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Alma Zombie

Der Weltuntergang wird in Haïti geprobt

Otto Hegnauer

Alma ZombieDer Weltuntergang wird

in Haïti geprobt

Otto Hegnauer

WAGNER VERLAGwww .w agn e r-ve rlag .d e

Ein Buch aus dem WAGNER VERLAG

Korrektorat: Sabine KoppUmschlaggestaltung: Wagner Verlag GmbH

Titelfoto: Sgrafitto von der Straße

1. Auflage

ISBN: 978-3-86279-033-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Rechte für die deutsche Ausgabe liegen beimWagner Verlag GmbH,

Zum Wartturm 1, 63571 Gelnhausen.© 2011, by Wagner Verlag GmbH, Gelnhausen

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Er übernimmt deshalb keinerlei Verantwortung und Haftung für etwa vorhandene Un-richtigkeiten.

InhaltsverzeichnisVorwort...................................................................................11

Geleitwort ..............................................................................13

Warum soll mein Buch Alma Zombie heißen?................15

Wo Naturgesetze Kopf stehen............................................18Feuer spuckte aus dem Meer. Haïti entstand................................18Wo das Wasser bergauf läuft und explodiert.................................21Spielfeld der Hexen, Teufel und Gespenster................................28Auch im karibischen Meer rumort Bermuda.................................35

Die Geschichte begann, als die Menschen kamen...........39Anakaona, die Indianerkönigin und die letzten Kaziken.............39Sie schnitzen ihre Zukunft................................................................57Die Sklaven erkämpfen die Freiheit................................................66Festungen gegen Napoleon..............................................................67Kaiser, Befreier und andere Franzosenschrecke...........................77Haïti im Krieg gegen Deutschland..................................................85

Zwischen Sonnenauf- & Sonnenuntergang......................93Der Fluch Damballahs.......................................................................93Die Zehen der Drachen und die Zähne der Krokodile...............98Hörst du die Farben, riechst die Musik?......................................101Motivation aus der Müllhalde........................................................105In Haïti ticken die Uhren anders...................................................107Haïti, kote w prale (Haïti, wohin treibst du)?..............................111Im Teufelskreis von Armut und Unsicherheit............................125

Wird das Unland ein Land?............................................................127Sonne über Cité Soleil.....................................................................130Auf den Bäumen lebt sich länger..................................................133Essbräuche im Hungerland............................................................137Was Alma Mater den Haïtis bringt................................................148

Schmunzeln ist besser als Weinen....................................152Das Schmunzeln nicht vergessen, selbst in der Hölle ..............152Es klingelt im Schuh........................................................................154Kopf ab dem Ammonshorn...........................................................156Die Hütte des Vogelscheuchers.....................................................159Madan Sarah schwatzt zuviel..........................................................162Warum man in meinem Garten Helm tragen musste................164Hexe im Weinglas............................................................................166Ich habe vergessen, wie sie heißen, meine Kinder.....................167Ich bin süchtig!.................................................................................170Ich bin ein Schmuggler von Kriegsmaterial!...............................172Oberste zu Billigpreisen..................................................................176Eulen unter meinem Bett und andere Tiergeschichten.............180Leichen wirbeln über Köpfe..........................................................185Bankgeschichten und Postschlendrian..........................................188Drogenbarone, fliegende Kisten und Meerjungfrauen..............199Tanzen auf gestohlenen Schienen.................................................202Sie können nicht schreiben, aber malen und singen!..................209

Der Weltuntergang beginnt hier und so..........................212Gonayiv, das immer wieder aus dem Schlamm aufsteht...........212Seuchen, Cholera & Co...................................................................214Apokalypse aus der Geldpresse.....................................................215

Goudou-goudou – 316.000 tot..........................................217

Nur der Himmel stürzt nicht ein...................................................217Überfall auf der Flucht....................................................................226So wird man Mensch der Woche!..................................................229Bankrott der UNO; Bürgerkrieg im Armenhaus........................233

Das letzte Wort....................................................................242

Vorwort

Haïti ist das letzte, wahre Wildwestland, geprägt von ei-ner unerhört reichen Geschichte und Kultur. Innerhalb der zweihundert Jahre seines Bestehens ist es von den Kolonialmächten und von 74 verschiedenen Herrschern ausgebeutet und kaum entwickelt worden, von der «Perle der Karibik», damals dem reichsten Staat der westindi-schen Inselwelt zum «Armenhaus Amerikas» herunterge-kommen. Alle, die je Einfluss hatten, hatten stets nur ei-nes im Sinn: den persönlichen Profit.

Spanier und Franzosen haben alles abgeholt, was an Gold und Edelhölzern zu holen war, und die Monarchen und Diktatoren haben durch Kahlschlag noch den Rest besorgt. Heute regieren Armut und Hunger. Haïti ist ein zeitgerafftes Modell der Welt.

Dieses Volk offenbart einen Schatz, der auch heute noch verniedlicht wird: einen unerhörten Reichtum an Kultur, genährt von indianischen und afrikanischen Ein-flüssen, die sich von der Sprache mit ihrer Literatur und Poesie über Tanz und Bildhauerei bis zur Musik und Ma-lerei erstreckt. In all diesen und weiteren Künsten hat es das haïtianische Volk zur Meisterschaft gebracht.

Demgegenüber haben Kahlschlag und Köhlerei be-wirkt, dass die Erosion und andere Teufelskräfte die Ber-ge verrunzelt und verwüstet haben, und auch Tropenge-witter helfen mit, die Insel zu einem Schauplatz regelmä-ßiger Katastrophen zu machen. Überschwemmungen und Erdrutsche hinterlassen immer wieder Tausende von Toten, und am 12. Januar 2010 wütete zu allem Unglück noch das größte Erdbeben, seit es Geschichtsschreibung gibt, und tötete Hunderttausende von Menschen.

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Ich durfte zwanzig Jahre lang Haïti als Paradies genie-ßen und habe aus dieser Zeit viele schöne und lustige Er-lebnisse beschrieben, aber auch die Schrecken des inferna-lischen Erdbebens, das mich alles kostete, was ich hatte, außer dem Leben. Aber das ist schließlich das Wichtigste.

Ich habe dieses Buch größtenteils vor dem Inferno geschrieben, sodass ich für bebenbedingte Änderungen um Verständnis bitte. Auch bitte ich um Verständnis, dass ich irgendwo abschließen muss – hier bringt jeder Tag neue Aufregungen. Ich bemühe mich, möglichst ak-tuell zu bleiben.

Mit meinen Geschichten versuche ich die, die meine Sprache verstehen, etwas zum Schmunzeln zu bringen. Schmunzeln auch in der Zukunft − Schmunzeln, was im-mer geschieht, denn Schmunzeln hilft leben, Weinen bringt nur den Tod.

Mein früherer Mitarbeiter und heutiger Freund Andre-as Lang hat mich bei der Herstellung dieses Buches sehr unterstützt; ich danke ihm überaus für die Geduld und Langmut, die er damit bewies. Großer Dank gebührt auch den Mitarbeitern des Wagner Verlags, speziell der Lektorin Sabine Kopp, für die sorgfältige Gestaltung dieses Buches. Ich danke auch meiner einheimischen Helferin Melissa und ihrer Familie für die Hinweise und Tipps, ohne die dieses Buch nicht möglich gewesen wäre, und für die Gastfreundschaft, die mir ihre Familie seit dem Erdbeben zuteil werden ließ. Und ich danke meiner Frau Rosita, die in der Schweiz blieb, um mir dort die bürokratische Fes-tung zu halten. Ich danke auch meiner ehemaligen Frau Anna, die eine gute Freundin blieb und mir immer wieder Wichtiges in der einstigen Heimat erledigte. Und ich danke all den treuen Lesern meiner Artikel aus www.swissfot.ch,

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speziell Klaus Sell und all den anderen, die mir über die schlimmsten Tage hinweggeholfen haben.

Geleitwort

Haïti steht für uns Europäer als karibischer Traum von Paradies und Schönheit; weiße Strände, türkisblaues Was-ser und freundliche Eingeborene dominieren ihn. Letzt-endlich verstärkten bereits die Literatur- und Filmklassi-ker «Roter Kosar», «Die Meuterei auf der Bounty» oder «Die Stunde der Komödianten» unsere Vorstellungen. Diese Augentäuschung nahm nie ein Ende, spielt doch die Werbung auf unerträgliche Weise mit unseren Fan-tasien und suggeriert ein Leben der Lust und Vollkom-menheit in dem betörenden Inselparadies.

Dieser wunderschöne Traum ist eine Illusion und die verheerende Wirklichkeit holt uns ein. Der in den Großen Antillen liegende Inselstaat befindet sich im Be-reich tropischer Wirbelstürme und geologisch über den Grenzen der aktiven karibischen und nordamerikani-schen Platten; Katastrophenmeldungen von Erd- und Seebeben und Hurrikane sind die Folgen.

Haïti besitzt eine ungewöhnliche Kultur und ist ein Land, das seinesgleichen sucht. Geprägt wurde es von besonde-ren spiritistischen Ritualen und einem überaus reizvollen Gemisch von afrikanischen, französischen, indianischen und spanischen Einflüssen in der Lebensart.

Nach der Kolonialzeit galt Haïti als eines der reichsten Länder der Karibik, heute ist es das ärmste Land der westlichen Hemisphäre.

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Otto Hegnauer lebt schon viele Jahre auf Haïti und hat uns alle mit seinem Wissen und Eindrücken sehr beein-flusst. Er schafft mit dieser sehr wechselvollen und beein-druckenden Erzählung über ein Niemandsland und seine Tragödie Raum zur Reflexion, aber auch Lebensfreude.

Geschildert werden eindringliche Begegnungen und Situa-tionen, die Besitz ergreifen von Herz und Fantasie und voller Authentizität stecken. Zwischen vielen Betrach-tungsweisen und Hintergründigem erscheinen deutliche Bilder vor uns und decken auf, was im Verborgenen lag.

Haïti mit seinem unglaublichen Zauber und Charme − man lauscht und begreift, Realität und Mystik bezwingen die menschlichen Schwächen und Erinnerungen und füh-ren zu einer veränderten Lebenseinstellung. Märchen sind auf Haïti an der Tagesordnung und verbinden Schmerz, Hoffnung und eine Vision.

Vielleicht sind wir Europäer gefragt, vielleicht können wir dazu beitragen Haïti zu helfen und zu heilen und viel-leicht sind wir das geeignete Medium und schaffen mit der nötigen Kraft, die Verbindung herzustellen, die ähn-lich dem Vaudou-Kult eine neue Zukunft für dieses ge-beutelte, aber wunderbare Land einläuten könnte.

Dieses Buch soll dazu beitragen, beschreibt uns wunder-bare Menschen, die nicht aufgeben und die Farben in ih-ren Herzen weitertragen.

Vielen Dank, Herr Hegnauer!

Hauke Wagner, Verleger

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Warum soll mein Buch Alma Zombie heißen?

Alma Zombie muss mein Buch heißen. Es schildert Leben und Überleben in Haïti, handelt von meinen Erlebnissen auf der Un-Insel und in dem Un-Staat, denjenigen vor, während und seit dem Un-Beben, das am 12. Januar 2010 innerhalb 35 Sekunden 316.000 Menschen dahingerafft und ebenso viele verstümmelt hat. Eine Million Bauwer-ke und Betriebe verwandelten sich in der halben Minute zu Schutt und Staub, so wie es göttliche Wesenheiten be-schlossen hatten – der Mensch sei aus Staub entstanden und falle wieder in Staub zurück, heißt es. Über Tempo und Zeitpunkt haben sie nichts gesagt.

Alma Zombie soll mein Buch heißen, weil dieses Ereig-nis auch MEIN Weltuntergang war und mein 60-Meter-Haus samt Aufzeichnungen und Manuskripten, drei Bi-bliotheken, allen Filmen, Fotos, hundert Fotoalben, Al-tertümern und unwiederbringlichen Schätzen zu Staub und Schlamm wurde, innerhalb 35 Sekunden. Der Geist der Alma ist unsterblich und lebt ohnehin weiter, die Hüllen werden irgendwann einmal wiedererstehen und lange nur leere Zombies bleiben.

Alma Zombie scheint auf den ersten Blick «Von A wie Alma bis Z wie Zombie» zu heißen, etwa wie «Haïti von A bis Z». Aber H wie Haïti liegt in der Mitte zwischen A und Z, wie das Herz in der Mitte zwischen Kopf und Fuß, so einfach ist ein Un-Land nicht. Analysen und Zer-risse von «Tatsachen» bleiben weitestgehend im Kopf, etwa im Wahrheitsfimmel der Regierungen und Universi-täten. Und einen Reiseführer für Wander- oder Gaspe-dal-Füße habe ich auf spätere Zeiten aufgeschoben, in welchen es einmal Karten, Wegweiser und Straßen geben

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wird. Mein Buch soll sich mit dem befassen, was es zwi-schen A und Z auch noch gibt, mit Gefühlen und Ge-schichten, auch solchen von Zeugen.

Alma Zombie muss mein Buch heißen, weil ich in mei-ner Jugend (und später) etliche Runden gründete, deren Alma oder Geister weiterleben, obschon sie eigentlich gestorben sind. Es sind meine ehemaligen Kinder. Ande-re haben sie wieder zum Leben erweckt, und wie Zom-bies arbeiten sie weiter und leisten Knochenarbeit für eine Idee.

Alma Zombie habe ich eigenwillig zusammengesetzt aus Alma und Zombie. Meine Sprache ist eben eigenwillig, so wie die Un-Insel und ich selbst, aber aus den Rückmel-dungen der Leser von 1001 Geschichten in www.swiss-fot.ch weiß ich, dass sie die meisten so lieben (mir unver-ständlich scheinende Helvetismen habe ich in Klammern mit sd. = Schwyzerdütsch «verdeutscht»). Jetzt weißt du auch schon, weshalb ich hier lebe und wofür. VON was, das läßt sich allerdings kaum sagen, denn bis heute habe ich alles gratis geschrieben. Mein Buch wird die erste Ausnahme sein.

Alma Mater ist lateinisch wie fast alles, was nach Kultur schmeckt, wie unsere Erziehung und unser Recht, das «westliche» System. Nur das Zahlensystem macht eine Ausnahme, und was sich daraus ergeben hat: Budgets, Bi-lanzen, Statistiken und andere Betäubungsmittel, denen ich nach meiner Pensionierung erfolgreich entfloh. Im al-ten Römischen Reich meinte man mit Alma Mater die Ideen und Wissen spendende, alles nährende Göttermut-ter. Man könnte auch sagen Mutter Erde, und schon wä-ren wir wieder beim göttlichen Stoff, dem am Anfang ei-ner Welle «nur» noch das Leben eingehaucht werden

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muss, bevor es sich schon wieder als fruchtbares Erd-reich im nächsten Tal sammelt.

Mater habe ich eigenwillig durch Zombie ersetzt. Als Zombie wird ein zum Leben erweckter Toter, ein «Unto-ter» bezeichnet. Er ist zu einer willenlosen Hülle gewor-den, der im Dienste eines Houngan-Zauberers steht und minderwertige Schwerarbeit verrichtet. So liest es sich im Lexikon, bei den echten Haïtianern ist es noch viel kom-plizierter. Tatsache ist, dass ich am 12. Januar zwar alles außer dem Leben verlor, aber kein Zombie wurde. Auf Umwegen brachte man mich nach Europa, wo ich am 12. April 2010 schließlich unversehens im Fernsehstudio gegenüber Frank Elstner saß und als «Mann der Woche» gefeiert wurde. Das ist zwar äußerst eigenartig, aber Tat-sachen sind eben eigenartig. Und eigenartige Momente genügen mir nicht, in meiner ungemein interessanten Wahlheimat einfach dahinzuvegetieren. Dort hat jeder-mann Angst davor, dass die Toten zurückkehren würden, was man in meinem Leben immer wieder glauben konn-te. Ich war bestimmt schon öfters ein Zombie, und da-von möchte ich in diesem Buch erzählen. Und ich möch-te mich ungern mit einem «Mann der Woche» begnügen, sondern ein Zombie bleiben. Und niemals könnte ich da-bei den wirklich Lebenden ein Leid antun.

Haïti selbst ist ein Zombie, denn das Land war nach dem 12. Januar lange tot, und seine Hüllen sind heute langsam am Auferstehen. Es benötigt jetzt unendliche Heerscharen von Geistern der Alma Mater, denn nur mit viel Bildung kann es aus den Problemen wieder aufste-hen.

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Wo Naturgesetze Kopf stehen

Feuer spuckte aus dem Meer. Haïti entstand

Neben den fürchterlichen Wetterangriffen aus der Luft ist auch der Boden nie zur Ruhe gekommen. Haïti liegt zwischen der 3.000.000 Quadratkilometer großen Karibi-schen Platte und der noch mächtigeren Nordamerikani-schen Platte, zwischen denen es zu Reibereien und Grenzkonflikten kommt, mit Erdbeben, Tsunamis, vul-kanischen und anderen Ausbrüchen und ständigen politi-schen Querelen zwischen den beiden Inselstaaten. Im Karibischen Meer klafft der 8.000 m tiefe Kaimangraben und es beginnt eine Vulkankette von Westen nach Osten, wo sie immer noch aktiv ist.

Haïti lag lange unter dem Meer. Dann war es Bühne eines intensiven Vulkanismus. Man findet erstarrte Lava-ströme, die sich über Dutzende von Kilometern ergossen haben. Die Quellen dieser Ströme waren aktive Vulkane, deren Spuren vielfach verschwunden sind. Besonders vor 250 bis 65 Millionen Jahren waren sie tätig, während die heutige Insel noch ungeboren war und am Meeres-grund schlummerte. Damals lebten Dinosaurier, Kopf-füßler und andere Untiere auf der Erde, die nach einer Theorie vor 65 Mio. Jahren durch einen Planetoi-den-Einschlag mit anderen damaligen Tierarten vernich-tet wurden; nach einer anderen Theorie hatte das Mas-senausterben vulkanische Gründe.

Der untermeerische Vulkanismus in den Antillen ging und geht weiter. Dass er zunächst submarin stattfand, ist an den Lava-Formen erkennbar. Einige Vulkane spien ihre Erzeugnisse später, als die Vulkane im Hegau bereits

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erloschen waren und sich bei uns die Alpen bildeten, während eine Reihe von kalten Eiszeiten und warmen Zwischeneiszeiten abwechselten; in den Tropen waren das Sintflut erzeugende Regenzeiten. Das Klima auf der Erde war damals wesentlich wärmer als heute. Nach dem Massensterben der großen Tierarten entwickelte sich eine neue Tier- und Pflanzenwelt, so wie wir sie heute kennen.

Der letzte Feuerspucker in Haïti war der Vulkan La Vigie westlich von Ville-Bonheur/Saut d’Eau. Er präsen-tiert noch heute die Kegelform mit Lavaströmen, vulka-nischen Bomben und anderen Zeugen. Zwischen den Lavaschichten eingelagerte Korallenkalke beweisen, dass der Berg während sehr langer Zeit aktiv war und zeitwei-lig wieder unter Wasser geriet. Nach dem Geologen Jac-ques Butterlin ist La Vigie ein Vulkan des «Stromboli-schen Typs», mit Auswürfen von Lavafetzen, Bomben, Schlacken und Aschen. Dies wird durch eine angenom-mene «Zwei-Phasen-Konvektion» begründet. Danach war im Schlot drin der Gasdruck größer als der Druck der sich über den Gasen befindenden, zähen Flüssigkeit. Die so entstandenen Gasblasen stiegen auf und rissen beim Zerplatzen an der Oberfläche Magmafetzen mit. Diese Entgasung brachte eine Erhöhung der Schmelztä-tigkeit mit sich, die Brühe sank wieder ab und bildete einen Kreislauf.

Seit einigen hundert Jahren spuckt La Vigie nicht mehr, und es steigen in Haïti keine Feuersäulen mehr ge-gen den Himmel. Die Erdkruste ist aber immer noch la-bil, und Erdbeben rütteln weiter. Sie bilden die Nachwe-hen des Vulkanismus. Starke Beben ereigneten sich 1842 und 2010, als viele Städte zusammenstürzten.

Die aktiven Feuersäulen haben sich auf die Kleinen Antillen verzogen, die aus Vulkan- und Korallengestein

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bestehen. Dort finden sich sechs aktive und elf erlosche-ne Vulkane, von denen der Mt. Pelé (1.397 m) von Marti-nique durch seinen verheerenden Ausbruch 1902 wohl der bekannteste ist. Teilweise ragen die auf untermeeri-schen Platten aufsitzenden Kuppen der Vulkankegel über den Meeresspiegel auf und bilden kleine Inseln.

Der wildeste und energischste Vulkan ist Soufrière Hills auf Montserrat südwestlich von Antigua und nord-westlich von Guadeloupe. Der gewaltigste Vulkanaus-bruch war hier vor 20.000 Jahren. Die letzten Phasen größerer Aktivität wurden durch vierhundertjährige Ru-hepausen getrennt. Die gegenwärtige Aktivitätsphase kündigte sich seit 1992 durch Erdbebenschwärme an. 1995 wurde bei einem Vulkanausbruch ein großer Teil der Insel verwüstet. Seitdem ist der Un-Berg wieder aktiv und kommt nicht zur Ruhe. Ein Großteil der Insel wurde evakuiert, Die Hauptstadt Plymouth wurde vollständig zerstört. 1997 kamen bei einem Ausbruch 19 Menschen ums Leben. Mehr als die Hälfte der damals 12.000 Ein-wohner verließ die Insel. Heute leben auf Montserrat noch 5.000 Menschen. Öfters muss die Umgebung eva-kuiert werden. Zwei Drittel der Insel sind aufgrund der Vulkanausbrüche Sperrgebiet. In weitem Umkreis auf See ist ein penetranter Geruch nach Schwefelwasserstoff wahrnehmbar. Ein Umkreis von 10 Seemeilen gilt als komplettes Sperrgebiet; die Sperrgebiete wurden zeitwei-lig gelockert, dann aber wieder gesperrt.

Aus einem Kegel des 914 Meter hohen Vulkans schießt eine Aschewolke acht Kilometer hoch in die At-mosphäre, also fast bis an deren Grenze. In zehn Kilo-metern Höhe fliegen Flugzeuge daran vorbei, zum Bei-spiel die Air France von Guadeloupe nach Haïti. Es war ein wunderbarer Anblick, auf den uns der Kapitän ge-

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bührend aufmerksam machte und aufpasste, dass er dem Ungeheuer nicht zu nahe «trat». Der Vulkan pustet Dampf und Gase in die Luft. An der Nordwestflanke des Berges ergießt sich ein Strom von Lava drei Kilometer weit den Abhang hinab. Eruptionen werden von Er-schütterungen des Bodens begleitet. Wann der Berg wie-der kommt, das wissen die Götter, vor allem der Gott der Vulkane, der bei den Griechen Hephaistos, bei den Römern Vulcanus hieß.

Die Urgewalt der Vulkane ist die imposanteste aller Naturgewalten. Sie lässt Berge und Inseln entstehen oder verschwinden, schießt Bomben und regnet Steine, macht Fels zu Flüssen, Wasser zu Gas, erschüttert Planeten und ganze Gestirne und kippt ihre Achsen – bleibt aber stets regional beschränkt und ist unbedeutend im Universum.

Wo das Wasser bergauf läuft und explodiert

Um nach Miragoâne zu gelangen, muss man zuerst einen einst heimtückischen Pass überqueren. Der Mone Tapion war für viele der hoffnungslos überladenen Brummer zu steil. Der einstige Festbelag wurde nicht gepflegt und zer-brach unter dem Schwerverkehr in Scherben und Schol-len. Das Trassee war vergleichbar mit einer Mondland-schaft oder einem Lavafeld, je nach Geschmack durch-spickt von Löchern und Stufen. Ein waghalsiger Fahrer mußte Glück und ein stabiles Fahrzeug haben, wenn er dieses nicht unterwegs bei all den anderen Autoskeletten stehen lassen und aussteigen wollte.

Eines dieser Fahrzeuge war ein für diese Strecke ZU modern ausgestatteter und zu langer Reisecar. Er stand

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während vieler Jahre am Straßenrand und gehörte bereits zum Landschaftsbild. Offenbar war sein Fahrer auch aus-gestiegen, aber nicht mehr gekommen; nach dem Glau-ben der Einheimischen hatte ihn ein Teufel geholt. Sein Bus blieb intakt. Und wie sich das für eine solche Gegend gehört, verbreiten sich magische Nachrichten wie Gift, und jedermann glaubte felsenfest, wer den Car berühre, den hole ebenfalls der Teufel. Also machte man einen möglichst großen Bogen um das Teufelsding, getraute sich kaum hinzuschielen, und der Car rostete friedlich vor sich hin, jahrelang.

Doch einmal kamen die Blauhelme, und das Wunder ist geschehen. Teufelscar und Straßenlöcher sind ver-schwunden, und die asphaltierte N #2 wurde auch hier durchgehend, weich wie eine Rollschuhbahn. Für Roll-schuhabenteuer ist ja auch ein prächtiges, langanhalten-des Gefälle gegeben. Zum Glück haben das die Roller-fans noch nicht entdeckt, aber Quads, Trikes und andere Verrücktheiten im Hungerland habe ich tatsächlich schon angetroffen.

Unversehens taucht die Straße unter, wir sind am Lac de Miragoâne angekommen. Hier geht es nur noch per «Schiff» weiter. Denn im Jahre 2008 ließen die verheeren-den Hurrikane Fay, Gustav, Hanna und Ike den Spiegel des Etang de Miragoâne um Meter ansteigen, und die ehemalige Seengruppe wuchs zu einem Riesensee zusam-men. Die Anschwemmungen aus den entwaldeten Ein-zugsgebieten haben das Ihre beigetragen. Jedenfalls be-stehen keine Abflüsse mehr und der Seespiegel steigt wei-ter, die N #2 tauchte unter und seitdem nicht wieder auf. Die Äcker der Kleinbauern mit Mais, Erbsen und ande-ren Bauernprodukten liegen unter Wasser, die Ernten sind zerstört.

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Dort, wo die Straße in die Fluten taucht, entwickelte sich ein neues Ladenquartier, ein neues Venedig. Und ein «Stadion» für Schaulustige, die sich zu Dutzenden ein-stellten und das Geschehen zur Belustigung anschauten, so wie etwa ein Fußballmatch oder einen Science Fiction-Film im Fernsehen. Denn einem solchen glich das Un-glaubliche, das sich hier abspielte, am meisten. Und alles gegen Eintritt, versteht sich. So begann die neue Wirt-schaft zu blühen, ringsum. Anstelle der Gondeln gibt es «Bwafouye», löcherige und wackelige Holzboote. Die An-wohner transportierten Gestrandete einzeln hinüber, in den Bwafouye oder auf dem Rücken, hoffentlich dorthin, wo die Straße wieder aufzutauchen beliebte.

Auch mich versuchten sie, mit Brachialgewalt auf eine «Fähre» zu zerren, und ich wollte doch nur ein Föteli knipsen und gar nicht hinüber. Als die Bootspassagiere das bemerkten, schrien sie Protest und wollten gleich zum Prügeln aussteigen, aber ich war schon unterwegs; das Boot hatte auch schon abgelegt und das Wasser war zu tief.

Das Gepäck je nach Menge in einem oder mehreren anderen «Booten», ein Teil davon pflegte drüben nicht anzukommen (fast wie bei den Boat People auf dem Weg nach Amerika). Auch wurde den ahnungslosen An-kömmlingen das Gepäck aggressiv entrissen, und ebenso grob kämpften die selbsternannten Träger gegenüber den Reisenden sowie auch unter sich um den Trägerlohn.

Hauptsache war, dass die Fährkapitäne und Diebe da-von profitierten.

Es gibt hier Fische, die sonst nirgends vorkommen als in dem See, «endemische» Fische, und in den Aquarien der Welt. Sie können hier auf die Aquarien üben. Die «Miragoâne-Gambusia» hat ihren schmucken Namen da-

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von. Der See ist auch berühmt-berüchtigt wegen seiner Hakenwürmer und Blutegel; selbst eine Ärztin erwischte beim Baden von dem Zeug.

Die Flutung läutete eine richtige Katastrophe ein, denn die Straße ist die einzige, die weiter zu den Städten der südlichen Halbinsel führt, der 250 km langen Tibu-ron-Halbinsel. Da gibt es neben einigen Spitälern sogar die eine oder andere Universität, Fabrik oder Hotelanlage. Ihre Stromaggregate blieben stehen, Treibstoff durfte Heli fliegen, die Preise explodierten, denn der Benjamin unter den Häfen, der von Miragoâne, ist naturverbunden und umweltbewusst. So akzeptiert er zwar Drogenschmuggler und Gelegenheits-Piraten, aber keine Supertanker.

Anfänglich versuchten todesmutige Chauffeure, das neue Gewässer zu durchqueren, viele ertranken, und ihre Camions blieben bei den Fischen. Die Straße wurde ge-sperrt, die Benzin- und Lebensmittelzufuhr in hilf- und hafenlose Südstädte wie Cayes war unterbrochen, die Be-völkerung rebellierte, die Blauhelme mußten wieder Frie-den schaffen.

Den ahnungslosen Ankömmlingen wurde das Gepäck aggressiv entrissen, und aggressiv wurde dieses unter den Dieben «aufgeteilt». Gepäckdiebstahl und Verkauf von Diebesgut waren ein neues Geschäft. Zuschauer, Witze- und Märchenerzähler, Musikanten und Unterhalter, Händler, Marktfahrer, Imbissverkäufer, Gelegenheitsdie-be, Boots- und Fährleute, Gepäck- und Personenträger, Rettungsschwimmer − waren die Jobs, die neu zu blühen begannen; im Erfinden von Geschäften sind die Haïti-Leute einfallsreich.

Rasch waren die Genietruppen der UNO zur Stelle, zum Glück waren die in der Nähe, und mit dem stolzen Namen «Genie» kann man wohl alle Probleme lösen. Mit

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schwerstem Gerät haben sie Berge versetzt, eine Notpis-te geschaffen, die für Schwergewichte und gute Fahrer gerade passierbar ist und den See über die Berge umfährt. Die andern, die stürzen einfach über die steile andere Sei-te hinunter, das geht am schnellsten.

So führt die steile Umfahrungspiste an zahllosen Pan-nen- und Unfallfahrzeugen vorbei auf die andere Seite des Küstengebirges und damit der gefährlichen Seenfalle. Das schafften beileibe nicht alle. Heute sind die schlimmsten Stücke asphaltiert und auch für Personen-wagen passierbar, wenn das die Motoren leisten. Denn die Steigung übertrifft jegliche Vorstellung.

Der Miragoâne-See oder Etang de Miragoâne ist, nach dem Azüey-See, der zweitgrößte See des Landes und wäre durch sein unmögliches Verhalten im Begriff, der größte zu werden, wenn der Lac d’Azüey nicht unter demselben Problem litte und ebenfalls wachsen würde. Wir haben hydrologisch begonnen und wollen so enden. Im Sinn und Geist der Alma Mater.

Die Hydrologen streiten sich, ob der Zufluss größer wird als der Abfluss, der innere Zuwachs oder die Ver-dunstung, das Wachstum durch äußeren Niederschlag oder innere Karstquellen, ob der Grund- oder Karstwas-serspiegel seine Grenzen nicht mehr kennt oder das Meer heimlich infiltriert, das Schwemmgut den Abfluss verstopft oder das Seebecken auffüllt und das Wasser verdrängt oder tektonische Hebel am Werkeln sind, was tut’s. Tatsache ist, dass die Seen zunehmen und die Stra-ßen verduften.

In den zahlreichen Karstgewässern steigt das Wasser in den kommunizierenden Röhren unter Druck sogar aufwärts und tritt aus Strom- oder Unterwasser-Quellen wieder aus. An der ganzen Nordflanke der Südkordillere

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sind zahllose artesische Quellen bekannt – vor einigen Ta-gen hat die Anbohrung einer solchen bei Léogâne sogar zu einer Wasser-Explosion mit Knalleffekt geführt, und es gelang bisher noch nicht, das herausschießende Wasser zu stoppen. Ist es nicht logisch, dass in einem Land, wo die einen Menschen vor detonierendem Wasser davonlaufen müssen und die anderen gar keins finden, wo die meisten nicht lesen und schreiben können und keine Schule besu-chen, und wo Wasser bergauf fließen und explodieren kann, Teufel und Geister regieren müssen?

Dass Haïti wie mit allen Gesetzen auch mit den Na-turgesetzen auf Kriegsfuß steht, wundert niemand. Nur ist nicht klar, warum. Auch der Azüey-See vor der domi-nikanischen Grenze, und jenseits der Grenze der Lago Enriquillo, eine Depression von einst Minus-Sechsund-vierzig Meter unter Meereshöhe, heute hat er es auf Mi-nus-Vierzig gebracht. Sie steigen unaufhörlich und setzen die Hauptstraßen unter Wasser, und niemand weiß warum.

Dass außerdem auch das Meer steigt, ist nicht nur ein haïtianisches Problem und hängt mit dem «anthropoge-nen», will sagen menschlich verursachten Klimaverderb zusammen. Aber auch das «richtige Meer» wird bis in hundert Jahren einige Millionenstädte ins Aquarium ver-setzen, das wird nochmals ein paar weitere Spendenaktio-nen absetzen.

Die Seen zwischen den beiden Inselrepubliken sind Reste einer ehemaligen Meeresstraße, die Hispaniola vor einer Million Jahren in zwei Inseln getrennt hatte, und liegen wie gesagt unter dem Meeresniveau. Sie sind die größten Seen des jeweiligen Landes und bestehen aus Salzwasser, wie es sich für rechte Meeresreste geziemt. Man nennt den Hoya de Enriquillo auch «Hispaniolisches

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Rift Valley», wie man den Ostafrikanischen Graben be-zeichnet. Und wie beim afrikanischen Vetter, so liegen auch im hispanolischen Graben mehrere Seen, davon zwei große. Der haïtianische Azüey-See ist 29 km lang, bis zu 10 km breit und bedeckt 170 km². Der Hagueyga-gon-See oder Lago Enriquillo ist sogar 42 km lang, bis zu 12 km breit und bedeckt 265 km².

Das Höherstreben des Azüey-Sees ist zu einem Pro-blem geworden. Die stark befahrene Hauptstraße von Port-au-Prince nach Santo Domingo wird immer mehr überflutet, muss fortwährend aufgeschüttet und durch Erdwälle gesichert werden, Uferpflanzen ertrinken im steigenden Wasser. Die Grenz- und Zollstationen liegen schon unter Wasser, die Zollgebäude auf der dominikani-schen Seite mussten evakuiert und weiter oben neu er-richtet werden. Dorf und Markt stehen teilweise unter Wasser.

Hinter den neuen, provisorischen Zollgebäuden, die noch nicht im Wasser stehen, sind Dutzende von Bau-maschinen geparkt. Sie sehen aus wie Rieseninsekten aus der Zeit der Saurier und anderer Untiere. Im Einsatz werden sie Felsbrocken und Schotter in ihre unersättli-chen Rachen kratzen, diese Lasten ein paar Meter weit an den Rand der ertrinkenden Straße tragen und sie an den Seerand spucken, um dessen ständige Ausdehnung einzu-dämmen.

Geologen aus den Inselländern und aus dem Ausland versuchen, das Phänomen zu erklären. Bisher vergeblich. Es mag sich um eine tektonische Hebung handeln. Sol-che können aus vielen Gründen erfolgen, zum Beispiel kann das durch die Eisschmelze zunehmende Wasserge-wicht der Ozeane Schollen im Meer tiefer drücken, was ausgleichsweise wie eine Hebelwaage eine andere Scholle

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«isostatisch» in die Höhe drückt. Hebungen und Senkun-gen der Schollen können auch ohne isostatische Störung durch horizontalen Zusammenschub oder Streckung in-folge Gebirgsbildung, Faltenschub, Bruchbildung, Bruch-dehnung, Ausziehen tieferer Schichten und anderswie be-wirkt werden. Auch Änderungen der Gleichgewichtsab-plattung der Erde, astronomische Änderungen der Erd-bewegung oder Verlagerungen der Erdachse und anderes mehr können Hebungen und Senkungen bewirken. Auch ein unterseeisch steigender Karstspiegel ist denkbar, und mehr.

Grabenbrüche sind gefährliche Gesellen. Die Erd-kruste zittert und lässt Feuer und Gase aufsteigen, die enormen Urgewalten verwandeln auch die Atmosphäre in einen Sturm- und Hexenkessel. Die Feuerausbrüche werden von Erdbeben begleitet, die den Ausbrüchen lan-ge vorausgehen und noch lang hintennach folgen. Die Beben wiederum sind so stark, dass ihre Erschütterungs-wellen oft vielfach den ganzen Erdball durcheilen und nach innen gespiegelt werden.

Die Erde atmet dauernd. Sie hebt und senkt sich, manchmal rumorend mit Beben oder gigantischen Feuer-werken, manchmal sich ruhig hebend und senkend wie der Brustkorb eines schlafenden Riesen. Lebensstärke ist schwer steuerbar.

Spielfeld der Hexen, Teufel und Gespenster

Als mein Haus in Gresye noch stand, wohnte ich zu-oberst in einem Türmchen, sd. = Türmli. Vor meinem Türmli lag der Warteraum des Prinzenhafens. Da trieben

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oft tagelang «herrenlose» Schiffe, nachts geisterten dort gespenstische Lichtspiele. Die Schiffe gaben ihre merk-würdigen Töne von sich. Dieselgeräusche, Hornstöße und mehr. Ein Frachter hornte sechsmal, statt nur drei-mal, in die Luft. Nach dreimal hätte er doch verschwin-den müssen, nach den Regeln. Nachts 6 × lang bedeute eben «Ungebetener Besuch an Bord, Crew-Alarm». Es gibt scheinbar immer noch Piraten.

Aber auch die Naturgesetze sind hier anders. Denn vor der Insel im Norden liegt das Bermudadreieck. Das machte in den Fünfziger Jahren wieder von sich reden. Da verschwanden viele Schiffe. Und sogar Flugzeuge. Und man fand heraus, dass dieses Dreieck schon zu Ko-lumbus’ Zeiten mystisch oder mindestens paratechnolo-gisch gewesen sei. Para-Tatsachen und Para-Geschichten waren IN, schon damals. Man dachte, und meint es manchmal noch heute, hier walten die Teufel. So nannte man das unheimliche Gebiet auch «Teufelsdreieck».

Dass Haïti am Südrand des Teufelsdreiecks liegt, gleich vor den Toren zur Hölle, ist wohl kein Zufall. Zwar ist per Definition das Bermudadreieck ein reines Seegebiet, doch wenn man großzügig auch das angren-zende Landgebiet mit einbezieht, gehört die Insel unwei-gerlich dazu. Dass diese wie das Seedreieck ein Spielfeld der Hexen, Teufel und Gespenster ist, wissen meine Le-ser schon längst.

Das Dreieck der Teufel ist ein berüchtigtes Seegebiet nördlich von Haïti. Das Gebiet wurde erforscht wie kein zweites der Erde, und wie kein zweites spottet es dem Be-griff «normal» denn auch Hohn. Alt-Haïti hat sich seewärts verzogen, Anomalien werden normal, das Wasser wird weiß, der Himmel wird schwarz, und die Magnetfelder spie-

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len verrückt. Hier muss Klein-Hänschen die Naturgesetze vergessen, so wie er sie in der Schule gelernt hat.

Tief unter dem Bermuda-Seegrund spukt offenbar noch Vulkanismus. Deshalb spinnt das Erdmagnetfeld. Magnetische Stürme treiben ihr Unwesen, und der Kom-pass kann vollkommen versagen oder wie verrückt her-umwirbeln, und jede Navigation wird unmöglich. Auch auf heutigen Luft- und Seekarten wird vor plötzlichen Störungen des Magnetfelds im Gebiet gewarnt. Schon auf Christoph Kolumbus’ Schiffen spielten die Kompass-nadeln verrückt. Und er berichtete von einer «Flamme, die auf’s Meer stürzte» und wunderte sich, warum. Ich wundere mich noch heute.

Die Theorie geht von der Einwirkung elektromagneti-scher Wellen auf die elektronischen Navigationshilfen aus. Dies dürfte bei Unfällen in den Fünfziger Jahren eine Rolle gespielt haben, da elektronische Navigationshilfen eine neue Erfindung waren. Die Flugzeuge des nacher-wähnten Flugs 19 zum Beispiel führten noch keine sol-chen Navigationshilfen an Bord.

Aus den vulkanischen Spalten im Meeresboden perlen ungewöhnliche Gase, Methanhydrat- und abartige Schwefel-, Strontium- und Lithium-Gase. Durch Seebe-ben und tektonische Bewegungen wird Methanhydrat in Methan und Wasser zerlegt und es kommt zu Methan-ausbrüchen, sogenannten Blow-outs. Das Methan steigt in unzähligen Bläschen auf wie in einer geschüttelten Sprudelflasche. Die Dichte des Gemischs liegt dabei weit unter der des Wassers, und das Wasser wird fast zu einer Gaswolke. Gerät ein Schiff über diese «Wolke», so hat es Pech. Es verliert seine Schwimmfähigkeit und sinkt im Augenblick, da der Auftrieb laut Archimedes zusammen-

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fällt. Es sackt sekundenschnell ab, ist gesunken und ver-schwunden.

Nicht genug damit. Beim Aufsteigen der Gasblasen entstehen durch Reibung mit dem Wasser elektrische La-dungen, fast wie in der Luft, die durch die Aufwärtsbewe-gung Strom und Magnetfelder erzeugen, welche das Auf-treten von Ausfällen elektrischer und magnetischer Gerä-te und Instrumente von Schiffen und Flugzeugen miter-klären. Kolumbus’ «Flamme, die auf’s Meer stürzte» und von Seefahrern erwähnte Explosionen in der Atmosphä-re mögen von Methangas stammen, das in die Lufthülle aufgestiegen ist und sich entzündet hat. Besonders heute, wo solche Entzündungen an Flugzeugmotoren erfolgen könnten; die dürften auch gleich das Verschwinden von Flugobjekten erklären. Sicher ist nur eines: Die Naturge-setze werden hier anders.

In der seismisch stark gestörten Region ist auch die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten sich überlagernder Wellen erhöht. Die Amplituden dieser Wellen potenzie-ren sich, sodass extrem hohe «Freakwaves» auftreten. Es ist wahrscheinlich, dass derartige Überlagerungen im Teu-felsdreieck aus geologischen und geophysikalischen Gründen vermehrt auftreten. Solche Wellen könnten das Verschwinden von Schiffen ebenfalls erklären.

Es folgen meteorologische Eskapaden. Die United States Navy warnt vor «Microburst-Stürmen», die mit un-glaublicher Gewalt und Geschwindigkeit hereinbrechen und weniger als fünf Minuten dauern können, wie ich es in Haïti auch schon erlebte. Auch sie könnten das Ver-schwinden von Schiffen und Flugzeugen verursachen.

Grausige Hurrikan- und Wirbelstürme mögen plötz-lich aus heiterem Himmel lospoltern und Unfälle verursa-chen. So waren beim 1940 gekenterten Schoner Glorisko

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die Segel zerfetzt und der Laderaum bis oben mit Wasser gefüllt. Ruder und Steuer waren zertrümmert. Zeitungs-berichte erwähnten schwerste Stürme, die zur fraglichen Zeit in der Region wüteten.

Infraschall bei hohem Wellengang in Stürmen löst bei Menschen und Tieren Panikreaktionen aus, ohne dass eine Ursache erkannt wird. Das erklärt nicht rational be-gründbare Reaktionen von Schiffsbesatzungen. Infra-schall breitet sich über große Entfernungen aus, sodass damit auch Havarien in Regionen mit gutem Wetter er-klärbar werden. Meine Leser erinnern sich der Kommu-nikation zwischen Walen in «meinem» Golf und solchen im Mittelmeer.

Das Dreieck der Teufel macht Schiffe und Flugzeuge zum Spielball der Hexen, Teufel und Gespenster. Die müssen eben herhalten, wenn Naturgesetze versagen. Das war seit jeher so, auch wenn der Name «Dreieck der Teufel» oder «Bermuda-Dreieck» erst kürzlich entstand. Seit Christoph Kolumbus haben sich hier verrückte Vor-kommnisse abgespielt. Trotz Radio, Radar und anderer Geburten und Missgeburten moderner Technologie.

Wir wissen jetzt vielleicht, warum in den Geschichten aus dem Bermudadreieck Schiffe und Flugzeuge spurlos bei besten Wetterbedingungen, ruhiger See und trotz er-fahrener Piloten und Mannschaften verschwinden. Auch verlassene, intakte Schiffe treiben herrenlos im Meer, während die Mannschaften verschollen bleiben. Sie ha-ben vielleicht in einer infraschall-generierten Panik das Schiff verlassen. Über das physikalisch Mögliche habe ich oben berichtet; das wirklich Geschehene ist historisch belegt; die tatsächlichen Ursachen bleiben wohl für im-mer Spekulation. Dass man ja nicht stets alles hinterfra-gen muss, habe ich schon öfters erklärt. Aber dass Versi-

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cherungen und Gerichte anders denken, ist auch klar. Wünschen wir ihnen viel Erfolg, und, hoffentlich, auch viel Geschmunzel!

1924 verschwand der japanische Frachter Raifuku Maru westlich der Bahamas. Sein letzter Funkspruch soll gelautet haben: «Gefahr wie ein Dolch, kommt schnell, wir können nicht mehr fliehen». Larry Kusche konnte in seinem Buch The Bermuda Triangle Mystery – Solved nach-weisen, dass das Schiff tatsächlich am 18. April 1925 nördlich des Bermudadreiecks auf dem Weg von Boston nach Hamburg in einem schweren Sturm verschwand.

Der am besten dokumentierte und meisterwähnte Vorfall ist Flug 19 (Flight 19), da hier gleich mehrere Flugzeuge der US-Luftwaffe untertauchten. Am 5. De-zember 1945 um 14.10 Uhr verließen fünf Bomber vom Typ Grumman Avenger den Marinestützpunkt Fort Lau-derdale in Florida zu einem Übungsflug. Nach mysteri-ösen Funksprüchen verschwanden die Maschinen plötz-lich von den Radarschirmen, und die großangelegten Suchaktionen blieben erfolglos. Zeugen gaben an, eine Explosion am Himmel gesehen zu haben. Manche schlie-ßen daraus, dass sich aufgestiegenes Methangas an den Motoren der Flugzeuge entzündet habe, was zu einer Verpuffung geführt haben könnte, der die Maschinen schließlich zum Opfer fielen. Ein Flugboot vom Typ Martin-Mariner wurde im Rahmen der gigantischen Luft- und Suchaktion nach Flug 19 ebenfalls unsichtbar. Es wurden weder Wrackteile gefunden, noch stieß man auf Lebenszeichen der Insassen. Bei der Suche stürzte auch das Suchflugzeug ab. Zum Glück drückte kein ebenfalls verrückter Präsident den roten Knopf, der die atomaren Abwehrraketen losgelassen hätte …

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Ein weniger militärischer Vorfall betrifft eine Passa-giermaschine vom Typ Douglas DC-3. Sie war am 28. Dezember 1948 mit 37 Personen auf dem Weg von Puerto Rico nach Miami. In seinem letzten Funkspruch habe der Pilot gesagt, die Maschine sei fünfzig Meilen südlich von Miami und er könne die Lichter der Stadt be-reits sehen. Kurz darauf waren Flugzeug und Passagiere nicht mehr vorhanden. Der hatte offenbar Probleme mit der Geographie.

1963 entschwand das Tankschiff Marine Sulphur Queen mit 39 Mann Besatzung. Der Tanker legte am 2. Februar 1963 in Beaumont ab, ein letzter Funkspruch kam am 4. Februar um 01.30 Uhr. Um 11.23 Uhr schlug ein Ver-such, Funkkontakt mit dem Schiff aufzunehmen, fehl. Zu diesem Zeitpunkt hätte es sich in der Nähe der Dry Tor-tugas, einer Inselgruppe im Golf von Mexiko befinden müssen. Als das Schiff nicht wie geplant am 7. Februar in Norfolk (Virginia) ankam, begann eine sechstägige Such-aktion, in deren Verlauf 350.000 Quadrat-Seemeilen abge-sucht wurden. Am 21. Februar fand ein Boot der US Navy ein Nebelhorn und eine Rettungsweste der Marine Sulphur Queen – zwölf Seemeilen südwestlich von Key West.

In der «normalen» Welt setzen Naturgesetze die Gren-zen des Möglichen. Im Teufelsdreieck sind die Naturge-setze außer Kraft, und alles scheint möglich. Gar keine Grenzen mehr gesetzt sind jedoch der Phantasie der Au-toren, denen eine Flut von phantastischer Literatur und Filmerzeugnissen zu verdanken ist. So leben zum Beispiel laut Ivan T. Sanderson (Invisible Residents, 1970) sogar Au-ßerirdische auf dem Meeresboden des Teufelsdreiecks. Sind Teufel nun irdisch, unter- oder außeridisch?

Hexen, Teufel und Gespenster spielen überall dort eine Rolle, wo Ereignisse mit bekannten Mitteln nicht

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mehr erklärbar sind. Aus meinen langen Erfahrungen im Türmli kann ich nur sagen, dass sich hier die Naturgewal-ten austoben wie nirgends – die können alles bewirken, alles erzeugen, alles vernichten. Die werfen sogar Natur-gesetze über den Haufen, schütteln sie mal tüchtig durch-einander, wie Flugzeuge über dem oder Schiffe im Ber-mudadreieck. Und dass das hier auf der Insel erst ein klei-ner Vorgeschmack ist von dem, was sich da draußen im offenen Meer des Teufelsdreiecks abspielt, liegt auf der Hand. Dass Haïti am Bermuda-Dreieck liegt, ist wohl kein Zufall! Und dass im Wilden Westen, heute im Tibu-ron, Hollywood-Reißer entstehen, auch nicht. Aber ich, ich bleibe bei der „Wahrheit“. Das ist mehr als genügend.

