Stunden, so kommt, nachkurzem Genusse, die Langeweile. Diese aber ist der Thauwind für deneingefrorenen Willen: er erwacht, bewegt sich und zeugt wiederWunsch auf Wunsch. – Wünschen ist ein Anzeichen von Genesungoder Besserung.25

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Die Langeweile gehört, wie mir scheint, nicht gerade zu den Leidender Leidenden; wenigstens fehlt mir alle Erinnerung dafür. Umgekehrtwar die böse Zeit meines Lebens reich für mich durch eine gewisseneue Erfindsamkeit – die Kunst der nuances, die feine Fingerfertigkeitin der Handhabe von nuances. Ich würde das raffinement überhauptverstehn als eine Verzärtelung des G e t a s t s bis in’s Geistigste hinauf;auch noch jene Art liebevoller Rücksicht und Vorsicht im Verstehn, dieKranken eignet, gehört dahin, – sie scheuen die allzu nahe Berührung… Man hört in diesen Zuständen selbst gemeine Sachen ungemein,man transponirt sie gleichsam: der Alltags-Zufall wird durch ein sub-limes Sieb gesiebt und sieht sich selber nicht mehr gleich.26

* * *

N u t z e n d e r K r ä n k l i c h k e i t. – Wer oft krank ist, hat nicht nureinen viel grösseren Genuss am Gesundsein, wegen seines häufigenGesundwerdens: sondern auch einen höchst geschärften Sinn für Ge-sundes und Krankhaftes in Werken und Handlungen, eigenen undfremden: so dass zum Beispiel gerade die kränklichen Schriftsteller –und darunter sind leider fast alle grossen – in ihren Schriften einen vielsicherern und gleichmässigeren Ton der Gesundheit zu haben flegen,weil sie besser als die körperlich Robusten, sich auf die Philosophie derseelischen Gesundheit und Genesung und ihre Lehrmeister: Vormit-tag, Sonnenschein, Wald und Wasserquelle verstehen.27

* * *

Gesundheit und Krankheit sind nichts wesentlich Verschiedenes, wiees die alten Mediziner und heute noch einige Praktiker glauben. Manmuß nicht distinkte Principien, oder Entitäten daraus machen, die sichum den lebenden Organismus streiten und aus ihm ihren Kampfplatzmachen. Das ist altes Zeug und Geschwätz, das zu nichts mehr taugt.Thatsächlich giebt es zwischen diesen beiden Arten des Daseins nurGradunterschiede: die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Har-monie der normalen Phänomene constituiren den krankhaften Zu-stand.28

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Gesundheit und Krankheit

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Gesundheit und Krankhaftigkeit: man sei vorsichtig! Der Maaßstabbleibt die Efflorescenz des Leibes, die Sprungkraft, Muth und Lustig-keit des Geistes – aber, natürlich auch, wie viel von Krankhaftem er aufsich nehmen und überwinden kann – gesund machen kann. Das, worandie zarteren Menschen zu Grunde gehen würden, gehört zu den Sti-mulanz-Mitteln der großen Gesundheit.29

* * *

Die Krankheit selbst kann ein Stimulans des Lebens sein: nur mussman gesund genug für dies Stimulans sein!30

* * *

D a s b e s t e H e i l m i t t e l . – Etwas Gesundheit ab und zu ist dasbeste Heilmittel des Kranken.31

* * *

Gesundheit meldet sich an 1) durch einen Gedanken mit weitemHorizont 2) durch versöhnliche tröstliche vergebende Empfindungen3) durch ein schwermüthiges Lachen über den Alp, mit dem wir ge-rungen.32

* * *

Ich habe mich oft gefragt, ob ich den schwersten Jahren meines Lebensnicht tiefer verpflichtet bin als irgend welchen anderen. So wie meineinnerste Natur es mich lehrt, ist alles Nothwendige, aus der Höhe ge-sehn und im Sinne einer g r o s s e n Ökonomie, auch das Nützliche ansich, – man soll es nicht nur tragen, man soll es l i e b e n … Amor fati:das ist meine innerste Natur. – und was mein langes Siechthum angeht,verdanke ich ihm nicht unsäglich viel mehr als meiner Gesundheit?(…) Erst der grosse Schmerz, jener lange langsame Schmerz, in demwir gleichsam wie mit grünem Holze verbrannt werden, der sich Zeitnimmt –, zwingt uns Philosophen in unsre letzte Tiefe zu steigen undalles Vertrauen, alles Gutmüthige, Verschleiernde, Milde, Mittlere,wohin wir vielleicht vordem unsre Menschlichkeit gesetzt haben, von