Auch im karibischen Meer rumort Bermuda

Erst jetzt nach Rückkehr von der Flucht ist es uns mög-lich, die eine oder andere Inlandreise unter die Räder zu nehmen, um nach dem Wahren zu sehen. Wir fragen auch die Leute aus, zum Beispiel östlich Jacmel. Die Schilderungen von Augenzeugen betreffen den 12. Janu-ar, kurz vor 17 Uhr, aber ich habe sie erst jetzt gesam-melt, und sie sind überwältigender als das Alte Testa-ment. Ich konnte Dutzende von Augenzeugen interview-en, aus allen Schichten: einen Lehrer, einen Hotelier, einen Straßeningenieur, Arbeiter, Gläubige, Ungläubige, Abergläubige & Cie. – sie alle bezeugen, dass hier drüben an der karibischen Küste ganz sonderbare Dinge gesche-hen seien. Gleichzeitig mit dem großen Erdbeben und unmittelbar danach. Dinge, die ich kaum glauben, ge-schweige denn begreifen kann. Soweit MEINE Wenig-

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keit. Und ob du das glaubst und was, das musst du selber entscheiden.

Sicher ist, dass keiner der Augenzeugen empfand, das sei ein «normales» Erdbeben. Alle glaubten im Moment an etwas wie Weltuntergang oder mindestens an den ei-genen Tod. Die ihn wirklich erleiden mussten, diesmal kann man ja kaum sagen «erlebt» – gehörten ja auch nicht mehr zu den Augenzeugen, den Zeugen schlechthin. So gaben viele an, wie der Boden «geschmolzen» sei, auf den Berghängen und in sich öffnenden Meerestiefen. Da nach meinem Wissensstand zu einem Schmelzvorgang ordentliche Temperaturen nötig sind und es zur Bildung passender Nebenprodukte kommt, glaube ich eher, dass es sich bei den scheinbaren «Schmelzvorgängen» um Ver-flüssigung, Entfestigung, Verschlammung und Versan-dung gehandelt haben mag, zum Teil unter erheblicher Spaltenbildung. – Und in diesen Bodenspalten sind denn auch mehrere Menschen vor Augenzeugen verschwun-den, beziehungsweise hinabgeschlürft worden in tiefere Schichten, wo der Mensch ja auch hergekommen ist.

Spalten und mächtige Risse hätten sich in der Falllinie an den Steilhängen der Berge gebildet, sodass ein hell ge-färbter Untergrund wie ein Zebrafell zutage trat. In die-sen Falllinien kam es auch zu Erdschlipfen. Riesige offe-ne Spalten hätten sich überdies am Meeresgrund gebildet, der längere Zeit trocken lag, als das Meer «zurückwich». Was ich da zu hören bekam, ließ mich erschaudern und eher an Hexenzauber glauben als an Natur, eher an die Küste des Bermudadreiecks als an die des Karibischen Meers, aber es wurde noch verrückter.

In den weißen Streifen und Rissen des «Zebrafells» an den Bergflanken rumorte es, die Landschaft ruckelte in zuckenden Bewegungen senkrecht auf und ab, Rauchwol-

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ken und Gasausstöße stießen gen Himmel; die einen glaubten an Rauch, andere sagten nein, es sei Nebel und wieder andere sprachen von Dreck und Staub. Jedenfalls rann die Erde tüchtig, diesmal aufwärts, man wähnte, die Hölle sei ausgebrochen, und viele glaubten an die Geburt eines Vulkans. Es roch auch nach Schwefel, Feuer und Rauch, Natura hatte die Düfte ihrer Apotheke geöffnet, und viele sahen «Feuerkugeln tanzen», oben auf den Ber-gen. Was ist hier Wahrheit? Sicher alles ist wahr!

Ich selbst habe schon etliche Vulkane besucht, auch ak-tive in den Tropen, habe auch schon etliches darüber ge-schrieben und Vorträge gegeben, aber so etwas habe ich noch nie gehört, geschweige denn erlebt. Das übersteigt nun wirklich jedes Verständnis, und ich kann all mein Schulwissen aus der Uni-Zeit glatt an den Hut stecken, das Gehörte so wenig erklären wie all die Unbedarften hier an der karibischen Küste. Und es sollte erst recht beginnen.

Nach dem Vorgeschmack der Hölle kam Poseidon und stahl Neptun die Show. Tsunamis waren jedermann schon hinlänglich bekannt, aber die bewegen sich «nor-malerweise» vom Meer aufs Land zu und umgekehrt, aber hier geschah es anders, wie alles am 12. Januar. Die erschrockenen Küstenbewohner wurden Zeugen eines Tsunamis von der Seite, der das karibische Meeresbecken von Osten nach Westen entleerte, bis der Meeresboden sichtbar war, wieder unter Spaltenbildung und «Schmel-zen» des Meeresgrundes (das Schmelzproblem ist diesmal «nur» ein sprachliches), die Fischer alle Riffe zählen konnten (und zuschauen mussten, wie einzelne noch dort fischende Boote mit Kollegen zerschellten), und während die Zuschauer an der Küste, wohl wissend, was jetzt fol-gen würde, in panischer Hast Anhöhen und Hausdächer erklommen, kam prompt die Gegenreaktion:

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Der Meeresgrund erhob sich im Westen haushoch und stülpte das Meer aus nach Osten, vor der Insel vor-bei gegen die Dominikanische Republik hinüber. In Haïti gab es kaum Tsunami-Schäden, wenn man von den Ver-schluckt-Verschlürften absehen will. Jedoch sei die Tsun-ami-Welle so hoch gewesen, dass sie drüben Leitungs-masten überschwemmt und mitgerissen habe, über die dortigen Opferzahlen hörte man nichts.

Was mich am meisten wunderte, dass die Küstenleute die Eigenartigkeit des Phänomens erkannt und schon eine Erklärung bereit hatten: das Epizentrum, was das ist und wo das lag, war ebenfalls schon durchgedrungen, habe eben diesmal nicht in der Meerestiefe gelegen wie bei einem normalen Tsunami, sondern liege auf dem Land, natürlich in Haïti, deshalb sei der Tsunami eben querab abgelaufen, und das seltene Schauspiel sei zustan-de gekommen, ohne große Zerstörungen verursacht zu haben. Ganz einfach, nicht wahr? Ob die wohl recht hat-ten? Wozu bin ich auch in die Schule gegangen?

Und, zu Frank Elstner gewendet: Schade, dass meine Einladung ins Fernsehstudio in Deutschland zu früh kam, denn erst DIESE neuen Erlebnisse wären so richtig «fernsehgerecht» gewesen! Und erst noch «wahr». Sicher ist jedenfalls, dass das Meer fast aus- und dann übergelau-fen wäre, und der Himmel fast Feuer gefangen hätte. Aber er wollte noch nicht brennen. Er hat noch andere Pläne, wieder einmal … Und sicher ist, dass es noch schlimmer war, als ich es aus der Bibel kenne. Aber wahrscheinlich bin ich nicht genug Bibelkenner, das ha-ben schon viele gesagt.

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Die Geschichte begann, als die Menschen kamen

Anakaona, die Indianerkönigin und die letzten Kaziken

Und sie kamen, die Menschen. Es waren indianische Boat People aus der Region Venezuela. Zu der Zeit hat-ten «wir» schon diverse östliche Hochkulturen überlebt, und zur Zeit grassierte gerade die römische. In Palästina war eben Christus geboren, und zwischen den dortigen Gefilden und Haïti konnten wohl nur Wale kommunizie-ren, sicher schon damals. Aber im karibischen Meer, da gab es bereits «Seefahrer», man kann zu ihnen auch «Boat People» sagen. Indianer aus Venezuela, sie hießen aber erst 1.500 Jahre später so und wussten, wie man mit Feu-erglut Baumstämme aushöhlt und zu «Gesellschafts-Ka-nus» schnitzt, oder zu Flößen zusammenbindet. Mit Stangen und Laken zimmerten sie auch Segel. Die Mu-tigsten segelten so herüber, und die nicht ertrunken und von Haien gefressen wurden, entdeckten die zauberhaf-ten Inseln der Karibik, 1.500 Jahre vor Kolumbus, mit ih-ren Pflanzen- und Bodenschätzen und einer damals noch reichen Tierwelt. Auch Fische gab es genug zum Essen; wie man das macht, wussten sie schon vorher.

Und sie wussten mit Zauber umzugehen, mit Bildern zu töten. Dass hier Skulpturen und Gemälde töten kön-nen und schon die Indianer solche als Mordwaffe miss-brauchten und zwar auf Distanz, ist nicht nur eine India-ner-, sondern wurde eine typische Haïti-Kuriosität und blieb das, bis heute.

Gleich neben den Krokodilen und den Iguanas, den vorsintflutlichen Drachen-Echsen der Geißen-Insel, liegt eine archäologische Schatztruhe, deren Besuch wir nicht

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verpassen sollten. Es ist eine der zahlreichen Fundstätten steinzeitlicher Ritzzeichnungen, Petroglyphen, wie sie in beiden Ländern gefunden werden, aber oft kaum er-kletterbar sind. Eine Kultstätte der Indianer. Steinzeitli-che Kultstätten entstanden an schwer zugänglichen Or-ten, in Höhlen oder hoch oben an Felsbalmen.

Auch hier hängen die Bilder hoch an den Felsen über der Straße und sind so vor ekligen Frevlern einigermaßen geschützt. Der Zugang kostet keine Pesos oder Dollars, aber ein paar kräftige Atemzüge. Die Forscher gehen da-von aus, dass die ersten Menschen um 2.500 v. Chr. be-gannen, Haïti zu besiedeln. Es waren die Taïnos, mit-telamerikanische Indianer, die sich von Venezuela aus in einer abenteuerlichen Reise in Einbäumen zur Insel Hi-spaniola durchpaddelten oder mit glücklichem Wind se-gelten. Als Boat People ein besseres Leben zu suchen mit dem Preis, vielleicht unterwegs zu ertrinken, das gibt es also nicht erst heute, sondern ist schon Jahrtausende alt.

Einbaum-Kanus wie damals sind auch zu dieser Zeit noch ein gemeines Verkehrsmittel, besonders in Tiburon, und herrliche Bilder nebst anderen Kunstwerken schaf-fen sie auch, heute wie damals. Die Motivation zum Kunstschaffen ist allerdings moderner geworden, ver-mutlich. Während die Inselleute heute zum Geldverdie-nen für die Touristen immerhin oft noch aus reiner Freu-de produzieren, waren es damals magische Symbole, etwa um die Fruchtbarkeit einer Geliebten zu steigern oder den Erfolg einer Jagd zu beeinflussen.

Gelehrte behaupten, gewisse Darstellungen würden das damalige Weltbild repräsentieren und dienten der Orientierung in Raum und Zeit. Zur Orientierung in der Zeit sei auch ein Mondkalender verwendet worden, wäh-rend die Sonnenbahn die Orientierung im Raum ermög-

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licht habe. Aber ohne in so hochgelehrten Diskussionen mitreden zu wollen, sei mir immerhin der Hinweis er-laubt, dass hier auch heute noch mittels Fotos andere Personen getötet oder verzaubert werden. Warum denn sollte dies nicht schon vor 2.000 Jahren Sitte gewesen sein? Einfach zeitgemäßer: mit Petroglyphen statt Fotos.

Aus den zuerst Eingewanderten wurden die friedlichen Arawaken, Sarawaken oder Taïnos, im Osten folgten ih-nen später die kriegerischen Kariben. In Haïti, wie sie die Berginsel im Westen nannten, blieben die Sarawaken und wohnten in Tälern in Pfahlbauten, auf Hügeln in Hütten, in Wäldern und Höhlen in Hängematten. Die Insel war bergig und voll tief eingeschnittener Flusstäler. Die Sara-waken drangen auf ihren Einbäumen den Flüssen nach in die Insel ein und «eroberten» sie friedlich, es war ja noch Niemandsland. So tief, bis hohe Wasserfälle Halt geboten. Da die Wasserführung unberechenbar schwankend war, standen die Niederungen fast stets unter Wasser. Deshalb bauten sie ihre Siedlungen häufig auf Pfählen.

Sie lebten von Fischen und Wassertieren. Sie kannten die Salzgewinnung aus Meerwasser wie auch das Feuer-drehen mit einem Holzstab bestens; auch die Gefahren des Verderbs und ihre Vermeidung durch Salzung, Luft-trocknung und Rösten waren altbekannt. Sie brauchten weder Kühlschränke noch Strom, das kam erst Jahrtau-sende später, wenn überhaupt.

Von den Flussniederungen aus stießen sie allmählich in die Urwälder vor, schlugen erste Rodungsinseln, lernten köhlern und Gemüse anbauen; der Ackerbau war geboren. Er blieb bis heute die Haupteinnahmequelle des Landes. Um die Äcker wuchsen Dörfer mit Flechthütten, die schließlich das ganze Land überzogen. Sie lernten Maniok anbauen und zubereiten, raffelten und pressten ihn und

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schufen daraus den nahrhaften Kassave. Zum Trinken ge-wannen sie herrliche Frucht- und Baumsäfte, zum Beispiel den Mabi, die ebenfalls keiner Kühlung bedurften.

Sie kannten und sammelten auch Nüsse, Früchte und köstliche Kräuter und Wurzeln, und die Männer stiegen bis hoch in die Berge und pflegten die Jagd; es gab dort noch einiges Großwild. Eine luftgetrocknete, geröstete oder ge-räucherte Speckschwarte war doch ein Leckerbissen.

Und was waren denn ihre Leckereien? Wenn Du jetzt ein indianisches Kochbuch erwartest, muss ich dich ent-täuschen. Ich wäre schlechthin überfordert. Aber dass die Sarawaken keine komplizierten und vor allem über-zahlten karibischen Cocktails kannten, muss ich kaum be-gründen. Herrliche und naturgesunde Getränke ohne Al-kohol und Eiskühlung, natürlich konservierte Fisch- und Fleischspeisen, Gemüse, Früchte und alle bekannten Vit-aminbomben, und selbst das Dessert mit einer Mango oder Kokosnuss fehlt nicht.

Zum Beten, Opfern und Verstecken zogen sie sich in Höhlen zurück. Hier sangen sie unheimlichen Abrakada-bra, artikulierten ihre Zauberformeln zu Sonne, Mond und anderen Naturgewalten und hielten Rat. Häuptlinge waren die Stammesältesten, die «Kaziken», mitunter auch Frauen. Das Gesellschaftssystem ist matriarchalisch auf-gebaut, zumindest in der Familie. Bis heute.

Auch wir kommen zum Dessert. Medien gab es noch nicht, das war die Gesellschaft, das Volk. Und das freute sich natürlich, genoss das Leben und spielte. Man rannte, man ruderte um die Wette, man hielt sich einen Hund oder ein Büsi, man spielte in Gruppen. Bei den Taïnos war das Batos-Spiel beliebt, eine Art Tennisturnier in Gruppen. Ein Tennisschläger hieß «Batos». Aber nichts war Geschäft; es floss kein Geld wie heute beim Tennis.

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Geld und Eigentum waren noch unbekannt, alles gehörte allen. Man teilte, man rechnete nicht.

Die drei Augen der letzten Indianer (Los Tres Ojos) heißt in Santo Domingo ein Indianerversteck. Hass, Blutrausch und Goldgier machten, dass sich die Indianer unter der Erde in Höhlen verstecken mussten. Mehr als eine Milli-on von ihnen wurde gehenkt, ertränkt, verbrannt, zu Tode gequält, von europäischen Seuchen dahingerafft, niedergemetzelt im Blutrausch der Christen. Der letzte Taïno-Häuptling, Hatuey, floh nach Kuba. Dort fingen ihn die Spanier mit Bluthunden wieder ein. Vor der Hin-richtung bemerkte er, lieber wolle er ewig in der Hölle braten, als im Himmel unter den Christen leben zu müs-sen, den grausamsten aller Menschen.

Jammervolle 16.000 Indianer haben auf der Insel überlebt. Sie flohen in den Untergrund, um ihre Haut zu retten. Oft waren das Höhlensysteme, die in Hispaniola häufig sind, selbst unter der heutigen Hauptstadt Santo Domingo. So wurden Los Tres Ojos, «Die drei Augen», zu einer Touristenattraktion und einem Nationalpark auf Stadtgebiet. Der unterirdische Brujuelas-Fluss speist mehrere Höhlenseen mit Süßwasser, die durch steil her-abführende Treppen, vorbei an bizarren Felsblöcken und Tropfsteingebilden, erreicht werden können.

Mit den «Drei Augen» sind drei unterirdische Seen ge-meint, eigentlich müsste es heißen «Vier Augen» da spä-ter noch ein vierter See entdeckt wurde. Der erste, zwan-zig Fuß tiefe See enthält schwefelhaltiges Wasser. Der zweite namens Nevera-See («Kühlschrank») ist mit 15 Grad Celsius ordentlich zu kühl für die Tropen. Der Women’s Lake (Frauen-See) ist der dritte und kleinste, wärmer und seicht. Ein vierter See misst dreihundert Me-ter und heißt Saramagullones-See, so genannt nach einer

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dort lebenden Entenart. Er wird mit einem Touristen-boot befahren.

Dass der Besuch des eindrücklichen Nationalparks nicht gratis ist, versteht sich von selbst und ist gerecht. Dass sich da aber nur spanischkundige «Höhlenführer» aufdrängen, die für ihr Geschwätz 10 US$ pro Person verlangen, das ist Abriss. Was die da erzählen, entspricht auch den Darstellungen in den Reiseführern: Bestimmt haben sich da die letzten Indianer für einige Zeit wir-kungsvoll versteckt, bei trinkbarem Wasser und essbaren Fischen und Enten, wurde doch der erste See von den Mulatten erst 1916 entdeckt. Wo hingegen im Gewirr scharfkantiger Blöcke und Travertinsäulen die Indianer eine bewohnbare Stelle fanden, bleibt mir ein Rätsel. Ich vermute, dass die Taïnos ihr Versteck doch häufig verlas-sen mussten und dann zu Freiwild wurden.

Die Indianer haben das Leben eigentlich erfunden. Aber das schert die Weißen nicht. Die wissen es besser.

Anakaona war eine geschätzte Königin der Sarawa-ken-Indianer, die in Haïti in der Nähe von Léogâne wohnte. Die sagenhafte Frau war nicht nur ein glänzen-des Beispiel für ein mustergültiges Matriarchat; sie war verheiratet mit einem Häuptling, der den Osten des Lan-des befriedete, während sie als hochgeachtete Führungs-persönlichkeit im Westen ihrer engeren Heimat wirkte.

Wie auch in der heutigen, politischen und wirtschaftli-chen Männergesellschaft erwies sich die sanfte Frauen-hand als geeigneter zum Regieren, weniger korrupt, Ge-rechtigkeit liebender und vor allem auf das Wohl des Volkes statt auf die eigene Tasche bedacht. Die Beliebt-heit der bildschönen Indianerkönigin geht schon daraus hervor, dass noch heute zahllose Schulen, Museen, Ge-schäfte und sogar Kirchen ihren Namen tragen. Jammer-

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schade, dass das den weißen Eindringlingen, die wie im-mer nur den eigenen Vorteil im Auge hatten, natürlich missfiel und der herzguten Königin kein langes Leben beschieden war. Die Heldin trat für das Wohl der Armen ein. Es konnte nicht anders kommen, sie wurde schließ-lich gehängt.

Aber schon waren in Wäldern und Höhlen Rebellen versteckt, die die Nachfolge der Sarawakenkönigin antra-ten. Es war vor allem der Kazike Enriquillo, französisch Henri, der sich für das Wohl der Indianer einsetzte und nach blutigen Schlachten das Joch der Kolonisatoren er-folgreich abschüttelte. Leider war die neugewonnene Freiheit nur von kurzer Dauer, denn die ersten spani-schen Siedler begannen, das Land zu bebauen, und die Franzosen folgten ihnen in Massen und auf der Stelle. Damit wurde Haïti zur bevorzugten Zuckerinsel, und aus dem Zuckerrohr entstanden Rum, Clairin und hochalko-holische Teufelsgetränke. Indianer gab es nicht mehr vie-le, und die Zeit der Sklavenimporte setzte ein. Damit war die alte Kultur der Indianer so ziemlich am Ende.

Die Urwurzeln Haïtis gehen auf die Indianer zurück. Nach der indianischen Vorspeise folgte der afrikanische Hauptgang. Frankreich räumte das Buffet ab. Für das Dessert blieb nichts mehr übrig. Die Kolonialmächte ha-ben ihre Untertanen «kolonisiert», das heißt nicht nur ausgebeutet, sondern auch «normalisiert», «kultiviert», majorisiert, alles nach Muster ihrer eigenen so fremden, fernen Staaten. Sie dachten wohl damals, es gäbe nur eine einzige «richtige» und «gute» Kultur auf dieser Welt: die ihre. Haïti hat sich vor zweihundert Jahren die Freiheit von den Franzosen selber erkämpft. Es ist leicht ver-ständlich, dass der Slangmix der einstigen Sklaven, das Kréol, Hauptsprache wurde und blieb, gepflegt wurde

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und sich höher entwickelte, bis heute. Von den französi-schen Ausbeutern ist die Sprache der «Elite» übriggeblie-ben und was zu Politik, Bildung und «Fortschritt» gehört, incl. die Missachtung der Minderheiten, manchmal auch der Menschenrechte. In allen Staaten, die aus ehemaligen Kolonien hervorgegangen sind, ist mindestens die Spra-che der Kolonialmacht übrig geblieben.

Mehr als Kuba hat Haïti eine tief verankerte Bindung zu den Kulturen der Vergangenheit. Da werden einmal die indianischen Urwurzeln hochgejubelt, drängen – be-sonders in der Provinz – z. B. in Form von Schul-, Stra-ßen-, Personen- und geographischen Namen immer wie-der an die Oberfläche wie etwa die taïnisch-sarawaki-schen Zungenbrecher «Azüey» oder «Hagüeygagon» für die größten Seen der Insel.

Die «Spaniolen» sind wieder verduftet, wie die India-ner, aber Groll und Verbitterung sind geblieben und sor-gen für gewaltsame Entladungen. Von den Dominika-nern hat die Elite wenigstens die Hautfarbe übernom-men. Sie wissen schon, dass das helle Mulattenbraun in Haïti als «Rouge» bezeichnet wird, die so Gefärbten sind dort falsche «Rothäute» und wirken auch als rotes Tuch. Haïti ist zweisprachig und wie keine andere Karibikinsel ein kultureller Mischtopf, und da könnte und müsste die Schweiz doch ganz viel beitragen, auch wenn es vorerst nur beratende Worte wären. Bloße Worte sind nicht im-mer gleichbedeutend mit leeren Worten.

Die Entkolonisierung der Staaten hatte nicht nur die Folge, dass die Kinder heute eine «rechte» Sprache ler-nen, manchmal als einzige, nämlich die der einstigen Ko-lonialmacht. Folgen sind auch, dass es dort überhaupt Schulsysteme gibt, dass die Knirpse gratis die Schule be-suchen können, dass die Einheimischen meist die Staats-

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bürgerschaft der einstigen Kolonialmacht erhalten und mit diesem Pass frei reisen und Arbeit suchen können. Sie haben weniger Minderheiten- und Rassenprobleme, haben sich, mit allen Vor- und Nachteilen, der «entwi-ckelten» Welt angepasst und den damit einhergehenden Kulturverlust akzeptiert, mehr oder weniger.

Feuer und Rad sind die wichtigsten Errungenschaften des Menschen. Wahrscheinlich war den Sarawaken-India-nern schon beides bekannt. Das Rad mag wohl auf die Töpferscheibe zurückgehen, und die ist so alt wie die Menschheit. Auch wusste man schwere Lasten seit jeher über Baumstämme und Rundhölzer zu rollen, um Di-stanz und Höhe zu gewinnen.

Das Feuer mag auf natürliche Brände zurückgehen, etwa durch Blitzschlag, deren Feuer man geflissentlich weiterpflegte und nicht mehr ausgehen ließ. Mit steinzeit-lichen Feuerzeugen, Drehhölzern und viel Geduld lern-ten die Menschen schließlich auch neues Feuer entfa-chen, und einmal bestehende Gluten wurden gehegt wie heute ein Goldschatz. Die Bedeutung eines guten Blas-vermögens blieb wohl nicht lange unbekannt.

Wenn das Feuer mal loderte, war der Schritt zum sie-denden Wasser und zum gerösteten Fleisch nicht mehr weit. Elektrizität und Kühlschränke lagen noch Jahrtau-sende weit weg und sind es heute noch, wenigstens hier. Wunderbarerweise wurde die Vernichtungsarbeit der Mi-kroben schon in ältester Zeit erkannt, und schon die Ur-Indianer entdeckten die Bedeutung der Lufttrocknung von Fisch und Fleisch, erlernten die Salzkonservierung und die Wirkung von Rösten, Backen und Kochen. Aus Holz und Bambus bauten sie alle erforderlichen Geräte.

Feuer diente zum Vernichten von und Schützen vor Mi-kroben, auch wenn man noch nicht genau wusste, WIE das

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funktioniert. Es genügte zu wissen, DASS es funktioniert. Also zum Haltbarmachen, zum Konservieren von Nah-rungsmitteln, nicht zum Wärmen. Warm essen war ohnehin ein Luxus, den man sich nicht zu leisten brauchte.

Heute weiß man, dass Mikroben nur mit Nahrung, Feuchtigkeit und Wärme leben können. Um Lebensmittel vor Verderb zu schützen, muss man ihnen die Drei weg-nehmen. Heute ist es vor allem die Tiefkühlung, die den kleinen Wesen die wichtigste Lebensbedingung entzieht. Die funktioniert in unseren Klimazonen in eisigen Fels-höhlen und mittels Strom. Beides ist in Haïti auszuschlie-ßen. Auch wenn die Zubereitung von Leckerbissen mit der heutigen Küchentechnik rascher geht, heißt das nicht, dass die indianischen Gerichte weniger lecker wären.

Der Entzug der Feuchtigkeit ist mit natürlichen Mit-teln schon eher möglich. Etwa durch Lufttrocknung, Sal-zen, Trocknen und Rösten über Feuer und Räuchern. Die Nahrung ist ja das gemeinsame Bedürfnis von uns wie auch den Mikroben. Da lässt sich weiter nicht viel machen, wir sind und bleiben eben Konkurrenten.

Auch wenn die Indianer den Genuss warmen Essens verschmähten, waren sie doch Meister des Genießens. Auch wenn sie mit dem Alkohol leider nicht umzugehen wussten, die Weißen hatten ihnen das Mengenproblem zu lange verschwiegen, kannten sie doch jede Menge von Genussmitteln: Sie verwendeten Hautcrèmes und Schnupftabak, saßen miteinander ums Lagerfeuer, tran-ken gemeinsam Wundergetränke und rauchten Zigarren, Friedens- und wohl auch andere Pfeifen.

Fische und anderes Meeresgetier sind eines der ältes-ten Nahrungsmittel des Menschen, auch eines der gesün-desten. Schon seit den ältesten Indianern leben normale Menschen davon. Doch ich war schon immer stolz, nicht

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normal zu sein. Mir gehen sowohl Geruch als auch Ge-schmack auf die Nerven, und schon auf meinen frühes-ten Abenteuer- und Entdeckungsreisen hatte ich gegen Schluckauf- und Brechreize zu kämpfen, wenn nur ein Occasionsöl einmal für Fisch & Co. verwendet worden war, ein Kochgefäß nicht sauber geputzt oder auch nur eine ferne unpassende Vorstellung in meinem wohl ver-dorbenen Hirn aufstieg.

Für mich gehören Fische in ein natürlich bepflanztes Aquarium und nicht in den Kochtopf, vielleicht ein Rudi-ment aus meiner Kindheit, hatte ich doch immer Freude an lebenden Wasserwundern und war lange ein begeister-ter Erbauer grandioser «Inhouse-Wasserlandschaften». Hier in Haïti liebte ich jahrelang ein Bananengebäck, das von Straßenhändlern verkauft wird, die «Bananes Frites». Bis eines Tages so ein Ding nach Fisch roch, vermutlich in einer Friteuse gebadet, in der vorher ein Fisch geröstet und das Öl nochmals verwendet wurde. Den Geschmack vergesse ich nicht, und nie mehr hatte ich seither Lust auf Bananes Frites, meine frühere Leibdelikatesse.

Gerechtigkeitshalber muss ich zugeben, dass ich durchaus kein Vegetarier bin. In den meisten Ländern könnte man das glauben, aber in einem guten Schweizer oder Franzosen-Restaurant, zu dem ich (berechtigt oder unberechtigt) Vertrauen habe, bestelle ich allemal gerne eine Portion rohes Rindfleisch, ein Beefsteak Tartare mit köstlichen Gewürzen, und esse das meistens auch auf. Essen ist eben Psychologie, Präsentation und häufig auch Farbkomposition.

Natürlich gibt es auch ohne Fisch, Sushi, Lambi, Mu-scheln, Wasserschnecken, Hummer, Krabben und wie die alle heißen, noch genug Delikatessen, auch für mich. Die Steinzeitfischer waren da bestimmt weniger sensibel.

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Da steigen mir Studentenerlebnisse aus Sardinien wieder auf. Die Lagunenfischer fischten dort mit Christusdorn- und Knochenangeln, zu Fuß, mittels eingestoßener Stö-cke als Angelträger oder aus Binsenbooten, die wegen Fäulnis jedes Jahr neu erstellt werden mussten.

Ein berühmter Schriftsteller schrieb damals: «Wie herr-lich, dass es so was noch gibt!». Die Situation war eher herrisch als herrlich, aber der romantische Autor merkte den Unterschied nicht. Denn es waren die Herren, die Großgrundbesitzer, die den Fischern gewisse Netze, alle Metallangeln oder richtige Holzboote, wie auch einen Schulbesuch der Kinder verboten, auch das Betreten der ganzen Fischereigebiete für alle Fremden war untersagt. Die Herren, die sich als Besitzer des Meeres wähnten, wollten die Armut bewusst aufrechterhalten, um von den Armen besser zu profitieren. Diese mussten nach jedem Fischgang an einem vorbestimmten Platz landen, und ein rechter Teil der Beute wurde ihnen abgenommen.

Gemäß gefundener Gemälde und Zeichnungen war auch für die Sawaraken- und Taïno-Indianer die Fische-rei, und was dazu gehört, der Hauptbroterwerb. Ich muss da immer wieder an das denken, was wir seinerzeit in der Primarschule über unsere Pfahlbauer lernten. Das Sara-wakenleben scheint sehr ähnlich abgelaufen zu sein. Zwar keine Binsenboote, aber Einbäume werden auch heute noch hergestellt und verwendet, für Einzelpersonen und ganze Gruppen. Wie beim Péligre-See, wo Taxi- und «Gesellschafts-Einbäume» die Personentransporte in die Dörfer jenseits des Sees auch für ganze Gruppen in sol-chen Dingern vornehmen.

Stets sind die Vehikel aus einem einzigen Baumstamm ausgehöhlt, zuerst mit Feuergluten, dann mit Nachschnit-zen verfeinert. Selbst die Sitzbänke sind nie eingesetzt,

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sondern aus dem selben Stück Holz herausgearbeitet. Nur die Paddel, Stachelstangen, Fischerei- und allfällige weitere Werkzeuge wurden separat hergestellt. Bei uns würde das zum Blickfang für jedes Museum.

Fischerboote und Fische in Haïti sind heute gefordert, wie alles in diesem Land. Die Einbäume werden wohl zu Fotomotiven und Touristenattraktionen, ähnlich den von Verkehrsvereinen bezahlten Geißhirten und Alphornblä-sern in Schweizer Höhenkurorten. Oder sie werden zu Event- und Abenteuer-Vehikeln oder zu Besucher-Taxis, man weiß es nicht. Doch für all das fehlen noch die Tou-risten. Auch die Fische müssen sich umgewöhnen, ent-weder als Schnorchler-Ziele oder Überlebens-Akrobaten, in einem Land, wo man selbst Trinkwasser zu Dollarprei-sen kaufen muss. Wir werden sehen. Sicher ist nur eines: So bleiben kann es nicht.

Eigentlich wollte ich von den Magdalenienmenschen schreiben, die vor x-tausend Jahren in den Höhlen der Pyrenäen ihre Haut so schön bemalt haben wie ein Picas-so, und schon landeten meine verrückten Gedanken bei der Streetparade in der Zürcher Bahnhofstraße. In den Bahnhofunterführungen von Frankfurt und Düsseldorf waren es zwar nicht die Felle, aber die Mauern und Flie-sen, die den Sprayern zu sauber waren, und bei den Punks und wie die heißen sogar die Hahnenkämme in schönstem Violett und Pfauenrad – einen Ausdruck, den ich durchaus auf Farbe und Form beziehe. Kunstvoll oder ekelhaft, was soll’s.

Eine Welt, die vielen nicht schön genug ist, Haare, die ihnen nicht bunt genug sind, und Haut, die verblasst ist und ihnen nicht sexy genug strahlt (man kann sie ja noch ölen …), und Brüste, die mit Plastik ausgestopft noch besser wirken … Nein, die Farb- und Formverbesserer

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sind nicht ausgestorben, sie verschlimmbessern sich schon seit der Steinzeit. Heute nennt man das vornehm «Body Painting». Das hält sich ein paar Stunden bis zu mehreren Wochen, und das ebenso modische Tattoo bleibt sogar permanent.

Damals allerdings ging es noch um andere Dinge, das zeigten auch die Sarawaken auf Haïti, vor fünfhundert Jahren noch. Die kunstvollen Hautbilder hatten einen Sinn, den wir oftmals nur noch erraten können. Magi-sche und religiöse Bedeutungen sind nicht messbar, etwa wenn Gläubige ihre Kultstätten mit Vévé verzieren oder sich zu Ritualen bemalen.

Kriegsbemalungen von Gesicht und Körper sind leichter zu deuten und bei «unentwickelten» Völkern auch weltweit üblich. Sie mochten dazu dienen, die eige-nen Leute leichter von den Feinden zu unterscheiden oder gegenüber den Gegnern zu drohen und Angst zu verbreiten. In diesem Sinn haben sie wohl mit den Uni-formen der Krieger vieles gemeinsam.

Fest- und Liebesbemalungen mochten dem Narziss-mus dienen, dem Sich-besser-darstellen und Verschönern. Was schreibe ich da «mochten»; man beobachte doch noch heute, wie lange viele Menschen oft vor dem Spiegel sitzen, immer wieder hineinschauen, einen Schminktupfer entfernen und durch einen kunstvollen neuen übermalen, ein Lippenrouge durch ein anderes ersetzen. Sie unterstrei-chen die Drohgebärden der Tiere, wenn man ihre kritische Distanz nicht respektiert. Sie ähneln etwa dem Fletschen der Zähne, dem Knurren eines Hundes, dem Trommeln oder Luft-Ohrfeigen eines Gorillas.

Aufgemalte Körperzeichen hatten einst magische Be-deutung, ein roter Tupf an einer bestimmten Körperstelle sollte eine anziehende Wirkung auf einen Wunschpartner

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auslösen, bei Höhlenmalereien musste ein auf Fels abgebil-detes Wild seine Erlegung bewirken oder mindestens un-terstützen, und bei vielen Menschen herrscht heute noch eine tief wurzelnde Furcht, fotografiert zu werden. Denn mit einem Foto in der Tasche könnte man ja von einem Kundigen vereinnahmt oder gar getötet werden.

Sie trugen die Farben gleich mit der Hand auf, oder gebrauchten Tierhaare, die sie an Stöcke banden, als Pin-sel. Die Pulver der farbigen Erdfarben, zum Beispiel Ocker, schwarzes Manganoxyd oder Holzkohle, ver-mischten sie mit einem Bindemittel, etwa pflanzlichen Ölen oder tierischen Fetten.

Die Körperbemalung galt als Maßstab für die Wert-schätzung innerhalb der Gruppe – ist das bei heutiger Schminkkunst anders? –, gab Auskunft über die Verdiens-te eines Mannes bei der Jagd und im Krieg. Rot war die Farbe des Krieges und symbolisierte den Erfolg, während Blau meist Niederlage und Schwierigkeiten verkörperte.

Körperfarben dienten als Schmuck bei Hochzeit und Festen, Bemalung bei Tod und Trauer, Kriegsbemalung zur Kennzeichnung und Steigerung einer furchterregen-den Erscheinung, Tarnung, Anonymität und Schutz vor äußeren Einflüssen, Dämonen und Magie, von der Er-oberung eines Wunschpartners bis zur erleichterten Erle-gung einer Jagdbeute, für medizinisch-hygienische Zwe-cke und als Schutz vor Krankheiten und Insekten.

Sie lebten ohne Goldzähne, ohne Goldschmuck, ohne Goldmünzen, -barren und Goldsäcke. Auch Gold zum Verkaufen kannten sie nicht. Sie lebten, sangen, beteten, tanzten und waren glücklich. Wie heute noch. Damals «besaßen» und verschenkten sie noch Gold. Eigentlich waren es ihre Flüsse, die das besaßen, denn Indianer ken-

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nen keinen Besitz. Besitz, der gehört allen, gehört der Natur. Sie teilen alles. Besitz ist zum Teilen.

Die Weißen dachten da anders. Dann gehörte eben ihnen, was «niemand» gehörte. Ihre Gegengeschenke wa-ren Alkohol, Zigaretten, statt Goldfieber richtige Fieber, Aids, Tuberkulose, Pocken und Rauschkrankheiten. Zum Beispiel. Die Spanier brachten ihnen auch den Alkohol-rausch und den Goldrausch, die schlimmste Krankheit überhaupt. Dagegen halfen weder Magie noch Blätter und Wurzeln. Dagegen «half» nur Gewalt und der Tod.

Gold ist ein Stück Natur. Es kommt in den Gesteinen vor, tief unter der Erde, nah bei den Epizentren. Durch Regen und Erosionskräfte werden die obersten Körner allmählich freigelegt, in der Größe von Sandkörnern. Und in den Fluss-Sanden werden sie talwärts geschwemmt. Die Goldsucher schöpfen den Sand in ihre flachen, getreppten Pfannen, dort schwenken sie ihn geduldig rundum, stun-denlang. Das Wasser ist am leichtesten und spritzt zu-oberst über die Ränder hinaus, die Sandkörner sortieren sich allmählich nach Schwere und bleiben in den verschie-denen Treppenstufen der Goldpfannen hängen. Die Goldkörner sind dabei die schwersten und bleiben deshalb zuunterst, während die oberen, leichteren sorgfältig wegge-kreiselt werden. Man arbeitet jetzt besonders vorsichtig, um ja kein Gold wegzuschwemmen, bis nur noch dieses übrig bleibt: reiner Goldsand.

Das dauert seine Weile, aber auch Goldwäscher sind noch nie über Nacht Millionäre geworden. Die Spanier jedoch, die sind es schon: Denn die haben Tausende zum Goldwaschen gezwungen, rund um alle Flüsse des Lan-des. Und ohne andere Beschenkung als die erwähnte. Et-was Hehreres als Gottes Lohn gab es ja nicht. Und sol-

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chen haben die Spanier genug gebracht. Dazu gehörte der Schlussakt, der Mord. Der König musste es ja wissen.

Draußen trommeln die Tamtams die ganze Nacht, und die Kakerlaken schreien, so könnte man glauben. Jetzt, nach dem Erdbeben, geschehen jeden Tag neue Wunder, Millionenstädte entstehen über Nacht, solche aus Zelten, und solche aus Holz. Nicht nur die Alteinge-sessenen, die überlebt haben und aus den großen Trüm-merstädten angeschwemmt wurden, Strandgut von ir-gendwoher, nicht nur die müssen glauben, sie spinnen. Wer das nicht von sich glaubt, der spinnt wirklich.

Sie wissen ja jetzt, zuerst waren die Indianer hier. Nur Indianer, und keine anderen. Dann – so wird behauptet – gab es die plötzlich nicht mehr. Ausgerottet, im Genozid durch die bösen Einwanderer, die alles ausraubten, die den Indianerinnen das Gold und die Jungfräulichkeit raubten, und sich vermischten – und dann die Afrikaner und all die andern. Heute gibt es nur noch Mischlinge, und alle glauben, alle andern würden spinnen, aber nur die andern.

Die Indianer hatten noch Häuptlinge, man nennt sie Kaziken. Die hatten alles im Griff. Dann kamen die afri-kanischen Stammesältesten, die europäischen Bürger-meister, die Gang- und Quartierchefs, die Bourgeois «& more». Heute weiß man nicht mehr oder noch nicht, wer das Sagen hat, wer da plant, ob das Land noch jemandem gehört oder nicht, wie und wo man bauen soll oder darf. Ein lieber Nachbar, während zwanzig Jahren in Gresye, soll jetzt wieder ein Haus bauen, ein zweites, aus Beton. Obschon niemand mehr aus Beton und Stein baut, in dieser Wackelzeit. Auch ich habe die neuen Millionen-städte aus dem Boden schießen sehen, schneller als Pilze. Solche aus Zelten, und solche aus Holz.

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Ich selbst bin ins Umfeld einer humanitären Hilfsor-ganisation geraten, die demnächst Holzhäuser verteilt. Zu Zehntausenden, angeblich. Ich habe in meiner Umge-bung in Gresye einige Dutzend Bauplätze gemeldet, von Besitzern total eingestürzter Häuser, die mit Holzhäus-chen zufrieden wären. Wem das Land gehört, was ge-plant ist, wie der Staat reagiert, den es gar nicht mehr gibt, weiß niemand. Aber mein Nachbar, der hat reagiert. Er dulde keine Holzhäuser in seiner Umgebung, das zie-he Arme und Diebe an, er kämpfe für Häuser aus Stein. Und baut weiter. Er glaubt, es seien immer noch die Ka-ziken, die das Leben bestimmen. Ich glaube das nicht. Er wurde schon zweimal angeschossen und operiert, er ris-kiert das ein drittes Mal. Denn er hat noch nicht gemerkt, dass der Wind gedreht hat.

Seine Frau wurde beim Hauseinsturz verletzt. Sie liegt in den USA in einem Spital und wird nicht wiederkom-men. Der Kazikennachbar hat sein erstes Betonhaus in einem Nachbardorf bereits für sich und eine Freundin aufgebaut. Damit Leben und Wirtschaft weitergehen. Vom zweiten hab ich erst gehört, es sei in Gresye im Bau. Ich selber wollte es mit einem kleinen Holzhaus probieren und mittendrin in Gresye bleiben. Vielleicht so, wie in der Schweiz die Hühner wohnen. Aber ich habe es nicht geschafft. In Gresye warten die Gemelde-ten immer noch, denen die Häuser eingestürzt sind, auch ich. Das Paradies habe ich zwanzig Jahre lang gekostet. Das hat genügt, nach Meinung der Kaziken. Ich bin im-mer noch bei einheimischen Freunden in den Schwarzen Bergen, und es schüttelt und bebt immer noch – am liebsten möchte ich nur noch eine Blätterhütte.

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Sie schnitzen ihre Zukunft

Dann gab es fast keine Indianer mehr, sie seien alle er-mordet worden, behauptet man offiziell. Ich glaube eher, sie haben sich vermischt. Sicher ist, dass jetzt die Afrika-ner kamen. Und die Afrikanerinnen. Eigentlich kamen sie nicht, sie wurden «gekommen». Sie waren auch Analpha-beten, aber sie hatten viel Kultur, sehr viel. Dass Anal-phabeten in «Entwicklungsländern» allgemein und in Haïti im Besonderen nicht mit Buchstaben, aber umso besser mit Worten und Geschichten, mit Stoffen und Farben, mit Rhythmen und Klängen umzugehen wissen, habe ich bereits erzählt. Als Dichter und Schriftsteller, als Maler und Töpfer, als Musiker und Sänger sind die ganz große Klasse. Spätestens unterwegs von der Hauptstadt nach Pétion-Ville hinauf fallen links und rechts der Stra-ße Scharen von Stein-, Metall-, Ton- und Holzplastiken auf. In den Souvenir-Läden von Pétion-Ville und im Flughafen gefallen denn auch die polierten Holzplastiken, die kleinen Kunstwerke der Schnitzkunst. Die sind zwar «extrinsisch» motiviert, aber es ist doch gut, dass ein paar arme Teufel so ein paar Batzen verdienen können.

Rein «intrinsisch», aus innerem Antrieb, erfolgt die Holzkunst an Bäumen. Die macht sogar vor lebenden nicht Halt. Viele stehen an den Straßen, die sind dem Tod geweiht. Denn sie stören den Verkehr in Pétion-Ville und bilden ein enormes Hindernis in der Stadt, die sich doch dem unerbittlichen Kampf gegen die Autostaus verschrieben hat. Also dürfen sich daran Hobbyschnitze-rInnen à gogo austoben (was ist doch Deutsch für eine schöne Sprache!).

Dass auch lebende Bäume beschnitzelt werden, zeugt zwar von der überkochenden Energie, aber nicht von all-

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zu viel Natur- und Feingefühl und würde drüben als Fre-vel bezeichnet. Mit dem Unterschied, dass die Baum-schänder dort Herzsymbole (die in Wirklichkeit wohl eher einen Po darstellen), Zahlen, sinnlose Gekritzel oder gar ihre Namen einritzen, sodass sie auch noch als Fre-veltölpel verewigt sind. Aber oft entstehen auch Werke der Volkskunst an lebenden Bäumen, einmal wird es wohl auch Baumzombies geben!

Petit-Goâve wurde 1663 von französischen Sklaven-händlern gegründet, liegt 70 km nördlich von Port--au-Prince und soll die älteste Stadt des Landes sein. Die Hunderttausend-Seelen-Feste war viele Jahre lang fast unzugänglich, da ein Hurrikan die Brücke über einen tie-fen Canyon fortgerissen hatte und niemand das Flickgeld zusammenbrachte, bis die Blauhelme auftauchten. Von Petit-Goâve aus verbreiteten sich immer wieder Auf-standsbewegungen gegen die jeweiligen Machthaber. In den Gemäuern der alten Festung findet man Waffen- und Seefahrtsrelikte aus der damaligen Zeit, die Gebäude selbst wurden zu einer romantischen Gaststätte umfunk-tioniert, in der Computerfans nicht einmal auf WiFi ver-zichten müssen. Als ich dort war und diese Geschichte tippte, war ich allerdings der einzige Gast, und das ist in den Hotels der Südhalbinsel der Normalzustand.

Wenige Meter außerhalb der Mauern liegt die Küste, auch die ist menschenleer. Das Wasser ist sauber, aber der Boden für mich zu steinig, um zu baden. So schaue ich mich zu Lande etwas um. Wie in einem Museum nur alte Einbäume, hier die einzigen Boote – neuere Modelle oder gar Motoren sind noch nicht eingekehrt. Ich habe auch schon Einbäume für mehrere Personen und Ein-baum-Taxis beobachtet.

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Hier in Petit-Goâve haben wir bei einem Halt rein zu-fällig ein besonderes Geschichtsbuch entdeckt, ein Ge-schichtenbuch aus Holz. Zuerst ist mir nichts aufgefallen, aber wieder einmal hat mir meine «Indianerin» die Augen geöffnet und viertelstundenlang Geschichten erzählt, die ich fast nicht glauben mochte. Die mich bewogen, so-gleich auch eine Geschichte zu schreiben, meinen Lesern das ebenfalls mitzuteilen. Der betreffende Baum ist zwar gefällt, ein Strunk blieb übrig, aber er lebt noch. Fast wie das Land selbst. Unten links sind grüne Blättchen zu se-hen, die vom selben Baum stammen – tatsächlich, er hat ausgeschlagen, er lebt!!! Vielleicht, in hundert oder tau-send Jahren, wird er wieder stolz dastehen, und die Ge-schichten der Holzbildhauer werden vernarbt und ver-gessen sein. Wie richtige Geschichte.

Die Holzbildhauer von Petit-Goâve aber, die haben hier etwas geleistet. Ich weiß nicht wann, vielleicht vor Jahrhunderten ein Mittel im Kampf um die Sklavenbe-freiung. Sie schnitzten ihre Geschichte auf einen Baum. Zuerst fällt – mir wenigstens – nichts auf, ein Strunk wie viele andere. Und ich muss zugeben, ich habe den Baum «durchgeknipst» und anschließend einige maßgebliche Teile auf dem Computer verstärkt, damit man sie besser sieht. Es soll ja meinen Lesern nicht gehen wie mir, der ich zuerst eine Indianerin brauchte, um mir die Augen zu öffnen.

Vorerst die «Totale», der ganze Baumstrunk. Die meisten erkennen nichts, auf den ersten Blick. Das Buch mit sieben Siegeln liegt offen, die ganze Geschichte nach der Überlieferung der Eingeborenen wird da geschildert, auf herrliche, analphabetische Weise. Ein Bilderbogen in Holz. Sicher könnte ein Fachmann, ein Völkerkundler, ein Historiker oder ein Ethnologe noch viel mehr entde-

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cken. Aber mein Anliegen war ja schon in der Uni, und blieb es bis heute, nicht Perfektion zu erreichen, sondern etwas zu erleben, Gefühle «rauszulassen». Und das lässt sich nirgends so gut wie in Haïti.

Und jetzt einige Einzelheiten, «Gros-Plans» nannte man das beim Film. Wiederum subjektiv ausgewählt, ich muss ja keine Schulnoten erreichen. Die lange rechtslasti-ge Wurzel ist umgestaltet zu einem Sklaven, der auf dem Rücken liegend ausgestreckt auf der Massen-Pritsche ei-nes Sklaven-Schiffs angekettet ist. Mit schweren Ketten an Hand- und Fußgelenken … Auf diese bestialische Weise wurden im 17. und 18. Jahrhundert jährlich 7–8 Millionen Sklaven nach Mittelamerika und der Karibik verschifft. Sie waren, mit Brandmalen gekennzeichnet, auf eng übereinanderliegenden Zwischendecks auf Mas-sen-Pritschen zu Hunderten untergebracht, und nur die Widerstandsfähigsten überlebten den fürchterlichen, wo-chenlangen Transport. Unter den Füßen ist deutlich er-kennbar das Transportziel eingeschnitzt, in Form einer Karte von Haïti.

Die nördliche und die südliche Halbinsel Haïtis, in der Mitte der Golf mit der Insel La Gonâve und am Ende das schreckliche Ziel, die Sklavenstadt Petit-Goâve. Hier hatten die Überlebenden die Chance, das Todesschiff zu verlassen und vielleicht nochmals davonzukommen, we-nigstens mit dem Leben.

Abermals wurden die Ärmsten an ellenlangen Stangen hintereinander angekettet und mussten so zum Sklaven-markt marschieren. Hier wurden sie in endlosen Reihen feilgeboten, ihre Muskeln von den Interessenten betastet, und die Gekauften führte man zu den Plantagen und an-deren künftigen Schinderstätten. In den Jahren nach 1800 gelang den Sklaven ein blutiger Aufstand, die Selbst-

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befreiung und die Ausrufung Haïtis als «Erster Freier Ne-gerstaat». Das nannten sie frei.

Die stillen Meister der harten Bürde schnitzten all dies in den Stamm. Sie selbst waren aus gutem Holz ge-schnitzt, auch wenn es einige Radaubrüder gab. Aber wo gibt es die nicht? Nirgends in der Welt hatten Menschen so viel Grund zu revoltieren, auch wenn bis heute ein Scherbenhaufen geblieben ist.

Die Holzkünstler von Petit-Goâve schnitzten nicht nur ihre Geschichte. Sie schnitzen auch ihre Zukunft. Sie schnitzten Einbäume, Schiffe, die sie in ihre Zukunft tra-gen sollten. Kanus aus einem einzigen Stamm, ohne ein weiteres Holzstück zu verwenden. Manchmal sogar mit-samt Querbänken, die nicht eingesetzt, sondern ebenfalls aus dem Stamm herausgehauen wurden. Die halten dicht, kein Tropfen Wasser dringt da ein. Nicht wie in den aus Latten zusammengesetzten Ruderbooten, die man stän-dig ausschöpfen muss. Sie werden mit Hilfe von schwe-lendem Feuer grob angehöhlt und dann ausgeschnitzt.

Einbaum-Kanus, wie sie in Europa die Pfahlbauer brauchten, und Jahrtausende später die nordamerikani-schen Indianer. Heute sind beides «entwickelte» Länder, und Einbaum-Kajaks gibt es dort nur noch in den Muse-en. Hier «leben» noch viele dieser Ur-Kanus, noch heute. Sie liegen nicht nur auf dem Strand von Petit-Goâve, sie wagen sich auch aufs Meer hinaus. Mit einfachem Paddel, oder sogar mit Segel, oder es treibt sie einfach. Sie wissen nicht wohin. Sie hoffen, in eine bessere Zukunft. Doch viele treiben in den Tod. Der kann ja nicht schlimmer sein als ein Hungerleben. Kanu ahoi, Glück für die Fahrt!

Ein Wunschziel der Boat People könnte USA oder gar New York sein. Zurück und vergessen die älteste Stadt voll unentdeckter Schätze und Kulturgüter. Als man mei-

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ne Knipserei an den Holzbildern entdeckte, bot man mir die Skulpturen sogar als Geschenk. Ich lehnte dankend ab; mir schauderte, dass man mögliche Schätze und Kultur ver-schenken wollte, schauderte beim Gedanken, die histori-schen Zeugen könnten in den Händen eines Auktionators in New York landen. Während die Urheber der Schätze New York nie erreichen würden und ihre Probleme geblie-ben wären. Dann hätte sich an den freigiebigen Insulanern das Schicksal schon wieder erfüllt, das ihnen schon Kolum-bus und dann die französischen Sklavenhalter bereitet hat-ten: Sie wären erneut ausgenommen worden.

Aber es kam noch schlimmer. Im Westen Hispaniolas übernahmen die Franzosen das Regiment und verdrängten die Spanier nach dem Osten. So entstand eine zweirassige Insel, auf der heute dominikanischen Seite wüteten die Spanier mit ihren verbliebenen versklavten Indianern, so-dass dort die helleren Mulatten entstanden, die westliche Seite wurde von den noch gierigeren Franzosen ausgebeu-tet, die die Hauptschuld tragen am heutigen Debakel.

Westafrikaner aus verschiedensten Staaten wurden zu-sammengetrieben, in Ketten gelegt und nach der fernen Berginsel Haïti entführt. Dies, damit sie sich nicht verste-hen sollten, denn in Afrika sprach jeder Stamm seine ei-gene Sprache, und wenn sich die Gefangenen nicht ver-stehen und unterhalten konnten, gab es auch keine Auf-stände. Glaubte man wenigstens. In Wirklichkeit entwi-ckelte sich dennoch eine neue Sprache, eine Art haïtiani-sches Esperanto, das «von allen» verstanden wurde, mehr oder weniger. Diese neue Sprache nannte man «Kréol», eine Bezeichnung, die übrigens auch andernorts auf der Welt Eingang fand, stets für Mischsprachen einge-schleppter Afrikasklaven mit denjenigen der bisherigen Kolonialmächte, besonders der Franzosen.

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Ihr unsägliches Leiden war nicht zu Ende. Je nachdem mochte es noch monatelang dauern, und die armen Op-fer hatten keinerlei Einfluss auf ihr Schicksal. Wenn es dem rüpelhaften «Besitzer» zu lange dauerte, seine «Ware» loszuwerden, wurden die Ärmsten einfach liqui-diert. Was das in jenem Umfeld hieß, mag sich jeder sel-ber vorstellen. So schnitzten sie ihre Geschichten auf Baumstämme, die heute noch gefunden werden.

Schiffsweise wurden die Afrikaner auf diese bestiali-sche Weise auch nach Nordamerika verschleppt, das kaum eben entdeckt war. Es gibt keine verlässlichen Sta-tistiken über die teuflischen Machenschaften unserer wei-ßen, hochkultivierten und erst noch christlich-religiösen Vorfahren. Es gibt immerhin einige Mönche und andere Chronisten, die übereinstimmend nur von Scheußlichkei-ten und Tausenden von Opfern berichten.

Dass nicht alle für Nordamerika vorgesehenen Trans-porte ihr Ziel erreichten, können Sie weiter unten gleich lesen (Royale-Dahomey), die Inselleute in Haïti betrieben eben gern auch Piraterie. Manchmal sogar zum Glück der gestohlenen «Beute», denn die für die USA vorgesehe-nen, jetzt gestohlenen Afrikaner durften fortan in Haïti arbeiten und entgingen so für immer der Sklaverei.

Zu Tausenden warteten in den verschiedenen Skla-venhäfen die Angeketteten auf ihre «Befreiung» durch die Käufer. Vor allem wurden sie in die zahllosen Zucker-rohrplantagen verteilt. Und die dienten ja schon damals nicht dazu, um vorwiegend Nahrungsmittel zu produzie-ren – wie Zucker und sogar Melasse, sondern Suchtmit-tel, denen ich, zugegebenermaßen, auch nicht abgeneigt bin, aber in nützlichem Maß. Heute kommt die Ethanol-produktion, also die Fütterung der Autos der Reichen dazu, die die Nahrung der Armen verschlingen.

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Die Sklaverei in den dominikanischen Rohrfeldern ist noch heute gang und gäbe, arbeiten dort doch ausschließ-lich papierlose Haïtianer unter sklavenähnlichen Umstän-den. Dazu kommen die Schindereien auf fast allen Bau-plätzen, die ebenfalls von illegalen, kaum bezahlten haïtia-nischen Arbeitskräften vollführt werden. Man wird das Gefühl nicht los, dass dort drüben nur Haïtianer arbeiten, und sich die arbeitsfaulen Dominikaner auf ihrem Rücken nur vollkassieren. Allerdings – nicht nur dort …

Je nach Eignung und Neigung konnten die Sklaven früher allmählich einige Berufe erlernen: Schuhmacher, Schreiner, Maurer, Schmied oder Kindermädchen. Ein besonders Begabter lernte sogar europäische Geige spie-len. Die «Erste Geige» war es allerdings nicht.

Für außerordentliche Leistungen wurde hie und da ein besonders Glücklicher mit der Freiheit beschenkt. Aber erst um die 19. Jahrhundertwende setzten die haïtiani-schen Leibeigenen ihrer unrühmlichen Lebensart ein Ende, und der blutige Aufstand gegen die Kolonialmäch-te begann und gelang. In anderen Ländern, vor allem in den USA, gingen die miesen Verhältnisse noch jahrzehn-telang weiter. Und auch in Haïti ist der faktische Unter-schied zum Leben von heute nicht groß.

In Lebensverhältnisse wird man bekanntlich hineinge-boren, ungefragt und unfreiwillig. In eine Hautfarbe, in eine Zeitepoche, in ein Land, in ein Elternhaus, in eine Kultur und in anderes mehr. Nach «Gerechtigkeit» wird da nicht gefragt, die ist ein Konstrukt unseres Hirns. Mit außerordentlichen Leistungen kann ein Ausbruch aus dem Geburtsumfeld gelingen, etwa in der Kunst, im Sport, mit geistig-beruflichen Leistungen oder mit Geld und Heirat. Liebe ist schwer überprüfbar, Ehe- und Sex-geschäfte treiben skurrile Blüten, einerseits um zu Mün-

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zen zu kommen, anderseits um aus den miserablen Ver-hältnissen auszubrechen. Und schon sind wir wieder beim Thema.

Schmutzgeschäfte jeder Art werden vermittelt, von gekauften Scheinheiraten bis zu Drogen- und Menschen-handel, skurrile Sexspiele, Handel mit Menschen, sogar Kindern, Animierjobs zur Konsumation teurer Getränke, Schwarzarbeit mittels Unterbezahlung der Opfer, alles wird erfunden, um aus einer nicht lebenswerten Umwelt herauszukommen, auf der anderen Seite um leichtes Geld zu machen. Familien und Clans steuern zusammen, Haus und Boden werden verkauft, um einem Mitglied die Aus-reise zu ermöglichen, das nach «Erfolg» für die Existenz der ganzen Sippe zu sorgen hat. Der nachfolgende psy-chisch-soziale Druck auf die Opfer ist so immens, dass viele gar nie mehr zurückreisen wollen zu ihren Familien, weil sie deren Bedingungen nicht erfüllen können.

Das alles ist Sklavenarbeit. Sklavenarbeit ist keines-wegs ein Merkmal der Vergangenheit. Sklavenarbeit ge-winnt mit Bevölkerungsexplosion und Globalisierung an Aktualität, jeden Tag. Sklavenarbeit ist ein Stück unbewäl-tigte Menschengeschichte. Sie hat mit Rassendünkel zu tun. Das zieht sich von den Nubierinnen Ramses’ durch bis zu den Kriegsgefangenen Hitlers, und ist auch bei den heutigen «Rouges», den hellhäutigen Inselbewohnern Haïtis, nicht anders. Was muss geschehen, um ein paar tausend Jahre Kulturgeschichte zu korrigieren?

Die Franzosen hatten eben die Zuckerrohr-Plantagen und anderes entdeckt, und die waren arbeitsintensiv. Und mit unbezahlten Arbeitskräften ließ sich Geld machen. Zur Arbeit wurden sie gezwungen, die französischen Aufseher wussten schon wie. Trotz der «Rekrutierung» der Sklaven aus verschiedenen Sprachgebieten war es

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doch zum Aufstand gekommen. Begreiflich, dass die schwarzen Sklaven um die 19. Jahrhundertwende das fran-zösische Joch gewaltsam abschüttelten und die Weißen umbrachten, die sich nicht retten konnten. Nicht wenige Sklaven und Sklavinnen hatten es jedoch zu einem guten Herrn oder einer guten Herrin gebracht, und sie wurden Eheleute und Neureiche. Sie hatten eben das teuflische Spiel der weißen Werte erlernt, die da heißen «Geld und Gewalt», und ihre altehrwürdigen Werte vergessen.

Die Sklaven erkämpfen die Freiheit

Was in der «entwickelten» Welt üblich war, ließen sich die Haïtianer nicht gefallen. In Toussaint Louverture fanden sie einen fähigen Führer für ihre Revolution. Toussaint war ein Sklave aus Cap-Haïtien. Von einem Priester hatte er lesen und schreiben gelernt. 1777 bekam er die Frei-heit und begann zu politisieren. Mit Erfolg setzte er sich für die Befreiung der Sklaven ein und brachte es bis zum General beim französischen Gouverneur.

Doch im August 1791 rief er die Sklaven zum Auf-stand auf. Im Verlauf der Haïtianischen Revolution kam es zu Massakern an der weißen Bevölkerung, zur mehr-maligen Abschaffung, Wiedereinführung und erneuten Abschaffung der Sklaverei, zur französischen Invasion der Insel, zur Vertreibung der französischen Truppen durch die schwarzen Generäle und zu weiteren Schre-ckensaktionen, die von den Franzosen nicht hingenom-men wurden.

1802 legte er sich mit den Franzosen an, die seine Forderungen für die Rechte der Schwarzen nicht erfüllen

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wollten. Noch im selben Jahr vertrieb er die Franzosen von der Insel.

Jetzt trat Napoleon Bonaparte gegen ihn an und sand-te seine Truppen nach Haïti. 1802 geriet Toussaint in Ge-fangenschaft und wurde nach Frankreich deportiert. In der Schreckensburg von Fort de Joux bei Pontarlier wur-de er in den kalten Jurabergen ohne Heizung und unter unmenschlichen Bedingungen gehalten. Er hatte ein ein-ziges Buch zum Lesen zur Verfügung und verstarb 1803 eines grässlichen Todes. Das hindert die Franzosen nicht, den Helden hochzujubeln und allenthalben Straßen, Plät-ze, Schulen und mehr nach ihm zu benennen.

Danach wurde ein 1760 in Ghana Geborener als Skla-ve nach Haïti verschleppt. Er mauserte sich zum Führer der Aufständischen. 1804 rief er die Unabhängigkeit aus und erklärte sich zum Kaiser Jakob I. Am 17. Oktober 1806 wurde er im Auftrag des späteren Königs von Nord-Haïti, Henri Christophe, ermordet.

Festungen gegen Napoleon

König Henri Christophe erbaute nach der Vertreibung der Franzosen zahlreiche Festungen auf beiden Halbin-seln, vor allem in beherrschenden Positionen über den Häfen, die größte auf dem Berggipfel Bonnet L’Eveque bei Milot, die Zitadelle Laferrière. Angreifen musste un-rentabel werden, selbst für Napoleon.

Ich war mehrmals oben, das letzte Mal ganz kürzlich; die Festung hat auch dieses Erdbeben unbeschadet über-standen. Unten warteten die Maultiere bereits in Reihen. Zum Besuch klettert man in Milot, oder, das hängt vom

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Zustand ab, schwingt man sich in den Sattel, zu meinen übergroßen Schuhen passende Steigbügel hatte ich ja noch in der Schweiz gekauft, sie kamen endlich zum Ein-satz. Die «Sättel» sind besser gepolstert als noch vor zwanzig Jahren. Damals waren sie aus ein paar rohen Brettern zusammengenagelt, und mehr oder weniger mit Decken gepolstert. Die Pferderücken taten mir leid, und ich erinnere mich ungern der Schrunden und Blasen auf meinem Pöchen …

Die Mulis stapften zügig aufwärts, oft schneller als ih-nen selbst einheimische Fußgänger zu folgen vermoch-ten. Manchmal ging es an einem einsamen Bauernhäus-chen vorbei, einfache, blättergedeckte Einraumhütten ohne fließendes Wasser, Möbel und Schnickschnack. Am Boden sitzt und schläft es sich immer noch am besten, wenn man nicht überkultiviert ist, wie ich es scheinbar bin; das zeigt sich immer wieder.

Auf halbem Weg gönnen die Führer Rossen und Man-nen eine wohlverdiente Pause. Eine kristallklare Quelle und eine naturgegebene, saftiggrüne Rasenmatte laden ein zu allem, was noch fehlt, und alle sind zufrieden. Das sieht man etwa daran, wenn die Menschen auch noch zu singen, und die Muli zu wiehern beginnen, die Vögel flöten ja oh-nehin schon. Aber alle Muße hat einmal ein Ende, was folgt muss ja nicht unbedingt Stress sein.

An der steilen «Bergstraße» zeigen sich die Kinder und bieten irgendetwas feil, um vielleicht zu ein paar Gourdes zu kommen – ist ja auch die einzige «Verdienstmöglich-keit» hier, sie trommeln eine Weise, die wohl nur sie ver-stehen oder blasen auf Muscheln oder Bambus-Flöten ein Lied, das tönt so herrlich, besonders wenn es sich mit dem Geflöte tropischer Vögel mischt. Oder es geht an einer Madan Sarah vorbei, so nennt man gewisse, ge-

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schwätzige Vögel und Verkäuferinnen, die eine Kokos-nuss, ein paar Mangos oder Bananen feilbieten wollen, früher waren das noch Gastgeschenke. Doch in den letz-ten Jahrzehnten hat sich doch einiger Tourismus entwi-ckelt, natürlich von Cap-Haïtien aus.

So ist es auch nicht erstaunlich, dass sich sogar hier oben die neue Weltsprache breitmacht. «Good Morning» aus fast jedem Kindermund zeigt, dass man freundlich gesinnt ist, Freude an einem Geschenklein hätte, modern ist und Englisch kann.

Schließlich sind wir 1.000 Meter höher, vor uns er-scheint der Berggipfel «Bonnet L’Eveque», was Kréol ist und in Anspielung auf Form und vielleicht auch Farbe des Gipfels «Bischofshut» bedeutet. Denn auch dieser «Galero» ist mindestens ebenso grün wie der Hut des Erzbischofs unten in Cap-Haïtien. Dass sich der Neger-könig Henri Christoph nicht gerade durch bescheidene Ideen hervortat, haben wir in Sans-Souci-Milot schon er-fahren. Fehlte nur noch, dass der weltliche Herrscher die Mütze des Erzbischofs durch Aufsetzen einer monströ-sen Festung entweihte.

Heute sagt man meist nur noch «Zitadelle». Der Bau dauerte von 1805 bis 1820, und erfolgte durch mehr als 20.000 Haïtianer und Sklaven. In aller Eile, denn die Fran-zosen waren schon unterwegs, und man wollte einer vor-gesehenen Rückeroberung durch Napoleon zuvorkom-men. Und das gelang, der erwartete Angriff fand nie statt.

Zu Fuß erklettern wir die letzten Meter, die Maultiere haben schon ihre Grünzonen im Burggelände entdeckt und tun sich dort gütlich. Schon in der Vorburg fallen die titanischen Munitionslager auf, Tausende von Eisenkugeln sind auf riesigen Terrassen gestapelt (das ebenfalls giganti-sche Pulverdepot befindet sich im trockenen Innern der

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Burg; es sei jedoch trotzdem einmal zu einer enormen Ex-plosion gekommen, infolge einer unvorsichtigen Rauche-rin. Die habe Kopf und Glieder verloren, das Depot wur-de geflickt, was kaum nötig war, die gewaltigen Mauern ha-ben getrotzt). Die Hauptfestung erstreckt sich über eine Fläche von 10.000 m², die außen stehenden Vorposten und Nebengebäude nicht mitgerechnet.

Der Tiefblick über die auf Zwischenterrassen befindli-chen Kanonenlager und weiter auf das Ende des in den letzten Stunden bewältigten Aufstiegspfads hinunter ist schon fast schwindelerregend, denn die imposanten Mau-ern rund um die Burg werden bis zu 40 m hoch, immer höher und röter. Das Mauerrot stammt von Feuchtigkeit und Flechten, aber auch vom Blut, das im damaligen Bindemittel enthalten war. Es war eine Mischung aus Schlamm, Melasse, Blut unzähliger Kühe und Ziegen, und nach einigen Aussagen auch von Menschen. Ich ver-mute, dass diese Warntracht wohl auch magische Bedeu-tung hatte, wie alles in diesem Lande. Das Burgtor ist über eine Brücke erreichbar, die einmal eine Zugbrücke war. Die Festung ist aus mächtigen Steinblöcken errichtet und direkt mit dem Felsen verbunden. Die Mauer ist so dick, dass sie in dunklem Tunnel durchschritten werden muss. Über den Köpfen flitzen lautlos Fledermäuse ein und aus; für sie sind die dicksten Mauern kein Hindernis.

Laferrière war mit 365 Kanonen ausgestattet, jede für einen Tag. Kanonen gegen Frankreich. Frankreich, das Haïti ausgebeutet und zerstört hat. Das heute eigentlich meistverantwortlich wäre. Aber die haben im Gegenteil noch Geld verlangt, «Reparationszahlungen». An etwas mussten sie ja reich werden, die Ausbeuter. Die Natio-nen. Die Adligen. Und die Übrigen, die reich sind. Und da ist jedes Mittel recht.

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Aber wir sind immer noch da oben, auf der Zitadelle. Ausgeklügelte Regenwasser-Sammelsysteme sind ge-schickt in die dicken Mauern eingebaut. In deren Inne-rem große Zisternen das Wasser sammeln. Trinkwasser für das ganze Jahr, bis es wieder regnet – mit Bestimmt-heit. Genügend Wasser für immer, und erst noch ge-kühlt. Denn ausgeklügelte Kühlsysteme sorgen für stets eiskaltes Wasser. Und dies mittels Nutzung der Naturge-setze, ohne Strom und Umweltkill. Fehlen nur noch So-laranlagen. Aber Strom brauchte man ja gar keinen, es war in der riesigen Burg auch im Hochsommer ange-nehm windig und kühl, auch ohne Klimaanlagen.

Sogar Bäckereien, Lebensmittelgeschäfte und -vorräte gab es genug. Aushungern war keine Lösung. Nie wäre man im Notfall auf Fledermäuse und Ratten angewiesen. Henris Verpflegungstruppen verfügten über Truppenkü-chen und Vorräte, die durch Geheimtunnels aus Vorbur-gen bedient werden konnten. So versichern die Festungs-führer wenigstens. Man spricht von Geheimtunnels bis nach Sans-Souci hinunter. Aber über die geheimsten Tipps spricht man lieber nicht.

Henri Christophe war ein echter «Selfmademan». Nach Art «vom Tellerwäscher zum Millionär». Auch er war ein-mal Tellerwäscher gewesen, als Junge in Santo Domingo, aber statt zum Millionär hatte er es zum König gebracht, noch besser! Nicht nur sein sagenhafter sozialer Aufstieg war selfmade, selfmade war auch sein Titel, denn er ernann-te sich selbst zum «König Henri I.». Selfmade war sogar sein Tod, denn solche Typen reagieren schlecht auf Misser-folge. Nach seinen ersten Missgeschicken (rebellierende Mitarbeiter) erschoss er sich selbst. Mit einer Selfmade-Sil-berkugel. Selfmade von A−Z. Auf testamentarischen

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Wunsch begrub man ihn an einem geheimen Ort in der Zi-tadelle, weder Leiche noch Zombie wurde je gefunden.

Laferrière, Sans-Souci-Milot und die Vorburg Ra-mières stehen unter Schutz der UNESCO. Laferrière ist die attraktivste Sehenswürdigkeit in Hispaniola. Die meis-ten Gebäude sind für die Öffentlichkeit zugänglich. Pa-trioten sind allerdings erzürnt, dass Mitglieder der Regie-rung angeblich bestimmte Räume für Veranstaltungen und sogar Privatanlässe missbrauchen. Laferrière wird auch als das «Achte Weltwunder» bezeichnet und hat sich zum großen Glück als stark genug erwiesen, um dem jüngsten Erdbeben zu widerstehen. Sie ist «die Perle der Perle», wurde Haïti doch einst als «Perle der Antillen» be-zeichnet. Und wird das wohl wieder werden.

Haïti hat den Bruch mit dem kolonialen System durch die Gründung der ersten Negerrepublik fertiggebracht. Die haïtianische und die nordamerikanische Revolution sind die zwei ältesten Revolutionen des amerikanischen Kontinents, 1804 und 1776 die Geburtsdaten der zwei äl-testen Republiken Amerikas. Während damit aber Haïti die Sklaverei – wenigstens offiziell – abgeschafft hat, hat dies die USA noch lange nicht fertiggebracht.

Und die Festung der Festungen hat bisher allen und allem getrotzt: den Versuchungen der USA, den Franzo-sen und dem Erdbeben von diesem Januar, Gott sei es gedankt. Das Weltwunder dient auch als Bühne für große Anlässe. So wurden hier nach dem Erdbeben Gelder von Staaten und Hilfsorganisationen überreicht. Ich hätte al-lerdings gerne gesehen, wie gewisse füllige Ehrengäste und Politiker den anstrengenden Gipfel erreichten. Die mussten wohl keine Abmagerungskur mehr buchen.

Der erwähnte Kaiser Jakob I. erhielt auch seine Fes-tung, er wurde in «Fort Jacques» verewigt, sie hatte den

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Prinzenhafen im Visier und überstand das Erdbeben von 2010 nicht so schadlos wie die Zitadelle.

In Europa ist ein Pilger- und Mode-Wanderweg als «Jakobsweg» berühmt geworden. Er führt zum – angebli-chen – Grab des Apostels Jakobus in Santiago de Com-postela in Spanien. Die Entstehung dieser Route fällt in ihrem auch heute begangenen Verlauf in die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts. Nicht so alt und auch nicht so be-kannt ist der Jakobsweg in Haïti. Jakob I., französisch Jean-Jacques Dessalines, war von 1804 bis 1806 Kaiser des Landes. Es war damals üblich, sich vor den räuberi-schen Franzosen zu fürchten und dagegen mit großen Forts anzutreten. Auch der Prinzenhafen, derjenige von Port-au-Prince, wurde von zwei Forts «bedient»: Fort Jacques und Fort Alexandre (für Alexandre Pétion). Bei-de haben es ebenfalls zu historischen Nationalparks ge-bracht, aber sie haben leider dem Erdbeben vom 12. Ja-nuar schlechter widerstanden als den Franzosen. Die Nordmauern sind über Hunderte von Metern abgestürzt.

Fort Jaques war berühmt wegen seiner unterirdischen Notausgänge, die bis an den Fuß der Hügel hinunter reichten. Wegen der Erdbebenschäden und Einsturzge-fahr ist deren Besuch nicht mehr möglich.

Am 11. März 1802 verteidigte Dessalines die Festung mit einer Truppe von 1.300 Mann gegen 18.000 Angrei-fer. Man sagt, er hätte ein offenes Pulverfass durch die Luft geschwenkt und gedroht, er würde das ganze Fort in die Luft sprengen, sofern den Franzosen ein Durchbruch gelänge. Er fügte den dreisten Eindringlingen herbe Ver-luste zu, aber nach zwanzig Tagen mussten sie die Fes-tung durch die Notausgänge verlassen, da ihnen Essen und Munition ausging. In der Cahos-Schlucht jenseits des Artibonite sammelte er seine Jakobiner wieder und reta-

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blierte seine Armee erneut. Für die Franzosen aber wur-de das ein blutiger Pyrrhus-Sieg.

Ich entdeckte heute, dass die Falllinie von der Jakobs-burg aus direkt zur Bergburg, meinem derzeitigen Wohn-ort, hinunterführt, sodass die Franzosen seinerzeit wohl am Ort meiner heutigen Bleibe vorbeigekeucht sind. Die bunten Uniformen hätten bestimmt ein attraktives Föteli gegeben. Und wenn ich um einiges jünger wäre, würde ich ihnen diesen Aufstieg gar nachmachen. Die Jakobiner waren einmal mehr schlauer als Napoleon und haben mit ihrer Magie gründlich dafür gesorgt, dass ihre Fluchtwege für immer ihr Geheimnis bleiben. Die unter Erdbeben-schutt geratenen Teile des Festungssystems bleiben im Dunkel verborgen, selbst die vielleicht noch zugänglichen Stollen und Gänge. Der haïtianische Jakobsweg endet zur Zeit in der Finsternis.

Auch der Fußmarsch zur Cahos-Schlucht mochte zwei Tage dauern, denn sie liegt drüben am Rande des Artibonite-Tals. Auch hier hatte der Mohrenkaiser einen Stützpunkt, die Festung Fort de la Crête-à-Pierrot. An diesem geheimen Treffpunkt haben sich die Maulwurf-helden von Dessalines wieder gesammelt und die Armee retabliert.

In der Nähe ließ Henri I. auch den Palast der 365 Tü-ren bauen, der ihm als Wohnung dienen sollte. Ich habe sie zwar nicht gezählt, und die Zahl von 365 dürfte wohl eher dem Kalender entstammen. Er wurde 1816 erbaut und wurde nie fertig, da das Reich zerfiel. Heute ist das Gebäude verwahrlost, aber ebenfalls als Nationales Bau-denkmal geschützt.

Hoch über dem Fluss auf einem Felsenplateau thront das Fort de la Crête-à-Pierrot, wo sich die haïtianischen Truppen 1802 heldenhaft gegen die Truppen des Gene-

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rals Leclerc verteidigt hatten. Auch dieses Gebäude ist von großem historischem Wert.

Henri Christoph hatte die Zitadelle erbaut und unten in Milot fast gleichzeitig Sans-Souci, einen pompösen Wohnpalast mit Kasernen, Stallungen und weiteren Mili-täranlagen. Sie sind 1842 einem verheerenden Erdbeben, ähnlich demjenigen von 2010, zum Opfer gefallen. Wenn man sich auf Maultiers Rücken durch die riesigen Ruinen-felder bewegt, wähnt man sich in einer Geisterstadt auf dem Mond, in einer anderen Welt. All seine Bauwerke in Milot aber wurden zu einem historischen Nationalpark des Landes und gingen ebenfalls ins Kulturerbe der Welt ein, sodass sich heute die UNESCO ihrer annimmt.

Die Festungen von Haïti sind nicht auf Sand gebaut. Die Mauern sind wuchtig und eigentlich zu dick, die In-selleute wollten sicher sein. Sicher vor Erdbeben und vor Franzosen. Die Klötze haben meist beiden getrotzt – au-ßer wenn sie sich zu weit in die Steilhänge vorwagten und abrutschten. So wie die Fort Jaques-Nordflanke am 12. Januar 2010. Der Mörtel bestand nicht aus Sand und Holcim-Zement, sondern war eine Mischung aus Schlamm, Melasse, Blut von Kühen und Ziegen, und auch von Menschen, die nicht nur ihr Körperblut, son-dern auch ihr Herzblut gespendet hatten.

Das war nicht gekünstelt, sondern auf die Stimmung getrimmt, die die Ureinwohner und die freien Bürger der ersten Negerrepublik gegenüber den weißen Machtha-bern und Ausbeutern entwickelt hatten. Die manchmal heute noch nachwirkt. Geld und Gewalt hießen ja deren Werte, die einzigen, die sie kannten. Ich habe gesagt: Geld nicht etwa Gold. Das Gold hatten die Eindringlinge längst weggestohlen. Nein, lumpiges Papiergeld. Die min-desten Noten zur Zeit lauten auf 10 Gourdes, einem Ge-

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genwert von 0.19 € entsprechend, der größte Geldschein Haïtis wiegt 500 Gourdes oder 4,85 in €.

Und was zeigen die Geldscheine? Sie zeigen auf der einen Seite die Festungsbilder von Fort Cap Rouge Jac-mel, Fort Jalousière Marmelade, Zitadelle Milot und Fort Décide Marchan, auf der andern Seite finden sich Kon-terfeis von historischen Staatschefs. Meist die gleichen, wie vor dem Beben auf den Denkmälern des Heldenplat-zes thronten, auf dem Champ de Mars, dem Platz der Helden und Ausbeuter. Und beim Erdbeben von ihren Sockeln stürzten, übrigens meist zum zweiten Mal.

Haïti verfügt somit über zahllose Baudenkmäler, auch wenn diese in einem verwahrlosten Zustand verlottern. Geld und Gewalt – die verlangt Gegengewalt – fabelhaft kombiniert, eine bombastischere Metapher für dieses Wertepaar wäre kaum vorstellbar. Metapher auch für die ineffiziente Hirnlosigkeit solcher Papierwerte.

Haïti verfügt über zahlreiche Forts und Festungen, nicht nur die auf den Banknoten abgebildeten. Sie haben den Nachteil, unerschlossen zu sein und auf hohen Küs-tenbergen zu liegen, an Punkten, von welchen aus haïtiani-sche Seehäfen beschießbar waren, die erforderlichen Fuß-märsche sind stets mehrstündig. Manchmal führen hals-brecherische Schlammpisten hinauf, die mit guten Gelän-dewagen «befahrbar» wären. Aber wie gestern und heute unterhalb Fort Cap Rouges (Jacmel), so bleibt man auch mit stilgerechter Ausrüstung unterwegs im Schlammbad stecken. Der Vorteil: Die Schlammbäder sind gratis. Wei-terer wichtiger Vorteil: Die altehrwürdigen Werke bleiben von Tourismus und Plastikabfall verschont.

Die «abgenoteten» Bauwerke zeigen immerhin, dass dieses Land heute AUCH andere Werte sein Eigen nennt, als Geld und Gewalt. Kulturelle Werte, Baudenk-

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mäler, geschichtliche Ehrenmale, man suche die auf den Nachbarinseln, selbst in nicht wenigen großen Staaten. Die eignen sich durchaus als Besuchermagnete für einen künftigen Tourismus, und damit – leider oder glückli-cherweise? – als interessante Sehenswürdigkeiten und Einnahmequellen für dieses Land. Haïti hat historisch nicht nur Zeugnisse von Kolumbus und der Indianer zu bieten, das können einige Nachbarinseln auch (in Santo Domingo wird als historische Sehenswürdigkeit das Bett gezeigt, in dem Christoph Kolumbus geschlafen haben soll …). Haïti verfügt über historische und baugeschicht-liche Kulturdenkmäler, wie sie sonst niemand besitzt.

Ein Preußengeneral hat 1830 gesagt «Ein Heer ohne Festungen ist ein Körper ohne Harnisch und hat hundert verwundbare Stellen» – Und im letzten Weltkrieg doppel-te ein US-General noch dicker nach «Starre Festungen sind Monumente menschlicher Dummheit», er hielt es eben mit den modern gewordenen, nach ihm getauften Panzern («Patton-Panzer»). Und heute?

Kaiser, Befreier und andere Franzosenschrecke

Der Nationalheld und Sklavenbefreier Toussaint Louver-ture war gestorben, die Franzosen waren immer noch da; es brauchte weitere Kriegsherren, um ihnen den Garaus zu machen.

Jean-Jacques Dessalines und Henri Christophe hießen die ersten Franzosenschrecke des neuen Staates, jetzt wa-ren die Franzosen vorbei. Und ihre Schrecke auch.

Es war Dessalines, der 1804 den Staat ausrief; er war 1760 in Ghana geboren und später als Sklave nach Haïti

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verschleppt worden. Dort kämpfte er sich zum Führer der Aufständischen gegen die Kolonialmacht Frankreich durch. 1804 erklärte er sich zum Kaiser und nannte sich Jakob I.

Die Nationalhymne La Dessalinienne, eine Stadt und ein Arrondissement sind nach ihm benannt. Der 17. Ok-tober ist sein Todestag, er wird jedes Jahr als Gedenktag gefeiert. Die Festlichkeiten erfassen alle Volksschichten, und während Tagen hört man im Fernsehen die feurigen Reden von Schwärmern jeden Alters, die zeigen, dass der Kaiser beliebt war und nicht genug gerühmt werden kann. Dabei wird auch mit Vergleichen zur heutigen Si-tuation und Hetze gegen Demokratie und ausländische «Besetzung» nicht gespart. Selbst kriegerische Töne, die immer noch eine Armee und die Rückkehr Aristides for-dern, kommen zum Zug.

Schon oft habe ich erklärt, die Haïtis hätten Feuer im Blut. Dieses lodert seit Tagen hinter den Rednerpulten, wie wenn Dessalines nicht am 17. Oktober gestorben wäre. Wenn Betagte und Junge, Männer und Frauen, Di-cke und Dünne, Kréolen und Franzosen gemixt derma-ßen ihre Köpfe schaukeln, ihre Hälse verdrehen, ihre Glieder verrenken, ihre Augen kollern, ihr Organ aus-schreien, ihre weißen Zähne fletschen und aufblitzen las-sen, ihre Fäuste auf den Rednertisch hauen und ihre Ma-cheten und Äste in die Luft schütteln, dann kann die Traumfigur dieser Volkspräsentation niemals gestorben sein. Die lebt weiter!

An den Rednerpulten fehlt kein einheimischer Politi-ker und kaum ein ausländischer Botschafter. Alle tragen einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine vorneh-me Krawatte, trocknen sich andauernd den Schweiß von der Stirn und stehen den glühenden Volksrednern kaum

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nach, mit Ausnahme einiger Auslandsvertreter. Man hört viel Interessantes über Stand und Ziele der Entwicklung. Zum Beispiel, dass Regierung und Geberländer die Stra-tegien umgestellt hätten, es werde vermehrt auf Dezen-tralisierung und Nahrungsanbau im eigenen Land gesetzt. Durch Schaffung von Arbeitsplätzen und anderen Anrei-zen würde das Wohnen nebenaußen attraktiver gemacht, Cocorats (Straßenkinder) und Verbrechen seien etwas verringert und der Verkehr erleichtert worden. Die Re-gierung wolle das Volk aus der Stadt raussaugen.

Man hört von Hunderten neuer Brücken und Straßen, die die hintersten Winkel des Landes erschließen, Schutz-maßnahmen gegen Hurrikankatastrophen und Projekten zur Hebung der Volksgesundheit. So sind moderne Kata-rakt-Operationszentren in peripheren Landesteilen ge-plant, und Hunderte von Augenchirurgen werden bald ihre Arbeit aufnehmen. Haïti ist ein Großbauplatz gewor-den. Es stören jetzt nur noch die Plastikabfälle, die sich vor den Abflussschächten stauen.

So tönte es noch im Oktober 2009 begeistert, und ich muss sagen, zu Recht. Dann drei Monate später, ein Ge-schehnis, das die ganze Welt erschütterte. Ganz Haïti blutet aus.

Aber zurück zu den Problemen von 1806. Am 17. Ok-tober wurde Dessalines im Auftrag des späteren Königs von Nord-Haïti, Henri Christophe, ermordet. Dieser kletterte noch im selben Jahr selbst auf den Thron. Eine Nummer kleiner als Dessalines hatte er es nur noch zum König «Heinrich I.» gebracht und herrschte über den Norden Haïtis.

Henri I. wurde vom Paulus zum Saulus, zu einem grö-ßenwahnsinnigen Tyrannen und lebte, man könnte fast sagen, preußische Strenge in Nord-Haïti. Er meinte es

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gut und bekämpfte den Sittenzerfall des Südens, das dorti-ge «panem et circenses» (römisch: Brot und Spiele; wird als Beginn des Untergangs betrachtet) und legte sich deswe-gen zunehmend mit der übrigen Führungsgarde an, die halt selber auf Lustgewinn aus war. Der unbeliebte Herr-scher jedenfalls ging, er hatte sich durch Suizid mittels ei-ner silbernen Kugel von all den Problemen befreit. Nach-dem er seinen Namen nicht vergolden konnte, versuchte er ihn wenigstens zu versilbern und vermied es, selbst er-schossen zu werden, denn das hätte ihm wohl geblüht.

Bis dahin hatte er mit seiner blaublütigen, weißhäuti-gen Frau im Sans-Souci-Palast gelebt, sie hat ihn auf eige-nen Wunsch in seiner noch fertiggestellten Riesenfestung Zitadelle begraben. Danach zerstörte ein Jahrtausend-Be-ben, ähnlich dem heutigen aus der Prinzenstadt, den Sans-Souci-Palast mit allen Kasernen und wohl ebenfalls Millionen einfacher Wohnhäuser wie heute, und alles ver-schwand und machte der Zukunft Platz; es war wie Ma-gie. Die war so traurig mit den beiden Riesenbeben und auch sonst, dass man versucht ist zu sagen, «zum Glück» musste das der König Henri nicht mehr erleben. Er hätte sich NOCHMALS umgebracht, wohl diesmal mit einer GOLDENEN Kugel …

Hier muss ich noch die Geschichte der Königsgarde «Royale-Dahomey» einschieben. Der König mit seinen Mannen hatte durchaus auch einen gelegentlichen Pira-tenstreich nicht verschmäht, selbstredend als er noch leb-te. Einmal erwischte es einen Menschentransport aus dem afrikanischen Benin, eigentlich für die Destination USA und die dortige Sklaverei vorgesehen. Henri Chri-stophs Piraten kidnappten die ganze Ladung des US-Seg-lers und entführten sie in haïtianische Gefilde. Der Ne-gerkönig offerierte der Gruppe zwei Möglichkeiten als

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Alternative: Sie konnten sich zwischen der Sklaverei in Haïti, die wohl in einer Kaffeeplantage geendet hätte, oder der Fronarbeit für Henri Christophe, vor allem den Bau der geplanten Monsterfestung Zitadelle entscheiden, im letzteren Fall würden sie frei. Solche Husarenstreiche waren damals durchaus üblich und können heute je nach Laune als Piraterie oder als Sklavenbefreiung und damit als humanitäre Aktion interpretiert werden. Denn es ist wohl klar, wofür sich die Reisenden aus Dahomey ent-schieden haben.

Die Köpfe aus Benin waren aber zu clever als Bauar-beiter, und es war ihnen vergönnt, ausgebildet zu werden, zur königlichen Garde «Royale-Dahomey» und zur Leib-wache Henris, zu Administratoren und zu anderen Ver-trauensposten zu avancieren.

Die damalige Straße hinauf über die Kordillere und hinüber an den Golf der Prinzenstadt führte an Sans-Souci, dem Palast des Königs vorbei. Die Royale-Daho-mey kontrollierten Straße und Palast, bis dieser vom Erd-beben 1842 zerstört wurde.

Der König hatte sich damals bereits gerichtet, und auch die besten Leibwächter konnten das nicht verhin-dern. Die Schwarzen aus Benin zogen sich in Berge und Büsche zurück und können in Anspruch nehmen, nie Sklaven gewesen zu sein. Sie haben bis heute ihre benini-schen Sitten und Gebräuche bewahrt.

Sie retteten, was zu retten war, ihre Kultur, Lambi- und Tamtam-Musik, Tänze, Lieder, Melodien, Instru-mente (Trommeln und Muschel-Hörner, sog. Lambis) und andere Eigenheiten bis in die heutige moderne, un-sittliche Zeit, ohne je Sklaven gewesen zu sein und sich freikämpfen zu müssen. Sie waren immer frei gewesen.

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Einige aber sind unten geblieben und haben weiterhin das Besitztum des einstigen Königs beschützt, auch wenn es keinen Besitzer mehr gab, noch heute.

Einer von ihnen ist Maurice Etienne, ein immer noch lebender «Royale-Dahomey». Er wohnt in Milot, am Fuße der Zitadelle. Nicht ohne Stolz erklärt er uns Stammbaum und Geschichte seiner Familie, die schon zu Königszeiten hier wohnte, Henri Christophe zudiente und ihm das Le-ben erleichterte, solange das möglich war. Die Familie Eti-enne hatte schon damals Adjutanten-Aufgaben und wurde vom König für diese treuen Dienste mit Landgeschenken belohnt. Etliches Buschland der umliegenden Berge ge-hört deshalb heute noch den Etiennes, die stolz sind auf diese Dienste. Er erzählt uns die von den königstreuen Großeltern wirklich erlebten Geschichten, und wohl weil auch er zu den zu cleveren Köpfen aus Benin gehört, wur-de er zum Gralshüter und Direktor des Centre Culturel, das auf die Familie zugeschnitten ist. Wenn Maurice Eti-enne als königlicher Kultur- und Sittenhüter nicht wäre, wüsste man heute noch nichts von den Royale-Dahomey und ihrer geheimen Existenz.

Die Adresse ist für alle kulturinteressierten Milot-Be-sucher empfehlenswert, ich war schon vor einem Jahr-zehnt mit dem Deutschen Fernsehen hier. Nicht nur das Ambiente seiner königlichen Liegenschaft, seiner enga-gierten Schilderungen der Vergangenheit und seines eige-nen botanischen Gartens, nein auch die kulinarisch-kari-bischen Leckereien mit vorherigem Zeremoniell des Händewaschens im Wasser mit Blüten und Orangenblät-tern und selbst die anschließende Einladung zum Über-nachten werden zu einmaligen Erlebnissen.

Vielleicht trifft man auch auf interessante Besucher; vor uns wurde ein Experte der USA verabschiedet, der

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haïtiweit geeignete Leute besuchte, um zu berichten, ob eine allfällige Annektion des «Landes» durch jene Regie-rung möglich und wünschbar wäre, morgen war der Be-such von UNESCO-Leuten aus Paris vorgesehen, und übermorgen steht eine Stippvisite der haïtianischen Rumpfregierung auf dem Plan, es werden immerhin noch einige Minister kommen, die überlebt haben. Es ist eini-ges los. Trotz der erlauchten Gäste ist die Gastfreund-schaft der Familie Etienne auch Normalsterblichen wie uns gegenüber enorm und die Erwartung einer freiwilli-gen Entschädigung bescheiden. Bei unserem Fernsehbe-such wurden uns auf einer hauseigenen Bühne sogar alte Volkstänze und musikalische Darbietungen einiger «Royale-Dahomey» vorgeführt.

Auch Maurice Etienne ist durch und durch ein Roya-le-Dahomey geblieben. Er erzählt, dass sie sogar dem örtlichen Patois ihren Stempel aufgedrückt hätten. Was allerdings an ihren Tänzen anders ist als an denen der Restbevölkerung, kann ich als typischer Laie nicht, oder noch nicht, schildern.

Maurice jedenfalls ist einer von den Royale-Dahomey geblieben und träumt davon, einmal nach Benin in die Ferien zu fliegen.

Aber nun zurück zur allgemeineren Geschichte. Das Reich hatte sich in einen politischen Norden und ein Südreich geteilt, vom Norden schauen wir jetzt in den Süden. Der ist wärmer als der Norden, wie bei uns, auch politisch. Alexandre Sabès Pétion wurde als Präsident der Republik gewählt. Er hatte sich schon 1790 einen Namen durch eine Rebellion gegen Toussaint Louverture ge-macht und herrschte von 1807 bis 1818 über den Süden des Landes, das nun zweigeteilt war. Nach seinem Na-

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men wurde der Stadtteil der Noblen hoch über dem Prinzenhafen «Pétion-Ville» benannt.

Bisher war Cap-Haïtien Landeshauptstadt, 1804 kam die Prinzenstadt Port-au-Prince zu dieser Ehre, wo auf dem Champ de Mars (Marsfeld) mehrere frühere Staats-verführer zu bewundern sind, es waren im ganzen 74.

Champ de Mars heißt bei den Bürgern auch «Platz der Helden», bei mir eher «Platz der Helden und Ausbeuter». Denn hier sind den als Helden gefeierten Staatsdieben Denkmäler gesetzt. Wie es sich gehört, defilieren sie hier hoch zu Ross am Fußvolk vorbei, das sie süffisant von hohem Sockel herabgrüßen. Kaiser Jean-Jacques Dessali-nes und all die andern. Es war bis zum Erdbeben eine echte Sammlung versteinerter Helden.

Doch hier sind auch andere Monumente zu besichti-gen. So hat Aristide einen Turm geschaffen, dessen Sinn niemand so recht versteht. Der Tour de Bicentenaire wurde offiziell zur 200-Jahr-Feier des Staates Haïti ge-schaffen und war als Aussichtsturm gedacht, statt eines Mini-Eiffels ein Mini-Aristide. Da der Abgang des einsti-gen Armenpriesters und ersten demokratisch gewählten Staatspräsidenten polarisierte und eher unrühmlich ver-lief, waren auch dessen Status-Symbole zwielichtig und sollten gar, wie in der Kultur-Revolution, vernichtet wer-den. Dem Tour de Bicentenaire blieb dank wehrhaften Kulturfreunden dieses Schicksal erspart, er durfte aber bisher nicht eröffnet werden. So blieb er jungfräulich und unbetreten.

Das Erdbeben 2010 erledigte den Rest. Die Helden sind von Sockeln und Pferden herabgestürzt. Ich weiß nicht, wieviele noch auf den Plattformen stehen. Man findet keinen Zutritt mehr, der Platz ist vollgestopft mit

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Flüchtlingszelten, da drin vegetieren Tausende der Hel-den von heute, die wahren Helden.

Daneben stehen auch die Trümmer des Regierungspa-lastes, der wird in Abguckmanier «Weißes Haus» genannt. Nach dem Erdbeben eingestürzt, ist er jetzt im Wieder-aufbau. Der amtierende Präsident sagte nach dem Infer-no, der Wiederaufbau des Regierungspalastes sei das Wichtigste jetzt im Land. Er ist ja auch Hauptattraktion in jeder Hauptstadt der Welt, wie wenn dort kluge Ent-scheide gefällt würden. Es ist der Hohe Tempel der Kor-ruption und der legalen Verbrechen, war die Residenz der 74 Tyrannen und Despoten, die sich seit 1804 an die Macht putschten und mit dem Staatsvermögen ihre Pri-vattaschen vollstopften. Hier wurde und wird Geschichte gemacht. Der Regierungspalast liegt auf dem Champ de Mars, diesmal nach Pariser Vorbild.