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uns zu thun. Ich zweifle, ob ein solcher Schmerz »verbessert«: aber ichweiss, dass er uns v e r t i e f t . 3 3

* * *

Freiwillig abseits, gelassen, gegen Ding und Zufall leutselig, denkleinsten Sonnenblicken der Gesundheit dankbar, den Schmerz wieeine Regel, wie eine Bedingung, wie etwas Selbstgewolltes anneh-mend, und mit listigem Zwang zu unseren Zwecken ausnutzend, aus-fragend.34

* * *

Eine Gesundheit voll unbegreiflicher plötzlicher Umdrehungen undFallthüren – ein tiefes Mißtrauen unterhaltend, und jede glücklicheStunde mit einem absichtlichen L e i c h t s i n n und Augenverschließenvor der Zukunft – sonst ist Glück nicht möglich.35

* * *

We i s h e i t i m S c h m e r z . – Im Schmerz ist soviel Weisheit wie inder Lust: er gehört gleich dieser zu den arterhaltenden Kräften erstenRanges. Wäre er diess nicht, so würde er längst zu Grunde gegangensein; dass er weh thut, ist kein Argument gegen ihn, es ist sein Wesen.Ich höre im Schmerze den Commandoruf des Schiffscapitains: »ziehtdie Segel ein!« Auf tausend Arten die Segel zu stellen, muss der kühneSchifffahrer »Mensch« sich eingeübt haben, sonst wäre es gar zuschnell mit ihm vorbei, und der Ozean schlürfte ihn zu bald hinunter.Wir müssen auch mit verminderter Energie zu leben wissen: sobald derSchmerz sein Sicherheitssignal giebt, ist es an der Zeit, sie zu vermin-dern, – irgend eine grosse Gefahr, ein Sturm ist im Anzuge, und wirthun gut, uns so wenig als möglich »aufzubauschen«. – Es ist wahr,dass es Menschen giebt, welche beim Herannahen des grossen Schmer-zes gerade den entgegengesetzten Commandoruf hören, und welchenie stolzer, kriegerischer und glücklicher dreinschauen, als wenn derSturm heraufzieht; ja, der Schmerz selber giebt ihnen ihre grösstenAugenblicke!36

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Die »Wehen der Gebärerin« heiligen den Schmerz überhaupt, allesWerden, Wachsen, alles Zukunfts-Verbürgende b e d i n g t denSchmerz; damit es die ewige Lust des Schaffens giebt, muß es ewig dieQual der Gebärerin geben … Ich kenne keine höhere Symbolik. – Erstdas Christenthum hat aus der Geschlechtlichkeit eine S c h m u t z e r e igemacht: der Begriff von immaculata conceptio war die höchste see-lische Niedertracht, die bisher auf Erden erreicht wurde z. B. – sie warfden Schmutz in den Ursprung des Lebens …37

* * *

Das Gewissen, insofern es wesentlich unlustvolle Empfindungen er-zeugt hat, gehört unter die Krankheiten der Menschheit.38

* * *

Das Christenthum in Sonderheit dürfte man eine grosse Schatz-kammer geistreichster Trostmittel nennen, so viel Erquickliches, Mil-derndes, Narkotisirendes ist in ihm gehäuft, so viel Gefährlichstes undVerwegenstes zu diesem Zweck gewagt, so fein, so raffinirt, so südlän-disch-raffinirt ist von ihm insbesondere errathen worden, mit was fürStimulanz-Affekten die tiefe Depression, die bleierne Ermüdung, dieschwarze Traurigkeit der Physiologisch-Gehemmten wenigstens fürZeiten besiegt werden kann. (…)

Man bekämpft (…) jene dominirende Unlust durch Mittel, welchedas Lebensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punkt herabsetzen.Womöglich überhaupt kein Wollen, kein Wunsch mehr; Allem, wasAffekt macht, was »Blut« macht, ausweichen (kein Salz essen: Hygienedes Fakirs); nicht lieben; nicht hassen; Gleichmuth; nicht sich rächen;nicht sich bereichern; nicht arbeiten; betteln; womöglich kein Weib,oder so wenig Weib als möglich. Resultat, psychologisch-moralischausgedrückt: »Entselbstung«, »Heiligung«; physiologisch ausgedrückt:Hypnotisirung, – der Versuch Etwas für den Menschen annähernd zuerreichen, was der W i n t e r s c h l a f für einige Thierarten, der S o m -m e r s c h l a f für viele Pflanzen der heissen Klimaten ist, ein Minimumvon Stoffverbrauch und Stoffwechsel, bei dem das Leben gerade nochbesteht, ohne eigentlich noch in’s Bewusstsein zu treten. Auf diesesZiel ist eine erstaunliche Menge menschlicher Energie verwandt wor-den – umsonst etwa? … Dass solche sportsmen der »Heiligkeit«, an