Hier bedurfte es keiner Kultur-Revolution. Das Erd-beben von 2010 besorgte, was zu besorgen war.

Haïti im Krieg gegen Deutschland

Jedermann erinnert sich der Docs, Papa und Baby, und ihres Schreckensregimes.

1957 wurde der Arzt François Duvalier, genannt Papa Doc, mit Hilfe des Militärs zum Präsidenten «gewählt» und brachte sich und seinen Familienclan in die Schlüs-selpositionen des Staates. Er entmachtete systematisch die mulattische Elite. Nach seinem Tod 1971 trat sein Sohn Jean-Claude, genannt Baby Doc, seine Nachfolge an. Jean-Claude Duvalier «Baby Doc» ernannte sich

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gleich zum «Präsidenten auf Lebenszeit». Von Demokra-tie hielt man noch nichts.

Sie hielten sich mit Hilfe des Militärs und der Tonton Makouts, einer gefürchteten paramilitärischen Terror-truppe, an der Macht. Makout war ein großer Sack aus geflochtenen Palmblättern, wie ihn die Bauern brauchten, um Vieh und Menschen Fressalien und andere Güter zu bringen. Sie trugen den Djakout oder Makout dazu auf dem Rücken. Tonton wird ein Onkel oder alter Mann ge-nannt, und der Tonton, der regelmäßig mit einem Mak-out unterwegs war, wurde eben zum Tonton Makout, so einfach ist das. Der Tonton war natürlich schon ohne Makout ein schrulliger Buckelmann, über den man lachte und seine Witze erzählte. Der zahnlose Alte humpelte mit einem Stock auf der Schulter daher, an dessen Ende eben der Makout hing.

Man bekam Gänsehaut angesichts dieses Sonderlings, und die Eltern nutzten die Schreckfigur, um ungehorsa-men Kindern Angst einzujagen und ihnen vorzuflunkern, der Tonton fange unfolgsame Kinder ein und transpor-tiere sie in dem großen Makout zerstückelt in seine Kü-che zum Verspeisen. Der Tonton Makout in dieser ur-sprünglichen Bedeutung ähnelt etwas unseren Schweizer Schmutzlis, die zur Chlausenzeit die Samichläuse (sd. = St. Nikoläuse) begleiten, eigensinnige Kinder einfangen und zur Räson bringen. Auch sie tragen zu diesem Zweck weiträumige Säcke auf dem Rücken, und auf den Schul-tern Schlagstöcke, Schweinsblasen und andere Instru-mente zum Kinderdreschen.

Widerspenstige Jungen gibt es allenthalben, und Ra-beneltern auch, die sie gerne den Spezialisten zum Gefü-gigmachen überlassen, was ihnen meist problemlos ge-lingt. Wenn die Knirpse sich nicht frisieren ließen, nicht

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essen wollten, was sie essen sollten, zu lärmig und ge-schwätzig oder sonst nicht wollten, wie der Papa wollte, genügte der drohende Zauberspruch «tonton-makout» als Kinderschreck, und die Welt war wieder «intakt».

1958 fühlte sich Papa Doc durch Rebellen bedroht, und er erfand die VSN – Volontaires de la Sécurité Nationale, Nationale Si-cherheitsmiliz aus Freiwilligen, etwa den europäischen Bürger-wehren vergleichbar. Die hatten sich nie über mangelnden Zu-lauf zu beklagen, und die Auswahlkriterien waren noch primiti-ver als bei der späteren Wahl eines Staatspräsidenten. Das war eben noch 52 Jahre zuvor.

Diese VSN sollte nach Art des Kinderschrecks das Schreckgespenst für missliebige Erwachsene werden, und die Schergen der neuen Geheimpolizei wurden Tonton Makout genannt. Das neue Unwort wurde bekannt und gefürchtet. Die Schergen agierten zivil und unerkannt, verräterisch bis in den engsten Familienkreis, bestückt mit dunkelblauen «Uniformen» mit rotem Halstuch und Zigarettenschachtel als «Krawattenring». Die «Bewaff-nung» reichte je nach Dienstgrad und Menschen-Unwür-digkeit von Schlagstock und Klinge bis zu Handknarre und Ballermaschine. Die Schreckenstruppe diente Duva-liers Machtfimmel und agierte außerhalb der Gesetze. Wegen ihres martialischen Auftretens, der regelmäßigen Anwendung brutalster Gewalt, ihrem außergesetzlichen Status und ihrem selbstgepflegten Image als Vaudou-Ver-bündete waren ihre Mitglieder in der Bevölkerung ge-fürchteter als leibhaftige Teufel. (Ich wähle die Schreib-weise in Haïti-Kréol, obschon die US-Schreibweise «Voodoo» und die französische «Voudou» majorisieren und noch andere rumgeistern.)

Es waren Ausgeburten der Hölle, die als Ungeheuer Geschichte machten. Geschichte und Geschichten, die

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ihnen unversteckbar ins Gesicht geschrieben waren. Schreiben und Lesen können, mehr oder weniger, das war auch die Aufnahmebedingung, die einzige. Und ein-mal aufgenommen, hatte man wenigstens einen ganz klei-nen Sold. Und ganz große Ganovenmöglichkeiten. So ka-men die Makout bald zu Grund und Boden, Haus und Hof, oder mehr. Man wurde Schreiber, Gemeindeschrei-ber, durfte für die Kunden Briefe schreiben, 50 Cts. das Stück. Was da stand, stand ja auf einem anderen Blatt, die Briefe kamen ohnehin nie an. – Wenn einmal doch etwas ankam, von weiß nicht wo, war es wieder nur der Tonton Makout, der lesen konnte, und er musste dem Empfän-ger vorlesen, was da stand. Wieder für 50 Cts. das Stück, und wieder durfte man nur hoffen, dass auch vorgelesen wurde, was da drin stand. Er wusste es wohl selbst nicht, weil er gar nicht verstand, was er gelesen hatte. Wenigs-tens laut PISA-Studie. Dort wurde von den Schweizer Schülern dasselbe behauptet.

Aber die kleine Einkommensquelle versiegte aus ei-nem anderen Grund. Die Ausländer hatten das Tonband erfunden, und niemand schrieb und las mehr Briefe. Je-der Analphabet, und wer war das nicht, ließ nur noch Tonkassetten zu seinen Freunden bringen, Post gab es ja auch keine und das ist heute noch so. Aber bei einem Tonband kannte man wenigstens die Stimme und war si-cher, dass das Gehörte auch dem Gesprochenen ent-sprach. Der Tonton Makout musste eigentlich gar nicht mehr lesen und schreiben können. Durch die Macht und das Ansehen, das er sich schon angeeignet hatte, konnte er jetzt Menschen verhaften, wofür wusste er meist sel-ber nicht, und abführen, wohin wusste er auch nicht. Aber es funktionierte, und die Karriere ebenso.

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Auch der General hatte seine Karriere geschaffen, und der konnte auch nicht lesen und schreiben. Aber als Ge-neral muss man das auch nicht können. Man muss nur das Zeug haben zum Schreien und Töten.

1986 wurde Duvalier abgesetzt und floh ins Exil, da halfen auch die Tonton Makouts nichts mehr. Aber sie hatten sich zu einer solchen Machtposition emporge-schafft, dass in der haïtianischen Armee hohe Posten auf sie warteten. Offiziere, die diesmal nicht lesen und schrei-ben, aber schießen und schreien können mussten. In ei-ner Fernsehreportage durfte ich noch miterleben, wie die Soldaten dieser Armee den Umgang mit Schusswaffen lernten. Mit Ästen bewaffnet knieten sie hinter Büschen und Stämmen in Deckung und zielten auf den fiktiven Feind. Heute müsste man wohl zeitgemäßer sagen, einen virtuellen Feind, weil es ihn ja gar nicht mehr gibt. Und die Armee auch nicht.

Armee und Tonton Makout hatten schon Tausende eigener Leute ermordet, aber durch fremde Truppen und durch den Krieg kam kein einziger Mensch ums Leben. 1994 fand die unblutige Invasion Haïtis durch amerikani-sche und befreundete Truppen und damit die endgültige Abschaffung der Armee statt. Durch den bauernschlauen Schachzug, der verarmten Soldateska Geld für den Ver-kauf ihrer Waffen und weitere Vorteile anzubieten, wurde das Land besetzt, die Armee wurde abgeschafft, es wurde keine einzige Waffe eingesetzt und niemand getötet.

Die weiteren Vorteile waren soziale: Den jetzt arbeits-losen Offizieren und Soldaten wurden Auslandsvisa, -Ausbildungen und -Stellen in geeigneten Berufen ange-boten, von denen die «normalen» Haïtianer nur träumen konnten. Dies, um die Wiedereingliederung der Kader in die Gesellschaft zu ermöglichen und ein Abgleiten in kri-

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minelle Strukturen zu verhindern. Mir missfällt bei dieser Lösung allerdings, dass man zuerst zur Soldateska gehö-ren musste, bevor man «eingegliedert» wurde. Die nie in der Militärmaschinerie mitgedreht hatten, gingen leer aus und sind bis heute die Dummen geblieben.

Gerechtigkeitshalber muss ich beifügen, dass meine Er-fahrungen nicht immer den Quellen entsprachen. In abge-legenen Gegenden schien es mir oft, dass der klügste All-rounder der Gegend geschickt entdeckt, zum Tonton Ma-kout «befördert» wurde und so zu lokaler Macht und Eh-ren kam. Ab 1984 ging das Volk auf die Straße. Jean-Clau-de wurde abgesetzt und exilierte ins französische Exil. Vie-le Andersdenkende wurden bedroht und ermordet.

In der Folge kam es auch zur einen oder anderen Ka-barettszene, die mag ich bekanntlich besonders gern. So 1902 zu einem Konflikt mit Deutschland, weil der Lini-endampfer Hamburg–Karibik vom haïtianischen Kano-nenboot Crête-à-Pierrot gestoppt und auf Schmuggelware untersucht wurde. Aber die Crête-à-Pierrot war zur Zeit von Rebellen gegen die provisorische Regierung von Prä-sident Boissond Canal gekapert. Sie behaupteten, die Markomannia transportiere Waffen und Munition für die Truppen der Regierung. Der Dampfer wurde von einem rebellischen Enterkommando durchsucht. Waffen und Munition wurden gestohlen und auf das haïtianische Ka-nonenboot umgeladen. Die Markomannia konnte danach ihre Reise fortsetzen. Das anschließende politische Kaba-rett nützte auch nichts.

Die Crête-à-Pierrot war schon vorher als Piratenschiff bezeichnet und die Seeschifffahrt vor ihr gewarnt wor-den. Der Kommandant der Küstenwache, Admiral Killick, hatte über die haïtianischen Gewässer eine See-blockade verhängt, die aber von den USA mangels Effek-

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tivität nicht anerkannt und von andern nicht befolgt wur-de. Killick hatte bereits Mitte August 1902 den US-ameri-kanischen Dampfer Paloma, der ebenfalls Waffen an Bord mitführte, am Einlaufen in Cap-Haïtien gehindert. Die Haïtianer lassen sich eben nicht zwingen, auch nicht von den USA.

Dann kam 1990. Jetzt wurde der Armenpriester Jean Bertrand Aristide zum erstenmal in der Geschichte des Landes mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt, aber sogleich (1991) durch die Armee wieder wegge-putscht. «General» Raoul Cédras übernahm die Macht, was der Weltgemeinde und teils den USA Schluckauf be-reitete. Die Antwort waren verschiedene Embarghi, zu-letzt ein Totalembargo, das von den Blauäugigen als Strafaktion und Druckmittel eingesetzt wurde. Aber wie gesagt lassen sich Haïti-Köpfe von niemand zwingen. Und wie immer in solchen Fällen traf die Maßnahme na-türlich keineswegs die Putschisten, sondern die Bevölke-rung, die bald noch mehr hungern und jahrelang nur noch zu Fuß umherhumpeln musste.

Dass mir die Amerikaner in diesem Zusammenhang auch eine Ordonnanzpistole stahlen und mich zum Waf-fenschmuggler beförderten, lesen Sie in einem späteren Kapitel. Und die Abenteuer unter der Soldateska würden wiederum ein eigenes Buch füllen, so war ich auf dem Weg von Europa nach Haïti, mit 10.000 US$ Baugeld im Auto versteckt. Ich hielt mich an die 10.000 US$-Regel, um Probleme an den Grenzübergängen zu vermeiden. Zum Glück hatte ich die noch auf zwei Verstecke «diver-sifiziert», so konnte ich wenigstens die Hälfte retten, das waren 5.000 US$, als ich vor dem Lambi angehalten wur-de. Ich musste aussteigen, an den Straßenrand treten, Hände hochhalten – die Soldateska untersuchte den Wa-

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gen, angeblich nach Waffen. Vielleicht hatten sie Hinwei-se von meinen Pistolenklauern und suchten nach weite-ren Schießprügeln und Kanonen.

Stattdessen fanden sie die anderen 5.000 US$ und lie-ßen mich weiterfahren. Wie die Markomannia. Auch bei mir nützte alles nichts, auch ohne Regierungen im Hin-tergrund, die sich ja noch blamiert hätten.

Und dann meine zwei 12,2m-Container samt Inhalt, die monatelang auf den Weltmeeren umherirrten, mit Umladeübungen, weil die Containermiete zu lang dauerte. Bei diesen, zuerst auf den Meeren und dann beim Zoll der Prinzenstadt, wurde natürlich schon gestohlen, was irgendwie diebeswürdig erschien und im Laufe der Jahre dieselbe Behandlung mit dem angekommenen Rest. Aber schließlich konnte auch der nur ein paar Jahre lang nüt-zen, und seit dem 12. Januar 2010 liegt ohnehin alles in Schutt, Schlamm und Regen − Kunstschätze und Bü-cherschätze, Fotoalben und Technik, alles, von dem man einst glaubte, man könne ohne es nicht leben. Aber die Erinnerungen, die blieben im Kopf, und die werden jetzt niedergeschrieben.

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Zwischen Sonnenauf- & Sonnenuntergang

Der Fluch Damballahs

Haïti war, bevor der Mensch kam, das Paradies schlecht-hin, eine Welt wie aus dem Bilderbuch; und dann India-nerland, Menschen, die nicht wucherten und scheffelten, die nur töteten, was sie gerade brauchten, und das ersetz-te sich fortwährend selbst.

Tropische Regenwälder mit flötenden Vögeln, qua-kenden Fröschen und zirpenden Zikaden; es tönte wie bei der Einstimmung in einem Konzertsaal. Es herrsch-ten für Pflanzen so ideale Bedingungen, dass sie fast ex-plodierten vor Lebenslust. Sie wuchsen und wuchsen und wollten kaum mehr aufhören damit, die Bäume wuchsen fast in den Himmel. Blumen, Gräser, Moose und Flech-ten konnten mehrere Meter hoch werden, Stämme und Wurzeln ebenso dick.

Tropischer Regenwald ist eine Vegetationsform, die im Klima anzutreffen ist, wie es in Haïti herrscht. Jahres-zeiten fehlen, und durch die ganzjährige Vegetationszeit entwickelt sich ein vollkommener Kreislauf der Stoffe. Die Bäume nehmen das Kohlendioxid aus der Atmo-sphäre auf und speichern es. Wird ein Wald gerodet, auch durch Verbrennung oder Brandrodung, so wird der ge-speicherte Kohlenstoff wieder freigesetzt. Der Regen-wald gilt deshalb als «Lunge der Erde» und ist wichtig für das Überleben des ganzen Planeten.

Indianer-Großväter pflegten ihren Enkeln zu erzäh-len, «Wo der Weiße hintritt, lässt er eine Wüste zurück», wüste Spuren, sie hatten recht. Von den Indianern konn-

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ten wir lernen, aber es war zu spät. Wir hatten sie schon ausgerottet.

Haïti war mal die reichste Insel der Karibik, mit seinen Edelhölzern und Bodenschätzen. Das haben die weißen Leute bald gemerkt, Leute wie Kolumbus & Co., und Raubbau, Ausbeutung und Völkermord begannen. Der Vorgeschmack der Sklaverei, des heutigen Haïti. Doch es gibt sie noch, die letzten Schätze des Berglandes. Sie sind zum Glück gut versteckt und kaum zugänglich.

Seit die Weißen hier hausten und plünderten, ist die Pflanzenwelt zerstört, durch Raubbau und rücksichtslo-sen Kahlschlag, Köhlerei grassiert noch heute. Die präch-tigen Urwälder sind verschwunden, die Natur wehrt sich aber mit tropischer Kraft, Paradiese entstehen nochmals aus zweiter Hand. Mit einem guten Stück Garten kann man sie selber schaffen. Ich hatte seinerzeit in der Schweiz ein ländliches Schulhaus gekauft und jahrzehnte-lang bewohnt, zusammen mit einer riesigen Sammlung tropischer Pflanzen, die aber in dem unwirtlichen Klima mickrig blieben. Beim Auszug füllte ich einen Container, in Gegenwart eines Pflanzendoktors und nach Ausfüllen von viel Papier, und verpflanzte meine einstigen Zim-merlieblinge gleich in meinen «Park». Wasser und Dünger wären nicht nötig gewesen, denn die 30–40cm-Knirpse stengelten auf wie Raketen und wollten mir zeigen, was in ihnen schlummert. Einige brachten es auf das Fünfzigfa-che in wenigen Wochen und bescherten mir meinen eige-nen Zauberwald, eigentlich müsste man sagen Urwald, wenn er urtümlich wäre.

Leider vermochte er mein Haus nicht vor dem großen Erdbeben zu schützen, doch gewisse Bäume überstanden dieses schwerstverwundet, wie die Menschen.

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Dass Schlangen meine besonderen Freunde sind, seit meiner Jugend, ist bekannt. Ich pflegte und beobachtete sie in teils riesigen Terrarien, die ich für sie gebaut hatte. Besonders Riesenschlangen, die sind ungemein inter-essant, intelligent und zudem nützlich, völlig ungefährlich und nie giftig. Sie töten ihre Beutetiere durch Umschlin-gen, bis sie ersticken. Sie haben kleine Hinterbeinchen und sind wie alle Schlangen gehörlos. Sie sind die einzi-gen Schlangen, die sogar Menschen kennen. Sie können sogar zutraulich werden. Damals hätte ich mir nie er-träumt, dass ich solche Tiere einmal in Freiheit in mei-nem Garten «haben» dürfte. Aber es war mir nie ver-gönnt, eines der versteckten Schlangenwesen zu sehen, außer den Mini-Exemplaren.

Schon vor Jahren hatte mir Durandis, mein damaliger Hausbursche, von einer Riesenschlange auf der Königs-palme berichtet, man könne die manchmal im Morgen-grauen sehen, da komme sie sogar runter. Ich glaubte sei-nem vermeintlichen Jägerlatein nicht, sondern mimte an-standshalber den Gläubigen, ich wollte den Burschen ja nicht beleidigen. Ich tat ihm unrecht, denn eines Tages zeigte er mir die weißen Kotwürstchen auf den Blättern des Philodendrons, der den Palmstamm emporklettert. Und diese Kotwürstchen, die kannte ich, aus meiner «Schlangenjugend». Der Beweis war geleistet!

Andere Beweise folgten. So fahren Boas aus der Haut, wenn ihnen diese zu knapp wird, weil sie weiterwachsen wollen, und lassen die in Form von Schlangenhemden liegen, Spuren der Existenz. Bis die neue Haut taugt, sind sie «nackt» und ihre Farben leuchten, sie verstecken sich in Löchern, wie wenn sie sich schämen würden. Die Ein-heimischen sagen dazu «Boas wechseln Hemden wie Frauen die Männer».

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Phantasie! Träume! Von Träumen habe ich nie was gehalten. Selten steigen meine Schlafträume ins Bewusst-sein hoch – ich habe eher Wachträume. Und die seltenen Schlafträume drehen sich immer um Realitäten. Kaum je habe ich Unmögliches oder sogar Erscheckendes ge-träumt, Angstträume kenne ich nicht, nicht einmal nach dem Goudou-goudou (so nennt man hier das Erdbeben). Ich programmiere im Traum weiter und finde sogar Pro-blemlösungen, die ich nach Erwachen realisiere, und manchmal weiß ich dann nicht, ob ich ein Problem nur geträumt habe oder ob es wirklich ist.

Diesmal war es anders. Eine Nachbarin hat im Dorf rumgeschrien, beim Weißen lebten Schlangen. Sie hat frühmorgens in meinem Garten eine Boa gesehen, die auf ihre Palme zurückstieg und Alson, meinen Hausbur-schen, zu nötigen versucht, die zwanzigjährigen Bäume zu fällen, die ich schon in der Schweiz als mickrige Zim-merpflänzchen gepflegt hatte, teils schon in der Jugend. Bäume zu fällen, um eine Schlange zu töten … Hat er natürlich nicht, sondern mich alarmiert. Noch klingt das Geschrei der Nachbarin in meinen Ohren nach. Ab so-fort sind meine Bäume und Boas doppelt geschützt, bei mir im Garten!

Mich bewegte die Geschichte so tief, dass ich aus-nahmsweise etwas Unwirkliches träumte. Es war ein Schlangentraum, aber ein schöner. Eine prächtige Boa-Riesenschlange kroch aus einer aufgehängten Bambus-röhre, züngelte verliebt und kam zu mir rüber ins Bett. Sie suchte Schutz bei mir, hielt meinen Leib eng um-schlungen, straffte ihre Muskeln aber nicht zu sehr an, sondern genoss nur meine Körperwärme. Sie schmiegte sich so vollkommen an mich, dass es beinah etwas Eroti-sches hatte. Wie schade, dass es nur ein Traum war!

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Die Boa constrictor wird vier Meter lang und ver-steckt sich tagsüber in Palmwipfeln und Astgabeln. Sie tut gut daran, denn jedermann würde sie totschlagen. Al-les totschlagen, was sich bewegt, lautet leider das Motto in Haïti. Nachts gleitet sie auch runter auf den Boden, lauert Ratten und anderen Nagetieren auf und schnappt blitzschnell zu, wenn die Beute nah genug ist. Anschlie-ßend erwürgt sie das Opfer mittels ihrer muskulösen Körperschlingen. Deshalb kann sich kein Lebewesen die-ser Welt so gut anschmiegen wie sie.

Boas bringen lebende Junge zur Welt. Nach der Ge-burt sind diese schon vollständig entwickelt und gehen selbstständig auf Nahrungssuche. Riesenschlangen besit-zen kein Gehör, dennoch werden auch feinste Erschütte-rungen wahrgenommen. Sie besitzen auch keinen Ge-ruchssinn; Geruchspartikel werden mit den Spitzen der Gabelzunge aufgenommen und zur Analyse ins «Jacob-sohnsche Organ» nahe dem Hirn katapultiert.

Die Nützlichkeit der Boas wird in Afrika genutzt, wo gewisse Stämme solche Tiere in ihren Hütten als Gehil-fen im Kampf gegen die lästigen Nager dulden. Aus Afri-ka stammende Feldarbeiter hielten in Mittelamerika Boas tagsüber in Kisten, um sie nachts frei im Haus zur Be-kämpfung der Nagetiere leben zu lassen. Die Reptilien wurden nicht nur verfolgt, sondern auch als Boten oder Abgesandte der Götter verehrt. Ihre Bewegungen und Zischlaute gelten den Menschen als Orakel.

Die Boa constrictor wird deshalb auch Königs- oder Abgottschlange genannt. Sie tut höchstens Kleinsäugern etwas zuleide. Auch in Haïti existiert das Spieglein an der Wand, und wenn die zahllosen «Koulèv» (Schlangen) die-ses beachten würden, wäre die Antwort eindeutig: die «Koulèv Madlenn» ist zweifellos die Schönste im Land.

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So schön, dass sie sogar respektiert wird! In «Danbala Wedo», verheiratet mit Göttin «Aida Wedo» (dt = Regen-bogen), hat die Schönheit Madlenn sogar einen eigenen Gott. Ein anderer Vaudou-Gott, der Schlangen liebt und deshalb mein Verbündeter ist, heißt Damballah. In mei-nem Garten sind Boas & Co. nicht nur durch das Wa-shingtoner Artenschutzabkommen strengstens geschützt, sondern auch durch mich und Damballah. Wehe dem Frevler, der meinen Schlangen etwas zuleide tut: Ihn trifft der Fluch Damballahs, das ist gewiss! Dass sie Erd-beben voraussagen, hat bei mir jedoch leider nicht ge-klappt.

Die Zehen der Drachen und die Zähne der Krokodile

Geckos spazieren oder trippeln elegant, manchmal tän-zelnd unter der Decke umher oder sie schlängeln sich flink und zierlich durch ihr Revier. Sie sind auch die bes-ten Anschleicher; unerhört langsam schieben sie ihre Füßchen vorwärts und schwupp – ein kühner Sprung rücklings, Landung aufwärts gegen die Schwerkraft, und nur noch Flügel der Beute schauen aus dem Rachen.

Es war so im Türmchen in Gresye, und es ist so in der Bergburg in den Schwarzen Bergen. Selbst der Bild-schirm ist ihnen kein Hindernis. Gewisse Arten haben sogar «Segeln» erlickt (sd.=entdeckt) und haben den großen Drachen den Namen gestohlen. Ich weiß aller-dings nicht, ob es «Flugdrachen» auch in Haïti gibt.

An ihren Zehen wachsen ihnen Billionen von Här-chen. Damit laufen sie dank perfekter Adhäsion kreuz und quer über Bildschirme und senkrechte Scheiben, und

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bei Kopfsprüngen an der Decke nach Insekten überwin-den sie selbst die Schwerkraft; in Haïti stehen die Natur-gesetze einfach auf dem Kopf.

Die Haftkraft der Zehen eines handgroßen Geckos reicht aus, um 140 Kilogramm zu halten. Die Haftfähig-keit der Geckozehen wird durch Feuchtigkeit noch ge-steigert. Fremde, 40 cm große oder ausgestorbene Arten mit sogar 60–70 cm müssten damit Autos umhertragen können, wie die Helikopter der UNO. Man stelle sich vor, Flugdrachen transportieren Ambulanzen durch die Luft, fast ein Science Fiction!

Wenn sie den Winkel ihrer Fußhärchen ändern, wird Bindung gelöst und die Echse kann ohne Kraftaufwand den Fuß von der Oberfläche nehmen. Ähnlich wie bei Klebestreifen.

Geckofüße müssen sauber bleiben. Sie verfügen über eine Art Schuhputzmaschine. Kein Stäubchen bleibt kle-ben, gleichgültig wie fein es ist. Die Tiere stapfen saube-ren Fußes unter der Decke umher. Ihre Fußbehaarung ist ein selbstreinigendes Haftmittel. Forscher (Hansen und Autumn, USA) tauchten Geckofüßchen in Haftstoffe und nahmen die Fußabdrücke von einer Glasplatte. So fanden sie heraus, dass die Geckos schon nach ein paar Schritten wieder saubere Füße hatten und erneut in der Lage waren, glatte Oberflächen hinaufzuklettern. Die Forscher berechneten, dass die Anziehungskräfte zwi-schen dem Schmutz und den Härchen geringer ist als die zwischen der Oberfläche und dem Schmutz. Der so ent-deckte Gecko-Effekt kann auch aufzeigen, dass an etwas, das stark haftet, nicht unbedingt alles kleben bleibt.

Noch drolliger zum Zuschauen sind die Drachenech-sen, die klobigen Iguanas mit ihren bizarren Zackenkäm-men, Kinnlappen und linkisch bekrallten Zehen. Die haf-

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ten nicht an der Decke, und die Schwerkraft ist ihnen auch nicht egal. Auch sie waren zu paradiesischen Zeiten noch heimisch in Haïti, aber da dort alles totgeschlagen wird, was sich bewegt, findet man sie heute leichter jen-seits der Grenze.

Es beginnt schon beim lieblichen La Descubierta, da sind alle Dörfler iguanaverrückt. Volkstümliche Schilder und Bilder, Straßen- und Hotelnamen, Wurzelsschnitze-reien und Touristensouvenirs erinnern an die unbeholfe-nen Drachen, und allenthalben prangen unübersehbare Verkehrsschilder «Vorsicht, Iguanas überqueren die Stra-ße» am Fahrweg. Das ganze Städtchen steht im Zeichen der Iguanas, dem Namen der Taïno-Indianer für die hier verbreitete, urweltliche Echse, die immerhin die Größe eines Reissackes übertrifft.

Sie begegneten uns denn auch auf Schritt und Tritt, gähnten gelangweilt und ließen sich aus Meternähe knip-sen. Auf den ersten Blick scheinen die Mini-Saurier von garstigem Aussehen. Kein Wunder, dass sie unter den abergläubischen Menschen Ur-Angst und Panik verbrei-ten. Aber es lohnt sich, genauer hinzusehen – sie können ja so wenig für ihre Genetik wie missratene Zweibeiner (das soll es auch geben), und sie erweisen sich als liebens-würdige und interessante Kerle, im Gegensatz zu vielen Zweibeinern.

Ja, vor Haïti und den Sauriern ist die Ur-Angst geblie-ben. Obschon es zur Saurier- und Drachenzeit weder die karibischen Inseln noch Menschen gab, und folglich noch niemand die Ungeheuer beäugen konnte. Wie Sa-gen von Drachen mit flammenden Doppelzungen entste-hen konnten, obschon niemand je ein solches Tier le-bend gesehen hatte, gehört zu den Wundern der Welt.

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Was sind diese Menschen mit ihren blitzenden Käst-chen doch für langweilige Dinger! Und dumm noch dazu, versuchen doch einige, uns Brot anzudrehen statt saftiger Kräuter. Brot wird auch empfohlen für die benachbarten Krokodile. Was die Dummheit gewisser Besucher noch-mals bestätigt, schon ein Blick auf ihre Zähne genügt. Auch «liebenswürdig», das wage ich für sie nicht zu wie-derholen. Ich hüte mich jedenfalls, ihre Angriffsweite auszutesten, und halte mich lieber an eine gut geschätzte Fluchtdistanz.

Hörst du die Farben, riechst die Musik?

Wenn man nach der Landung auf dem Toussaint Lou-verture International Airport von Port-au-Prince das Flugzeug verlässt und das Flugfeld zum Empfangsgebäu-de überquert, erstickt man fast und fällt in Hitzeschock. Doch der Schock wandelt sich gleich in Sympathie: Ne-ben dem Eingang steht eine kleine Band und singt für die vielen Gottesleute und Entwicklungshelfer und die weni-gen Touristen. «Haïti-Chérie», geliebtes Haïti, weichstim-miger Gesang mit Gitarren- und Trommelbegleitung. Dann tritt man ein nach Haïti.

Haïti ist voller Musik, Farben, Gerüche. Man muss zum Musikseher und -riecher werden hier, zum «Synäs-thetiker», gelehrt ausgedrückt. In einer Wunderherberge, die im Kapitel «Tanzen auf gestohlenen Schienen» be-schrieben ist, klingt die Decke nach Farben, und den gan-zen Tag über duftet Musik aus den riesigen Lautspre-chern. Straßen und Plätze sind voller Vaudou- und Kar-nevals-Musik, eben ist ja Karneval, für mich ein paar

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Tage zum Daheimbleiben, Ausgang wäre mir jetzt zu ge-fährlich. Ram hört sich am besten im Hotel Oloffson, Vaudou-Jazz, Rara, Mizik Rasin, Haïti-Reggae, Haïti-Rock und -Funk, Kompa Mamba, Zouk und Haïti-Rap hört man am besten im Lambi. Besonders samstags treten hier die berühmten Ur-Künstler auf, auch traditionelle Liedersänger nicht ausgenommen. Seit dem Erdbeben ist das Lambi leider geschlossen, aber es ist ja auch noch nicht Ausgeh-Zeit.

Viele Rap- und Reggae-Lieder beinhalten politische Texte, auch solche, welche Gewalt, Drogen und Verge-waltigung promoten. So wurden sie von der Regierung vielfach verboten. Auch Roots-Musik, Rara und Vaudou ist nie unpolitisch, selbst dann nicht, wenn sie im Rah-men von Zeremonien gespielt wird. Die Botschaft der Songs lautet Einheit durch Vaudou, Black Power in Ver-bindung mit den afro-haïtianischen Wurzeln, aber auch Stoffe oder Informationen über Abfallentsorgung, Ent-waldung, Hygiene, Cholera oder Wahlpropaganda. Die Haïtianer sind durch und durch auf Musik getrimmt, und nichts kommt so gut an wie eine Musikbotschaft. Klevere «Botschafter» wissen das auszunützen!

Haïti ist voller Klangerlebnisse, auch nachts. Damit meine ich nicht unbedingt die Unsitte, das Telefon zu je-der Nachtzeit klingeln zu lassen (weil es dann billiger oder sogar gratis ist, ich schalte mein Handy über Nacht aus). Sondern ich meine die vielfältigen «Ohren-schmäuse». Unter einem Ohrenschmaus versteht man sonst meist ein schönes, klassisches Musikstück. Für mich bedeutet das Wort aber Klangerlebnis schlechthin.

Die Klangwelt ist überwältigend. Zum Beispiel die verrückte namenlose, inzwischen verstorbene Nachbarin, die regelmäßig nach Mitternacht ihre urtümlichen Schreie

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und Zaubersätze ins Dunkel hinausschrie. Man verstand die Laute nicht, es schien, wie wenn die Dame unter Schock mit einem toten geliebten Menschen kommuni-zieren würde. Sie kommunizierte allein. Vielleicht mit ei-nem Geist in einer Totensprache. Wie wenn sie ihn zwin-gen wollte, doch wieder ins Leben zurückzukehren, durch immer lautere Schreie.

Oder die Tambouren der Vaudou-Zermonien. Mit bloßen Fingern klopfen sie ekstatisch und manchmal die ganze Nacht durch ihre Tam-Tam-Rhythmen. Besonders im Januar, aber auch zu jeder anderen Zeit. Wie ich es als Junge gelesen und als Abenteuer-Guide im Kongo erlebt habe. Was sie wohl mitteilen wollen? Wer sie wohl hört? Ich mag sie hören und ärgere mich fast, wenn ich die Trommelklänge wegen Einschlafens verpasse. Die Op-ferrituale produzieren ganze Klangfamilien. Da sind ein-mal Gesänge und Sprechgesänge von unglaublicher Ur-tümlichkeit. Fremdartige Melodien und Sprechchöre satzweise von einem Vorsänger hinausgeschrien, von ei-ner großen Menge repetiert, bis in die Morgenstunden.

Die Laute, die aus christlichen Gottesdiensten, aus Kirchen oder aus Freiland-Messen dringen, sind nicht minder eindrucksvoll. Die Kirchenmusik hat ihren eige-nen Stil, ist melodisch oder rhythmisch oder beides zu-gleich, phantasievoll gemischt. Trommelwirbel, Pauken-schläge und wilde Tänze der Gläubigen sind die Regel. Mit hocherhobenen Armen, unter Einsatz des ganzen Körpers. Tanzende Mütter mit ihren Babys in den Ar-men. Die Geistlichen posaunen ihre Lobreden und Pre-digten unter Einsatz ihrer ganzen Stimmgewalt in die Ge-meinde hinaus und erinnern an ganz große Schauspieler auf der Bühne. Auch hier Sprechchöre und Wechselge-sänge von Gruppen unter sich oder mit einem Vorsän-

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ger. Die Gläubigen kommen denn auch in Massen, in je-dem Alter, an jedem Wochentag, zu jeder Nacht- und Tageszeit. Sie geraten gar in Ekstase. Die Gottesdienste sind für mich ein Spektakel, ein Event.

Zu meiner Klangwelt gehörte auch das unaufhörliche Schreien der Schleiereulen-Babys, die anstelle der errech-neten Fledermäuse und Vampire gleich unten in meinem Schlafzimmer wohnten - Errechnen gilt in Haïti eben nichts (ich komme darauf zurück). Seit ein paar Jahren sind die Eulen leider ausgezogen. Und seit dem Erdbe-ben besteht auch ihr Quartier nicht mehr.

Oben in Montagnes Noires schreitet morgens vor vier ein Nachtwächter mit einem Megaphon durchs Dörf-chen. Alle paar Häuser hält er an und fordert mit einer eigenwilligen Melodie die Menschen auf, aufzustehen und zu beten. Sein Lied schallt in die stille Nacht hinaus, ich liebe es, von diesen eigenwilligen Klängen zu erwachen, sie erfüllen mich mit Tatendrang und Kraft. Die Men-schen draußen steigen darauf ins Tal, wo in der Dorfkir-che der Gottesdienst begonnen hat. Ein Gottesdienst, der wieder eine eigenartige Klangkulisse bietet.

Erwachen unter bestimmten Klangerlebnissen ist et-was ganz Besonderes, so das Wecken durch ein Orgel-spiel oder durch röhrende Hirsche. Ich finde, dass die modernen elektronischen Klangverstärker die Klangwelt nicht nur verteufeln, sondern auch bereichern können. Prediger, Rapsänger, Orgelspieler, Wasserverkäufer, Sit-tenwächter, Warenanpreiser, Bellmen und Ausrufer, Ma-gier und Zauberer sind anstelle der Urwaldtrommeln ge-treten, den Hörabstand kann ja jeder selber bestimmen.

Auch die stereotypen Computermelodien der kleinen Wassercamions, die aus ihren buntbemalten Tankkesseln das Trinkwasser gallonenweise verkaufen, gehören zur

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alltäglichen, typischen Klangwelt in Haïti. Ihre Kennme-lodien, gespielt von auffälligen elektronischen Pfeifen, sind von weitem erkennbar. Ich habe diese Ohrwürmer lieben gelernt, an denen sofort erkennbar ist, wo es zu trinken gibt. Man darf ja das Moderne nicht nur aus Prin-zip verdammen. Die neuen Errungenschaften stehen da-für, dass das Volk lebt und nicht zum Museums- oder Folklore-Objekt verkommen ist.

Motivation aus der Müllhalde

Ich bin jetzt in Haïti, im «Armenhaus der westlichen Welt». Einstmals die Schatzkammer der Karibik, heute die Müllhalde. Es gibt kaum mehr Wälder hier, nichts mehr im Boden − was darin und darunter war, was dar-über war, wurde gestohlen, weggeschwemmt. Erdrutsche, Überschwemmungen, Katastrophen, Armut, Chaos, Tote. Aber es gibt noch ein paar Millionen Menschen hier; die einen morden und stehlen, aber die meisten sin-gen und tanzen, selbst wenn sie keine (bezahlte) Arbeit finden. Sie sind motiviert. Auch ich bin motiviert.

Motivation ist ein Fremdwort, aber wohl das wichtigs-te. «Intrinsische Motivation», nochmals ein Fremdwort. Ich sage lieber Lust, ich hasse die Sprache der Edelhir-sche. Ich möchte lieber verstanden werden. Von jeder-mann, und jeder Frau!

Nach meinem Weltbild besteht alles aus zwei Polen, Plus und Minus, Strom oder kein Strom, Mann oder Frau, Leben und Tod, oder was man will. Dazwischen entsteht die Spannung, das Leben. Dieses Weltbild ist nur zweidimensional, also digital. Es passt in die Zeit der

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Computer und Roboter, der Googles, die nur noch «Content» und «No content» kennen, Grauwerte wie Bil-der, Musik und andere verbannt haben. Wir sind eben di-gital geworden, zeitgemäß, schwarzweiß.

Danach hat alles seine Vor- und Nachteile, wir müs-sen das wissen. Wenn wir viele Nachteile sehen, vielleicht zu viele, müssen wir die Kugel entdecken und den Stand-ort wechseln. Mehr von der Sonnenseite aufstöbern, im Bewusstsein, dass gegenüber die Schattenseite liegt. Seit ich das weiß (und das war schon in meiner Jugend so), lebe ich besser. Und ich bemühe mich bei allen Schwie-rigkeiten, die Vorteile einer neuen Lage zu suchen. Und wie die Kugel ihre Sonnenseite, so hat JEDE Lage auch ihre Vorteile! Sie MUSS eine Sonnen- und eine Schatten-seite haben. «Ein Bild sagt mehr als tausend Worte» gilt nicht mehr, wie man einst sagte. Heute zählen auch tau-send Worte nicht mehr. Heute zählen Mega-, Giga- und Terabites und größer. Sogar die Bits kennen ihre Inflation.

Mit der Kugel sind wir bei einer neuen Dimension, der dritten. Wir sind näher der Natur. Die Kugel dreht sich, so wie der Mond, und lebt, sie atmet und verformt sich, so wie der Planet. Sie wird von der Sonne beschie-nen – das ergibt eine Sonnen- UND eine Schattenseite.

Ich bin kein Psychologe und kein Wissenschafter. Zum Glück, denn so genieße ich die Freiheit, die Dinge so zu schildern, wie ich sie sehe und erlebe. Ich kann schreiben, wie ich will. Zum Beispiel «lustvoll» statt «int-rinsisch motiviert».

In Haïti wüten dunkle Schatten. Die gibt es nur, wo viel Sonne ist. Drüben gibt es weniger Sonne, scharfes Licht fehlt oft, man muss die Sonne suchen, – und vieles bleibt diffus.

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In Haïti ticken die Uhren anders

Haïti ist ein Armenhaus und ein Museum. Das Armen-haus der westlichen Welt, und ein Museum lebender Ge-stalten. Mit einem «Zoologischen Garten» hat es ein do-minikanischer Schreiber verglichen. Der Vergleich hinkt, weil die Tiere tot- und Urwaldpflanzen abgeschlagen sind, und nach meinem Verständnis impliziert «zoolo-gisch» immer noch Tiere. Aber nach dominikanischem Verständnis scheinen eben Haïti-Menschen auch nur Tie-re zu sein, und «gehören deshalb in den Zoologischen Garten» (Zitat).

Auch mein Vergleich mit «Museum» hinkt, weil sich ein Museum mit leblosen Gegenständen befasst und die-se für die Öffentlichkeit ausstellt. Und in Haïti handelt es sich um Menschen und ihr Verhalten, ihre Sitten und Gebräuche, und ihre Lebenswelt. Der westliche große Nachbar nennt die letzten Rettungsinseln der von ihm ausgerotteten Indianer «Reservate», ein Ausdruck, der hier ebenfalls fehl am Platz wäre, denn es wird ja nichts von Staates wegen erhalten.

Für mich ist Haïti etwas wie ein letztes Stück Afrika, weil das «richtige» Afrika auch nicht mehr besteht, die Länder sind zu Abraumhalden und Giftmülldeponien, zu Schürfwüsten von Bergbaubetrieben, zu Ölfeldern und Raffinerieflächen geworden; auch auf der hiesigen Insel, im dominikanischen San Pedro, ist bereits die erste Etha-nolfabrik im Bau. Man kann ja aus dem Zuckerrohr auch noch etwas Gescheiteres erzeugen als Rum und Clairin. In Haïti nichts dergleichen, das «Land» lebt beharrlich seine afrikanische Vergangenheit weiter, von Vaudoui-sants (=Vaudou-Gläubige), Houngans, Zombies, Magi-

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ern, Zauberern, Teufeln bis zu afrikanischen Rhythmen, Klängen und Farben. Das letzte Stück Afrika.

Dass hier die Uhren anders ticken als überall anders-wo, erlebt man schon mit der Uhr. Als ich Neuling vor zwanzig Jahren hier einkehrte, trug noch niemand eine Armbanduhr, es gab keine Kirchturmuhren und öffentli-chen Uhren, keine öffentliche Zeit. Wozu auch; außer den Flugzeugen in der Hauptstadt gab es ja keine fahr-planmäßigen Verkehrsmittel. Man ging eben an die Stra-ße und wartete dann, bis etwas kam und einen mitnahm. Das konnte auch Stunden dauern, was tat’s. Einen Weg-flug jedoch, den durfte man nicht verpassen. Da konnte ich viele Einheimische sehen, die zu spät kamen und auf der Insel blieben …

Noch heute gibt es in Haïti keine Sommerzeit wie an-derswo, die Zeitumstellung wird abgelehnt, es gibt nur «Normalzeit». Dies kann zu ähnlichen Problemen für die Fluggäste führen wie geschildert, denn auf den Flugunter-lagen und Tickets sind oft «falsche» Zeiten angeschrie-ben, oder die gleichbleibende Flugdauer ist den Reisen-den bekannt, und die Abflug- und Ankunftszeit wird falsch ausgerechnet. Dank Internet kann man heute die gültige Ortszeit erfahren, zum Beispiel mit dem Suchwort Haïti-Zeit.

In Haïti ticken nicht nur die Uhren anders. Alles ist anders. Ganz anders. Man muss und kann sich daran ge-wöhnen. Man muss seine Werte und Vorurteile ablegen. Tolerant genügt nicht, man muss offen sein. Und nicht zu viel fragen: «Warum?», wir verstehen die Gründe oh-nehin nicht mit unserem linksvorbelasteten Gehirn (ich verstehe dies keineswegs politisch, sondern bezogen auf das für mich immer noch gültige Hemisphärenmodell,

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wonach die zwei Gehirnhälften für Prozesse unterschied-lich getrimmt sind.)

So erlebe ich es immer wieder, dass mitten in der Nacht das Telefon klingelt, offenbar nur, weil es zu ge-wissen Zeiten gratis ist. «Bei uns» hat man gelernt, etwa ab abends acht bis morgens acht andere Personen von Anrufen zu verschonen. Man muss alles vergessen kön-nen, was man in Elternhaus und Schule gelernt hat, min-destens vorübergehend. Natürlich würde dasselbe auch für die Partner gelten.

In Haïti ist jeder Tag wieder für neue Überraschungen gut. Nächtliche Gesänge, Aufforderungen per Megaphon zum Beten, Gottesdienste, Prozessionen mitten in der Nacht, Trommelklänge, Zauber- und Vaudou-Zeremoni-en erstaunen immer wieder neu. Letzte Nacht – es war gegen morgens drei – weckten mich urweltliche Sprech-chöre und Schreie hinter dem Haus, die Gassen schienen voller sich durchzwängender Menschenmassen, Dutzen-de von Hunden bellten und heulten mit. Ich hatte schon mehrere solche Todesverkündungen erlebt, auch anders-wo. Zweifellos, heute war die Nachbarin von hinter dem Haus gestorben. Seit zwanzig Jahren kannte ich ihre fremdartigen Zaubersprüche und -Gesänge, die sie zwi-schen Geisterstunde und zwei Uhr früh regelmäßig in die Nacht hinausschrie. Ich habe mich an das nächtliche Konzert gewöhnt, es wird mir fehlen. Alson aber be-merkte lachend, in Zukunft hätten wir endlich Nachtru-he. Bis auf das Telefon.

Es herrscht lautes Geschnatter ums Nachbarhaus, Fa-milienangehörige angeblich aus Paris, Kanada und Miami seien angereist, offenbar war das nahende Ende der Dame bekannt. Der bisher chaotische Garten wird aufge-räumt, mehrere Feuer lodern, es riecht nach Rauch von

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«Fatra», wie man Abfall nennt. Was mit der Verstorbenen geschieht, weiß ich noch nicht. Wird etwa der Leichnam verbrannt? So scheint mir, denn einheitlich gelb gekleide-te junge Männer pickeln, schaufeln und graben, aber Al-son lacht und verneint, das sei für den Abfall. Sonst pflegt man Tote im eigenen Garten, in der Nähe oder in der Stadt in einer Nekropole oder einem Friedhof zu be-statten. Dazu werden zu Lebzeiten eigene Häuser gebaut, manchmal mehrstöckig, luxuriös und prächtiger als die Häuser der Lebenden. In Familien-Totenhäusern hat je-des Familienglied seinen vorbestimmten Platz, einen waagrechten Schacht, der zu Lebzeiten offen bleibt. Nach dem Tod des Betreffenden wird anlässlich der Be-stattung der Sarg eingeschoben und die Öffnung zuge-mauert. In dem heißen Klima ist das sauber, es gibt keine Erdbestattung.

Meine erste Bekanntschaft mit haïtianischen Begräbnis-sitten machte ich in den USA, Miami, etwa vor 25 Jahren. Nach der Vergiftung eines Bruders meiner Frau begaben wir uns dorthin, um an den üblichen Kulten teilzunehmen, hier war noch Erdbestattung üblich. Am meisten beein-druckte mich die Schluss-Phase: Umringt von einer großen Trauergemeinde, unter Klängen von Trompeten wurde der kunstvolle Kupfersarg in den Grabschacht ab-geseilt. Auf zwei Trägerbalken angekommen, begannen zwei Kerle mit schweren Stangen auf den Sarg einzuhäm-mern und ihn zu demolieren. Dann wurde mit Erde aufge-füllt und das Grab mit einer schweren Steinplatte bedeckt. Ich war geschockt. Erst im Nachhinein getraute ich mich nach dem Zweck dieser barbarischen Handlung zu erkun-digen. Das sei so üblich, um die Wiederöffnung des Gra-bes zwecks Diebstahl des Sarges zu verhindern … Auch in Miami ticken haïtianische Uhren anders!

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Ich habe anlässlich der Bestattung meiner Schwieger-mutter mein zukünftiges Grab ebenfalls kennengelernt. Es ist ein offener Stollen im zweistöckigen Totenhaus meiner Familie, umgeben von Balkonen. Immerhin ein rührender Beweis, dass ich auch dazugehöre … Nach Kenntnis meiner wohlgewogenen Götter glaube ich, dass das noch seine Zeit dauern könnte. Uhren sind eine Messkrücke für Zeit. Die laufen in Haïti anders. Doch ab dem Tod, da laufen sie für alle gleich.

Haïti, kote w prale (Haïti, wohin treibst du)?

Verallgemeinern ist ein Haupt-Grundfehler. Ich bemühe mich, diesen Fehler zu vermeiden; die geäußerten Mei-nungen betreffen meine eigenen Erfahrungen und meine urpersönliche Sichtweise. Meine Meinung habe ich mir in den zwanzig Jahren gebildet, in denen ich mich zuerst als Tourist, seit 1990 als Bauherr und seit 1996 als Siedler mit den Problemen dieses Landes konfrontiert sehe. Die Be-ziehungen zu meinem Ursprungsland Schweiz habe ich keineswegs abgebrochen, pflege ich doch von hier aus meine Internet-Seite und täglich e-Mails mit Freunden (und habe sogar hie und da eine Augustrede verbrochen, der 1. August ist Schweizer Nationalfeiertag, da wird drauflos geredet).

Ich habe Angst, als Experte zu gelten, denn Experten tragen eine Verantwortung, und das kann ich nicht. In den Sechziger-Jahren machte ich Fernsehen, anfänglich noch schwarz-weiß. Ich erinnere mich an Diskussionen – man legte mir nahe, gewisse Meinungen zur Kamera nicht zu sagen, da man mich als «das Fernsehen» interpretiere

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und man Meinungen leicht glauben könne. Ich aber sah mich weder als «das Fernsehen» noch als der Liebe Gott und nahm an, dass die Zuschauer wissen, dass ich nur meine persönliche Meinung sage, wie jetzt. Dass «man» al-les glaubt, was «das Fernsehen» oder Wikipedia posaunen, ist vielleicht ein Problem, aber nicht meines.

Speziell was die lautstarken Minderheiten sagen, wird gerne verallgemeinert: Hier die Drogendealer und Kid-napper, dort die «Bourgeois», so nennt man die Arrivier-ten, die «es» geschafft haben. Aber die große, schweigen-de, unbekannte Mehrheit ist anders (ich hoffe nicht, jetzt ebenfalls zu verallgemeinern). Natürlich meide man die, die man (noch) nicht kennt, das ist Vernunft. Man meide Menschenansammlungen und sei vorsichtig. Man hat ja zwei Augen im Kopf und ein bisschen Hirn. Dann kann man alt werden in diesem Land – ich kenne Hundertjäh-rige und bin ja auch schon bald achtzig Jahre «jung».

Leben und Leiden gilt hier in Potenzen. Das macht es interessant, ich würde nie zurückkehren in ein «entwickel-tes» Land oder gar in die Schweiz. Allerdings beginnt sich auch Haïti zu entwickeln, und mit zunehmender Ent-wicklung wird alles «normaler» werden.

Nach Haïti als vorgesehene Alters-Heimat kam ich durch meine Frau, die mir vor über zwanzig Jahren erst-mals ihre Heimat zeigte. Am Weihnachtstag 1990 war ich dort in den Ferien. Ich war bei Martin Bandli, einem Schweizer Freund, eingeladen, der in Gresye nahe der Küste ein prächtiges Haus gebaut hatte – ich hatte den Wunsch, das ebenfalls zu tun, und spazierte an besagtem Tag beim Einnachten über die Hügel am Meer. In der Luft blinkten und glühten Millionen von leuchtenden In-sekten, ein Bild, das ich nie vergessen werde und das mich bleibend beeinflusste: Hier möchte ich ein Haus bauen,

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träumte ich und entschloss mich dazu. Rundum gab es keine Häuser, die Aussicht aufs Meer war einzigartig. Doch es kam anders: Ein Jahr später begann ich zu bauen, und in den letzten Jahren stand ich im Zentrum einer «Stadt». Die «Cité Paysan» breitete sich hinter dem Haus und auf beiden Seiten kilometerweit aus, die Leuchtkäfer-chen sind verschwunden und nie mehr wiedergekommen, Martin auch. Dann wütete das Erdbeben, und Häuser und Stadt verschwanden. Geblieben ist die einzigartige, unver-baute Aussicht vor dem Haus, hinunter aufs Meer, das den ganzen Halbkreis von links bis rechts umarmt, unverbaut dank der sumpfigen Küstenebene, die nur für archaischen Ackerbau, vor allem Reis und Zuckerrohr, und etwas Viehzucht genutzt wird. Ich habe dann, es war vor zwölf Jahren, meine sämtlichen Zimmerpflanzen aus der Schweiz hierher gezügelt, und aus den ehemals mickrigen Topfpflanzen sind turmhohe Bäume geworden. Seit der Erdbebenkatastrophe kann ich die Sicht nicht mehr genie-ßen, nicht mehr da wohnen, denn auch von meinem Haus blieb nichts mehr übrig.

Mir gefallen die Gegensätze. Ich war achtzigmal in Afrika: als Journalist, als Fernsehreporter, als Filmprodu-zent, als Tierfotograf, als Leiter von Studien- und Aben-teuerreisen, als Bergsteiger, und auch als Privattourist. Ein Schriftsteller hat geschrieben, Afrika habe sich verän-dert. Um noch altes Afrika zu erleben, müsse man nach Haïti reisen. Haïti sei afrikanischer als Afrika. Das Spek-trum ist so breit wie nirgendwo: Von den Einbaumkanus und anderen Steinzeitmethoden, den Vaudou- und Op-ferkulten, den Tötungen eigener Kinder oder Familien-mitglieder, um einen Teufel zu befriedigen, den Kinder-verkäufen, -vermietungen, -versklavungen, -vergewalti-gungen, dem bis in Oberschichten verbreiteten, wenn

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auch versteckten Kannibalismus, der Angst vor dem Auge der Fotokamera, dem Glauben an Zombies und zu Stieren verwandelten Menschen, den häufigen Meldun-gen über abgeschlagene und umhertransportierte Köpfe, Entführungen und andere Gräueltaten.

Mir gefallen das tropische Klima und der meist blaue Himmel. Erst mit der Klimaänderung ändert sich das in den letzten Jahren. Mir gefallen auch Pflanzen, die mächti-ger leben als bei uns. Die Berge sind zwar ausgeraubt und kahlgeschlagen, aber es gibt Ausnahmen: In unzugängli-chen oder privat gehegten Gegenden (ich war bei einem Bauern, der «besitzt» kilometerweise Bergland und hegt und pflegt phantastischen Urwald) und in den zahllosen privaten Gärten sprießt die Vegetation urwaldähnlich.

Mir gefallen die Menschen hier. Eine Mischung von Indianern, Schwarz-Afrikanern und weißen Siedlern, stolz und sensibel, interessant und einzigartig. Wenn man sie kennt, öffnen sie sich, wie gewisse Blumen, lachen und singen. Alles ist Musik, und Musik klingt aus allen Ecken und Enden, Tag und Nacht. Und was für Musik! Die Menschen hier sind unheimlich gastfreundlich, teilen alles mit dir. Sie fordern nichts, arbeiten für dich, helfen Ihnen auf der Straße bei Pannen, überall – ohne etwas zu erwarten, gelegentlich sogar Geschenke ablehnend. Sie sind sensibel, impulsiv – Menschen ähneln ihrem Klima. Etwa den heftigen tropischen Gewittern, danach der be-sänftigende Regen und wenig später warmer Sonnen-schein und tiefblauer Himmel, die Tränen sofort auf-trocknend und vergessen lassend.

Die Menschen, die ich kenne, sind stolz, abergläu-bisch, mystikbesessen, sensibel, ja überempfindlich. Im-mer wieder gelingt es mir nicht, Worte richtig zu formu-lieren, in eine genügend feine Waagschale zu werfen. Man

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hat einen Vorsprung an Wissen und glaubt, damit den Menschen zu helfen, ihnen etwas weiterzugeben. Aber da stößt man an ihren Widerstand, an ihre Sensibilität. Sie fühlen sich kritisiert, zurückgesetzt, als minderwertig be-urteilt. Sie reagieren beleidigt, empfindlich, verstockt oder unwirsch. Nur nichts aufdrängen. Ich denke da an Pesta-lozzi: «Erziehung ist nichts anderes, als dem Haschen des Menschen nach seiner eigenen Entwicklung Handbietung zu leisten». Feingefühl auch. Man muss lernen, gut zu do-sieren und zu formulieren. Wenn das gelingt, dann lernt man Menschen kennen.

Ich erzähle, was eben passiert. Ich bin privilegiert und besitze ein Allradfahrzeug. Meine Gastgeberfamilie wohnt in den «Schwarzen Bergen» über der Hauptstadt, mit dem Allradfahrzeug über steile und gefährliche Lö-cher-«straßen» nahezu erreichbar, wenn es nicht geregnet hat … Normalerweise dauert das zu Fuß und per Taptap (Sammeltaxi) mit Umsteigeetappen 2–3 Stunden, wenn die Münzen für das Taptap fehlen, kann der Fußmarsch über die Steilhänge schon mal Stunden dauern.

Der Vater meiner Gastgeberfamilie wohnt in den Ber-gen ob Anse-à-Veau, im Westen des Landes, bei uns würde man sagen ein Bergbauer, der mit Maultieren und Pferden hie und da seine magere Ernte hinunter «ins Tal» säumt, ein paar Stunden ins Fischerdorf an der Küste, wo der nächste Markt liegt. Vor zwei Tagen ist er in die Stadt gereist, von Anse-à-Veau ein paar Stunden kaum begeh-barer Pisten.

Er ist in die Schwarzen Berge über der Stadt gekom-men, um zum Arzt zu gehen. Gestern war er bei einem «Houngan», einer Art Heiler oder Magier, und hat sich da verspätet, denn wie bei uns muss man stundenlang war-ten und weiß nie, wann man drankommt. Wir hatten vor-

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gesehen, mit der ganzen Familie nach Gresye zu fahren, an meinen Wohnort, damit der Vater am nächsten Tag im nahegelegenen Christianville einen «richtigen» Arzt besuchen könne. Nach Gresye sind es mit dem Auto zwei Stunden; seitdem die «Route de Rail» fast autobahn-ähnlich fertiggestellt ist – noch Minuten. Vor Wochen war dies eine beschwerliche Tagesreise. Wir mussten die Bergburg spätestens um 16 Uhr verlassen, um nicht in die Nacht zu fallen, das muss man in Haïti vermeiden. Der Vater kam nicht um 16 Uhr, so mussten wir die Schwarzen Berge allein verlassen und kamen pünktlich zum Sonnenuntergang bei mir in Gresye an, die Familie mit Mutter, fünf Kindern und Dienstmädchen.

Heute früh weckte man mich um 3.30 Uhr – der heiße Kaffee und ein Brötchen waren schon bereit. Alson, mein Hausbursche, hatte den Wagen kontrolliert, das Wasser aufgefüllt, ich musste nur noch die Kerzen des Dieselmotors vorwärmen und den Motor anlassen. Ges-tern hatte ich vergessen, den Mazda-Pickup wegen der nächtlichen Abfahrt vorwärts zu parken. Ich musste die enge, gekurvte Straße durch meinen Garten rückwärts und erst noch abwärts zurücklegen, ohne Rückfahrlichter fast ein Kunststück. Mit je einer Funzel gingen mein Gar-dien Alson an der einen hinteren Wagenecke, meine Gouvernante Melissa an der anderen rückwärts voran und leuchteten die seitlichen Mauern ab. Die Rückwärts-fahrt hinaus auf die Straße verlief erfolgreich, und wir fuhren die halbe Stunde vorsichtig über die nächtlichen Straßen nach Collines und Christianville.

Christianville ist eine amerikanische Missionsstation mit Universität, Schulen, Kirche und Spitälern, mitten in einer ehemaligen Einöde, die die Amerikaner zu Urwald-Biotopen und prächtigen Parks zurückgestaltet haben.

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Hierher kommen an bestimmten Tagen Spezialärzte aus den USA, zum Beispiel jährlich einmal ein Augenarzt. Ein solcher Tag ist heute, und eben darum kam der Vater in die Gegend.

Um 4 Uhr morgens sind wir vor der richtigen Klinik, wo bereits Menschen warten. Man muss so früh sein, weil man Nummernkarten erhält – wir haben Glück, Me-lissa bekommt für ihren Vater die Nr. 7, bald wird es die Nr. 100 sein und höher. Damit würde man tagelang war-ten müssen. Wir verabschieden uns von Melissa, sie muss jetzt zurückbleiben und den Vater erwarten. Er wird es selber hierher schaffen, zu nächtlicher Stunde mit Tap-taps, wieder ein Kunststück.

Ich fahre mit Alson zurück – alle schlafen noch, auch ich will das tun für den Rest der Nacht, aber jetzt schrei-be ich diese Zeilen. Unten im Esszimmer finde ich auf dem Tisch die beiden Taschenlampen, die Alson und Melissa um 3.30 Uhr gebraucht hatten, um mich rauszu-manövrieren. Ich war gerührt, hatte ich doch erwartet, dass die beiden diese Lampen unterwegs benötigen wür-den und mitnehmen – sie hätten mich ja fragen können. Aber die Taschenlampen standen da.

7 Uhr, drei Stunden später. Mitou, ein Kind von acht Jahren, stört mich beim Schreiben. Ich sage dies, sage auch, dass ich über sie schreibe, sie bedankt sich dafür – ein cleveres Mädchen. Sie liest schon und fragt mich Dinge über ISS und den Weltraum, das Wesen der Tiere, die Mystik, ein Leben nach dem Tod – Fragen, die ich nicht von einer Achtjährigen erwarte und teils auch nicht beantworten kann.

Ich habe ein großes Schwimmbad im Garten, das ich seit Jahren nicht genutzt habe – aber heute mit den Kin-dern bestehen Bedarf und Bedürfnis. Natürlich kein

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Strom – mein Solarpanel-Batterien-Gleichrichter-System habe ich nur für Antennen- und Internetzwecke vorgese-hen. Ich erkläre Mitou, dass sie im Moment der Boss ist und Verantwortung spüren soll. Zum Beispiel liegen im Betonbecken des Schwimmbads Blätter und Staub, die man wegwischen muss bevor an ein Füllen mit Wasser (Strom vorausgesetzt) zu denken ist.

Aus dem tropischen Ziergarten fische ich ein paar weggeworfene Zellophansäckchen von Naschereien, zei-ge sie Mitou und erkläre, warum man Zellophan-, Me-tall-, Karton-, Papier-, Plastik- und andere unnatürliche Abfälle in den Kübel, niemals in die Natur oder den Gar-ten «entsorgt», wie das in der Hauptstadt gang und gäbe ist. Dort sind Flüsse, Kanäle und selbst das Meeresufer tonnenweise mit unverdaulichen Abfällen überschüttet und dienen leider der Bevölkerung als Vorbild.

A propos Kübel: Habe ich vor Jahren auch mitge-nommen aus der Schweiz, luxuriöse Dinger mit heraus-nehmbarem Innenteil, auf zierlichen Füßen stehend. Heute sind die Dinger verschwunden; sie mochten zum Wasser tragen, Kochen oder Weiß-nicht-was gedient ha-ben, und als Kübel dienen leere Schachteln. Auch dass diese stehen bleiben und regelmäßig geleert werden, brauchte geduldige Ausbildung meiner Hausmädchen und -burschen.

Dem Dienstmädchen von Melissa muss man noch vieles erklären – dass Porzellan und Glas zerbricht und kostbar ist, ist kaum verständlich, wenn man bisher nur aus Plastik und Metall gegessen und getrunken hat. Dass ich Silberbesteck liebe und gerne damit esse – mit den letzten Stücken, die mir davon geblieben sind – ist kaum verständlich, wenn man den Unterschied zwischen Blech und Silber nicht kennt.

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Selbst «Diebstähle», die in meiner Umgebung zum Glück nicht mehr passieren, müssen mit einer anderen Brille betrachtet werden. Häufig als Verwendung des erstbesten Objekts, das man gerade für etwas benötigt, zum Ort des Geschehens entführt und dort liegen lässt. Wie oft habe ich gestohlen geglaubte Dinge irgendwo verrostet aufgefunden, manchmal nach Jahren. Alles De-plazierte zurücklegen dorthin, wo man es gefunden hat, ist ein grundsätzliches Lehrstück für jedermann.

Ein Teil der «Diebstähle» entpuppt sich als mangelnde Disziplin, Gebrauchtes zurückzulegen und Liegenlassen, ein anderer als vermeintliches Teilen, wie es in der Kultur und in jeder Familie hier üblich ist und erwartet wird.

Das Land hat einen schlechten Ruf. Da sind die War-nungen aller Regierungen, sich ja nicht in dieses Stück Hölle zu wagen. Tatsächlich würde ich einem normalen Touristen, der keine Menschen hier kennt, auch davon abraten, besonders allein. Man hört von der extremen Kriminalität, wo jeder riskiert, bestohlen oder entführt zu werden. In früheren Jahren konnte man selbst auf dem Flughafen gekidnappt werden, was schon Botschaftern und UNO-Koryphäen passiert ist – selbst unter extre-men Sicherheitsvorkehrungen und Umstellung des Air-ports mit Panzern. Und wenn man ein Taxi bestieg, konnte man nie wissen, ob einen dieses ans Ziel oder zu Kidnappern brachte.

Da gab es eine Zeit ohne Journalisten. Dann wagten sich einige zaghaft ins Land. Was sie von sich gaben, war punktuell und entsprach nicht dem verallgemeinerten Bild des «Normallesers» (auch eine Verallgemeinerung?). So schrieb ein Vertreter des wohl bekanntesten deut-schen Magazins während der amerikanischen Nach-Cédras-Invasion, Haïti gleiche einem einzigen Heerlager.

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Das war um den Flughafen, auf der Strecke von dort zum Nobelhotel El Rancho und ums Hotel herum durchaus der Fall, aber keineswegs andernorts – die Be-schreibung für «Haïti» entsprach nicht meinem Eindruck. «Auf dem Land» war es ruhig, friedlich und «normal». Ich hatte aufgrund des Artikels den Eindruck, der Journalist sei bloß 2–3 Tage «im Land», und überhaupt nie «auf dem Land» gewesen und hätte sich nie vom besagten Hotel entfernt.

Ähnlich ein Artikel im bekanntesten französischen Magazin. Dort wurde beschrieben, wie mit Involvierung des damaligen Präsidenten und seiner Familie ein Klein-kind aus dem Universitätsspital geraubt und in den Präsi-dentenpalast entführt worden sei. Dort habe – mindes-tens im Wissen und Einverständnis der Präsidentenfami-lie – eine Vaudou-Orgie stattgefunden, und das Kind sei geopfert worden. Die verzweifelten Proteste der Mutter wurden vertuscht. Ein UN-Offizier bat mich, in Paris eine entsprechende Nummer mit der Beschreibung zu besorgen und ihm zu bringen, was mir auch gelang.

Einem anderen Journalisten wurden angeblich die Au-gen ausgestochen – von mittelalterlichen Gräuelmetho-den hörte man täglich. Kein Wunder, dass die Nachrich-tenlage schweigsam blieb und Journalisten kaum moti-viert waren, über Land zu reisen. Mit der nötigen Eskor-tierung ließen sich auch kaum brauchbare Nachrichten beschaffen. Dazu kommt der unsagbare Stolz der Haïtia-ner, ihre Sensibilität und Verletzlichkeit. Selbst in der Fa-milie ist es gefährlich, Wahrnehmungen weiterzugeben – du wirst allzu rasch als «Verräter» und «Schlechtreder» empfunden, und die Wahrheit bleibt ohnehin verborgen – man kann dafür umgebracht werden.

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Ein lieber Freund, ein Schweizer, etwa gleich lang im Land wie ich, sehr wohlhabend, hatte mir erzählt, wie bil-lig es sei, einen Mörder zu kaufen. Für ein paar Dollar bringe er dich um. Ich kenne niemanden, der das Leben mehr liebte als er. Er aß zu jedem Frühstück eine Knob-lauchzehe und gab mir auch eine. Er sagte spaßhaft, jede Zehe bringe dir ein Lebensjahr mehr. Plötzlich verstarb er, angeblich Selbstmord durch Erschießen. Ich kann die-se Version nicht glauben, ich kannte ihn zu gut.

Ein anderer Freund, auch ein Schweizer, kam in allen Ferien hierher. Abenteuer- und unternehmungslustig, aber unvorsichtig. Gegen meinen Rat ging er allein aus – was ich in diesem Land stets unterlassen habe. Einmal kehrte er nicht mehr zurück, man fand das Auto samt Dokumenten und Geld – aber nie eine Spur von ihm. Das war vor etwa zwölf Jahren. Seine Familie stellte dem Schweizer Konsulat eine hohe Summe zur Verfügung, die für Spuren ausbezahlt werden könne. Es wurde nie etwas abgeholt.

Es herrschen hier andere Werte. Man weiß manchmal nicht welche. Leichen Unbekannter werden liegen gelas-sen, sogar auf der Hauptstraße, und von Hunden gefres-sen, Kinder werden verdingt, vermietet, verkauft, ver-sklavt oder verspeist, junge Mädchen werden gekocht, und zwar angeblich auch von Reichen und Weißen. Ich habe gehört, dass eine bekannte Bourgeoisie-Familie in Montagnes Noires stets 3–4 junge Dienstmädchen be-schäftigt, die zum Verspeisen bestimmt seien. Immer wenn die «Dienstälteste» verschwunden ist, wird sie durch eine jüngere ersetzt. Und ich habe gehört, dass in Petite-Rivière-de-Nippes ansässige Weiße jahrelang Kin-der fingen und angeblich verspeisten, bis sie von der auf-

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gebrachten Bevölkerung und der Polizei vertrieben und des Landes verwiesen wurden.

Köpfe werden mit Macheten abgeschlagen und ge-handelt, meist im Versteckten. Vor etwa drei Jahren machte ein Fall in der Presse Furore. Dies nur, weil es ei-ner Haïtianerin gelungen war, auf rätselhafte Weise die ri-gorosen Kontrollen von Polizei und American Airlines zu täuschen und mit einem Handgepäck durchzukom-men, das einen abgeschlagenen Kopf enthielt. Sie reiste mit dem makabren Gepäckstück bis nach Miami, wo sie auf dem Flughafen ertappt und verhaftet wurde. So wur-de der Fall publik.

Wenig später wurde in einer Schlucht nahe dem Haus meiner Gastgeber, der «Bergburg», ein Sack mit einem Dutzend Köpfen gefunden, der dort hinuntergeworfen worden war.

Die UNO kam vor ein paar Jahren mit zehntausend Soldaten und Tausenden von weißen Polizisten aus «ent-wickelten» Ländern, und Kanada setzte einen siebenstelli-gen Dollarbetrag ein, um aus dem Land einen «Rechts-staat» zu machen. Ein fast unmögliches Unterfangen bei der eingewurzelten Kultur, die jahrhundertelang (oder län-ger) stehen geblieben ist. Und der erste UNO-General be-ging angeblich Selbstmord – mitten in seinem Hauptquar-tier, im schwer bewachten Luxushotel Montana, inmitten von Panzern und Sicherheitskräften aus allen Ländern.

Meines Erachtens ist die UNO (die Mission heißt MI-NUSTAH = United Nations Stabilization Mission In Haïti) eine vorbildliche Truppe. Stets in tadellosem Tenu, stets behelmt, die Waffe in der Hand, nie im Ausgang gesehen, die zahlreichen Camps weit entfernt von den Siedlungen, freundlich-korrekt, erledigen die Soldaten in aller Stille ihre Aufgaben. Stehen oft stundenlang in Uniform und

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schusssicherer Weste in praller Sonne. Der Ruf bei der einheimischen Bevölkerung ist ungerecht. Man sagt, dass sie Mädchen vergewaltigen (ohne je im Ausgang zu sein?) und Ziegen stehlen (war sogar ein beliebtes Karne-val-Thema). Man nennt sie «Amerikaner» (was kaum je stimmt) und versucht, sie rauszumobben.

Der einzige Fehler, den ich kritisiere: schlechte psy-chologische Kriegführung. Man sollte zielgruppengerech-tere Propaganda machen in den Medien und anderswo, etwas unternehmen gegen die diffamierenden Verleum-dungskampagnen, die Medien besser einsetzen. Die Pres-sesprecherin ist nicht zielgruppengerecht, kommt weder mit ihrem Auftreten noch mit ihrem intellektuellen, kom-plizierten Jargon bei der Masse an. Schade.

Trotz MINUSTAH grassierten jahrelang Entführun-gen der schlimmsten Art, und am Anfang wurden einhei-mische Polizisten und ausländische Soldaten im Dutzend getötet. Noch schlimmer: man sprach beim Kidnapping von einer «Industrie», die in den Händen der Reichen, oft der Polizeiführer liege.

Im Übrigen finde ich die UNO psychologisch großar-tig. Zum Beispiel vermeidet sie jede Provokation durch militärische Einschüchterung. Wenn etwa in einer Pro-vinzhauptstadt die Durchgangsstraßen stundenlang blo-ckiert sind durch Demonstranten, die ästeschwingend in Sprechchören die Rückkehr des von den Amerikanern und Franzosen «entführten» Präsidenten fordern, mar-schieren und schreien angeblich MINUSTAH-Spitzel in Zivil mit den Demonstranten mit, und hinter dem Zug fahren unauffällig Wagen mit Verbindungen und Notfall-Dispositionen. Psychologisch gekonnt hat die Weltge-meinschaft auch ausschließlich schwarze Soldaten aus be-freundeten Nationen nach Haïti geschickt. Offensicht-

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lich, um die verbreitete US-Feindlichkeit nicht noch mehr zu schüren. Das hindert die haïtianischen Hitzköp-fe keineswegs, weiterhin von amerikanischer Besetzung und Provokation zu sprechen, und die UNO hat fast täg-liche Demonstrationen zu erdulden, die ihren Rückzug aus dem Land fordern. Das Land würde augenblicklich in ein bodenloses Chaos zurückstürzen.

Heute hat sich das gebessert. Viele Haïtianer sind aus der Diaspora, wie man ihre ausländischen Wohnstaaten nennt, zurückgekehrt, investieren und bauen. Ein Pro-blem ist, dass sie das ganze Land verbauen – eine Bau- und Regionalplanung fehlt. Neue Probleme werden ent-stehen. Im Moment ist Haïti wie kein anderes ein Land der Gegensätze. Gegensätze zwischen europäisch Bezahl-ten (umsonst kommt niemand hierher) und einheimisch Verdienenden (ein Arbeiter bekommt 2–4 US$, ein Fa-brikaufseher 8–10 US$/Tag). Gegensätze zwischen den modernen, autobahnähnlichen neuen Straßen und den traditionellen Schlamm- und Löcherpisten. Gegensätze zwischen den Lebensmittelpreisen in den neuen Super-märkten (teurer als bei uns) und den Straßenmärkten.

Problematisch bleiben die Naturkatastrophen. Eine Reihe von Hurrikanen fegte über das Land und hinterließ Tausende von Toten, Zehntausende von Häusern wur-den weggeschwemmt. Zur Zeit liegen Flugzeugträger auf dem Meer, ohne Unterlass starten Superpumas mit Hilfs-gütern gegen Norden und Osten. Die Haïtianer sagen, 90% der Hilfsgelder flössen in die Taschen von Reichen, seien gestohlen. Schwer, ihnen begreiflich zu machen, dass das Problem in der ungleichen Bezahlung liegt: Kaum einer der gut ausgebildeten Spezialisten kommt hierher, wenn er gratis arbeiten muss. Ihre in Industrie-staaten üblichen Löhne werden als «Diebstahl» empfun-

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den, die Hilfsgelder seien doch für die Armen und Not-leidenden bestimmt.

Aber nochmals: Ich schildere meine Sichtweise aus zwanzig Jahren Haïti. Ich wünsche dem Land voller Pro-bleme, zu deren Lösung ich leider auch keine Vorschläge habe, und seiner Jugend eine raschere Besserung, eine bessere Zukunft und genügend Geduld. Denn ein paar hundert Jahre Zerstörungswut lassen sich nicht über Nacht wegfegen. Wenn die heutige Jugend einmal «am Ruder» sein wird, dann wird es sich bessern.

Dann kam der 12. Januar 2010. Mit der größten Erdbe-benkatastrophe aller Zeiten. Die ganz Haïti zerstörte. Und alles, aber auch alles muss wieder von vorn beginnen.

Im Teufelskreis von Armut und Unsicherheit

Ein Hauptthema ist immer wieder der Hunger. Ich be-richtete von den April-Unruhen wegen der explodieren-den Lebensmittelpreise, die niemand mehr bezahlen konnte, mit sechs Todesopfern. Ich berichtete über den Hunger in diesem Land, zum Beispiel wie in Baie d’Oran-ge kurz vor Weihnacht dreißig Leichen von verhungerten Kindern gefunden wurden. In der Folge wurden Hunder-te weiterer vom Hungertod gefährdeter Kinder aufge-spürt und in Sicherheit gebracht, und auf der baumlosen Felsinsel Praville fand man 2.000 Flüchtlinge, die hier seit der Flutkatastrophe von Gonaïves bei 50 Grad Hitze wo-chenlang vergessen wurden und ausgeharrt hatten, ohne Nahrung, darunter viele Kleinkinder, in einem erbärmli-chen Zustand.

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Robert Zoellick, der Präsident der Weltbank, hat heu-te, am 13. Januar 2009, die internationale Gemeinschaft aufgefordert, ihre Hilfe an Nationen wie Haïti, Afghanis-tan und Liberia zu verdoppeln. Es seien Nationen mit schweren inneren Krisen und extremer Armut unter der Bevölkerung, die dies unbedingt erfordern. Der Präsident der Weltbank sagte am UN-Institut für Frieden weiter, wenn Staaten zerfallen, berge das viele Gefahren, doch zuerst träfe es immer die Menschen, die vor Ort in Not und Hunger leben. Diese Staaten hätten Regierungen, die keine Wirkungen erzielen, sodass ein Rechtsstaat als Grundlage des Volkes nicht aufgebaut werden könne, fügte Zoellick an. Besonders Haïti bewege sich in einem Teufelkreis von Armut und Unsicherheit:

«Wir benötigen mehr Mittel, um diese Länder zu sta-bilisieren, ihre Regierungen effektiver aufzubauen und so die Entwicklung zu ermöglichen», erläuterte der Präsident der Weltbank. Robert Zoellick forderte die internationale Gemeinschaft auf, ihre Hilfe zu verdoppeln.

«Ihre Regierungen effektiver aufzubauen», hatte es Robert Zoellick formuliert. Und einige meiner empörten Leser formulierten es so:

«Einer der Gründe scheint mir darin zu liegen, dass die Mächtigen nicht moralisch und die Moralischen nicht mächtig sind» oder

«In mir steigt die Wut auf. Auch in Haïti gibt es doch so etwas wie eine Regierung, was tut sie, was tun die Menschen vor Ort, um das Los der Mitmenschen zu ver-bessern?».

Und ich berichtete von Reaktionen des haïtianischen Präsidenten, der erklärte, die Bürger müssten ihre Erwar-tungen dämpfen, sie dürften keine rosigen Erwartungen haben.

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Wird das Unland ein Land?

In Haïti stehen bald Wahlen an. Das in Jahrzehnten der Diktatur politisch und sozial heruntergewirtschaftete Ka-ribik-«Land» war 2006 haarscharf an einem internationa-len Protektorat vorbeigerauscht, ich bin fast versucht zu sagen, leider. Obschon ich in das Volk größtes Vertrauen habe. Mehr als in seine Politiker. Unter Aufsicht der UN-Stabilisierungstruppe MINUSTAH mit vorerst 10.000 und später mehr Soldaten, Polizisten und Zivilisten fan-den erstmals in der Geschichte des Landes «geregelte» Wahlen statt. Unter den Augen der Blauhelme wurden immer noch Menschen entführt, grässlich misshandelt und ermordet. Kidnapping war eine Industrie. Politiker und sogar Präsidentschaftskandidaten hatten ihren Wahl-kampf mit Entführungen und Verbrechen finanziert.

Man munkelte, die mächtigsten bewaffneten Banden hörten auf das Kommando von Aristide, der in Südafrika an einer Universität doziert und immer noch auf eine Rückkehr in die Karibik hofft. Auf der Straße fordert der Mob in lauthalsen Sprechchören und ästeschwingend die Rückkehr des von den Amerikanern und Franzosen ent-führten Präsidenten. Das wird immer weniger realistisch. In diesen Tagen hat die Wahlkommission für die Abstim-mung vom 19. April sämtliche Bewerber aus der Partei des ehemaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide für die Senatswahl abgelehnt. Mit der Begründung, die Un-terschrift Aristides habe auf den Dokumenten gefehlt. Da werden die Rekurse der Partei Fanmi Lavalas auch nicht viel ausrichten.

Erst heute berichtet Hispaniolanews, dass die Organisa-tion Amerikanischer Staaten den haïtianischen Wahlrat bei der Durchführung der Senatswahlen voll unterstütze.

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«Am 19. April sollen die Wahlen stattfinden. Der Wahlrat in Haïti ist nach einem Skandal noch immer nur ein vorübergehender. Die OAS soll nun auch beim Zu-stimmungsverfahren zwischen dem provisorischen Wahl-rat und politischen Parteien vermitteln und dieses über-wachen. – Die OAS erklärte, dass sie den Wahlrat Haïtis und die geltenden Richtlinien unvoreingenommen und unabhängig unterstützt.»

«Neben den 17 FL-Bewerbern werden auch 23 weite-re Kandidaten nicht zugelassen, darunter der ehemalige Rebellenführer Guy Philippe. Für die zwölf vakanten Sit-ze im Senat bewerben sich damit noch 65 Kandidaten.»

Wie Demokratie funktioniert und was sie bringen soll, das wird von fremden Staaten und Interessengruppen generiert, be-reits auf das von ihnen gewünschte Ergebnis getrimmt. Das be-gann schon mit der Entführung des ordentlich gewählten Staatspräsidenten Aristide durch USA, Frankreich & Cie. Was er auch immer verbrochen haben mag, es gäbe wohl gesetzli-chere Mittel. So vergällen die Interessengruppen dem Volk den Glauben an Gesetz, Demokratie und Politik; immer mehr de-monstrieren gegen diese Maskeraden und wollen zurück zur Diktatur. Denn nur davon versprechen sie sich Essen und Ar-beit in Sicherheit.Wie willst du da noch Demokratie einführen?

Die USA demonstrieren trotzdem ihr fortgesetztes In-teresse an Haïti, dem werdenden Staat, immer wieder. So-eben hat Hillary Clinton, neue Außenministerin der USA, Präsident Préval in Washington empfangen. Sie drückte die amerikanische Verpflichtung aus, in Haïti eine feste Demokratie aufzubauen. Die Außenministerin begrüßte Préval als «alten Freund». Das Thema des Treffens waren die möglichen Hilfen der Vereinigten Staaten und der UNO für das ärmste Land Amerikas. Préval traf auch den geschäftsführenden Vorstand des Währungsfonds (IWF)

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und den Präsidenten der Weltbank, um eine Ausweitung der Unterstützung und nach gemeinsamen Lösungen der verheerenden Situation in Haïti zu suchen. Im April soll in Washington eine Geberkonferenz für Haïti stattfinden.

Demonstrationen und Streiks sind immer noch an der Tagesordnung. Doch sie verlaufen demokratischer und ha-ben jetzt Ziele. Zur Zeit drohen Unternehmerverbände mit Streiks. Sie klagen über zu hohe Zollgebühren und fordern schnelle Maßnahmen zu ihren Gunsten. Die Zölle, welche von den Behörden erhoben werden, sind unangemessen und entsprechen nicht dem Handelswert der Waren. Sie helfen mit, Händler und Kaufleute in die Schuldenfalle zu treiben. Die Preise der Waren steigen, und nun werden auch noch die hohen Zollgebühren aufgerechnet sowie die Wucherzinsen für Darlehen angehoben.

Haïti lebte jahrzehntelang von Überweisungen aus dem Ausland, von Hilfsgeldern, vom Kidnapping, vom Menschenhandel, vom Schmuggel, vom Rauschgifthan-del. Fischerei und Landwirtschaft waren sehr schwach, das Meer mit Abfall vergiftet. Haïti ist ein ausgeblutetes, karges Bergland. Es muss völlig neu begonnen werden. An sich irreparable Schäden sollten trotzdem repariert werden. Denn es geht um das Überleben von Millionen, Kindern, Alten, Arbeitslosen, Hungernden und Krank-heitsverseuchten.

Die Hauptstadt Port-au-Prince wurde noch kürzlich von bewaffneten Banden beherrscht. Zwar gibt es immer noch Gewalt, Kriminalität und Entführungen, aber die Bewaffneten sind nicht mehr auf den Straßen unterwegs. Auch wenn es noch Gangs in den Slums gibt, die nicht beseitigt sind. Aber man kann nicht mehr von Anarchie sprechen. Den Blauhelmen ist es gelungen, Stabilität und Sicherheit zu schaffen.

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Sonne über Cité Soleil

Cité Soleil (=französisch, in kréol Site Soley, zu deutsch «Sonnenstadt») trägt eigentlich den falschen Namen. Sie war lange Zeit die Stadt ohne Sonne, die Stadt der Schat-ten, die Stadt des Schreckens, die Stadt der Nacht. Bis vor Kurzem war Site Soley das größte und schrecklichste Slum der westlichen Hemisphäre, die «gefährlichste Stadt der Welt» (UNO).

Auf einer Müllhalde von rund fünf Quadratkilometern und den vergleichbaren angrenzenden Flächen vegetierten hier eine Million Menschen, jahrzehntelang. Menschen ohne Arbeit und ohne Nahrung «lebten» ohne Kanalisati-on, ohne Läden, ohne Strom, ohne Ärzte, ohne Ordnung, ohne Staat, ohne Polizei und ohne Skrupel. Site Soley war die Müllhalde der Prinzenstadt; Menschen und Tiere leb-ten von dem, was sie fanden, tranken aus den Pfützen, aßen aus dem Dreck, die Kinder spielten im Müll.

Es war die Zeit der Neunziger-Jahre, Staatspräsident war der Armenpriester Jean-Bertrand Aristide. Er und die Anhänger seiner Staatspartei Lavalas waren häufige Gäste in dem Elendsquartier, eine Hochburg seiner Par-tei. Als ihn der selbsternannte General Raoul Cédras wegputschte, brüteten nur noch Gefühle der Rache. Noch heute glauben die Bewohner an Aristides Rückkehr und gehen dafür auf die Straße.

Gefühle der Rache auch bei der Cédras-Soldateska. Zur Zeit der Militärdiktatur von 1991 bis 1994 versuchte diese, mit einem unvorstellbaren Schreckensregime, au-ßergerichtlichen Tötungen, zwangsweisem Verschwin-denlassen von Personen, willkürlichen Festnahmen und Arrest, Vergewaltigungen, Folterungen, Gewalt gegen Frauen und Einäscherung ganzer Quartiere die Bevölke-

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rung einzuschüchtern. Sogar von meinem Heim in Gre-sye aus sah ich den Nachthimmel von Flammen erleuch-tet, taghell. Die Militärs wollten das Schandmal vollstän-dig einäschern, die arbeitslosen Zuwanderer in einem gi-gantischen Genozid vernichten. Niemand weiß, wieviel Tausend Menschen während der Militärherrschaft getötet wurden. Die Sonnenstadt war ein Flammenmeer.

Logisch, dass sich das die Bevölkerung nicht bieten ließ, sie hat das Feuer in den Adern. Es war ein Morden hin und her, die Kinder wuchsen im Blutbad auf. Gewalt und Banden hatten das Sagen, Regierung und Ämter ge-trauten sich nicht in die Nähe, kein Fremder betrat die Sonnenstadt ohne Sonne. Niemand benützte die Natio-nalstraße #1, die hier vorbeiführt. Um die berühmten Ba-dehotels an der Côte-des-Arcadins zu erreichen, machte man einen großen Bogen um Site Soley und nahm den Umweg über den Flughafen in Kauf. Die Sonnenstadt war eine Killergrube.

1998, als «meine» Seminarklasse 1954 bei mir zu Be-such war, wollten wir es trotzdem, vorsichtig und natür-lich etwas neugierig, versuchen und fuhren am Hexenkes-sel vorbei. Unsere beiden Mazda-Pickups rollten eng hin-tereinander, ich mit meinem eigenen voraus, meine Frau mit dem zugemieteten gleichen Typs hintennach. Auf je-der Ladebrücke viel Gepäck, bewacht von je zwei Wäch-tern aus der Klasse, bewaffnet mit beeindruckenden Holzprügeln. Kaum sahen wir links die ersten Wellblech-hütten von «Site Soley» und pflügten uns vorsichtig durch die Horden von Cocorats (Straßenkinder), rannte schon einer davon durch das Gewühl Richtung der Bi-donvilles, einen unserer Koffer in der Hand. Wie der die Mazdabrücke bestiegen und blitzschnell die Beute entris-sen hatte, blieb uns allen ein Rätsel. Die Gepäckwächter

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hatten wohl zu sehr auf die Wellblechhütten statt auf die Gepäckstücke geachtet. Hupkonzert, beide Wagen stopp-ten, eine Gruppe von Klassenkollegen hintennach, wir anderen hielten die Festung – und oh Wunder, nach ein paar Minuten kamen die Kollegen zurück, lebend, den Koffer in der Hand. Es ging weiter wie gehabt, aber dies-mal ketteten wir die Gepäckstücke noch an.

Nach meinem Dafürhalten ist die US-amerikanische Einwanderungspolitik dabei nicht unschuldig. In der Zeit der Völkerwanderung mit selbstgebastelten Booten hat die Küstenwache Tausende von Boat People eingesammelt und nach versuchter Identifizierung wieder zurückge-bracht ins Armenhaus. Dazu diente das vormalige Kriegs-schiff Hamilton, das ich jede Woche beim Passieren mei-nes Hauses beobachten konnte, oft zweimal. Dabei wur-den die Flüchtlinge nicht an ihre abgelegenen Ursprungs-orte zurückgebracht, sondern in die Hauptstadt, die da-durch noch unmöglicher wurde. Und wo landeten all diese Menschen? Site Soley war die einzige Möglichkeit.

Dort hörte man von vielen Morden. Eindringlinge je-der Art wurden eliminiert. 2005 getrauten sich dann Ärz-te ohne Grenzen mit weißen Fahnen in die Hölle und überzeugten die Soleyaner, dass sie keine Teufel waren, helfen wollten und konnten. Sie errichteten die ersten Stützpunkte für eine minimale medizinische Versorgung.

Es folgten Eingriffe ausländischer Truppen und damit der Aufmarsch der Journalisten und eine, manchmal, brauchbare Berichterstattung. Über die Vorgeschichte wussten die allerdings nichts, da sucht man vergebens im Internet. Die zeitweise 11.000 Blauhelme & Co. hatten die schier unmögliche Aufgabe, Site Soley zu befrieden. Polizisten und UNO-Soldaten wurden gleich gruppen-weise ermordet, so hatten selbst schwerbewaffnete Blau-

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helme Angst vor diesem Quartier. Der gegenseitige Hass war grenzenlos und führte zu erbarmungsloser Brutalität. Der Einsatz der Weltsoldaten in Site Soley war anfänglich kein Ruhmesblatt für die UNO.

2007 berichteten Menschenrechtsorganisationen und Nachrichtenagenturen von Übergriffen auf die Zivilbe-völkerung. Auf Videos wurden Erschießungen von Zivi-listen dokumentiert. Panzer zerstörten «baufällige Wohn-gebäude», nach Einwohnerangaben 3.000. Bei einem Ta-geseinsatz 2007 wurden 22.000 Schüsse abgefeuert und zahlreiche Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, getö-tet. Die Sonnenstadt war ein Schlachtfeld.

In einer Sonnenstadt gibt es auch Schatten. In den Jahren des grassierenden Kidnappings wurden die Opfer hier versteckt oder umgebracht. Sie wurde von Banden-bossen regiert und betrachtete sich nicht als zu Haïti ge-hörig. Sie wurde durch die Medien weltbekannt und -be-rüchtigt. Selbst die UNO nannte Site Soley die «gefähr-lichste Stadt der Welt». In der Zeit entstanden Romane (Mister Clarinet von Nick Stone), Fernsehsendungen (ARD) und Filme (Ghosts of Cité Soleil von Asger Leth). Unterstützt wurde der Regisseur von dem hier geborenen Sänger und Produzenten Wyclef Jean, der auch die Musik schrieb und einen kleinen Auftritt hat (2007).

Auf den Bäumen lebt sich länger

Auch wenn wir es nicht wahr haben wollen und gerne vorlügen, dass wir immer jünger würden, kommt nie-mand um das Altern herum, auch wenn man darunter vieles verstehen kann. Man setzt Ringe an. Und, Sinn

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oder Unsinn, es gibt auch einen Zählrahmen dafür: die Jahre. Ich zähle bald deren achtzig, dank Haïti, Lebens-weise und Glück. Ist ja auch mit ein Grund, dass ich vor rund zwanzig Jahren auf die Insel gezogen bin, anfänglich versuchs- und ferienhalber, dann immer länger – und seit vielen Jahren zog es mich überhaupt nie mehr weg.

Und so wie ich langezeit zwischen zwei Heimaten pen-delte, so schwang ich auch in Haïti zwischen zwei Schlaf-stätten hin und her: meinem großen Haus in Gresye, und dem kleinen Berghaus von Melissa in den «Montagnes Noires», den «Schwarzen Bergen», die steil und hoch über der Prinzenstadt liegen. Der Tiefblick auf die Stadt mit dem blauen Golf, dem großen Graben, der die ganze Insel durchzieht, mit seinen Seen bis tief rein in die Dominika-nische Republik und die jenseitigen Randgebirge mit ihren neuen Passstraßen ist unbeschreiblich, und vor allem scheint aus dieser Distanz und Perspektive alles sauber und bunt. Der einzige «Luxus», den ich mir hier auf den Bergen leistete, ist das Internet mit der zugehörigen Tech-nologie. Inzwischen hat das Erdbeben gewütet, und mein großes Prachthaus besteht auch nicht mehr, es bleibt nur noch mein Leben, die Erinnerung und die Bergburg.

Die Schwarzen Berge haben den Namen wegen des dicken Vorhangs, der fast jeden Abend aufzieht und die Szene verdeckt, bevor es zu schütten beginnt, für ein paar Minuten oder auch die ganze Nacht. Ich liebe diesen Zweitwohnsitz wegen der Einfachheit und der netten Menschen, die mich umgeben, wo man die von Kolum-bus geschilderte Liebenswürdigkeit rundum lebt und spürt. Ich meine beileibe nicht nur die rührige Familie von Melissa mit ihrem Mann und den vier Kindern – meist noch vermehrt durch Zugewanderte. Ich meine auch die freundlichen Einheimischen aus der Nachbar-

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schaft, vor deren Streitereien und Querelen, die es natür-lich gibt wie überall, ich durch Alter, Sprache und Haut-farbe abgeschottet und geschützt bin.

Das Bergklima hier oben kann recht aggressiv zupa-cken, jetzt im Tropen«winter», und gerade heute (vor dem Erdbeben geschrieben) gedachte ich wieder für ein bis zwei Wochen nach dem milderen Gresye zu wechseln, um meinen Schnupfen auszukurieren. Die Nachbarn hier scheinen das Klima besser gewohnt zu sein als wir ur-sprünglichen Schweizer Bergler, denn einige spotten der offiziellen Lebenserwartung von fünfzig Hohn. So hat es Exumé auf über hundert Lenze gebracht und lässt mich damit glatt zwanzig Jahre hinter sich, und wie! Aber leider besteht indessen mein Paradies in Gresye nicht mehr.

Der Nachbar Exumé ist ein überaus liebenswürdiger Kerl, der mir täglich zuwinkt oder ein paar freundliche Worte mit mir wechselt. In seinem einfachen, Wellblech gedeckten Steinhaus ohne Fenster, mit lediglich einem Blechstück als Türe, führt er seit Jahrzehnten ein Witwer- und Einsiedlerleben und macht vor, was «rüstig» heißt: Er kocht eigenhändig mit selbst geholtem Holz, holt un-ten im Tal täglich Wasser und badet trotzdem jeden Tag, und als bekehrter Protestant klettert er sonntags eine Stunde die Steilhänge hinab zur Kirche.

Ich erschrak, als ich zum erstenmal sah, wie behend er in die Baumkronen steigt und Blätter pflückt. Ähnliches habe ich höchstens bei unseren angeblich nächsten Ver-wandten in Afrika gesehen. Aber welche Blätter was be-wirken weiß niemand besser als Exumé, denn er ist «Docteur-Feuilles», Blätterdoktor, bei uns hat man vom «Kräuterpfarrer» gesprochen. Er bewirkt Heilungen und bekommt als Erfolgshonorar von dankbaren Patienten nach Gutdünken ein paar Gourdes.

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Man könnte auch sagen: «Naturheiler». Zwar kann auch Exumé die marode Natur nicht mehr heilen, weil dazu selbst sein langes Leben niemals reichen würde, aber er kann kranke Menschen heilen MIT der Natur und ihren Kräften, mit natürlichen Mitteln, ohne Medika-mente, mit Blättern und Kräutern, taufrisch oder luftge-trocknet, gekocht oder als Tee, er weiß immer, womit und wie. Und vor allem verhüten, dass sie überhaupt krank werden, denn dann ist es bereits meist zu spät.

So beobachte ich, wie er wie die Vögel lebt, den Tag nicht verlängert ohne Not mit künstlichem Licht, er hat ja auch keines, und keine Flimmerkiste, und kein Radio. Und wenn es dunkel wird, dann stellt er selbst sein Han-dy ab und schließt die Wellblechtür. Denn jetzt ist Ruhe angesagt, und die hat niemand zu stören.

Vaudou und Klamauk hat er sich abgewöhnt. Als gu-ter Christ weiß er zu beten und kennt die Kräfte des Glaubens. Er war noch nie bei einem Arzt und bezeich-net Jesus als seinen einzigen. Er weiß, dass alles, was der Körper tut, im Kopf beginnt und weiß wie leben. Er ist Analphabet, kennt das Wort «Placebo» nicht. Aber er weiß, was Placebo ist und kann damit Menschen heilen, polen und umpolen.