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denen alle Zeiten, fast alle Völker reich sind, in der That eine wirklicheErlösung von dem gefunden haben, was sie mit einem so rigorösentraining bekämpften, daran darf man durchaus nicht zweifeln, – siekamen von jener tiefen physiologischen Depression mit Hülfe ihresSystems von Hypnotisirungs-Mitteln in unzähligen Fällen wirklichl o s : weshalb ihre Methodik zu den allgemeinsten ethnologischenThatsachen zählt.39

* * *

E r p r o b t e r R a t h . – Von allen Trostmitteln thut TrostbedürftigenNichts so wohl, als die Behauptung, für ihren Fall gebe es keinen Trost.Darin liegt eine solche Auszeichnung, dass sie wieder den Kopf erhe-ben.40

* * *

Wo s i n d d i e n e u e n Ä r z t e d e r S e e l e ? – Die Mittel des Tro-stes sind es gewesen, durch welche das Leben erst jenen leidvollenGrundcharakter, an den man jetzt glaubt, bekommen hat; die grössteKrankheit der Menschen ist aus der Bekämpfung ihrer Krankheitenentstanden, und die anscheinenden Heilmittel haben auf die DauerSchlimmeres erzeugt, als Das war, was mit ihnen beseitigt werden soll-te. Aus Unkenntniss hielt man die augenblicklich wirkenden, betäu-benden und berauschenden Mittel, die sogenannten Tröstungen, fürdie eigentlichen Heilkräfte, ja, man merkte es nicht einmal, dass mandiese sofortigen Erleichterungen oft mit der allgemeinen und tiefenVerschlechterung des Leidens bezahlte, dass die Kranken an der Nach-wirkung des Rausches, später an der Entbehrung des Rausches undnoch später an einem drückenden Gesammtgefühl von Unruhe, Ner-venzittern und Ungesundheit zu leiden hatten.41

* * *

Wo m ö g l i c h o h n e A r z t l e b e n . – Es will mir scheinen, als obein Kranker leichtsinniger sei, wenn er einen Arzt hat, als wenn erselber seine Gesundheit besorgt. Im ersten Falle genügt es ihm, strengin Bezug auf alles Vorgeschriebene zu sein; im andern Falle fassen wirDas, worauf jene Vorschriften abzielen, unsere Gesundheit, mit mehr

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Gewissen in’s Auge und bemerken viel mehr, gebieten und verbietenuns viel mehr, als auf Veranlassung des Arztes geschehen würde. – AlleRegeln haben diese Wirkung: vom Zwecke hinter der Regel abzuziehenund leichtsinniger zu machen. – Und wie würde der Leichtsinn derMenschheit in’s Unbändige und Zerstörerische gestiegen sein, wennsie jemals vollkommen ehrlich der Gottheit als ihrem Arzte Alles über-lassen hätte, nach dem Worte »wie Gott will«!42

* * *

Wir gehen leichter an unsern Stärken, als an unsern Schwächen zuGrunde; denn in Bezug auf diese leben wir vernünftig, nicht aber inBezug auf unsere Stärken.43

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Vi e l s c h l a f e n . – Was thun, um sich anzuregen, wenn man müdeund seiner selbst satt ist? Der Eine empfiehlt die Spielbank, der Anderedas Christenthum, der Dritte die Electricität. Das Beste aber, mein lie-ber Melancholiker, ist und bleibt: v i e l s c h l a f e n , eigentlich und un-eigentlich! So wird man auch seinen Morgen wieder haben! DasKunststück der Lebensweisheit ist, den Schlaf jeder Art zur rechtenZeit einzuschieben wissen.44

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A r z n e i d e r S e e l e . – Still-liegen und Wenig-denken ist das wohl-feilste Arzneimittel für alle Krankheiten der Seele und wird, bei gutemWillen, von Stunde zu Stunde seines Gebrauchs angenehmer.45

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D i e K r a n k e n u n d d i e K u n s t . – Gegen jede Art von Trübsalund Seelen-Elend soll man zunächst versuchen: Veränderung der Diätund körperliche derbe Arbeit. Aber die Menschen sind gewohnt, indiesem Falle nach Mitteln der Berauschung zu greifen: zum Beispielnach der Kunst, – zu ihrem und der Kunst Unheil! Merkt ihr nicht,dass, wenn ihr als Kranke nach der Kunst verlangt, ihr die Künstlerkrank macht?46

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