Der Blätterdoktor kennt auch das Wort «Motivation» nicht. Aber er weiß, was Motivation ist und kann die er-zeugen und einsetzen, er weiß FREUDIG zu leben. Nie-mand hat so gelernt zu leben wie er. So ist er auch ein Lebensberater, bei uns würde man hochtrabend sagen: ein «Coach». Man würde auch über den Sonderling die Nase rümpfen oder spotten. Denn bei uns kennt jeder Wörter wie Placebo, Motivation und ganz viel andere Wörter – und weiß nichts damit anzufangen. Exumé aber

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hat mit seinem Zustand nach bald hundert Lenzen ge-zeigt, wie der Hase läuft.

Und damit niemand glaubt, Armut gehöre zu diesem Lebensstil, das Beispiel etwas entfernterer Nachbarn, auch aus den Schwarzen Bergen. Matéus und seine gleichaltrige Frau sind ein zerbrechlich wirkendes Ehe-paar, das auch hundert auf dem Buckel hat wie Exumé, oder zwanzig mehr als ich. Über ihre Lebens- und Wohnweise weiß ich nichts Näheres, doch ich begegne ihnen zuweilen auf der engen Bergstraße, denn beide steuern ihren 4×4 noch selbst, einen Chauffeur brauchen sie nicht. Und da ein solcher Tête-Boeuf fünfstellige US$ kostet, scheint der Beweis erbracht: Auch in der (sozia-len) «Oberschicht» kann man die Lebenserwartung ver-doppeln. Man muss nur wissen wie.

Die Sterblichkeit im ersten Lebensjahr bezeichnet man als «Säuglingssterblichkeit», sie beträgt in Haïti 9,2%, in Deutschland 0,38%. Wir haben auch gelesen, dass in Haïti die mittlere Lebenserwartung auf fünfzig Jahre ge-stiegen ist. Dazwischen muss es ein magisches Schwellen-alter geben; wer dieses erreicht, hat «durchgeseucht» und ist mit allen Immun-Essenzen gewaschen. Für ihn gilt die mittlere Lebenserwartung nicht mehr, ihm steht ein laaaanges Leben bevor. Doch Exumé hat allen Zahlen und Jahrringen ein Schnippchen geschlagen. Denn auf den Bäumen lebt sich länger!

Essbräuche im Hungerland

Im Hungerland Haïti ist uns vieles unverständlich. Auf den ersten Blick. Für den zweiten Blick haben wir ja nicht nur

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ZWEI Augen, sondern auch ein Köpfchen. Dann verste-hen wir vieles. Und beginnen plötzlich zu respektieren, ja zu bewundern, was wir noch eben belachten.

Ich spreche heute von einigen Ess-Sitten, im Lande des Hungers. Natürlich können solche Sitten nicht beob-achtet werden bei den «Bourgeois», der sozialen Ober-schicht. Die, wie ich den teuren Wein, Roquefort und an-deres nicht missen können (um Irrtümern vorzubeugen, ich zähle mich trotz Zigarren & Co. nicht zu den Bour-geois). Von den neun Millionen Haïtianern gehören de-ren acht Millionen zur sozialen «Unterschicht». Da gibt es Ess-Sitten wie geschildert, und Hunger auch.

Das Lambi ist meinen Lesern schon bekannt (sonst empfehle ich, bei Interesse, in «Tanzen auf gestohlenen Schienen» zu schmökern). Das Lokal ist traditionell und sympathisch, ich war mit Melissa und Alson jede Woche hier, wohl ein paarmal. Wir waren dann die einzigen zah-lenden Gäste, denn die andern, die zuweilen hier rum-hockten, belegten ihre Tische, ohne etwas zu bestellen, während Stunden.

Man kann hier auch normal essen, mit Geschirr und Besteck, und zu unseren Preisen. Ich lernte eine spezielle Verpflegungslogistik kennen. Mit Kesselitürmen voll war-mem Essen. Zum Beispiel begegnet man um die Mittags- und Nachmittagszeit den Kinderarbeitern, die mit über-einandergetürmten «Bols» (Kesseli) unterwegs sind. Darin befindet sich die Nahrung für arme, alte, kranke oder weitab wohnende Familienangehörige, Landarbeiter auf dem Feld oder Handlanger auf einer Baustelle. Kochkis-ten- oder Gamellen-Verpflegung, würde man im Militär sagen: für einfache Mahlzeiten eine nahrhafte Eintopf-suppe mit Bohnen und Poulet, für gehobene Ansprüche drei- und vierstöckige Türmchen von übereinander gesta-

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pelten Kesseli. Jedes der Bols enthält einen Gang: ein fei-nes Reisgericht, kräftig gewürzte Fleischsauce, Erb-sensauce und einen Salat mit Tomaten, Bohnen, Erbsen und Lauch.

Diese Verpflegungsart ist sinnreich und sozial: Die lei-der übliche Kocherei mit Holzkohle dauert eine Ewig-keit, und wenn die Nahrung am frühen Nachmittag end-lich lind ist, wird sie noch heiß an den Bestimmungsort verfrachtet. Dafür reicht die Zeit natürlich nur einmal am Tag, und drei oder gar vier Mahlzeiten muss man verges-sen. Schon eine ganze Menge verstanden, nicht wahr?

Aber wie meist gegen den Schluss, kommt es noch bes-ser. Dass man manchmal auch mir im Kesseltürmchen Nahrung brachte, nach Haus und überallhin, wo ich war, selbst über den Berg, ist rührend und zeigt, dass man nicht vergessen wird im Lande des Hungers. Dass man dazuge-hört, man fühlt sich aufgenommen. Etwa wenn ich mir wieder mal ein Hotel leistete, eines in unserem Sinn, um auch etwas in unserem Sinn zu essen. So saß ich in einem Speisesaal und schickte mich an, die Karte zu studieren: Kam da aus Collines, der Heimatfraktion unserer Familie, ein dreikäsehohes Mädchen mit einem Türmli heißer Nourriture (Nahrung) auf dem Kopf, fragte nach dem Blanc (Weißen) der da sein müsse und kam mit den Kes-seli in den Speisesaal und an meinen Tisch.

Der Weiße muss doch etwas Rechtes zu essen haben, und das gibt es ja nicht im Hotel, mochten die Hinter-männer, in diesem Fall wohl Hinterfrauen denken, also bringt man es hin. Damit der Weiße nicht hungern muss, wie sie es tun. Und das Hotel duldet es. Soll man sich da schämen, schmunzeln oder weinen vor Rührung ob so viel Vorsorge? Und glaube nicht, lieber Leser, ich hätte eine Ausnahme geschildert. Die meisten Haïti-Menschen

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sind so – selbst wenn sie nicht lesen und schreiben kön-nen, selbst wenn man ihnen nichts gibt dafür. Sie lassen einen nie im Stich, sie schützen und umsorgen dich – ich fühlte mich niemals irgendwo sicherer!

Mit Versorgungskrisen muss man hier leben. Es gab die Brotkrise, weil die Bäcker gegen die teuren Mehlprei-se streikten oder sie nicht mehr bezahlen konnten – viele Bäckereien machten Konkurs. Das ist noch kein Jahr her.

Um auf dem Markt Nahrung zu kaufen, braucht es Münz. Münz ist der schweizerdeutsche Ausdruck für Mün-zen, Kleingeld. In Haïti heißt das Kob, oder César. Die Zei-ten, da Münzen aus Gold oder Silber zirkulierten, wohl in allen Staaten, sind vorbei. Überstieg doch der Metallwert solcher Münzen den Geldwert bei weitem, und es war ein gutes Geschäft, diese einzuschmelzen und als Metall zu ver-kaufen. Demgegenüber ist der Geldwert der heutigen Zinn- und Kupfermünzen so minimal, dass es sich nicht lohnt, sie zu behalten, man kann ja ohnehin nichts kaufen damit. Nun von der Finanz- zur Münzkrise …

Münzen gelten nichts. Und doch sind sie unentbehr-lich; wenn einem bei uns die passende Münze für die Parkuhr fehlt, kommt das teuer zu stehen und kann das Hundertfache übersteigen. Wenn die für den Billetauto-maten fehlt, geht man zu Fuß.

Ähnlich ist es mit kleinen Einkäufen, wie etwa Brot. In der Morgenfrühe gehen Alson oder Makin los, um mir Brot zu posten. Ich liebe Brot, aber das muss frisch sein. Lange Lagerfristen liegen da nicht drin. Und das braucht wieder Kleingeld, Münzen oder kleine Noten, die es hier auch gibt für ein paar Gourdes.

Heute erlebte ich ein Brot-Theater, weil Melissa nicht da war, die mich gewöhnlich in solchen Dingen schadlos hält. Und ich hatte kein Brot mehr, und auch kein Münz,

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Nötli zu 500 Gourdes (8,50 Euro) waren das Einzige, und sauber, frisch gedruckt – sie rochen noch nach Druckerfarbe.

Also gab ich Makin ein 500er-Nötli mit. Das Brot-säckli hätte vielleicht 12 Gourdes gekostet. Nach etwa ei-ner Stunde kam er zurück – ohne Brot. Der Händler hät-te kein Rückgeld gehabt und auch eine Vorauszahlung mit dem 500er-Nötli abgelehnt, da er wohl auch am Nachmittag und morgen nicht wechseln könne. Und im ganzen Dorf hatte niemand wechseln können.

Nach einer weiteren Stunde wiederholte sich das Dra-ma, und ich hatte immer noch kein Brot. Ich erzählte Melissa am Handy von dem Theater, man telefoniert hier im Freien, und dies offenbar so laut, dass es mein Nach-bar Francis mitbekam. Jedenfalls rief er mir aus seinem Gelände zu und fragte mich teilnahmsvoll, ob ich Proble-me hätte, gerne würde er mir helfen. Ich war zu stolz, um ja zu sagen, und wohl auch wütend. Das fehlte noch, dass mir ein Nachbar mit Brot aushelfen müsse …

Schließlich kletterte Makin leichtfüßig auf eine Palme und öffnete ein paar Kokosnüsse. Die haben einen herr-lichen Saft. Und als nach sechs Stunden das Brot endlich eintraf, brauchte ich das auch nicht mehr, ich hatte es eben mit Kokossaft gemacht.

Melissa aber schalt mich per Handy, ich sei doch im-mer noch ein typischer Blanc (Weißer), die seien zu ein-gebildet, um Hilfe von einem Nachbarn anzunehmen. Bei den Schwarzen sei das halt selbstverständlich. Wie recht sie hatte!

Es gab auch die Reiskrise. Die Reispreise hatten sich mehr als verdoppelt, immer mehr Marktfrauen fehlten auf dem Markt, und den Kunden fehlte das Geld. Es gab auch Unruhen, immer mehr. Im April 2008 gab es die Unruhen

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wegen der steigenden Lebensmittelpreise, mit sechs To-desopfern. Was sagt denn der Präsident dazu? Er sagt mit trockenem Humor: Jetzt müssen sie eben «den Gürtel en-ger schnallen». Jeder lacht. Galgenhumor???

Die Organisationen unternehmen große Anstrengun-gen im Kampf gegen die Armut, wenn auch viele das Leid der Menschen im Eigeninteresse missbrauchen. Tausende von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) agieren außerhalb jeglicher Kontrolle. Oft verlieren sich die Spenden in der Verwaltung und den Löhnen der Or-ganisationen, sodass nur ein Bruchteil tatsächlich bei den Bedürftigen ankommt. Laut Angaben des Welternäh-rungsprogramms der Vereinten Nationen (UN World Food Programme WFP) werden Lebensmittelhilfen in Höhe von hundert Millionen US-Dollar benötigt, Mittel, die in der globalen Wirtschaftskrise kaum aufzutreiben sind, was die Tragödie in Haïti verdeutlicht.

Das Elektrizitätswerk, viele Betriebe und humanitäre Organisationen haben Kantinen eingerichtet, in denen die Armen täglich eine warme Mahlzeit oder mindestens eine Suppe bekommen. Stundenlang stehen sie dafür Schlange, oft in brütender Sonnenhitze. Auf dem Gelän-de der Küstenwache und der Militärkamps der Blauhelme wurden unter Schattenzelten Kantinen errichtet, in de-nen Arme täglich eine warme Suppe erhalten. Sie warten Stunden. Das zeigt allein schon, wie dringend das Bedürf-nis nach Nahrung ist. So kommen jedoch noch mehr Menschen in die Stadt. Das macht die Unstadt noch rie-siger, chaotischer, arbeitsloser.

Auf dem Lande arbeiten brasilianische Landwirte mit haïtianischen Agronomen und Kleinbauern zusammen, um die Nahrungsmittelsicherheit in der armen Inselnati-on zu fördern. Ziel ist es, die teuren Importe signifikant

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zu reduzieren und Unabhängigkeit von den internationa-len Märkten und Arbeitsplätze zu schaffen. 3,3 Millionen Menschen benötigen dringend Nahrungsunterstützung. Sie leben in extremer Armut und politischer Instabilität, Umweltzerstörung und sind ständig von Naturkatastro-phen bedroht. Haïti ist nicht nur die ärmste Nation Ame-rikas, sondern auch das Land mit der höchsten Rate bei Unterernährung von Kindern, der höchsten Säuglings-sterblichkeit und der höchsten Infektionsrate mit AIDS.

Menschen in der Stadt voller Trümmer und Zelte lei-den jetzt doppelten Hunger, denn die wunderbaren ein-heimischen Möglichkeiten sind ihnen verwehrt. Die ein-heimischen Märkte sind für sie zu teuer oder sogar leer, oft haben sie überhaupt kein Geld. Für sie sind immer noch Hilfswerke und Behörden gefordert, mindestens mittelfristig.

Aber für andere gibt es einheimische Möglichkeiten, wenn es ums Überleben geht, man muss sie entdecken, vielleicht den Wohnsitz wechseln aufs Land. Wo natür-lich das Fehlen bezahlter Arbeit noch schwerer wiegt. Aber hier gibt es Kokosnüsse, Brotfrüchte, Mangos und Bananen, auch Ananas, Papayas, Maniok und Yam aus den einheimischen Märkten oder der freien Natur, oder gar aus dem eigenen Garten. Hundert weitere Götter-speisen und Gewürze, deren Namen ich nicht einmal kenne, brauchen nur aufgehoben oder gepflückt zu wer-den, selbst in den Bäumen. Saftige Melonen, die an der Straße überteuert verkauft werden, wuchern teilweise so-gar als Unkraut.

«Entwickelte» Länder und «Entwicklungsländer» gibt es nicht. Aber es gibt in den «entwickelten» Ländern eine große Mehrheit von «entwickelten» Menschen und eine verschwindende Minderheit von «Entwicklungsmen-

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schen», Armen, Hungernden und so. In «Entwicklungs-ländern» ist es umgekehrt. Es gibt eine kleine Minderheit von «entwickelten» Menschen und eine große Mehrheit von «Entwicklungsmenschen», Armen und Hungernden.

Nicht die «Entwicklungsmenschen», die Armen und Hungernden sind ein Problem. Das Problem sind die un-geheuren Gegensätze. Die nicht ganz arm sind, die einen, die essen, bis sie explodieren, das gibt es auch hier, und ist drüben in Europa sogar normal. Sie pfropfen ihren Darm, es folgen Fettsucht, Diabetes, Bluthochdruck, Verunreinigungen durch Gifte und Fremdstoffe im Kör-per, auf den sie nicht hören können. Drüben ist es noch schlimmer als in Haïti, wo Gifte und Fremdstoffe auch im Meer und auf der Straße schwimmen. Hundert Milli-arden pro Jahr sollen die ernährungsbedingten Krankhei-ten in Deutschland kosten, 30 Milliarden Herz-Kreislauf-Leiden, 20 Milliarden Karies, 3,5 Milliarden Alkohol «& more». Danach pfropfen sie ihren Darm mit Medika-menten, das fördert die Volkswirtschaft. In Haïti gibt es halt keine Zahlen.

Dabei ruinieren die Dicken nicht nur den eigenen Leib, sondern in Europa auch die Krankenkassen (auch die gibt es hier nicht), ja das ganze Volk. Wer zu dick ist, hat falsche Gedanken, wer zu dünn ist, nimmt falsche Drogen. Selbst die mütterlichen Frauen, die so gut ko-chen können, rauchen heute Zigaretten, um «schlank» zu bleiben.

«Hunger haben» ist eine Lüge bei «entwickelten» Men-schen. Niemand von denen kennt Hunger, man nennt eine Essgier so. Und wenn Esslust zu Esssucht wird, wird sie ein Fall für den Arzt.

Drei von vier Frauen bei den «entwickelten» Men-schen, fühlen sich zu dick, obgleich nur jede vierte Über-

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gewicht hat. Eine Frau soll sexy und attraktiv, eine gute Mutter und Köchin, im Beruf aktiv und zupackend sein, eine mühevolle Konstellation. Seit es in Teilen der Welt für „alle“ Lebensmittel im Überfluss gibt, lebt eine all-mächtige Industrie von der Manipulation der Nahrungs-bedürfnisse. Ernährung ist ein zentrales Problem des Menschen seit es Menschen gibt. Manchmal verhunger-ten sogar die Mächtigen. Heute ist «Food» ein Wirt-schaftsfaktor, globalisiert und ertragreich, bringt Ar-beitsplätze – und Krankheiten. Damit Medikamente, und nochmals Arbeitsplätze.

Auf den Körper hören gilt wenig. Studierte haben das Sagen. Ernährungslehre ist eine akademische Disziplin.

Auch hier gibt es Supermärkte wie Giant in Pétion-Ville, die Migros Haïtis, und andere. Hier kann man alles kaufen, zu Importpreisen versteht sich. In diesen Super-märkten drängen sich «entwickelte» Menschen, oft gefolgt von mehreren Dienern, die vollgestopfte Einkaufswagen schieben. Die Rechnung an den scanning-gesteuerten Kas-sen beträgt oft Tausende von Dollars. Die Märkte sind so voll «entwickelter» Kundinnen, dass man kaum hinein-kommt – und froh ist, wieder draußen zu sein.

Aber die Mehrheit hier, die «Entwicklungsmenschen», Arme, Hungernde, die kennen die Supermärkte nur von außen. Aber sie kennen den Hunger. 3,3 Millionen Men-schen sind von Hunger bedroht, ja Kinder sterben vor Hunger. Das Welternährungsprogramm startet eine In-itiative nach der andern dagegen. Auslöser des Hungers sind die gestiegenen Lebensmittelpreise sowie die verhee-renden Schäden der Hurrikane, beides geht so weiter.

Auch wenn es Organisationen gibt, die das Leid der Menschen im Eigeninteresse missbrauchen. Was tun dage-gen, weiß ich auch nicht, ich kann nur versuchen, die Pro-

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bleme hinauszuschreien. Bloß eines ist sicher: Die Welt darf nicht einfach zusehen. Und das ist auch ein Problem.

Bei den einen in Haïti grassiert der Hunger, wie in Afrika. Auch hier sterben Kinder vor Hunger. Keine Flugstunde südwestlich des Landes, wo jeder Mensch 1.400-mal sein Eigengewicht, drei Ochsen und mehrere hundert Hühner verzehrt, wo es für jeden Lebensmittel im Überfluss gibt und diese sogar weggeworfen werden, wo Fettsucht, Diabetes und Bluthochdruck das Leben bedrohen und wo sich drei von vier Frauen zu dick füh-len, jede vierte es tatsächlich auch ist.

Baie d’Orange ist eine Bergregion nahe Belle Anse im Südosten Haïtis, von etwa 8.000 Personen bewohnt, ganz nahe dem Nationalpark La Visite. Die Gegend ist ver-karstet, die wenigen Äckerlein in den Dolinen bringen fast nichts, die kargen Erdfrüchte müssen dem Boden mühsam abgerungen werden, das Wasser versinkt sofort in seine unterirdischen Abläufe. Die Zyklonen Fay, Gu-stav, Hanna und Ike zerstörten bei ihrem mörderischen Durchzug den Rest der ohnehin schon mageren Ernten. In der Gegend gibt es weder bezahlte Arbeit noch einen Laden, der Markt liegt unten am Meer, viele Fußstunden weit weg, und er ist leer und verwaist. Von extremer Ar-mut gegeißelt, haben die Familien nichts mehr, um die Kinder zu ernähren.

Eine Mutter klagte: «Unsere Kinder sterben vor unseren Augen und wir

sind machtlos, wir können sie nicht mehr ernähren.»Letzte Woche fanden die Helfer vier leblose Körper

von Kindern unter sieben Jahren, die offensichtlich meh-rere Tage nichts gegessen hatten. Zwei andere sind am Dienstag in den Armen der Ärzte gestorben, die gekom-men waren, um ihnen zu helfen.

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Alle Kinder leiden an Unterernährung, und bei einem Besuch der MINUSTAH am 21. November fand man 26 Leichen von bereits verhungerten Kindern. Die Kata-strophe wurde damit endlich medien- und weltweit be-kannt, und die Sektion Kanada der Ärzte ohne Grenzen wurde aktiv. Sechzig weitere Kinder wurden abgemagert, das Gesicht farblos, die Haare rötlich, die Füße aufge-bläht, in einem Zustand akuter, teils lebensgefährlicher Unterernährung mit Helikoptern in die Spitäler von Jac-mel, Cayes und Site Soley gebracht.

In Haïti sind entlegene Regionen darbende Regionen. Es sind dies die meisten, und es leben in solchen noch Hunderttausende von Menschen. Es ist zu befürchten, dass man in anderen entlegenen Regionen auch noch Hungerleichen entdecken wird. Ich kann leider zum Pro-blem nicht mehr beitragen, als dieses mit diesem kleinen Beitrag ins deutsche Sprachgebiet hinauszuschreien.

In der Nähe von Gonaïves entdeckten die Ärzte ohne Grenzen auf einem abgerissenen Koralleninselchen nach Wochen noch Flüchtlinge. Sie hatten hier seit der Kata-strophe auf felsigem Untergrund bei bis zu 50 Grad Hit-ze ausgeharrt, kein einziger Baum steht auf dem Riff. Die aufgefundenen Menschen waren in einem erbärmlichen Zustand. Die MSF hat mit Helikoptern Zelte, Latrinen und Trinkwasser hergeflogen, das Venezolanische Kon-sulat hat Milchpulver zur Verfügung gestellt – sie vermi-schen es mit schmutzigem Wasser und einer kleinen Por-tion Reis und backen «Kuchen».

Und schon wieder wurden 30.000 haïtianische Ein-wanderer von den Vereinigten Staaten samt ihren Famili-en in ihre Heimat abgeschoben. Viele von ihnen Famili-enväter mit gültigen Pässen und Dokumenten, Arbeitsbe-willigungen und legalen Arbeitsstellen, die Kinder in ame-

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rikanischen Schulen hatten. Wieder wurden verstärkt Haïtianer aus Florida abgeschoben. Die Haftmöglichkei-ten für Einwanderer ohne gültige Dokumente seien er-schöpft, die Gefängnisse überfüllt.

Was Alma Mater den Haïtis bringt

In Haïti geht jedes vierte Kind nicht zur Schule, das sind 500.000 Mädchen und Jungen, weil es zu teuer ist, oder weil die Verkehrsmittel und -wege fehlen. Oder auch zu teuer sind. Oder der Wohnort zu abgelegen. Oft nur per stundenweiten Fußmarsch oder Ritt erreichbar, im Berg-land – und das kostet Geld – aber die meisten Menschen hier verdienen nichts. Wie viele Kinder zur Schule finden und wie viele nicht, ist nicht eruierbar.

Und die hierher finden, die haben Glück. Womit noch nicht gesagt ist, dass sie etwas Brauchbares lernen. Die andern, besonders die Mädchen, die müssen arbeiten. Zum Überleben. In der Familie, im «Jardin» (Agrarland), oder verdingt bei einer andern Familie, oder verkauft als Sklaven – in die Stadt oder ins Ausland. Sogar in die «ent-wickelten» Länder (ich verrate nicht welche, ich möchte ja noch weiterleben). Die haben immer noch Glück, denn sie wurden nicht getötet, oder gekocht und gefres-sen (oder sagt man noch «gegessen»?).

Nirgends ist die Bildungssituation ähnlich dramatisch. Es gibt ein Schulobligatorium, aber keine unentgeltlichen, viel zu wenig öffentliche Schulen. Und diese sind für die meisten unerschwinglich, denn die Lehrer arbeiten auch hier nicht gratis, und die Lehrmittel werden auch nicht geschenkt. Das Land ist weitläufig, und es gibt oft keine

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Straßen, Brücken und Verkehrsmittel. Wo es ein Taptap (Sammeltaxi) gibt, ist dieses auch unerschwinglich. Für Menschen, die nichts verdienen.

Und die Unterrichtsqualität soll so schlecht sein, dass die Kinder kaum etwas lernen. Die UNICEF hilft in länd-lichen Regionen und Slumvierteln Haïtis, einen guten Un-terricht für 5.000 benachteiligte Kinder sicherzustellen. Sie und ein paar andere Organisationen tröpfeln also auf den heißen Stein, immerhin besser als nichts. Zehn Schulen werden dafür mit Tischen, Bänken und Tafeln sowie mit Trinkwasser ausgestattet.

Die Erwachsenen müssen aber nicht nur lernen, wie wichtig sauberes Trinkwasser und Hygiene sind, sie soll-ten auch lesen und schreiben lernen, und französisch, und vielleicht sogar englisch. Wunschdenken.

Die Alphabetisierungsrate beträgt bei Frauen 50%, bei Männern 54–75%, je nach Gegend. Die Wirklichkeit ist noch düsterer. Denn das Land ist weit und unerschlossen, oft NUR mit Helikoptern zugänglich. Und die kosten leicht vierstellige Summen pro Minute, und es gibt ihrer zu wenig. Auch Flughäfen. Also müssen Flugzeugträger her. Flugzeugträger als Ersatz für fehlende Flughäfen sind auch nicht billig. Und bei den Haïtianern, die diese Kosten se-hen, schürt das Probleme, etwa soziale. Sie betrachten das als Korruption und Diebstahl. Auch Super-Puma-Piloten und Flugzeugträger-Kapitäne arbeiten hier nicht gratis. Und an der Bildungssituation ändert das nichts.

Nach dem Lesen und Schreiben-Können folgt das Sprechen. Das Babylon-Problem. Haïti ist zweisprachig. Überbleibsel aus der Herren- und Sklavenzeit. Die schmale Oberschicht spricht Französisch, die breite Mas-se Kréol. Etwa 1803 machte sich Haïti unabhängig, und die Probleme begannen, sich zu potenzieren. Seit damals

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wird die Einführung der Mehrheits- und Landessprache Kréol in den Schulen postuliert. Um die «soziolinguisti-schen Hindernisse» der sozialen Integration zu entfernen, wurde 1979 eine Erziehungsreform durchgeführt, die das Kréol, die Sprache der Analphabeten, in den Schulen als gleichberechtigt mit dem Französischen einführen wollte. Ein Bericht schreibt, dass nur 3% bis 8% der Schüler bei-de Sprachen benützen und in der Schule, zu Hause oder zur Korrespondenz verwenden. In den Privatschulen werde Französisch bevorzugt. Klar, diese sind ja auch das Reservat der «Edelhirsche». Französisch bleibe auch die Sprache der Literatur. Ein anderer Bericht schreibt, 51,4% der Schüler verwenden ausschließlich Französisch, 44% Kréol in der Schule …

Jetzt kommt das Englisch. Sprache von vielen Millio-nen Ausland-Haïtianern, in den USA, Kanada, der gan-zen Welt. In der «Diaspora». Auch in den Medien, vor al-lem im Internet, in den Anleitungen und Handbüchern von Werkzeugen und Technologien und in den Lehrgän-gen höherer Ausbildungen kommt keiner mehr ums Englisch herum. In fortschrittlichen Kindergärten wird Frühenglisch gelehrt, gesungen, gespielt. Und weil Eng-lisch ein Statussymbol ist, sprechen Kinder jeden Alters die «Blancs» (Weißen) auf der Straße mit ein paar aufge-fischten «englischen» Brocken an – und wenn sie Ihre Muttersprache Deutsch sprechen, verwechseln sie dies ohnehin mit Englisch. Was tut’s. Für Kindergärten und höhere Ausbildungen reicht’s den allermeisten ohnehin nie, das «Kob» oder «César» (Bares). Englisch lernen scheint jedenfalls die neue Strömung zu sein.

Das Bildungswesen in Haïti ist, wie alles in diesem Land, äußerst vielfältig. Von hervorragenden Privatschu-len auf allen Stufen, besonders von Missionen und Orga-

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nisationen, bis zu staatlichen und ebenfalls privaten Selbsthilfeschulen gibt es alles, aber bevor ein landeswei-ter, staatlich geführter und kontrollierter Unterricht be-steht, ist keine Einheitlichkeit erreichbar.

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Schmunzeln ist besser als Weinen

Das Schmunzeln nicht vergessen, selbst in der Hölle

So ist sie leichter zu ertragen, die Hölle, sie reduziert sich zum Fegefeuer. Lachen ist ein Ausdrucksverhalten im Reflex, das sich in der Gemeinschaft mit anderen entfal-tet, eine Reaktion auf erheiternde Situationen, und ist an-steckend. Lachen als Kommunikation ist älter als die Sprache und kennt noch kein Babylon-Syndrom. Die Menschen hier in Haïti sind arm und viele haben Hunger, aber sie lachen oft und herzhaft. Man muss kein Dumm-kopf sein, um lachen zu können. Und hier machen sie es mit dem Bauch, die Kommunikation, die Musik, die Lie-der, die Bilder, aber auch die Kinder, die Probleme der Überbevölkerung, und der Armut.

Natürlich gibt es hier auch Dummköpfe, Dummköpfe und Querköpfe, aber die sind mir immer noch lieber als Oberköpfe. Oberköpfe, die gelernt haben, Selbstbeherr-schung sei anständiger und Lachen sei deshalb zurückzu-halten. Die machen halt alles mit dem Kopf, die Entwi-ckelten: Kinder, Geld, Finanzkrise, Probleme. Vor lauter Kopf haben sie den Bauch vergessen. Oder verlernt. Den Oberköpfen ist das Lachen vergangen. Sie gehen ins Lachseminar, um wieder lachen zu lernen.

Das Schmunzeln ist eine gemäßigte Form des La-chens. Schmunzeln ist ein Gesichtsausdruck, Lachen in abgemilderter Form. Schmunzeln erheitert, stellt auf, ist besser als Weinen. Denn Weinen stellt ab. Mit Schmun-zeln kommt man nicht gleich in Verruf, ein Dummkopf oder Trottel zu sein. Schmunzeln ist salonfähiger als lau-tes Lachen. Es schickt sich selbst für einen Oberkopf. Es

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steht im Zusammenhang mit etwas Lustigem, mit Humor und bedeutet Stillvergnügt- und Erheitertsein. Es geht so (natürlich Wiki-Zitat):

«Der Mund legt sich in eine leichte Lachfalte, bleibt bei zarter Wölbung aber eher geschlossen. Die Augen bleiben offen, die Lider werden aber etwas zusammen gekniffen.»

Alles klar? Jetzt Spiegel her, Mund lachfalten (aber nur leicht), etwas verwölben (aber nur zart) – soooo ist’s recht – und bei offenem Auge die Lider etwas zusammenknei-fen – das ist Schmunzeln! Mund lachfalten, das können sie nicht, die Oberköpfe. Ihr Mund bleibt zusammengeknif-fen. Die richtigen Entwicklungs-Menschen aber können ihre Gefühle zeigen, lachen, malen, gestalten, tanzen, wun-dervoll musizieren, singen, was sie fühlen, schmunzelnde aber auch kneifende Lieder. Sie müssen auch nicht in ein Lachseminar, um lachen zu lernen. Sie können sogar la-chen und müssen nicht nur schmunzeln. Hier kannst du das alles lernen, ohne Seminar.

Oberköpfe sind nicht Entwicklungs-, sondern «entwi-ckelte» Menschen. Als Oberkopf könnte man in der Haïti-Hölle von Hunger und Horror, vor Weinen und Schreien das Schmunzeln vergessen, das wäre ein Fehler. Denn man muss selber leben, um helfen zu können. Schmunzeln hilft, die Hölle besser zu ertragen. Schmun-zeln bringt Leben!

Deshalb erzähle ich einige Schmunzelgeschichten, die ich in diesem Land erleben durfte.

«Gut Schmunzel!» Und auch wenn es schwer ist: Blei-ben Sie ein Optimist!!!

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Es klingelt im Schuh

Als «Menschen von unglaublicher Freigebigkeit. Wenn man um etwas bittet, sagen sie nie nein, sondern fordern einen ausdrücklich auf, es anzunehmen und zeigen dabei soviel Liebenswürdigkeit, als würden sie einem ihr Herz schenken», schilderte Christoph Kolumbus die Haïtianos, und ich habe mich, nur fünfhundert Jahre später, diesem Urteil angeschlossen; du hast es schon gelesen.

Aber dass man nicht verallgemeinern darf, weißt du ja auch. Es gibt in jeder Herde schwarze Schafe und in jeder Gesellschaft liebenswürdige Menschen und Klauer, oder glaubst du, die Schweiz und Deutschland seien Ausnah-men? Der Einsatz von 20.000 Soldaten und Polizisten kann ja nicht GAR nichts gebracht haben, selbst in Haïti.

Vor allem seit ich mein Haus gebunkert habe, da hat das Klauen fast aufgehört. Wenigstens bei mir, ich bin ja auch nicht mehr ganz neu in Diebesländern. Schon vor sechzig Jahren in Afrika gelang es nur selten einem Lang-finger, an meine Siebensachen ranzukommen, denn auch in muslimischen Landen ließen sich Schnapphähne nicht durch die drastischen Strafen abschrecken wie Auspeit-schen und Abhacken von Gliedern.

Ein Statussymbol nicht nur von Straßenstrolchen ist das Sammeln von Handys, wenn sie nicht, wie meist, an den Ohren angewachsen sind. Mir wurden schon mehre-re gefilzt, denke, sogar in der Schweiz – ich war unvor-sichtig und ließ eines im offenen Auto liegen, während ich ein Pipi machen musste, nach kaum einer Minute stieg ich wieder ein und das Handy war weg. Ein anderes in Paris aus einem geschlossenen Hotelzimmer, da hatte ja nur das Personal Zutritt und der Fall war klar, wenigs-tens für mich. Aber hier in Haïti trug ich Handy & Co.

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stets in der Hand, so bin ich rund um die Uhr und das Handy für Klauer überhaupt nie erreichbar, und seit mei-nen zwanzig Haïti-Jahren kam mir auch nie mehr eines abhanden.

Diesen Monat ist meine Familie mit Freunden hier in den Ferien, und die unterschätzen die Handyklauerge-fahr. So wurden ihnen insgesamt drei davon gestohlen, das von vorgestern sogar meiner Frau Rosi, und die fol-gende Ganovengeschichte reizt so sehr zum Schmunzeln, dass ich sie dir nicht vorenthalten kann.

Es war Abend, ich war schon im Türmli und im Bett (es war VOR dem Erdbeben, die Welt war noch in Ord-nung), und es waren noch einige Arbeiter unten. Rosita hatte ihr Handy auf dem Tisch liegen. Rechtzeitig be-merkte sie dessen Verschwinden und schlug Alarm. Mein Hausbursche Alson war genügend schlagfertig, um gleich ihre Nummer anzurufen. Die Gruppe staunte nicht schlecht, als es unter den Füßen eines Arbeiters hervor-tönte: «Wäge dem muesch du nid trurig si», die Klingel-melodie meiner Frau. Die Klingeltöne sind sinnigerweise der Anfang einer uralten Schnulze und bedeuten auf gut deutsch: «Deshalb musst du nicht traurig sein!» Am meis-ten geschockt von allen war der Dieb.

Der Telefondieb hatte Glück, Rosi in die Finger zu fallen. In muslimischen Landen wäre die Strafe unweiger-lich eine ausgiebige Bastonade gewesen. Aber es geschah so, wie es die Herrin des Hauses wollte. Ob der Dieb wirklich ein Hungerdieb war und künftig von Filzereien geheilt, konnte ich nicht mehr erfahren. Man muss ja auch nicht alles wissen. Jedenfalls hätte er besser um das Handy gebeten, wie einst die Indianer bei Christoph Ko-lumbus ums Gold.

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Kopf ab dem Ammonshorn

Einmal beschrieb ich in einer Geschichte ein Erlebnis aus meinem Haus in Haïti, das wohl jeden zum Schmun-zeln bringt. Es war Sonntag, 18. März 2007, Haïti-Zeit 14 Uhr, windig, chaotisches schwarzes Gewölk über dem Meer, die Wellen tosten aufgepeitscht an den Strand, die Teufel folgten auf dem Fuß. Ich saß in meinem Türm-chen und kitzelte den Computer, der seit November spo-radisch flimmerte und mit dem Himmel um die Wette wolkte. Plötzlich schreckendes Geschrei von unten.

«Otti, Otti, Hilfe!», rief mein Wächter Alson herauf. Ich trat auf die Terrasse. Alson verwarf aufgeregt die lan-gen Arme und zeigte auf den Salon im Erdgeschoss.

«Bête, bête, ein großes Tier ist im Haus, im Salon, ein großes Tier, komm runter, sofort!» Dem konnte ich nicht widerstehen.

Unten angekommen, ein Riesen-Durcheinander. Ge-schrei. Alle Türen standen offen. Männer, schwer be-waffnet mit Macheten im Salon, dabei auch eine Frau mit einem Prügel. Angstverzerrte Gesichter. Palaver, Respekt. Abstand. Die Blicke angstvoll auf eine Ecke gerichtet. Ich sah nur ein altes Schubladenmöbel, davor der vormalige Inhalt, aufgehäuft auf dem Boden. Disketten, CDs, nur kein Tier. Die Machete schlagbereit erhoben, näherte sich Jean-Robert vorsichtig dem Schubladenschacht. Da wurde sogar ich gespannt.

Alson stocherte mit seiner Machete ins Dunkel. Er hangelte etwas Schweres hervor. Eine Leiche? Ein Zom-bie? Sonst ein Gespenst? Etwas Hartes schlug auf den Plättliboden. Und Gespenster sind doch weich! Die Ma-cheten schlugen mutig und gleichzeitig drauflos.

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Ich kam zu spät. Konnte nicht mehr verhindern, dass Alson in Panik zuschlug, wohl dorthin, wo er den Kopf vermutete. Aber den gab es gar nicht. Er war seit Jahr-millionen gestorben, verschwunden, zu Stein geworden. Und erst noch nachgebildet. Mein Vater hatte leiden-schaftlich Fossilien gesammelt. Aber dies war kein Petre- sondern ein Artefakt. Auch dieser stammte aus seiner Sammlung, ein Fleißstück einer Künstlerarbeit, indem ein Bildhauer einen echten Ammoniten in hartem Travertin-gestein nachgebildet hatte. Ich hatte die Skulptur seiner-zeit meinem Vater aus der Sahara als Andenken mitge-bracht und später nach Haïti mitgenommen. Jetzt fehlte ihm ein Stück der vermeintlichen Kopfmündung, und wahrscheinlich hat Alsons Machete seitdem eine Scharte. Die Situation entspannte sich und wir konnten wieder herzhaft lachen.

Schon Plinius der Ältere bezeichnete im Jahre 23 in Novum Comum, dem heutigen Como, Versteinerungen als «Ammonshörner». Ammon war eine ägyptische Gott-heit, die als Widder mit gedrehten Hörnern dargestellt wurde. Ammonshörner oder Ammoniten sind Zeugen vergangenen Lebens aus der Erdgeschichte. Sie lebten von 416 Millionen bis zu 65 Millionen Jahren, dem Über-gang von der Kreide zum Tertiär. Sie besiedelten wäh-rend der langen Zeit den riesigen Tethys-Ozean. Es wa-ren marine Kopffüßer, von denen es bis zu 40.000 Arten gab. Ihre Schalengröße schwankte vom Zentimeter- bis zum Meterbereich. Sie lebten gleichzeitig mit den Dino-sauriern. Wahrscheinlich durch einen Planetoiden-Ein-schlag wurden sie vor 65 Mio. Jahren mit anderen dama-ligen Tierarten vernichtet.

Der am häufigsten versteinerte Teil ist die Schale der Tiere. Die Form des Gehäuses ist eine aufgerollte Spirale,

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wobei sich die Ränder der Windungen umfassen. Diese Schalenform nennt man planspiral. Wegen der Ähnlich-keit mit einer Riesenschnecke kamen meine Leute über-haupt auf die Idee, dass das ein Tier sein müsse. Die Schale besteht aus den Bereichen Wohnkammer und Auftriebskörper. Diese Kammern waren bei lebenden Tieren mit Gas gefüllt. Zur Regulation des Gases diente wie bei Perlbooten ein Siphon, eine röhrenförmige Bil-dung, die wie ein Schnorchel zum Atemholen an der Wasseroberfläche verwendet wurde. Durch das Ein- und Auslassen der Gase in die Kammerscheidewände, die Septen, war es dem Ammoniten möglich, im Wasser auf- und abzusteigen. Auch konnten sie sich damit nach dem Rückstoßprinzip vorwärts bewegen. Zudem ermöglichten zahlreiche Arme wie bei einem Kraken oder Tintenfisch, auf dem Meeresgrund zu gehen. Das trug den Kopffü-ßern, einer Klasse innerhalb der Weichtiere, den Namen ein. Das Tier lebte in der Wohnkammer und konnte sich bei Gefahr wie eine Schnecke in sein Haus zurückziehen.

Die Ammoniten wurden nach ihrem Tod in Sedimen-ten des Meeresgrundes begraben. Jahrmillionenlang dran-gen gelöste Mineralstoffe in die Kammern ein und ver-härteten dort. Es entstand eine Versteinerung, ein Fossil oder Petrefakt. Aufgrund ihrer Schönheit sind Ammoni-ten bei allen Fossiliensammlern beliebt.

Jetzt liegt das geköpfte Untier vor uns. Ein Kunstwerk, nachgebildet einem einstmals echten Tier, einem fossilen Ammoniten, jetzt zum zweiten Mal getötet. Und wir bers-ten fast vor Lachen; das ist sogar in Haïti noch möglich! Dann kam das Goudou-goudou, das Untier wurde ver-schüttet, zum dritten Mal getötet und ist wieder in die Stei-ne zurückgekehrt. Sollte es je wiederauferstehen, ist das eine neue Geschichte wert.

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Die Hütte des Vogelscheuchers

Meine Arche Noah ist Haus und Garten. Wohl den Tie-ren, die dieses «Paradies in der Hölle» finden und hier Zuflucht suchen. Hier werden sie bestimmt nicht mehr totgeschlagen, durch Menschen, meinte ich, als ich die Geschichte schrieb. Aber dann besorgte das ein Erdbe-ben. Und einmal wurde in diesem Haus totgeschlagen, was schon seit Jahrmillionen tot war! Wildtiere in Haïti sind heute Mangelware, doch innerhalb meiner Gemäuer durfte ich schon viele beobachten, was mir stets den Puls beschleunigte: Dutzende von Reptilien- und Amphibien-arten, Fledermäuse, «Mungos», Reiher, Kolibris, Schleier-eulen und gewöhnliche Vögel.

Im Haus habe ich von Anfang an Höhlen und Nistge-legenheiten für Tiere eingebaut, die gerne benutzt wer-den. Man nennt solche Tiere, die ihre Nester in Häusern, unter Dächern, in Briefkästen oder anderen technischen Gerätschaften einrichten, «technophil» (im Gegensatz zu den «Technophoben», die unsere «Schöpfungen» meiden). Über meine Schleiereulen habe ich bereits eine eigene Kolumne geschrieben. Dass diese auch in der Schweiz und besonders hier in Haïti seltenen, eher tech-nophoben Tiere mein Haus als Quartier auswählten, viele Jahre bewohnten und jährlich zweimal je doppelten Nachwuchs erzeugten, bereitete mir natürlich eine ganz besondere Freude. Leider sind sie vor einigen Jahren ver-schwunden, gelegentlich höre ich nachts immer noch ih-ren unverkennbaren Schrei, und die Hoffnung auf ein Wiederkommen flackert hoch.

Verschwunden sind auch die Kolibris, die ebenfalls viele Jahre lang im Garten lebten. Sie hatten ihr Nest an einem Strauch direkt vor meiner Haustür aufgehängt,

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und eine Zeit lang freute ich mich jeden Morgen, wenn sie ihr eigenes Spiegelbild im Außenspiegel meines Autos angriffen. Reptilien und Amphibien bevölkern Haus und Garten in reicher Auswahl: bunte, flinke Anolis, Perlei-dechsen, Gras- und Baumfrösche und selten auch ein ele-gantes Schlänglein. Von den Riesenschlangen, die auch da sind, kenne ich leider nur die Spuren. Und über meine speziellen Schlafzimmerfreunde, die possierlichen Ge-ckos, habe ich eine eigene Kolumne geschrieben.

Während der Bauzeit versteckten sich irgendwo in ei-ner Höhle auch noch zwei mungoähnliche Geschöpfe, sehr flinke, marderartige Raubtiere. Ich ließ ihnen in der großen, unteren Umfassungsmauer einen kleinen Durch-schlupf, den sie als Ausgang auf die Küstenebene hinaus benutzten. Mein Freund Klaus aus Deutschland war bei mir zu Gast und rief mich einmal frühmorgens, um mir die possierlichen Spiele der «Mungo»-Kinderstube zu zei-gen. Ihre Sprünge und Purzelbäume übertrafen alles, was ich an spielenden Tierkindern schon gesehen hatte.

Ja die Küstenebene, die ist immer noch unüberbautes Grünland. Es ist eine Art ungeregelter Allmend, in der die Bauern in primitiver Wechselwirtschaft Reis, Zucker-rohr, Mais, Bohnen, Erbsen, Kalalou und anderes anbau-en. Auf den Brachflächen weiden einige Kühe und Och-sen, manchmal auch Ziegen und Pferde. Es gibt hier viele Vogelarten, von Kuhreihern bis zu Webervögeln und kolkrabenähnlichen «Madan Sarahs», die markdurchdrin-gend schreien können. Wenn die Ähren bald reifen, wer-den die Felder vor Vogelfraß geschützt. Vor fünfzig Jah-ren habe ich in Marokko bereits phantasievolle Vorrich-tungen zu diesem Zweck beobachtet und beschrieben, so automatische «Vogelkanonen» und andere Geräuschma-schinen. Hier hat man kein Geld für solche Späße, aber

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viel Phantasie beim Basteln schreckerregender Vogel-scheuchen.

Es gibt auch lebende Vogelscheuchen. Vogelscheu-cher ist da sogar ein Beruf, er heißt auf Kréol «Masca-ron». Ich kann einem Mascaron zusehen von meinem Wohntürmchen aus, direkt unten in der Küstenebene. Da hat ein Vogelvertreiber neben einem Reisfeld die Blätterhütte aufgebaut und erzeugt mit einem alten Blech und anderen Lärminstrumenten Tag und Nacht Knall- und Donnergeräusche, klatscht in die Hände und stößt stimmgewaltig erschreckende Gesänge und Schreie aus, manchmal sekundiert von der mitschreienden Jungmann-schaft. Dabei verfügt er über ein erstaunliches Reper-toire. Dadurch sollen die gierigen Schwärme vertrieben werden.

Vogelscheucher gibt es, seit es Bauern gibt. Es ist ei-ner der ältesten und zugleich einer der modernsten Beru-fe. Nach einer deutschen Zeitung haben nämlich auch Airports Vogelverscheucher: Sie vertreiben die Vogel-schwärme von Start- und Landebahnen mit Schreck-schuss-Pistolen. Für Düsen-Jets können die gefiederten Freunde gefährlich werden, wenn sie etwa beim Start in die Triebwerke gelangen. Die sollen allerdings, im Gegen-satz zum Haïti-Vogelscheucher, mit monatlich 2.000 bis 4.000 Euro recht gut bezahlt sein … Die Scheucher hier verdienen nichts. Sie sind eben auf dem falschen Fleck Erde geboren. Für mich ist die Zeit der heulenden Scha-kale, der brüllenden Löwen und der trompetenden Ele-fanten für immer vorbei. Aber dank der Vogelscheucher kann ich mich keineswegs über eine mangelnde Hörwelt beklagen.

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Madan Sarah schwatzt zuviel

Ich kann nicht behaupten, dass sich mein Umfeld nicht verändert. Immer wieder neue, fremdartige Klänge und Bilder erlebe ich in engster Nachbarschaft, in meinem Garten. «Madan Sarah» heißt sie, meine neueste Nachba-rin. Es ist ja ein merkwürdiger Name für einen Vogel. Auch bin ich von einer jungen schwarzen Dame weniger Dreistigkeit gewohnt, aber in Haïti lernt man Toleranz gegenüber Fremdem. Nach meinem bescheidenen Schweizer Wissen könnte Madan Sarah sogar ein Mon-sieur sein, denn Vogelgesänge sind männliche Reviermar-ken, habe ich einmal gelernt. Aber die Einheimischen nennen sie Madan, also bleiben wir dabei.

«Madan Sarah» nennt man in Haïti auch die Markt-frauen hinter ihren Warenhaufen. Das ist kein Zufall, denn auch sie schnarren und plappern unentwegt wie die gesprächigen Vögel, sodass man diesen Frauen denselben Vogelnamen gab. Ähnlich den «Klatschweibern» bei uns.

Madan Sarah ist ein krähenartiger Riesenvogel, mindes-tens so groß wie ein Kolkrabe. Und ebenso frech kolkt sie jede Morgenfrühe vom Wipfel der Königspalme zu mei-nem Türmchen herüber, und ich kolke zurück. So unter-halten wir uns eine Weile, ich versuche, ihre Laute nach-zuahmen und schnattere ebenfalls drauflos, und ich habe den Eindruck, wir verstehen uns trefflich. Manchmal dreht sie eine Runde ums Haus und kommt gleich wieder zu ih-rer Startrampe, dem Spitzen-Palmwedel der Königspalme, zurück, und unser Gespräch beginnt von vorn.

Ich habe gemeint, zu einer Sprache gehören mindes-tens 3.000 Wörter. Aber das Lautinventar von Madan Sa-rah umfasst Tausende von Klangfiguren, die Tonband-breite mehrere Oktaven, die Lautstärke steht den Riesen-

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lautsprechern im Lambi kaum nach, und die Kreativität übertrifft jede Vorstellung.

Ein Onomatopoet müsste man sein, so heißt einer, der außersprachliche Klangbilder in Lautbilder und -ge-stalten umgießen kann. Djück-djück, zizibä-bää-bäää-bääää, pink, djück-djück, ziiiiiii, zizibä-zizibä-zizibääää, zui-ti-zui-ti tr-tr-tr-tr-trrrrr, tiht tiht tiht, prräk, tok-tok, dann wieder ein kurzes Flöten, ein heftiges Zetern, ein Fauchen und Zischen, und los geht’s wieder mit zi-bäh-zi-bäh, krö, kjack, kjaschack-kjaschack-kjaschack, srihkro-hohohooot, tschaff-kuak-ak-ak, –, krah-kirk-konik-konik-konk, gaggaggag, skri-tschjuuup, rätschrätschtschär-huisk-iii, –, tapp,tapp, tschiep, tschiep, tschiep, tschiiiep, und manchmal kommt der Refrain dazwischen, oder ein Laut bleibt ihr im Halse stecken, vielleicht bekommt sie auch Schluckauf vor lauter Ereiferung. Meine klangbegabte Nachbarin ist eine wahre Stimmakrobatin! Ich wiederho-le mich: Ein Onomatopoet müsste man sein, Madan Sa-rah ist das, zweifellos. Nur ich bin das nicht …

Übrigens sooo-ha-ha-aaa-oooo-o-o-o lustig, fast ähnlich tönt der Frühgesang des Mascaron, der auch über ein un-glaubliches Repertoire verfügt. Und ich sage nochmals: Ein Onomatopoet müsste man sein. Ich habe den starken Ver-dacht, dass sich Madan Sarah über den Vogelscheucher lus-tig macht und seine Klangerzeugnisse auch imitiert.

Es tönt wie in der Masoala-Halle des Zürcher Zoos. Madan Sarah kleckert für ein ganzes Vogel-Orchester. So wie es auch in Haïti einmal getönt haben muss, als Insel und Urwälder noch in Ordnung waren. Dann tobte der Mensch los wie ein tropischer Wirbelsturm und hinter-ließ das Vogelorchester nur noch in meinem Garten. Aber eines ist sicher: Madan Sarah schwatzt zuviel. Ent-schieden zuviel!

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Warum man in meinem Garten Helm tragen musste

Der Brotfruchtbaum heißt französisch «Arbre véritable» (echter Baum), Kréol «Lam». «Der Wahrhaftige» ist denn auch von stattlicher Erscheinung, gern zwanzig Meter hoch mit einem Meterstamm und prächtigen Brettwur-zeln. Es war wohl mein einziger Gartengast, der ur-sprünglich nicht aus meinem Schulhaus in Waltenstein-berg stammte, sondern aus Polynesien. Von hier wurde er als Nutzpflanze nach Hawaii, Asien, Afrika, Mittelame-rika, in die Karibik und nach Haïti verschleppt.

Schon 1787 befahl König Georg III. dem britischen Seefahrer William Bligh, Stecklinge des Brotfruchtbaums als preiswertes Nahrungsmittel für die Sklaven auf den dortigen Zuckerrohrplantagen von Tahiti zu den Westin-dischen Inseln zu bringen. Es war der erste staatliche Pflanzenschmuggel mit der Absicht, das Nahrungsangebot zu verbessern. Die erste Expedition scheiterte wegen der berühmten «Meuterei auf der Bounty» und die Sklaven ak-zeptierten das ungewohnte, neue Nahrungsmittel nicht. Bligh erhielt nun den Übernamen «Breadfruit-Bligh».

Mich interessierte der Baum mehr wegen seiner riesi-gen, bizarren, lederigen Blätter am Ende langer Stiele und seiner prächtigen Früchte, eben auf Kréol «Lam» gehei-ßen. Die grünen, 2 kg schweren Früchte haben ein wei-ßes Fruchtfleisch, das heute ein Grundnahrungsmittel bil-det. Das aus dem getrockneten Fruchtfleisch gewonnene Mehl mit seinem hohen Nährwert enthält viel Stärke, Zu-cker, Eiweiß und etwas Fett. Die Lam wird noch grün ge-erntet, wird nach der Reife goldgelb und besitzt dann einen süßen, kartoffelähnlichen Geschmack. Reife, gelbli-che Früchte werden roh, unreife grüne werden gekocht und als Gemüse oder Mus verzehrt. Man kann auch frittie-

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ren, Salate anrichten, pürieren, zu Jus und mit Alkoholen zu Likör und Crémasse verarbeiten und vieles mehr. Die zwei Dutzend Nussfrüchte im Innern werden geröstet und zu Mehl vermahlen. Daraus lassen sich köstliche Brote ba-cken; das gab der Frucht auch den deutschen Namen. Zu den Produkten zählen Heilmittel, zum Beispiel gegen Zuckerkrankheit. Sie gehört zu den größten Baumfrüchten in Haïti, noch größer werden nur die Melonen, die aber nicht auf den Kopf fallen, doch davon später.

In meiner haïtianischen Frühzeit hatte ich einen diebi-schen Wächter namens Azuli, mein Haus war noch voll im Bau. Außer dem gewaltigen Brotfruchtbaum gab es eine Baugrube, die später das Schwimmbad aufnehmen sollte; sie war ein paar Meter tief. Da unten befand sich die provisorische Latrine für die Bauzeit. Vom Zoo Mia-mi hatte ich ein junges Riesenschildkrötchen erstanden, kaum faustgroß hab ich es in der Hosentasche im Kurs-flugzeug nach Haïti geschmuggelt, wo es lernte, auf sei-nen Namen zu hören und herbeizutrippeln. Eines Tages hat es Azuli, der Tölpel, aus Unachtsamkeit totgetreten.

Einmal kam Besuch aus Deutschland, mit Chauffeur, wie sich das gehört. Ich war von Durchfall geplagt und wartete ungeduldig, bis meine Gäste abzogen, denn zum Erreichen der Latrine musste in die tiefe Baugrube ge-klettert werden, das dauerte seine Minuten. Ich drückte dem Wächter meine Geldbörse zum Halten in die Hand und kletterte los. Als ich erleichtert zurückkam, war sie ebenfalls erleichtert, nämlich leer. Auf meine Frage wollte mir der Wächter weismachen, der Chauffeur meiner Be-sucherin hätte den Inhalt gestohlen, sie waren schon ab-gefahren, und die Unmöglichkeit seiner Version war nicht mehr belegbar. Offenbar aus Intuition spürte mein damaliger Deutscher Schäfer Max meine Gefühle und

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zog Azuli, als der auf eine Leiter flüchten wollte, die Ho-sen aus. Und am selben Abend noch fiel dem Wächter im Garten eine Brotfrucht auf den Kopf und machte ihn für einige Tage bettlägerig. Ich riet ihm, künftig den Gar-ten nur noch mit Helm zu betreten. Deshalb schrieb ich oben, dass einem zum Glück die Melonen nicht auf den Kopf fallen, auch nicht in meinem Garten. Die wachsen nämlich am Boden.

Hexe im Weinglas

Die Erlebnisse in Haïti sind täglich, manchmal auch nächtlich. Und die Erlebnisse sind lieblich. Und manch-mal auch garstig. Oder scheußlich. So diesmal. Diesmal war es auch nächtlich. Und eingänglich. Bis in den Mund.

Ich übernachtete auswärts. Ein Glas Wein stand so bereit, dass ich es im Fall nächtlichen Aufwachens auch im Dunkeln ertasten und daran nippen konnte. Und das tat ich genüsslich, von Zeit zu Zeit. Doch da spürte ich etwas Garstiges zwischen den Lippen, Drahtiges, Ge-strüppiges – machte Licht und spie. Kaum hatte ich ges-tern über Hexen geschrieben, war eine da, mir ins Wein-glas geflogen, fast hätte ich mich verschluckt. Die musste nicht mehr verprügelt werden, denn das Viech war be-reits tot, abgesoffen im chilenischen Rotwein.

Hatte mir doch Melissa eine Diskette aufs Glas gelegt, und ich hatte das nicht respektiert und diese weggelegt. Disketten sind nur noch dafür nütze, seit die Computer ohne Floppy-Laufwerk geliefert werden. Also künftig wieder eine Floppy auf den Wein, obschon dies eigent-lich ein Stilbruch ist. Und nach einem Abschiedsfoto –

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dass es etwas unscharf ist, daran ist bestimmt die Hexe schuld – gehen Wein und Hexe den Weg alles Irdischen. Man suche bei allem die Vorteile. Ein Vorteil ist, dass ich wieder etwas gelernt habe – man kann die ehrwürdigen alten Floppys als Deckel und Spinnenschutz brauchen –, und, zweiter Vorteil, dass ich daran nicht gestorben bin, noch nie, wenn ich eine Mücke oder Fliege geschluckt hatte. Und das ist hie und da geschehen. Dritter Vorteil ist, dass es so ein unerwünschtes Viech weniger gibt in meiner Nähe.

Die Hexe hindert mich am Einschlafen. Umso mehr, als sich meine Gedanken schon wieder um eine neue Ko-lumne drehen, die jetzt entsteht. Die Festplatte erzeugt von Zeit zu Zeit knisternde Geräusche. Der Eingang der Modem-Glasfaser funkelt kaum sichtbar, wie ein Later-nentierchen. Irgendwo tönt es wieder hexig. Ich bin jetzt hellhörig. Und gewitzt.

Ich habe vergessen, wie sie heißen, meine Kinder

Handys sind zu einem Statussymbol geworden, auch bei den Armen. Handys mit Fotoapparat oder Filmkamera, Handys mit Internet, das wegen Unbezahlbarkeit «nicht funzt» und Handys mit Klingeltönen à gogo. Auch Alson besitzt so ein Ding und drückt immer wieder eine Ge-heimtaste, wonach das Ding «klingelt» bezw. seine Kenn-melodie spielt. Er nimmt dann ab und ruft mehrmals «Halloh» ins Mikrophon, hängt aber jedesmal nach eini-ger Zeit wieder auf, ich habe ihn noch nie sprechen hö-ren. Ich glaube, er weiß gar nicht, dass man telefonieren kann mit dem Ding. So spielt er andauernd vor, gefragt

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zu sein, er möchte doch soooo gerne einmal angerufen werden. Heute hat Alson einen Freitag und ist nach sei-nem Dorf unterwegs, aber auch mit einem andern Beglei-ter stellen sich sogleich Erlebnisse ein. Ich staune immer wieder, wie in diesem Land jeder Tag, jede Reise ein Er-lebnis wert ist. Manchmal zum Schmunzeln, und manch-mal zum Heulen.

Heute war wieder ein Schmunzelmorgen, wenn auch durchzogen wie alles hier. Ich wollte mit einem Begleiter, Makin, nach den Schwarzen Bergen, den Montagnes Noires fahren. Kaum hundert Meter vom Haus, auf der Hauptstraße angekommen, läutet mein Handy, und ich bitte ihn abzunehmen. Wie es sich für einen europa-ge-lernten Autofahrer geziemt. Er plappert etwas in unver-ständlichem Kréol, ich verstehe nur immer wieder «Hal-loh», und hängt dann auf (oder wie sagt man bei Handys?). Ich frage, wer angerufen habe.

«Meine Tochter», antwortet er wie selbstverständlich. Makin ist ein liebenswertes Kerlchen, wie von einem Ma-ler abgebildet, aber er ist kaum 18. So sei mir mein Er-staunen und meine Frage erlaubt:

«Du hast eine Tochter, die schon telefoniert?» Er be-jaht und nickt.

«Wie alt ist sie?», wage ich weiter zu fragen. «Ich weiß es nicht mehr». – Erstauntes, betretenes

Schweigen. Ich frage noch einmal: «Wie heißt sie?» «Das habe ich auch vergessen.»Nun weiß ich nicht mehr, ob sich das Kerlchen über

mich lustig macht oder was. Ich erinnere mich an den Ausspruch eines sehr geschätzten Didaktikprofessors in den Fünfzigern im Lehrerseminar:

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«Streich ein ‹M› und setz ein ‹PF› dafür, und als Dumpfheit ehr sie nach Gebühr.» Also schwieg ich voll Ehrfurcht, und versuchte, die Dumpfheit anzubeten.

Jetzt kreuzten wir einen Konvoi von Blauhelmen. An der Spitze eine rot-weiße Luxuskarosse mit meterhohem Blinklicht-Aufbau, eine Superwaffe der psychologischen Kriegsführung. Und hinter den schwarzen Scheiben zweifellos eine klimatisierte Kabine mit einem sehr, sehr Hohen Tier, das von einer Hundertschaft von Schwerbe-waffneten beschützt werden musste. Die Schwerbewaff-neten folgten denn auch in ein paar Lastwagen, nicht kli-matisiert, aber wohl bachnass von den schusssicheren Westen, die blauen Helme tief in der Stirn, vor Nase und Mund Chirurgenmasken gegen Schweinegrippe (zu der ich mich ja schon geäußert habe) und Gestank, Maschi-nengewehre schussbereit auf Hecklafetten und Sturmge-wehre zwischen den Knien. Das Hohe Tier im Innern zitterte wohl vor Angst; und damit man das nicht sah, waren die Scheiben schwarz.

Noch kaum einen Kilometer vom Haus, da hört das Schmunzeln unvermittelt auf, denn hier werden To-desopfer aus Autowracks gezogen, die eben erst zusam-mengekracht sein müssen. Wie leicht sammelt man Er-lebnisse auf dieser Insel. Solche zum Schmunzeln, und solche zum Heulen.

Ich habe auch so ein Handy. Ich muss jetzt Alson an-rufen, damit er einmal einen wirklichen Anruf bekommt.

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Ich bin süchtig!

Meine Laster sind Zigarren, Wein und Roquefort, alles et-was teuer, besonders auf der Insel. Die Zigarren sind aber immer noch um die Hälfte billiger als in der Schweiz, und wenigstens aus einheimischer Produktion, Wein und Roquefort sind eingeflogen. Viele Schweizer werden den-ken «Schäm Di», für das bist du auf die Insel gegangen? Sie haben eben gelernt, alles zu werten – und können dann nicht mehr aus ihren Werten hinaus. Ich liebe hie und da eine Zigarre, ein Glas Wein und einen stinkend-dahin-schmelzenden Roquefort. Aber ich bin nicht süchtig.

Ich leiste mir auch oft eine Massage, manchmal sogar täglich. Aufstellend, und ebenfalls einheimische Produkti-on. Ich habe mir immer etwas geleistet, von Kontrasten gelebt. Aus der monatelangen Einsamkeit als wissen-schaftlicher Filmer im Schweizerischen Nationalpark bin ich direkt an die Weltausstellung nach Brüssel geflogen, ich habe im Palast von König Hassan und in Wüstenzel-ten und Sandgruben, im Marriot am Broadway und in Wellblechhütten der Bidonvilles geschlummert und die Erde in allen drei Dimensionen erforscht, und oft er-kämpft. Ich mag den Anblick schöner Frauen, verjüngen-de Berührungen, Kontraste jeder Art. Aber süchtig, nein!

Ich liebe Landschaften, Aussichten, Reisen, Fliegen, Höhlen, Berge, das Meer, Rum, Clairin oder Frauen. Aber ich war nie süchtig nach alldem. Schade, wenn es etwas nicht gab, aber ich lebte mein Leben trotzdem genüsslich weiter, das Bedürfnis war nie unüberwindbar. Trotzdem bin ich abhängig von etwas. Sie erraten es nicht, aber ich weiß es genau: von elektrischem Strom. Den ich mir mühsam geschaffen habe, was viele Jahre lang auch funktionierte.

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Diese Zeilen aber, die kritzle ich von Hand, das ist mühsam. Und die Hieroglyphen haben mit Kalligraphie nichts mehr zu tun, Sie könnten das nicht lesen. Ich habe mir das seit meiner Schulzeit nie mehr angetan. Habe es fast verlernt, dass man von Hand schreiben kann.

Denn heute früh ist mir tatsächlich der Strom ausge-gangen. Ich erlebe eine subjektive Katastrophe, obschon das rundum bei den andern normal ist. Das Licht ist mir eigentlich egal, Küche und Kühlschrank auch. Meine Leute kochen ja ohnehin lieber mit Holzkohle, wie sie es leider gewohnt sind, und ich bin auch an lauwarmem Bier nicht gestorben.

Aber das Internet, und erst der Computer – da hört alles auf. Da beginnt die Sucht!

Zur Sache (ich mache es kurz) – mitten im neuen Ar-tikel, jetzt ist DIES der neue, Alarm vom UPC (neu-deutsch Uninterruptible Power Supply oder Battery Backup), das gibt noch Strom zur Notlandung. Dann die Recher-chen, den ganzen Morgen lang. Netze und Leitungen ok, Solarpanel ok, Batterien und Batteriewasser ok, Inverter/Zerhacker – k. o. Hier liegt’s! Einschalten, 1–2 Sekunden Strom, dann Blackout, Ausschalten und das-selbe x-mal wiederholen.

Der mir das System vor Jahren eingerichtet hat, der war ein Dieb. Und Diebe mag ich nicht, gar nicht. Wo findet man einen neuen, sachverständigen «Inverterolo-gen»? Problem erkannt, Problem läuft.

Also, ich kritzle von Hand. Herrgott, jetzt geht mir auch noch die Mine aus. Und die Ersatzminen sind ver-trocknet. Von Hand schreiben ist auch nicht alles.

Madan Sarah sitzt drüben auf der Königspalme. Heute spricht sie nicht mit mir, sie lacht. Und fliegt weg. Ein Grünhorn nimmt ihren Platz ein, würde man in der

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Schweiz sagen. Pardon, wollte sagen: Grünspecht. Aber der heißt hier anders, alles heißt anders, und niemand weiß wie. Es gibt keinen Feldführer, kein Bestimmungs-buch über die Vögel der Karibik, geschweige denn Haïtis, es gibt nichts. Nichts! Und eben, es gibt nicht einmal Strom. Man erinnert sich an Goethe aus der Schulzeit. Was hat der über Namen gesagt?

Ich sagte manchmal, Probleme lösten sich von selbst. Man müsse nur Geduld haben. Jetzt weiß ich, was mir fehlt. Es wird auch diesmal so sein. Sind auch Sie strom-süchtig, liebe Leser?

Ich bin ein Schmuggler von Kriegsmaterial!

Seit ich hier einzog, waren nicht weniger als 13 Präsiden-ten und Putschgeneräle am Werk: Herard Abraham, Ert-ha Pascal-Trouillot, Jean-Bertrand Aristide, Raoul Cédras, Joseph Nérette, Marc Bazin, nochmals Jean-Bertrand Aristide, Émile Jonassaint, und wieder Jean-Bertrand Aristide, René Préval, schon wieder Jean-Bertrand Aristi-de, Boniface Alexandre und René Préval, zur Zeit noch amtierend. Aber eben folgt ein neuer.

Jeder hinterließ seine Probleme. In der Zeit meiner Übersiedlung nach Haïti war da allerhand los, das für mich Konsequenzen hatte. Vor allem das Embargo, das gegen den selbsternannten Putschgeneral Raoul Cédras verhängt wurde, um das Militärregime in die Knie zu zwingen. In der Folge irrten meine zwei 12,2 Meter-Con-tainer samt Inhalt monatelang auf den Weltmeeren um-her, mussten aus Entscheid der Reederei wegen zu langer Mietdauer umgeladen werden (ein Kaufversuch wurde

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abgelehnt) und landeten mit jahrelanger Verspätung und einer Verderb- und Diebstahlrate, die an Totalverlust grenzt, am Ziel.

Schlimmer wiegt der Diebstahl eines Geldtransportes und der Versuch, meine mir geschenkte Ordonnanzpis-tole samt Munition mitzunehmen. Weil es in den Zeiten der Räubersoldateska geboten war, zum Selbstschutz eine zuverlässige Schusswaffe nahbei zu haben. Die Vorberei-tung des Pistolentransports dauerte ganze zwei Jahre, denn ich Naivling glaubte noch, perfekt und ehrlich wäh-re am längsten. Alle lachten mich aus und behielten leider recht. Mit Schmuggel und etwas Korruption waren alle andern erfolgreich, nur ich hatte Pech, mit meiner Dummheit und Ehrlichkeit.

Es begann schon bei der Wahl der Informationsquel-len. Kantonspolizei und andere Schweizer Vertrauens-stellen wie auch militärische sind eben schweizerisch ge-trimmt, wissen nichts von den Erfordernissen in den USA, geschweige denn in Haïti. Und ich hatte doch al-lenthalben genügend Beziehungen und Informanten. Klar, ich wollte es besser wissen (ich war ja auch einmal Lehrer). Also beschaffte ich mir zuerst alle militärischen Dokumente, mit entsprechender englischer Übersetzung: dass die Waffe mir gehöre, dass es keine Kriegswaffe mehr wäre und dass die Ausfuhr ins Ausland bewilligt sei. Incl. Ausweisen der Militärdirektion und der Kantonspo-lizei und und und … Auch in Haïti erhielt ich die erfor-derliche Waffentrag- und Einfuhrerlaubnis, unter der Be-dingung, dass ich nach der Einfuhr die Waffe noch prä-sentiere (dazu kam es nicht mehr – vielleicht wäre sie mir hier nochmals gestohlen worden) …

Damit ging ich auf die amerikanische Botschaft, Feh-ler Nr. 2. Die erklärten mir nach ausgiebiger Prüfung der

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Dokumente, alles sei legal, der Ausfuhr der Waffe stehe nichts mehr im Wege. Dokumente gab es auf der Bot-schaft nicht, das sei verboten. Alle schweizerischen, alle haïtianischen und alle Behörden selbst auf dem Mond ge-ben schriftliche Dokumente, weil nur die zählen in unse-rer Welt, einzig die Amerikaner geben keine. «Aus Perso-nenschutz-Gründen». Ich Dümmling verpackte Pistole, Munition und was dazu gehörte in eine große Kiste, zu-sammen mit einer Abdampfmaschine, Malariaprophyla-xen, Mückenstich-Antimittel für Jahre und weiterem, wertvollem Material. Das war der Fehler Nr. 3, nochmals Dummkopf. Denn natürlich war damit alles verloren.

Beim Einchecken deklarierte ich Trottel den ganzen Kisteninhalt, und die Leute von American Airlines befan-den alles in Ordnung und markierten die Kiste mit einem großen, auffallenden roten Kleber «Loaded Firearm». Fehler Nr. 4. Die Waffe war nun legal im Frachtraum, und ich konnte den Flug genießen.

In New York-Kennedy Flughafen (JFK) der Zoll. Na-türlich wurde nur die Kiste geöffnet, die mit «Firearm» gekennzeichnet war, und man prüfte die Dokumente aus-giebig. Alles sei in Ordnung, das sei Transit, die Kiste werde umgeladen ins Anschlussflugzeug, log man mich an, und ich dachte noch, den Amerikanern könne man trauen. Dass ich das glaubte, war Fehler Nr. 5. In Haïti angekommen, fehlte die Kiste. Ich gab eine Verlustanzei-ge auf, man beschied mir, die Ladung sei vom Zoll zu-rückbehalten worden, aus unbekannten Gründen. Ich solle mich täglich darum kümmern. Das tat ich, eine ge-wisse Weile lang. Bis ich es leid war und glaubte, es kön-ne sich nur noch um Diebstahl handeln. Diebstahl einer halbautomatischen Pistole mit Sammlerwert von mehre-

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ren tausend Franken und dem ganzem übrigen Kistenin-halt, Abdampfer, Medikamente etc.

Ich wollte schon damals einen Artikel schreiben. Ein Zolloffizier, den ich kannte und informierte, riet mir da-von dringend ab, da ich oft in den USA umsteigen muss-te. Im übrigen fand er nichts raus. Ich flog damals oft zu-rück nach Zürich, hatte ja etliche Gratisflüge, die ich ein-ziehen wollte. Ich wandte mich an American Airlines. Die waren sehr zuvorkommend und übergaben das Dos-sier dem Sicherheitschef. Mister Akhi half mir sehr und dies während Jahren, er nahm sogar mehrmals mit den US-Behörden Kontakt auf. Deren Standpunkt war, dass Botschaften dem Außenministerium unterstehen und dieses nicht berechtigt sei, Waffentransporte zu bewilli-gen, die beschlagnahmenden Zollbehörden unterstünden dem Finanzministerium. Offenbar weiß die linke Hand nicht, was die rechte tut. Ich glaube schon, dass dies ein großes Problem ist, aber nicht meines.

Mr. Akhi riet mir, beim Custom Officer einer US Bot-schaft vorstellig zu werden. Die einzige US Botschaft in Europa, die über einen solchen verfügte, war Wien. Es war übrigens eine attraktive Dame, die mir versicherte, al-les sei in Ordnung, und der Zoll sei zu diesen Schritten keineswegs berechtigt, aber das half mir auch nicht wei-ter, und schriftlich gaben die mir auch nichts. Das sei verboten, nochmals wegen Personenschutz.

Der Zoll von JFK (Kürzel des Airports) vertrat die Meinung, entgegen den schweizerischen Militär- und Po-lizeidokumenten sei dies keine Privatwaffe, sondern im-mer noch Kriegsmaterial und falle deshalb unter ein ab-solutes Ausfuhrverbot. Wenn Benjamin Schweiz be-schloss, was Kriegswaffe sei und was nicht, scherte das die Amis überhaupt nicht, das würde noch fehlen, wenn

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Onkel Tom zuerst die Schweiz fragen müsste, was eine Waffe sei und was nicht.

Schließlich, ich kämpfte schon ein paar Jahre lang, kam per Post die Vorladung zu einer Gerichtsverhand-lung in New York, der Termin war schon monatelang vorbei. Auch wenn er rechtzeitig gekommen wäre, wäre ich natürlich nicht gegangen. Immerhin ließ ich es mir nicht nehmen, trotzdem noch einige ergötzliche Zeilen weiterzulesen und vernahm, dass ich als Schmuggler von Kriegsmaterial angeklagt sei …

Für Dummheiten habe ich denn doch keine Zeit. Ich zog es vor, die Geschichte und einmal mehr die paar tau-send Franken und die gesammelten Gratismeilen fahren zu lassen und flog seither über Santo Domingo. In der Iberia wird man zudem freundlicher behandelt und muss nicht noch für jedes Glas Wein sechs Dollar hinblättern. Die Flü-ge zahle ich mit VISA, allerdings belastete Iberia drei Flüge zusammen, und erst nach drei Jahren Verspätung … Da bleibe ich künftig lieber in Haïti und vergesse das Fliegen. Ich will ja nicht noch US-Zuchthaus oder neue unangeneh-me Entscheide riskieren, etwa, meine Geschichten gelten auch als Waffe, nach amerikanischem «Recht».

Oberste zu Billigpreisen

Die Geschichten sind echt wie alle meine Geschichten, echte Geschichten, Erlebnisse. Auch die von diesem ech-ten Obersten, Blauhelm-Colonel Hervé. Monsieur Hervé war ein bescheidener, freundlicher, älterer Herr aus Fran-zösisch-Kanada. Ich pflegte ihn jeweils am Wochenende bei meinem Freund zu treffen, einem Schweizer Hotelier

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nah Jacmel, der letzthin leider verstorben ist – nach offi-zieller Darstellung wegen Selbstmord. Wir drei verstan-den uns gut, erzählten uns unsere – auch echten – Ge-schichten, jeder hatte stets solche auf Lager. Der Kanadi-er Hervé arbeitete als Oberst, man sagt hier Colonel, bei den UNO-Truppen, es war noch Kriegszustand und Zeit der Multinationalen Eingreiftruppe (MIF für Multinational Interim Force), Banditenüberfälle an der Tagesordnung. Auch die Militärpolizisten pflegten hier zu verkehren, er-kenntlich an ihren übergroßen feuerrot gespritzten Kar-rossen, mit übergroßen Aufschriften, übergroßen Blink-leisten auf dem Dach und übergroßen Funkantennen, ge-fährlich sahen sie aus. Das war wohl auch der Zweck der Schreckdekorationen.

Eines Sonntags hatte Oberst Hervé seine Gemahlin eingeladen, eine bescheidene, freundliche, ältere Dame; wir stellten uns gegenseitig vor und begannen mit den Geschichten. Auf dem Parkplatz die üblichen übergroßen Autos der Military Police, grimmige selbsternannte Sit-tenhüter, wie man noch sehen wird. Allerdings verstieß niemand von uns gegen «gute Sitten», aber der Colonel offenbar gegen Dienstvorschriften. Jedenfalls wurde er von den «Schergen» samt «Damenbegleitung» fotogra-fiert, was wir derzeit noch nicht wussten.

Ich hatte seinerzeit das Glück, in der Schweiz drei Häuser zu besitzen, die ich verkaufte und aus dem Erlös in Haïti ein neues Haus baute und ein Auto postete. Das Haus in Gresye stand auf einem Hügel am Meer, war dort lange das einzige und fiel durch Größe und Bauart auf. Eines Tages trugen mir meine Leute ein Gerücht zu, das im Städtchen zirkulierte: Das große weiße Haus am Meer gehöre dem Oberst Hervé. Wir mussten natürlich herzhaft lachen.

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Das nächste Mal, als ich ihn traf, war das im histori-schen Kinam-Hotel, gleich neben der Schweizer Bot-schaft in Pétion-Ville, oberhalb Port-au-Prince. Er mach-te mir einen traurigen Eindruck, und mit der Haus-Ge-schichte wollte ich ihn aufheitern. Wir lachten ob des Unsinns. Doch er erzählte mir nun, was ihm widerfahren war. Die übereifrigen Heerespolizisten, zufällig Landsleu-te von ihm, hatten die Fotos aus Jacmel dem UNO-Ge-neral zugespielt (der hat sich übrigens wenig später auch umgebracht, angeblich …), und er wurde wegen Verlet-zung von Dienstvorschriften strafversetzt. Damenbeglei-tung war grundsätzlich verboten. Obschon Sonntag ge-wesen war, und die «Damenbegleitung» seine Ehegattin. Er war gerade unterwegs an seinen neuen Standort, Fort-Liberté, abgelegen im äußersten Nordosten an der domi-nikanischen Grenze. Wir sind uns seither nie mehr be-gegnet, man kann kaum über die schrecklichen Pisten dorthin gelangen.

Die zweite Geschichte spielt in der Schweiz, in meiner eigenen Militärzeit. Ich war damals Fourier im Büro eines Armeestabs, gerade in Rolle am Genfersee stationiert. Meine Fouriermütze ließ sich mittels angehefteter Oberststreifen ohne Weiteres in eine Oberstmütze ver-wandeln. Mein Feldpostwachtmeister besaß solche Strei-fen und lieh sie mir hie und da für einen Schabernack aus. So reiste ich einst, als Ausgehverbot war, mit falscher Oberstmütze und schwarzem Ledermantel nach Genf zum Autosalon. Und so wie der Zufall manchmal spielt, begegnete ich dort ausgerechnet – meinem richtigen Oberst. Er hatte zum Glück Verständnis, trat lachend auf mich zu und sagte:

«Herr Hegnauer, passen Sie auf, was Sie da machen!». Ich reiste schleunigst und verängstigt zurück und sprach

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nie mehr davon. Ich war froh, dass auch mein echter Oberst Stillschweigen übte. Auch ich hatte Dienstvor-schriften verletzt, aber mehr Glück als Kollege Hervé …

Und weil eine Redensart lautet: «Aller guten Dinge sind drei» hier noch eine dritte Geschichte, mit derselben falschen Oberstmütze wie oben, in «meinem» Hotel in Rolle. Neben meinem Zimmer war ein junger Streber einquartiert. Alle hassten den jungen Leutnant, weil er rechtschaffene Soldaten zu schikanieren liebte. Diesmal hatte ich es auf den Sadisten abgesehen, die Wachmann-schaft unten bei der Réception war informiert und mach-te mit. Ich hängte die falsche Oberstmütze vor seinem Zimmer an einen Kleiderhaken und stellte zwei Paar Schuhe darunter auf den Boden, wie man das zum Put-zen zu tun pflegte. Es waren ein Paar Herren- und ein Paar Damenschuhe. Als der Leutnant spätnachts von sei-ner Bartour heimkam, staunte er nicht schlecht ob der unerwarteten Zimmergäste. Er getraute sich nicht ins Zimmer, sondern machte die Wache und andere nervös – aber alles nützte nichts. Der Schikanierer verbrachte die Nacht auf einem Sofa unten in der Eingangshalle. Am Morgen waren Oberstmütze und Schuhe verschwunden, und alle Nachforschungen blieben erfolglos.

Etwas später, es waren Manöver, wir hatten unseren Kommandoposten in einem abgelegenen Waldhotel ein-gerichtet. Chef war ein nervöser Mayor, der das ganze Team terrorisierte und jeden ebenfalls nervös machte. In einem unbeobachteten Augenblick hängte ich die vorbe-reitete, falsche Oberstmütze vor dem Büro an einen leer-stehenden Kleiderhaken und kehrte an meinen Arbeits-platz zurück. Plötzlich stürzte eine Wache herein und meldete, ein Oberst sei ins Haus gelangt, aber nicht gese-hen worden. Die Verwirrung war perfekt, jeder versuchte

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blitzschnell, sein Durcheinander zu verbergen, und der Mayor selber geriet außer sich. Für mich war es einfach, die gefürchtete Mütze zurückzuverwandeln, und der ge-heimnisvolle Oberst blieb bis heute ein Rätsel.

Um Doppelspurigkeiten zu vermeiden, wollte ich prü-fen, ob ich diese Geschichten schon früher erzählt hatte und suchte in meinem Google-Suchfeld unter «Oberst». Als Ergebnis kam:

Oberstleutnantwww.ebay.at Riesenauswahl zu Niedrigpreisen.Hunderte von Angeboten: bei eBay!

Ebay degradiert also Oberste zu Oberstleutnants und verkauft sie gleich im Dutzend. Tönt doch gut, oder? Überdies fand Google auf «Oberst» 2.990.000 Vorschläge auf 300.000 Seiten. Viel Vergnügen! ebay.at offerierte eine Riesenauswahl an «Obersten zu Niedrigpreisen» und prahlte gleich mit «Hunderten von Angeboten bei eBay!».

Informationen aus Suchmaschinen sind zur Wortkot-ze verkommen. eBay und Haïti haben eine Gemeinsam-keit: Man kann mit Geld bei beiden gar vieles erstehen: Diplome, Geburtsurkunden, Doktortitel, Offiziersränge, alles. In Haïti hat man danach zwar etwas Falsches, aber wenigstens «etwas» in der Hand. Bei eBay bleibt nur eine Vorstellung, und das Gelächter.

Eulen unter meinem Bett und andere Tiergeschichten

Sie erinnern sich meiner früheren Heimtierwelt. In der Schweiz hatte ich mit Schlangen, Skorpionen und Vogel-

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spinnen zusammengelebt, hier mit Kolibris, Geckos und vielerlei Echsen, aber vor allem mit meiner lieben Deut-schen Schäferhündin Ata und meinem Schmusekätzchen Minouche. Wir alle bereiteten uns täglich viel Freude.

Als ich vor bald zwanzig Jahren die Schweiz verließ, um meinen Lebensabend hier in Haïti in besserem Klima zu verbringen, hatte ich meine Schweizer Zelte abgebro-chen und verkauft und aus dem Erlös ein Haus auf der Insel gebaut. Ich hatte mir dazu eine prachtvolle Lage auf einem Hügel ausgesucht, vom Meer nur noch getrennt durch eine 200 m breite Küstenebene. Da diese sumpfig war, hatte ich mir eine nachhaltig baufreie Lage gesichert. Das Haus umfasste auf der Meeresseite vier Stockwerke, wobei jedes das untenliegende überragte, sodass man nie sah was unten oder oben passierte und sich überall allein wähnte. Das unterste Stockwerk, quasi das Kellerge-schoss, enthielt unter anderem die Wohnung von Alson, meinem «Guardien» und Hausburschen, mit seiner Fami-lie. Das erste Stockwerk war nach hinten ebenerdig, also ein Erdgeschoss, und enthielt dort die Garage und meine Wohnung, gegen das Meer eine riesige Terrasse mit Bö-gen, Balustraden, tropischen Topfpflanzen und Wind-spielen. Im zweiten Stockwerk lagen unter anderem Schlafzimmer, ein saalgroßes Bad und auch wieder eine großflächige Terrasse mit Bögen und Balustraden. Das dritte Stockwerk war eigentlich nur ein Zimmer in einem Turm, erreichbar über eine Wendeltreppe, die sich um eine Rasenfläche mit blühenden Euphorbien höher-schraubte. Da wohnte ich inmitten einer unvorstellbaren Aussicht, umgeben von Computern und Internet-Kram. Draußen auf dem Dach befanden sich neben dem Was-serschloss einige Solarpanel und Satellitenschüsseln.

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Meine Katze heißt Minouche und ist ein Wunderkätz-chen. Sie lebt bei mir in Haïti und leistet mir Gesellschaft, wenn ich an meinen Geschichten arbeite. Ich werde ein andermal von ihr erzählen. Denn heute kommt ihre Mut-ter dran, die auch Minouche hieß. Auch Minouche-Mutter war eine Wunderkatze, sogar eine telepathisch angehauch-te Katze. Sie folgte mir stets wie ein Hündchen und blieb im Haus, wenn ich hier war. Wenn ich draußen auf der großen Terrasse über dem Meer schlief, und das tat ich meistens, das ganze Jahr, blieb sie stets in meiner Nähe, auch auf der Terrasse. So hörte ich hie und da, wenn ich nicht schlafen konnte, ihre kaum wahrnehmbaren feinen Laute der Katzensprache. Etwas liebte ich nicht an ihrem Aufenthaltsort auf der Terrasse: Sie tötete die kleinen Anolis und andere Eidechschen, wenn sie sie erwischte. Das tat mir weh, denn ich liebe auch die kleinen Geckos und Anolis. Aber so ist halt die Natur.

Gerade ist Melissa bei mir, meine Pflegerin und Mas-seuse mit den Zauberhänden. Sie macht, dass ich jünger und glücklicher aussehe und länger lebe. Eine goldige Frau.

Diese Einführung war nötig, um das Folgende besser zu verstehen. Zwischen dem ersten und dem zweiten Stockwerk realisierte ich nämlich einen doppelten Boden. Der so entstandene meterhohe Raum ist rundum mit Mauern verschlossen, lediglich einige große Öffnungen blieben nach außen frei, gedacht als Eingänge für Vampire oder ähnliche Kreaturen, die sollten hier vor Feinden si-cher sein … Durch die vorkragende Bauweise der Terras-sen waren die Tiere vor ungebetenen Besuchern geschützt. Es bestanden für Menschen keine Möglichkeiten, den Hohlraum zwischen den beiden Böden zu erreichen.

Es ist ja bekannt, dass ich Tiere sehr mag – habe ich doch Tierfilme in den Alpen und in Afrika gedreht und

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dabei die tollsten Erlebnisse genossen. Es ist auch be-kannt, dass es in Haïti kaum mehr Wildtiere gibt, da die Einheimischen alles ausgerottet haben, was sich ausrotten ließ. Ich wollte für Interessenten einen «überfallsicheren» Wohnraum zur Verfügung stellen und hoffte, dass er an-genommen würde. Eigentlich hatte ich mit Fledermäusen gerechnet. Aber es kam viel besser: Zu meiner freudigen Überraschung war es ein Paar riesiger Schleiereulen, die sich hier einnisteten und viele Jahr lang Babys aufzogen, stets deren zwei, und meist zweimal im Jahr. Die Eulen-familie hatte ihren Horst direkt unter meinem Schlafzim-mer und unter meinem Bett eingerichtet, sodass ich bei-nahe von einem «intimen» Kontakt sprechen könnte. Die Eulenbabys pflegten in der Nacht erbärmlich zu schreien, besonders während der Fütterungen, sodass ich deren Sprache bald zu deuten verstand und stets im Bild war, was die Tiere taten und vorhatten.

Auch auf die Riesen-Schleiereulen reagierte Minouche nicht. Die konnten die ganze Nacht durchkreischen, wenn sie Junge hatten, und Minouche hörte interessiert zu, das Köpfchen mal nach links, dann wieder nach rechts neigend. Auch davon möchte ich ein andermal er-zählen, denn das gibt eine eigene Geschichte.

Einmal rief uns Alson in der Morgenfrühe aufgeregt zu sich. Der Bursche war zwar ein reinrassiger Analphabet, wusste aber mit der Natur geschickt umzugehen. In der Nacht war eine der beiden jungen Schleiereulen abgestürzt auf die unterste Terrasse, sie konnte noch nicht fliegen. Alson hatte sie erfolgreich eingefangen, und es gelang ihm, ein Seil um eines der Eulenbeine zu schlingen. Er trug das Tier ins Erdgeschoss hoch, vertäute den Strick am ande-ren Ende hinter dem Haus und rief uns herbei.

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Die halbwüchsige Eule plusterte sich auf wie eine Ku-gel, mindestens halbmeterhoch. Sie schaute uns mit großen, gelben Augen an – ein Blick, den ich nie verges-sen werde – ich muss sagen, vertrauensvoll. Wie wenn sie sagen wollte: «Ihr könnt mir schon helfen, lasst euch was einfallen!» Mit einer Schleiereule Auge in Auge! Mit ihrem spitzen Hakenschnabel und den mächtigen Dolchen an den Füßen. Jammerschade, dass ich keinen Fotoapparat zur Verfügung hatte – das hätte das Foto des Jahres ge-geben! Aber eigentlich doch nicht jammerschade, denn jetzt wäre auch dieses Foto weg …

Wir berieten, das Problem war nicht einfach. Aber Al-son und Melissa fanden eine Lösung, an die ich nicht glau-ben wollte. Sie suchten eine meterhohe Schachtel und stülpten diese über das Tier. Das wehrte sich nicht und hielt still, wohl wissend, dass jetzt Hilfe nahte. Denn Eulen sind clevere Tiere. Sie schlossen die Deckelklappen, das Seil ragte noch heraus. Dann transportierten sie das Eu-lenpaket auf die Terrasse im zweiten Stockwerk. Sie hoben die Ladung über die Balustrade in den freien Raum hinaus, senkten Karton und Tier am Seil vorsichtig vor die richtige Eingangsöffnung und schwangen die hängende Schachtel hin und her, bis sich deren Öffnung gegen die Öffnung der Eulenwohnung bewegte. Prompt schlüpfte das Tier aus der Schachtel und hinein in die Horsthöhle, die leere Verpackung stürzte zur Erde, wie in der Nacht die Eule. Die junge Eule trug zwar noch das Seil an einem Fuß mit sich, bei dem scharfen Hakenschnabel dürfte dies kein großes Hindernis mehr gewesen sein. Die spektakuläre Rettungsaktion war geglückt. Und wir alle waren wieder um ein unvergessliches Erlebnis reicher.

Nach einer Redensart trägt «Eulen nach Athen», wer etwas schon Bekanntes mitteilt. Diesmal trugen wir Eu-

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len nicht nach Athen, sondern an ein viel näheres Ziel, nämlich unter mein Bett!

Leichen wirbeln über Köpfe

Heute haben sie einen 19-jährigen Nachbarn zu Grabe getragen, gestorben an Typhus. Das ganze Quartier mar-schierte als Totengeleit in endloser Kolonne der Krete nach aufwärts bis zuoberst, wo man die Schlucht über-quert, dann auf der andern Seite wieder hinunter, zur Brücke und weiter. Die nicht enden wollende Trauer-schar hinter dem Sarg sang urafrikanische Klagelieder, die gingen unter die Haut. Der einfache, unverzierte Holz-sarg, eigentlich bloß eine lange Kiste, wurde an der Spitze des Trauerzuges von jungen Männern getragen, mit aus-gestreckten Armen hoch über den Köpfen. Die Toten-kiste wurde zu den schaurigen Liedern hoch in der Luft im Kreise gedreht und aufgeworfen, man hörte den Ka-daver in der Kiste herumkollern und an die Wände pol-tern. Der Tote durfte noch einmal tanzen, zum letzten Mal. Und Hunderte von Herzen wiegten sich mit ihm. Ein solcher Toter braucht wahrlich keine Blumen mehr.

In diesen Tagen hatte ich ein anderes, ebenso makab-res wie aufwühlendes Erlebnis, eines, das tief unter die Haut ging. Gegenüber der Bergburg, wo ich Unter-schlupf fand nach dem mörderischen Erdbeben, auf der andern Seite der tiefen Erosionsschlucht, hatte ein jun-ger, freundlicher Mann im steilen Urwald (ist zwar Se-kundärwald, aber Urwald klingt besser, und ein 40- oder 50-Meter-Mapou steht auch noch, ist mit Sicherheit älter als ganz Haïti) ein einfaches Haus aus Wellblech gebas-

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telt. Der junge Mann saß abends oft vor seiner Hütte im Freien, sang und winkte mir zu, ich winkte zurück. Die Hütte ist so kühn in den Steilhang gebaut, dass sie den nächsten Platzregen nicht aushalten und über kurz oder lang in die Klamm abschlittern wird.

Dann könnte sich das rächen, was man dem jungen Mann antat, aber die Vaudou- und Abergläubigen werden das nicht mehr so ausdeuten können, denn sie werden selbst verschüttete Leichen sein. Der junge Mann hatte lange Arbeit gesucht und endlich gefunden, unten im großen Hotel, das Hauptquartier des UNO-Generals war, der sich selber erschossen hatte. Das Erdbeben begrub dort auch Hunderte von prominenten Gästen. Das Hotel wird gerade wieder aufgebaut.

Jetzt war der Mann urplötzlich und unerwartet gestor-ben, man müsste sagen, gestorben worden. Statt sich ob der Arbeitsstelle zu freuen, waren die Bewohner der Wohngemeinschaft missgünstig oder eifersüchtig oder weiß nicht was, und der feiernde Jüngling wurde ohn-mächtig. Angeblich war er gelegentlicher Epileptiker, ein Arzt sei aber nie da gewesen.

Man hört in der Nachbarschaft auch andere Versio-nen, solche bis zu Zauberei und Magie. Es ist auch üb-lich, andere an Teufel zu verkaufen. Gewisse Menschen verfügen, scheint’s, auch über Kräfte, mit denen sie je-mand auf Distanz töten oder verwandeln können, selbst ohne Hilfsmittel.

Wie und was wirklich los war, wissen vielleicht nicht einmal die Vaudou-Götter, aber eine Mambo (Vau-dou-Priesterin) weiß es bestimmt, denn sie sei eben zu Besuch gewesen, als der Mann ohnmächtig wurde.

Sie hat den ohnmächtigen Jüngling für tot erklärt. Ein Sarg war gleich zur Stelle. Der regungslose Toterklärte

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kam in die Kiste. Eine Stunde später spulte eine Ambu-lanz zur Brücke, man trug den lebendig Eingesargten über den Steilhang hinunter und lud ihn ein. Mit Blau-licht fuhr die Ambulanz davon, ohne weitere Begleitung, hinunter in den Morgue, wie man das Totenhaus nennt. Dort wurde der Junge zu Tode gekühlt.

Zwei Tage später war die Beerdigung. Die Quartier-nachbarn gingen auch hin, sie alle wussten Bescheid. So was sei normal, hier in den Bergen. Todesurkunden und anderen Papierkram gäbe es nur in der Stadt. Und auf dem kleinen Platz vor der Wellblechhütte wurde drei Tage gefeiert. Jetzt waren plötzlich viele Leute da und tranken. Polizei oder Arzt gibt es hier nicht oberhalb Pétion-Ville, in den Schwarzen Bergen.

Auch ich war einmal und wieder einmal dem Tod ent-ronnen im Tiefkühlhaus. In den Bergen oberhalb Pontre-sina hatte ich gerne Tiere gefilmt, Steinböcke und Gämsen, Adler und Murmeltiere. Aus Kostengründen hatte ich die Filme als «Meterware» gekauft, sodass ich die Kassetten für die Kamera abfüllen musste. Dazu brauchte es eine Dunkelkammer. Als solche pflegte ich immer ins selbe Hotel zu gehen, wo ich den Fleischkeller und das Personal den «Filmfritz» Hegnauer kannte. So füllte ich unter skalpierten aufgehängten Kuh- und Och-senkadavern meine Kassetten ab. Es war stockdunkel, und Lichtschalter gab es keinen. Und natürlich sehr, sehr kalt. Ein paar Minuten später stieg ich wieder in die Wär-me zurück.

Doch einmal öffnete sich die Eingangstür nicht mehr, sie war schwer wie ein Panzertor. Alles Poltern und Ru-fen half nichts, und Telefon gab es keines. Zum Glück war ich noch nicht ganz starr, als endlich ein Koch ein-

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trat und Fleisch holen wollte. Statt einem Kuhkadaver angelte er mich da raus.

Bankgeschichten und Postschlendrian

Ich arbeite mit der SOGEBANK, seit ich hier bin. Und das sind bald zwanzig Jahre. Im Großen und Ganzen hervorragend. Die Filiale Léogâne ist eigentlich die näch-ste, etwa zehn Kilometer nördlich von Gresye. Die War-terei dort war unerträglich. Ewig Schlange stehen, auch wenn man nur eine Kleinigkeit wechseln wollte. Dabei gibt es überall löbliche Plakatanschläge, Ältere hätten Vortritt. Das hindert Ganz-Junge keineswegs, sich mit Ellbogenhilfe vorwärts zu drängeln. Aber da gibt es ja die Schwerbewaffneten vom Sicherheitsdienst, damit es nicht ausufert. Die kann man zu Hilfe nehmen.

Trotzdem geschah es einmal, vor Monaten oder Jah-ren, dass ich als Nummer 2 am Schalter für Ältere war. Die Nummer 1 war dran, die konnte man nie unterbre-chen. Es war eine jugendliche Dame, und die nehmen sich gerne den Vortritt, besonders bei jüngeren Herren jenseits des Schaltertischs. So war es auch diesmal, und weder Dame noch Schalterbeamter nahmen von mir No-tiz, dem vortrittsberechtigten «Alten». Unfreiwilligerweise musste ich auch ihr Geschwätz mitanhören, ein rein pri-vates Geplänkel und Gekicher. Ein Schalterwechsel hätte nichts geholfen, da an allen Normalschaltern die üblichen Schlangen von Dutzenden von Kunden anstanden. Ich wartete wohl so lang wie sie, 15 Minuten, 30 Minuten, 1 Stunde – da riss mir der Geduldsfaden.

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Ich verlangte den Direktor. Der kam auch, nach eini-gen Minuten, vierschrötig und vollgefressen, das Gegen-teil der im Lande verhungernden Kinder. Und wie es sich für einen Bankdirektor gehört, hatte er nicht nur einen schicken Anzug, Krawatte und einen dicken Bauch, er watschelte sogar, er sprach auch französisch. Das erleich-terte meine Reklamation über die Schlamperei des Kas-sierers. Ich hatte zumindest eine Entschuldigung erwar-tet, mit Ausreden garniert, aber nein: nichts dergleichen. Im Gegenteil, die arrogante Antwort des «Direktors» war, das sei hier normal, und ohne Intervention zog er sich zurück in sein Heiligtum.

Als ich an einem Samstag mal dringend Geld brauchte und mich die Umstände verspäteten, erreichten wir den Bankeingang zwei Minuten vor zwölf, um zwölf wäre samstags Schluss. Ich nutzte die automatisch gerichtete Internet-Zeit. Man setzte mir die Tafel «GESCHLOS-SEN» vorzeitig vor die Nase, als man mich kommen sah, verriegelte demonstrativ die Stahltüren und als ich laut-hals polterte und protestierte, kamen die mit den sieben Dutzend Patronen um den Bauch und wiesen uns vom Platz. Das war vor etwa zwei Jahren, seither kehrte ich nie wieder in diese Bank zurück.

Ich gehe zwar immer noch zur SOGEBANK, aber in andere Filialen, immer dieselben. Denn da kennt man mich. Und hilft mir oft schon für einen Parkplatz. In Pétion-Ville, da führt mich ein Sicherheitsbeamter zum Vorzugsschalter, wenn nötig. Alle kennen mich beim Na-men, ein kurzer Privatschwatz liegt auch noch drin, und das Geschäft läuft in Rekordzeit über die Bühne. Nach wenigen Minuten kann ich die Bank wieder verlassen, ra-scher als in der Schweiz.

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Dasselbe in Truitiers, wenige Kilometer östlich von Gresye. Jedermann kennt mich auch da. Die Leiterin ist eine nette Dame, das Gegenteil des Kollegen in Léogâne. Oft kommt sie mich nach dem Eintritt begrüßen, man neckt sich etwas – sie heißt Madan Leriche und ich be-grüße sie stets mit «Madan La Riche» (die Reiche Madan), sie lacht über das Wortspiel – und führt mich zur großen Kasse in der Glaskabine, auch wenn meine Geschäfte meist keine großen sind.

«Madan La Riche» hilft mir auch bei etwaigen Über-weisungen in die Schweiz und umgekehrt, die funktionie-ren in Sekunden oder Stunden – ebenso schnell wie bei Western Union, aber viel billiger. Bei Schweizer Banken bin ich da schon Tage gewöhnt. Die Kosten sind gering, mit unter 1% erreichen sie einen Zwanzigstel der bei der Konkurrenz üblichen. Ich sehe keinen Grund, die Bank zu wechseln. Aber wie das Erlebnis mit einer Filiale zeigt, darf man, wie überall, nicht verallgemeinern. Auch nicht Bankbosse.

Dass in Haïti alles anders ist, wissen Sie jetzt. Wenn Sie hier nach der «Banque» fragen, werden Sie in die Spielbank geführt. Dort wird gewettet und gespielt, und weh denen, die das Währungssystem nicht verstehen. In Haïti gilt kein dezimales Währungssystem wie überall auf der Welt. Kopfrechnen wird auf die Probe gestellt. Sie müssen sich damit abfinden, dass ein $ (Haïti-Dollar) eben fünf Gourdes und nicht zehn umfasst. Es gibt auch weder Münzen noch Noten in «Dola». Es gibt noch klei-nere Stückelungen; die kann man vergessen, da man da-mit ohnehin nichts kaufen kann. Alles klar?

Also ratsam, nur auf einer echten Bank (nicht Spiel-bank …) zu wechseln. Naivlinge, Touristen, Blauhelme, Missionshelfer & Co. sind meist schlecht vorbereitet und

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wissen das nicht. Sie verstehen alles, was mit $ oder «Dola» angeschrieben ist oder nach Dollar riecht oder tönt, als US$, weil sie nichts anderes kennen, und über-zahlen maßlos. Kein Wunder, dass man von «unbezahl-baren Preisen» spricht. Kein Wunder, dass das die kleve-ren einheimischen Geldmacher umsetzen und oft und frech US-Money reklamieren, wenn zerknüllte Haïti-No-ten gemeint sind. Ein Wunder, dass das nicht einmal in den Reiseführern und anderen Büchern steht … Dies, weil es gar keine über Haïti gibt, sondern nur entspre-chende Kapitel in übergeordneten, wie Karibik und so. So muss man annehmen, dass die Autoren gar nie in Haïti waren, im Unland, das nur ein Kapitel wert ist.

Vor ein paar Jahren gab es auch einen Banküberfall, wie er sonst nur in James Bond-Filmen möglich ist. Eine ganze Ganovenhorde wollte es gleich richtig machen und der Welt zeigen, wie man eine Bank überfällt. Sie wählten den Hauptsitz der SOGEBANK im größten Geschäfts-viertel der Prinzenstadt, ein modernes, mehrstöckiges Gebäude mit Auto-Schaltern, Parkflächen und allem, was dazugehört, mitten am helllichten Tag und nahmen gleich sämtliche Wesen, die sich im Gebäude aufhielten, Personal wie auch Kundschaft, als Geiseln, es waren Hunderte. So ein Sirenengeheul und Spektakel hat man noch nie gesehen, und – wen wundert’s – das Fernsehen war auch gleich zur Stelle. Diese Life-Sendung war so spektakulär, dass ich sie mir nicht entgehen ließ, nie-mand, der konnte, ließ sie sich entgehen. Wenn ich mich recht erinnere, dauerte die Komödie zwei Tage und en-dete mit dem Verduften der Ganoven durch irgendwel-che offenbar nicht bewachten Notausgänge. Ich glaube auch, die Gangster entflohen ohne Beute, und es wurde niemand verletzt oder getötet. Übertreibe ich, wenn ich

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einmal mehr behaupte, dass solche Dinge nur in Haïti möglich sind?

Ja, Schreiben weckt Erinnerungen. Vor etlichen Jahr-zehnten, ich glaub’, es war noch während meiner Studi-enzeit, war der Wilde Westen ausgebrochen, auch in Zü-rich in der Schweiz. Spätnachts, wohl gegen drei Uhr morgens, war ich übermüdet unterwegs mit meinem Volkswagen von Zürich nach Winterthur, wo ich mich in einer Mietwohnung eingenistet hatte. Fragen Sie mich nicht, was ich zu der Unzeit unterwegs zu suchen hatte. Anständige Menschen gehören um diese Zeit ins Bett, war üblich, aber von Vorurteilen hielt ich schon damals nichts. Ich war eben ein Nachtschwärmer und wollte wohl von der Arbeit in einem Institut zurückfahren zur wohlverdienten Ruhestätte.

Es gab noch keine Autobahnen und keine Radarfallen. Die nächtliche Kantonsstraße von Zürich nach Winter-thur lag einsam und verlassen, und im Übermut ließ ich mir eine kleine Raserei nicht nehmen, ich «war» ja auch einmal jung. Ich staunte nicht schlecht, als bald nach Verlassen des Stadtgebiets im Rückspiegel zwei, drei Scheinwerferpaare auftauchten, die es wohl auf mich ab-gesehen hatten. Tatsächlich ließ ich mich, ich erklärte mich schon einmal, in jugendlichem Übermut auf das Rennen ein, das die Raser hinter mir offenbar im Schilde führten. Nicht genug damit, ich pendelte mit quietschen-den Reifen in der Straßenmitte hin und her, um den ag-gressiven Rennern die Überholversuche zu vergällen.

Nein, es waren nicht mehr zwei, drei Scheinwerfer-paare, es wurde ein ganzer Schwarm von Wagen, die mich wie ein Rudel Wölfe verfolgten. Ein paar happige Kurven, etwa nach Kemptthal, wurden schlitternd ge-nommen, und unfallfrei, oh Wunder. Ich war jetzt hell-

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wach, mitten im Rennfieber – da der Schock: In der Doppelkurve vor Beginn des Stadtgebietes von Winter-thur, ein unheimliches Waldstück mit dunklem Weiher, gleißendes Licht, sonnenhell, geblendet drückten alle die Bremsen, sie kreischten, die Wagen standen kreuz und quer, die Türen wurden aufgerissen, Fahrer und Insassen gepackt und auf die Straße geschleift, Maschinenpistolen knatterten, waren auf uns gerichtet, auch auf mich. Das alles war in einer Sekunde geschehen, erst jetzt gewahrte ich die Jodquarzscheinwerfer, die uns blendeten, die die Nagelketten und die irrwitzige Szene beleuchteten.

Dann das Verhör – die Autos waren längst durch-sucht, die Dokumente sichergestellt. Polizisten im Stahl-helm wollten alles wissen über den Grund meiner nächt-lichen Fahrt, wo ich hergekommen sei und was ich vor-her gemacht hätte, weshalb ich den ungebührlichen Fahr-stil gewählt und mich auf ein Rennen eingelassen hätte. Ich konnte beobachten, wie Verletzte in Ambulanzen, andere in Gefängniswagen verfrachtet und abtranspor-tiert wurden. Ich glaube, es gab auch Tote. Nach Stunden ließen sie mich gehen, als Einzigen der Szene.

Ein Polizeioffizier erklärte mir noch, dass sich in Zü-rich ein Banküberfall ereignet hätte, und zufällig hatte ich die Bankräuber in den ersten drei Wagen hinter mir. Ich hätte normalerweise mit einer Anzeige wegen diverser Fahrvergehen rechnen müssen, doch vorbehaltlich der Genehmigung durch höhere Vorgesetzte nehme man da-von Abstand, weil ich durch meinen unmöglichen Fahr-stil die Verhaftung der Bankräuber möglich gemacht hät-te. Dass er mir nicht noch dankte, war alles. Die nächsten Wagen waren nämlich die der verfolgenden Kriminalpoli-zei von Zürich, und durch meine Bremsmanöver hatte die Polizei von Winterthur eben noch Zeit, die Straßen-

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sperre aufzubauen. Den Rest konnte ich in den folgen-den Tagen mit Fotos in den Zeitungen lesen, leider kann ich die nicht mehr finden, sie liegen im Erdbebenschutt. Schließlich kam ich gegen Morgen in meiner Wohnung an, immer noch schlotternd. Bestimmt aber hatte ich fer-tig geschlafen für diesen Tag.

Zurück nach Haïti, und zu den Banken. Die Schweizer Banken stehen den haïtianischen an «Innovität» keines-wegs nach. Seit bald Monaten kann ich auf meinem Bankkonto nichts mehr bewegen. Die Daueraufträge lau-fen einfach weiter, so wie einmal aufgegeben, Wohnungs-zinsen und Zahlungen an Krankenkassen – die unterdes-sen aufgeschlagen haben –, Unterstützungsbeiträge für Kinder – die unterdessen erwachsener wurden und viel-leicht nicht mehr unterstützungsbedürftig sind, fixe Bei-träge an Organisationen – die unterdessen nicht mehr existieren usw. usf. Wie das möglich ist in Zeiten des In-ternets? Eben gerade deshalb. Als ich da nach den ersten lapidaren Bemerkungen, der Code sei falsch, rausge-schmissen wurde (ich kenne doch meinen Code!) ver-suchte ich es mehrmals per e-Mail. Auch bei anderen Banken, bei ähnlichen Problemen. Wenn eine Antwort kam, war sie ebenso läppisch wie schnodderig: Aus Si-cherheitsgründen würden keine Auskünfte per e-Mail er-teilt, man solle anrufen.

Also rufe ich an, wegen der Zeitverschiebung um 2, 3, 4, «a.m.», lies nachts. Die netten Damen verstehen nichts, erst mal akustisch, die Skypeverbindung klingt ja fast wie Gehacktes (klingt Fleisch bei dir?) – wenn wieder eine Portion kommt, sprechen alle gleichzeitig, und umge-kehrt. Rede und Antwort mischen sich, wie Salat. Man spricht gleichzeitig und schweigt gleichzeitig.

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Ich versuche es mit dem Handy. Die Verbindungen muss man mit Prepaid-Kratzkarten bezahlen, die gibt es für 50 oder 100 Gourdes, auf dem Lande. 100 Gourdes entsprechen etwa vier Franken – damit lässt sich minu-tenlang Musik hören, aus der Schweiz. Denn

«Leider sind unsere Operateure alle besetzt, bitte war-ten Sie einen Augenblick», und ähnlich tönen die Sprü-che, und es beginnt wieder von vorn. Und der Augen-blick dauert. Und die Karte ist aufgebraucht, und ich ver-suche es wieder – was bleibt denn anderes übrig.

In Pétion-Ville ist der Hauptsitz der Telefongesell-schaft. Dort gibt es Karten für 250 und 500 Gourdes, das sind die größten. Wenn sie nicht gerade ausgegangen sind. Ich lade deren zwei, so habe ich 1.000 Gourdes im Eimer, pardon, wollte natürlich sagen im Handy. Sind etwa 40 Franken. Das reicht, bis einmal endlich eine menschliche Stimme wispert. Die erste erklärt nach sinn-losem Geschwätz, das Konto sei jetzt wieder freigeschal-tet. Endlich, glaube ich wenigstens, und fliege gleich wie-der raus, alles wiederholt sich. Das zweitemal flüstert eine andere Stimme wiederum, das Konto sei jetzt freigeschal-tet. Aber der Code sei falsch, meldet der Computer, und der hat immer recht, und ich fliege wieder raus, es ist zum Verzweifeln.

Erst das dritte Mal lande ich bei einer freundlichen Damenstimme, die sich endlich nach den Details erkun-digt. Erst Nr. 3 findet jetzt raus, dass vor bald einem Jahr die Bank ihren Kunden ein Lesegerät und in einer zweiten Sendung eine Karte zugeschickt habe. Nur noch mit die-sen Dingern sei der Zugriff aufs Konto möglich. Die Ob-jekte seien am Soundsovielten eingeschrieben an die Schweizer Adresse zugestellt worden, und der Empfang sei von jemandem unterschrieben worden. Für die Bank

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sei das damit erledigt, sie könnten leider nichts weiter tun. – Mein Prepaid-Betrag war wieder aufgebraucht, und es war Tag geworden, aber ich wusste jetzt wenigstens, dass ich zu meinem Konto immer noch keinen Zutritt hatte.

Ein Mail an meine haïtianische Frau Rosi, die in der Schweiz lebt und die Postadresse hütet (du weißt jetzt warum). Und ich weiß eine Stunde später, dass die über-fällige Bankpost einst ankam und weitergeleitet wurde, zum Glück per Einschreiben, und zum Glück behielt Rosi die Quittung und fand sie auch wieder. Die Post sucht wohl immer noch und wäre für Hinweise dankbar und wohl auch haftbar; das interessiert mich aber weni-ger. Rosi ging mit der Quittung zur Bank, und ohne viel Umschweife gab man ihr einen zweiten Apparat, oh Wunder! Sie riet mir telefonisch, nach diesen Erfahrun-gen auf nochmaligen Postverlust zu verzichten und ihren nächsten Besuch in Haïti abzuwarten.

Und damit sind wir bei der «Post», die es da und dort auch geben soll. Nur wartet man da meist vergebens, auf Briefe, und besonders auf Geld. Ohne Geld, da kann es schon recht schwierig werden. Auf der Insel mag man das noch erleben, ich erlebte es mehrmals. Ich schrieb einst, ich hätte Haus und Garten verlassen und wohnte jetzt mit Einheimischen unter Wellblech, weil die Post nicht funktioniert und es oft jahrelang dauerte, bis ein Brief ankäme. Da auch das «Lebensbestätigungs-Formu-lar» noch nie eingetroffen war, war ich mehrmals «gestor-ben» und bekam demzufolge kein Geld mehr – Zombies brauchen keines. Natürlich wird das einmal nachbezahlt – aber das kann dauern (im konkreten Fall waren es sechs Monate, bis die reguläre Rente wieder kam, bis zur Nach-zahlung der versäumten sogar zehn). Natürlich reklamier-te ich bei der Botschaft, die sofort nachhalf. Es dauerte

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trotzdem. Ich bin ja ausbildungsmäßig etwas mehr vorbe-lastet als zum Beispiel die Rückkehrer aus dem Ausland, die vielleicht kaum unsere Sprache sprechen. Und For-mular- und Amtsdeutsch noch weniger verstehen. Ähnli-che Postverhältnisse und Zombies gibt es weltweit nicht nur in Haïti – sodass die Milliarden von Franken von den Tausenden von Rückkehrern für immer und ewig bei AHV & Co. bleiben. Gleichheit, Brüderlichkeit …

Man muss immer die Vorteile sehen bekanntlich, und die verstecken sich hinter den Nachteilen: Ich habe ge-lernt, dass man auch mit einem Franken leben kann, hier, – ohne zu verhungern. Ich habe gelernt, dass sich unter Wellblech und ohne fließend Wasser auch sauber leben lässt. Ich habe auch gelernt− das Wichtigste − dass das hier ganz herrliche Leute sind, die dich nie fallen lassen. Und nach nichts fragen. Ganz herrliche Leute, wenn sie dich mal kennen und aufgenommen haben. Und ich bin nicht mehr tot, wieder zum Leben erwacht, nochmals ein Vorteil, habe erneut ein Leben mehr, bin wieder zurück in meinem Palästchen. Jetzt ohne Vorurteile gegen Well-blech! Allerdings schrieb ich diese Zeilen noch vor dem großen Goudou-goudou, wie die Kreolen das Erdbeben nennen. Aber diesmal kann die Post nichts dafür.

Gelegentlich kommt sie auch, die Post, letzthin ein Stoß Briefe – schön gebündelt. Darunter Terminsachen, die Formulare für die Lebensbestätigung von der schwei-zerischen Altersversicherung, Einladungen zu Konzerten und Augustfeiern auf der Botschaft oder im Französi-schen Kulturzentrum, Stromrechnungen, sogar zu einem Gerichtstermin in den USA (von den Pistolendieben, da wäre ich ohnehin nicht gegangen) – alles zu spät – VIEL zu spät! Ich nahm mir die Mühe, nach Stempeldaten zu sortieren: 3–6 Monate Verspätung war die Ausnahme, 3–

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6 Jahre die Regel. Sie haben recht gelesen: Sechs Jahre dauerte die Reise des Langsamkeits-Rekordbriefs bis zu mir nach Gresye!!!

Ich hatte da einen Freund, ein Landsmann von mir. Ich muss leider sagen: hatte. Er war mein bester Freund, hatte eine Stiftung zur Rettung gefährdeter Kinder ge-gründet, täglich Hunderte von ihnen warm verpflegt, und völlig kostenlos, und ebenfalls eine kostenlose Schule für Hunderte von «Cocorats» (Cocorats sind Straßenkinder) geführt. Diese Schule − meine Leser, Freunde und ich haben sie öfters unterstützt − erhielt manchmal Sach-spenden. Schulmöbel, Malsachen, Blockflöten und so. Doch einige Jahre blieben die Sendungen aus, auch ange-kündigte. Mein Freund glaubte an Diebstähle durch die örtliche Post, was ist naheliegender. Alle Demarchen und Briefe fruchteten nichts, bis ihm der Geduldsfaden riss und er in einem bissigen offenen Brief die Schweinerei bekannt machte. Der Brief ging unter anderem an Presse, Regierung, Botschaften, Postverantwortliche, aber auch an mich und andere Freunde.

Endlich bemühte sich die Welt um die Schlamperei, und versprach Untersuchung. Und was kam schließlich raus? Die Schweizer Post hatte ihre Pflicht an irgendeine Privatfirma verscherbelt und nicht gemerkt, dass die seit Jahren Konkurs gemacht hatte. Demzufolge blieb das ganze Sammelgut auf wirren Haufen auf irgendeiner klei-nen Bananeninsel liegen, und ohne die geharnischten Proteste meines Freundes hätte dies wohl niemand je-mals gewahrt. Die Generaldirektion der Schweizer Post entschuldigte sich bei meinem Freund, papierbrieflich, und versprach ihm für seine Stiftung ein «Schmerzens-geld» von 10.000 Franken (ich habe den Brief gesehen). In der Folge wurden jedoch nur 2.000 Franken ausbe-

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zahlt. Leider hat sich mein lieber Freund inzwischen das Leben genommen. Angeblich, nach offizieller Darstel-lung. Und die «Post» sammelt weiterhin Briefe, so hat sie ständig Arbeit!

Drogenbarone, fliegende Kisten und Meerjungfrauen

In der benachbarten DomRep gibt es Sirenen. «La Sirena» heißt dort ein Warenhaus. Es zieht die Menschen zu Tau-senden in seinen Bann, rein in den Ramsch und das Geld raus aus den Taschen. Wenn sie wieder auftauchen, sind sie mausarm geworden, aber sie blieben wenigstens am Leben. Das ist ja nicht selbstverständlich. Und es ist wich-tig, damit sie erneut eintauchen können, wenn sie abermals zu Geld kommen. Auch die Sirenen im Alten Griechen-land zogen die Seeleute in ihren Bann, zu sich in die Flu-ten und erledigten sie, aber die tauchten nie mehr auf.

Selbst den Küstenwachen gelang es noch nie, eine Si-rene zu sichten, sie sind wohl zu grimmig. Sie haben es eher mit Drogenbaronen zu tun, die sind weniger sexy, aber nicht minder tödlich. Sie schmuggeln Drogen und Waffen, manchmal auch Menschen, verdienen dabei Un-mengen Geld und bringen allmählich Millionen von Süchtigen um, drüben in den «entwickelten» Ländern, Amerika, Deutschland und auch der Schweiz. Eigentlich müsste man sie als Völkermörder behandeln.

Es ist der Wunschtraum der MINUSTAH, der haïtia-nischen Küstenwache und der Polizei, die Schmuggelbos-se zu fassen. Deshalb wird die Zahl der auf Haïti statio-nierten Blauhelme immer noch erhöht. Doch das Schmutzgeschäft ist einfach nicht in den Griff zu bekom-

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men. Es wuchert auch in den meisten mittelamerikani-schen Staaten hartnäckig weiter.

Die Drogenbarone verfügen über unerschöpfliche Moneten, mehr als UN-Soldaten und Seepolizisten. So viel, dass sie die Flugzeuge für einen einzigen Einsatz kaufen, auf einer der dreißig geheimen Pisten in Haïti lan-den und dann die Maschinen in die Luft sprengen, noch bevor Blauhelme und Polizisten auftauchen.

Die Staaten kämpfen gegen die Drogenbarone auf verlorenem Posten, ihr Kampf gegen den Drogen-schmuggel ist aussichtslos. Die Schmuggler, die ihren miesen Handel nach Mexiko, in die USA und nach Euro-pa abwickeln, sind ihnen technisch haushoch überlegen. Fehlendes Militär und verrostetes Material machen es schwierig, gegen die Banden, die modernste technische Ausrüstung besitzen, Krieg zu führen. Über welches Ra-darsystem die Blauhelme in Haïti verfügen, ist Militärge-heimnis. Vermutlich eins der Amerikaner und Israeli und damit das modernste der Welt. Aber das im östlichen Nachbarland ist wackelig und museumsreif und führte schon zu Protesten und Streiks von Verkehrspiloten. Nach ihrer Meinung ist die Luftsicherheit über bestimm-ten dominikanischen Flughäfen nicht gewährleistet.

Israel liefert jetzt der Dominikanischen Republik zwei Radaranlagen der neuesten Generation im Wert von 24 Millionen US-Dollar. Die sind aber mitnichten zur Si-cherung der Luftfahrt bestimmt, sondern für den Kampf gegen die Drogenbarone reserviert. Wir sind so weit, dass Kriege heute nicht mehr gegen angreifende Länder, son-dern gegen Banden geführt werden müssen und dass die-se gefährlicher sind als Armeen.

Die Drogenbarone besitzen auch Schnellboote, die ei-nem James Bond-Film Ehre machen würden, und die

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sich kaum fotografieren lassen. Aber es ist anzunehmen, dass die Boote der MINUSTAH etwa vergleichbar sind, da sie ihnen Paroli bieten müssen. Die Schnellboote er-reichen mit großem Lärm dreistellige Geschwindigkeiten.

Ohne Lärm fliegen die hochmodernen Mini-U-Boote der Drogenherren durchs Wasser. Der Preis von 1,1 Mil-lionen Euro ist für die ein Pappenstiel. Das fischförmige Ding ist sieben Meter lang und 1.800 Kilogramm schwer, kann Hunderte von Metern tief tauchen und bis zu fünf Stunden über den Meeresboden flitzen. Es ist so wendig, dass es an Ort umdrehen kann. Allerdings fehlt seinem Fischkörper die Frauenhälfte, im Gegensatz zu den Sire-nen. Und das öl- und abfallverschmutzte Fahrwasser ist heute trüber als damals im alten Griechenland. Die Ma-fiahäuptlinge kaufen Flugzeuge und sprengen sie nach ei-nem einzigen Einsatz in die Luft. Nun lassen sie auch noch U-Boote volllaufen und absaufen.

James Bond kommt jetzt wirklich zum Zug. Das Rus-senprojekt, ein fliegendes U-Boot zu bauen, ist gleich alt wie ich und soll demnächst vollendet werden: ein Flie-gendes U-Boot oder Tauchendes Flugzeug. Das Gerät soll fliegen, auf dem Wasser starten und landen, abtau-chen und sich unter Wasser bewegen können. Bald soll das Unding von Stapel laufen. Preis noch unbekannt. Die Drogenbarone werden sicher die ersten sein, die es kau-fen und einsetzen, denn Armeen und Coast Guards ha-ben Budgetbeschränkungen. Im Gegensatz zu den Dro-genbossen, die kennen keine Finanzkrise. Wenn dann das Wasser NOCH trüber wird und sie gar nichts mehr se-hen, werden sie sich in die Lüfte schwingen. Dann kön-nen auch die Sirenen nur noch neidvoll nachsehen und winken. Und die Jäger werden im Trüben weiterfischen, oder sie machen mit den Banden gemeinsame Sache.

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Tanzen auf gestohlenen Schienen

Zehn Kilometer westlich der Prinzenstadt steht seit Jahr-zehnten das Lambi, ein Pfahlbau auf Schienen und altes Hotel in einmaligem Stil. Zwischen Felsen, Straße und Meer ziehen sich der Küste nach die langgezogenen, zweigeschossigen Zimmertrakte hin, denen auf der Mee-resseite eine riesenhafte Terrasse vorgebaut ist. Es waren wohl einmal Güterschuppen. Lambi ist der Name dieser traditionellen, einheimischen Herberge, Lambi heißt das nahgelegene Dörfchen von Fischern, Bauern und Pend-lern, Lambi ist der Name der Muscheln, deren Schalen sämtliche Wände und Mauern der Anlage tapezieren, und Lambi heißen die lebenden Meeresfrüchte, die hier und überall an haïtianischen Meeren geröstet, gewürzt, feilge-boten und verspeist werden.

Das Lambi hat Stil und Charakter, nicht wie die viere-ckigen phantasielosen Hotelkästen über der Hauptstadt, die zudem mindestens amerikanische Preise verlangen. Die Lambi-Terrasse ist ein immenser Pfahlbau über dem Meer. Als Pfähle dienen gestohlene Schienen der einsti-gen Schmalspurbahn, die vom Prinzenhafen bis in die Zuckermühlen von Léogâne hinausführte, es bestehen noch Schwarzweißfilme des tuckernden Ungetüms. Heu-te sind die Pfähle zum Schutz gegen Rost von betonge-füllten Zementröhren umgeben, einige stechen noch wie Mahnmäler aus dem Meer. Die Terrasse gähnt dunkel und leer, füllt sich bei Festen aber mit Hunderten von quirligen Tänzern und Tänzerinnen. Die KÖNNEN tan-zen, und wie! Die Tanzterrasse ist gegen das Meer offen und dient als Wirtshaus mit Dutzenden von Tischen. Oft grüßt das Meer aus Löchern herauf, die zwischen den Ti-schen gähnen. Es muss ja nicht immer alles so perfekt

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sein wie in der Schweiz. Herrliche Haïti-Musik dröhnt aus den Lautsprechern, so laut, dass man nicht miteinander sprechen kann.

Unter der Woche gab es kaum Gäste, aber ich saß fast jeden Tag da, an einem Tisch am Rande der Terrasse, mit Melissa oder Alson, oft alle drei. Das Lambi wurde zu ei-ner Leidenschaft, denn da war was los. Besonders in der Samstagnacht, das wusste ich von früher. Schon seit Jah-ren verbrachte ich die Nächte, auch samstags, im eigenen Heim, das ganz nahe lag, nicht im Lambi. Ich hatte aber vor zwanzig Jahren hier gewohnt, zur Zeit, als mein Bau-platz in Gresye noch unbewohnbar war, damals für zehn Haïti-Dollar pro Nacht, entsprechend etwa zwei Schwei-zer Franken. Vor dem Erdbeben kostete es das Fünfzig-fache, und seither ist ganz geschlossen. Ich konnte früher in den Samstagnächten nie schlafen. Die Konzerte stör-ten mich nicht, sondern zogen mich eher auf. Haïti ist Musik und das Lambi am Wochenende ganz besonders! Dann war das Meer voller Ruderboote mit Schwarzhö-rern. Die Fischer tanzten in den Booten ganz eupho-risch, ein ansteckender Anblick. Manchmal plumpste auch einer ins Wasser. Leider hatte ich damals keinen Fo-toapparat bei mir.

An den Wochenenden sangen und spielten hier echte Stars, versteht sich. Jeden Samstag wieder andere. Jetzt fehlte mir Kiki, eine einstige Freundin, ihres Zeichens ni-gerianische Musikjournalistin aus London. DIEEE ver-stand sich aufs Musik Beschreiben, und wie! Ich konnte das nie, aber fiebern, wenn sie spielen, das kann und tu’ ich heute noch. Da dröhnte der ganze Pfahlbau mit, nicht nur von der Musik, auch von den ekstatischen Tän-zen der Menschenmassen, die weiß nicht woher ange-strömt waren. Draußen waren selbst die Fischer gekom-

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men in ihren Einbaum-Kanus, tanzten ekstatisch mit, die Einbäume waren zu Tanzbooten geworden. Nicht etwa Tanzböden, denn ein Boden fehlte. Sie waren so schlank wie Bleistifte, und die Tänzer mussten balancieren beim Tänzchen. Das geht auch!

Der alte «Chapeauman», der Hutverkäufer, gehörte zum Inventar, der den ganzen Tag mit einem Stapel Strohhüte zwischen den leeren Tischen umherspazierte und vergeblich nach Touristen schielte. Hie und da kam auch ein gehbehinderter Sänger und erzählte uns in wun-dervollen Liedern seine Lebens- und andere traurige Ge-schichten, begleitet von seiner Gitarre, prachtvollen selbstgebauten Texten, einer eigenwilligen Interpretation und einer unvergesslichen Stimme. Er sang, solange wir hier saßen und nahm dankbar ein paar Gourdes, ohne je darum zu bitten.

Das Lambi, das war ein Abenteuer. Schon die Deko-ration. Die optische Stimmung war düster, auch tagsüber war es dunkel unter dem enormen Blätterdach, fast un-heimlich, man wähnte sich in einer Geisterbahn. Innen- und Außenwände waren mit Tausenden und Abertausen-den von Muscheln bedeckt – Muscheln heißen kreolisch «Lambi», das hat dem Haus den Namen gegeben, und Hunderte von buntbemalten Körben hingen, die Öff-nung nach unten, an der Decke. Eine Unmenge von See-schildkröten-Panzern, Masken und Untieren aus Papier-maché und andere Requisiten machten die spärlich be-lichtete Halle für Neulinge geheimnisschwanger. Auch die Wände hingen voller Körbe, riesiger geflochtener Reusen und Fischnetze.

Das Lambi lebte. Man erlebte jeden Tag Neues. In der Luft dröhnten zwar manchmal Helikopter oder Jettrieb-werke, das nahm man in Kauf. Denn die Anflugschneise

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führt unmittelbar hier vorbei über das Meer, und die Flug-zeuge hängen da schon sehr tief. Schiffe jeder Art steuern den Hafen an, große Segelboote voll Holzkohlesäcken hu-schen lautlos vorbei. Steinzeitlich muten die Einbäume an, die vorbeigepaddelt oder auch gestachelt werden. Die Fi-scher hantierten mit ihren Netzen oder mit Angeln, manchmal schnorchelten und tauchten sie auch. Aus Holzbooten und Einbäumen mit offenen Feuern boten die Fischer rohes oder frisch geröstetes Getier, eben «Lambi», zum Schmaus für die einen an. Die anderen, zu denen ich gehörte, schauten und rochen dabei lieber weg … Die gerösteten Lambi wurden von den Fischern aus den Booten stehend hinaufgereicht zu den eventuellen Gästen, die sich über das Geländer bückten und die Mee-resfrüchte in kleinen Plastikbechern erstanden, viel billiger als angeboten in der Speisekarte, versteht sich. Mit Essig und Gewürzen. Eine geduldete Konkurrenz!

Das Lambi war die einzige Gaststätte zwischen Port--au-Prince und dem Süden. Zu trinken gab es Rum und Coca-Cola, wir nahmen beides und mischten, prost! Zum Prosten blickte Alson auf die Seite. Ich schulmeisterte ihm, dass man zum Prosten Augenkontakt suche, wie auch zum Begrüßen mit der Hand. Wir wiederholten: Prost! Die großen Augen Alsons schienen jetzt aus den Höhlen zu kollern, und mit vorgestrecktem Hals und bohrendem Blick starrte er uns in die Augen. Die neue Gewohnheit blieb fortan bestehen. Man durfte ja wohl was zum Lachen haben.

Dann wurde die Speisekarte präsentiert, von freundli-chen jungen Serviererinnen. Die Karte war an sich gut, voll von angebotenen Leckereien. Doch dann kam die Überraschung. Von all dem Ausgewählten gab es meist nichts, immer hieß es, das sei gerade ausgegangen, oder

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das gäbe es heute nicht, und «heute» war immer. Was es dann gäbe, Fisch, Lambi oder Poulet, das mochte ich al-les nicht, auch hatte ich unten keine und oben fast keine Zähne mehr. Heute hatte es keinen Reis, manchmal gab es nur Reis. Heute nur Spaghetti, ohne etwas dazu. Man wurde bescheiden. So warteten wir auf das, was es gab und ließen uns überraschen. Eine Stunde, zwei Stunden, wow, die Spaghetti kamen. Und heute waren sogar Ta-basco und Ketchup dabei, das war neu. En Guete!

«Daheim» hätten wir das auch, mit Tomatensauce und Reibkäse, und vielem mehr. Aber hier herrschte Lambi, hatte man das Lambi-Erlebnis, und das gab es nur hier. Die ansteckend rhythmische Kompas-Musik, die Fischer, die auf ihren Einbäumen tanzten, die vergaßen dann so-gar, ihre frisch gerösteten Meeres-Leckerbissen den Lam-bi-Gästen zu verkaufen, eben wenn es solche gab, und so die Menükarte zu konkurrenzieren. Kleine und große Se-gelboote zogen vorbei, gefüllt mit Hunderten von Säcken mit Holzkohle, und manchmal überfüllt mit Fahrgästen.

Die Rechnung, bitte! «Hundert Dollar, s’il vous plaît!» Das sind Haïti-Dollars, die landesübliche fiktive Wäh-rung, entspricht etwa zwanzig Schweizerfranken. Geht doch, «Essen» für drei Personen, samt Coca-Cola und «un quart» (¼) Rum. Gourdes brauchen nur die Banken. Die Hotels und Restaurants, die etwas auf sich geben, rechnen in US-Dollars. Das Lambi, das rechnete mit Haïti-Dollars. Lambi war Leben. Wer das Lambi nicht er-lebt hatte, hatte Haïti nicht erlebt. Das Lambi war eine Leidenschaft!

Ich hatte dieses Kapitel schon vor dem Erdbeben ge-schrieben. Jetzt muss ich leider alles in die Vergangenheit umsetzen, denn seit dem Erdbeben ist das Lambi teilwei-se eingestürzt, geschlossen und im Umbau. Und wohl

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auch zerstört. Mindestens die Stimmung. Hoffentlich habe ich diesmal ein Vorurteil.

Ja, das Lambi, das machte fast süchtig. Nicht süchtig nach Drogen, die spielten auch mal eine Rolle hier, da-mals rasten jeden Tag zwei Superschnellboote der Coast Guard daher, in jedem ein Dutzend Blauhelme. Vor der Lambi-Terrasse stellten sie für Minuten ihre riesigen Doppelmotoren ab und winkten uns zu, dann heulte es wieder auf und sie spritzten davon. Sie wollten wohl zei-gen, wie ihre Maschinen losdonnern und spritzen konn-ten. Aber das war dann vorbei.

Nein, ich bin nicht süchtig nach Drogen, ich bin süch-tig nach Lambi-Ambiance, -Stimmung und -Musik. Die 150-metrige Holzterrasse erstreckte sich auf Pfählen über das Meer, die gewaltige Decke aus bunten Körben ließ eine dunkle Riesenhalle entstehen, unter der die Wellen rauschten. Auch im heißesten Sommer war es windig und kühl, an Säulen und Wänden grinsten Masken und andere Décors, die einen das Schaudern lehrten.

Aber das Beste: Alle schienen kribbelig und musikver-rückt zu sein, ich wurde es auch, denn die schönsten Reggaes und Kompas stampften Tag und Nacht aus den Lautsprechern, auch wenn gar keine Gäste da waren und zuhörten. Auch ich war allein mit Makin, ich konnte die-ser Musik stunden- und tagelang zuhören, ich bekam nie genug davon. Meine Seele schwang mit, und wenn ich beweglicher gewesen wäre, hätte auch mein Körper mit-getanzt und die Glieder verrenkt. Oft waren junge einhei-mische Gestalten da, die das viel besser konnten – so leichtfüßig und entzückend, dass es ansteckte.

Einmal war das Lambi im Kriegszustand, denn die Blau-helme waren eingeyachtet, schwer bewaffnet, aber freund-lich winkend. Wahrscheinlich galt ihr Kennerblick nicht nur

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allfälligen Drogenbaronen und ihren Söldnern, sondern den anmutigen Tänzerinnen, die sich graziös im Takte wiegten, aufreizend zur Schau stellten, oder den sich außen am Ba-destrand räkelnden dunkelhäutigen Bikini-Gazellen.

Die Blauhelme waren an Land gekommen. Draußen auf dem Parkplatz standen knallrote Protzwagen der Mili-tärpolizei, vor und um den Parkplatz lauerten Wachen mit Sturmgewehren und andern gefährlichen Dingen un-ter dem Arm. Fehlten nur noch einige Panzer daneben, und Helis in der Luft. Machte fast Angst einzutreten. Dass man beim Eintreten ins Restaurant nicht gleich noch den Pass deponieren musste, war ein Wunder. Selbst im «Speisesaal auf Pfählen» waren sie postiert, be-wachten Gittertunnel und Schleuse rüber zum Badege-lände und waren dort gleich im Dutzend aufgestellt, Ge-wehr unterm Arm.

Was war denn nur los? Zu den Aufgaben der Blauhelme gehört auch Personenschutz, gewiss, und der war hier of-fensichtlich gefragt. Umzingelt von einer Horde von Body-guards, auf den blauen Helmen und roten Armbinden in imponierenden Majuskeln ein «MP», war ein Dickbauch auszumachen, ein Fahlweißer in knappen Badehosen, der einzige Mensch ohne Helm weit und breit. Vielleicht kein Drogen-, sondern ein richtiger Baron. Sein gut gefütterter Mollenfriedhof machte einen ganz und gar unmilitärischen, eher einen politischen Eindruck. Er watschelte scheinbar gelangweilt im Badegelände umher, ohne je ins Wasser zu steigen, mutmaßlich ohne Freunde und Begleitung, wie man sie von einem Gastgeber erwarten könnte. Gelegent-lich sprach er mit dem einen oder anderen der Krieger rundum – worüber mochten die wohl sprechen? Über den neuen Frieden, der jetzt in aller Munde ist? Über den Krieg,

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der im Lambi immer noch geübt wird? Beim Militär kennt man eben das Wort «Verzögerung».

Wie hatte die VIP (Very Important Person, promi-nente Person) sich nur hierher verirrt? Mit der ganzen blaubehelmten Truppe? Falls der Schützenswerte allen-falls wie vielleicht die Coast Guard in der Hoffnung auf sich räkelnde dunkelhäutige Bikini-Gazellen gekommen war, wurde er schwer enttäuscht. Denn diese hatten sich ob so viel Kriegslärm längst verzogen. Ich weiß nicht, wer der Herr war, vielleicht ein Staatsgast in der Badeho-se, oder ein Blauhelm, der sonst ein Kränzlein oder eine Riesenplakette trug, die nicht nass werden durfte, ist auch egal. Denn ohne diese, nur in der Badehose, sah er doch verblüffend ähnlich aus wie wir alle. Und überhaupt, ohne den ganzen Aufmarsch an «Sicherheit» hätte gar niemand bemerkt, dass jemand «Besonderer» da war.

Sie können nicht schreiben, aber malen und singen!

Der Anteil der erwachsenen Bevölkerung, der lesen und schreiben kann, heißt «Alphabetisierungsgrad». Er liegt bei 48,8%. Entsprechend beträgt die Analphabetenrate noch immer über 51,2%. In unserer Kultur drücken wir alles aus mit nackten Zahlen, aufs Komma genau. Und niemand begreift, was eigentlich hinter der Kennzahl steckt. Was Analphabetismus bedeutet. Eigentlich ist es umgekehrt, WIR sind die Analphabeten, die nur noch Zahlen sehen und auch die nicht mehr verstehen.

Trotzdem, man muss unten beginnen. Der Kampf ge-gen den Analphabetismus ist eine der ersten Prioritäten der Regierung. Alle Kräfte des Landes werden einge-

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spannt im Kampf gegen fehlende Lese- und Schreib-kenntnisse. Diese müssen durch anhaltende Maßnahmen ein für alle Mal ausgerottet werden.

Wie alles, so hat auch der Analphabetismus nicht nur Nach-, sondern auch Vorteile. Hörkultur, Vermittlung von Informationen über Musik, Sprech- und Puppen-theater haben eine größere Bedeutung als in schreiben-den und lesenden Gesellschaften. Kunst wird zur Infor-mation. Vor der Wahl des gegenwärtigen Präsidenten ließ der Kandidat eine eigene, populäre Band auftreten, die Wahlpropaganda komponierte und präsentierte. Rap- wie auch klassische Lieder enthalten vorwiegend politische Stoffe oder wichtige Informationen, so über Abfallent-sorgung, Entwaldung oder Hygiene.

Ich glaube, dass ganz allgemein in analphabetischen Gesellschaften die Hör- und Darstellungskunst einen hö-heren Stellenwert erreichte. Man denke an die europäi-schen Hofnarren, die afrikanischen Märchenerzähler, die singenden Nachtwächter oder hier in Haïti den «Blageur», ein Witze- und Geschichtenerzähler, der weder an öf-fentlichen noch an privaten Festen fehlen darf. Veran-staltungen, Trinkwasser- und Medikamentenverkäufe, Hinweise auf Konzerte und Veranstaltungen und sogar Aufforderungen zum Gebet werden über Gesänge an Megaphonen verbreitet.

Auch die Berühmtheit der haïtianischen Malerei ist mit eine Folge davon. Unter den Museen für kreolische und haïtianische Kunst erwähne ich dasjenige von Port--au-Prince, dasjenige von New York, die Amtec Art Galle-ry oder die zahlreichen Bildergalerien in Haïti. Naive Ma-lerei wird allenthalben in riesigen Straßenausstellungen ausgestellt, und Bilder sind das beliebteste Touristen-Mit-bringsel aus Haïti. Hunderte berühmter Maler sind

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Haïtianer oder sind sogar in dieses Land gezogen, das sie besonders inspiriert: Saincilus Ismaël, Délouis Jean-Louis, Alix Dorléus und andere erlangten Weltruf.

Auch Metallskulpturen, Bildhauerarbeiten und Schnit-zereien sind berühmt. Ich hoffe nur, dass der Alphabeti-sierungsprozess die künstlerische Naturbegabung dieses prachtvollen Volkes nicht beschädigt. Doch eines ist klar: Sie können nicht schreiben, aber malen und singen!

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Der Weltuntergang beginnt hier und so

Gonayiv, das immer wieder aus dem Schlamm aufsteht

Haïti ist ein Kampfplatz der Megakatastrophen. Da sind einmal die meteorologischen Angriffe aus der Luft, durch Hurrikane und tropische Wirbelstürme, Gewitterfronten, Sturmböen, Platzregen und andere Wetterphänomene mit Folgedesastern wie Erdlawinen, Überschwemmun-gen, Brücken- und Dammbrüchen. Traurig berühmt wur-de Gonayiv als Stadt der Sturmgeister, Stadt der Sintflu-ten und Stadt der Zombies, durch immer wiederkehren-de Großkatastrophen mit Tausenden von Toten.

2002 zum Beispiel wälzten sich haushohe Schlammla-winen über die Stadt mit damals 105.000 Einwohnern und machten sie zu einem Schlammfeld. Noch nach Wo-chen fanden die Hubschrauber Menschen- und Kinder-gruppen, die sich auf Klippen im Meer gerettet und ohne Nahrung ausgeharrt hatten. Das Trauerspiel wiederholte sich etwa alle zwei Jahre, jedesmal Tausende von Toten hinterlassend.

Die Küstenebene wurde zum Trauma und zum Trä-nensee. Er besteht heute noch, acht Jahre später. Die Hilfswerke der Welt arbeiten immer noch Tag und Nacht an der Beseitigung der Schäden von 2002, aber bevor die Arbeit beendet ist, kommen jedesmal neue Katastrophen und sie beginnt von vorn. Der einstige Flughafen braucht wohl nie mehr einen Tower. Die kläglichen Trümmer würden nicht vermuten lassen, dass hier einst Fluggäste abgefertigt wurden. Besucher, Touristen, Arbeiter, die dem schönen Land Arbeit und Einnahmen brachten.

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Im selben Jahr geißelte die Hurrikansaison die Stadt nochmals mit Überschwemmungen und Schlammlawi-nen, welche schon wieder für den Tod von Hunderten von Menschen verantwortlich waren. Praktisch jedes Ge-bäude wurde durch den Sturm beschädigt, noch viel mehr Menschen wurden obdachlos. Am 1. September schnitt der Hurrikan Hanna Gonaïves wiederum vollstän-dig von der Außenwelt ab. Allein im Zentrum gab es diesmal über hundert Tote.

Heute gibt es in Gonaïves nur noch Arbeit für Hilfs- und Rettungstruppen. Die Aufräumarbeiten sind bei Weitem noch nicht abgeschlossen; die Stadt ist immer noch schwer zugänglich, für Flugzeuge überhaupt nicht. In der Stadt wohnen nur noch Mitarbeiter der Hilfswer-ke. Die überlebende Bevölkerung lebt immer noch au-ßerhalb, in Provisorien und Zelten.

Die neue, kilometerlange Betonbrücke, die über den jungen See von Gonaïves helfen sollte, ist immer noch nicht fertig. Es wird einmal die längste Brücke der Kari-bik. Hoffentlich die Brücke in eine normalere, bessere Welt.

Neben der Straße stehen immer noch nicht abge-räumte Ruinen von Schlammhäusern, und es gibt immer noch bewohnte Zelte und Notwohnungen in einem schrecklichen Zustand. Die von den großen Hilfswerken erstellten Nothäuser arbeiten mit Farborientierung und ähneln Bienenstöcken. Sie liegen außerhalb.

Die Betonhäuser im Stadtinnern beherbergen nur noch Hilfswerke, und die Stadt wächst trotzdem. Hilfs-werke sind ihre tragende Industrie geworden.

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Seuchen, Cholera & Co.

SIDA/AIDS, Hühner- und Schweinegrippe, Typhus und andere vergessene Seuchen mag ich nicht mehr aufwär-men, die schlummern immer noch unter der Decke und sind allzeit bereit.

Der Horror, der gerade in Haïti grassiert und die Menschen derzeit zu Tausenden packt und auch um-bringt, ist die Cholera, die noch lange nicht ausgewütet hat. Am 19. Oktober ist sie im Artibonite-Tal eingekehrt, dort trinken viele das Wasser aus Tümpeln und Fluss. Zwei Tage später war sie schon unten in der Hauptstadt Saint-Marc und am 24. in der Prinzenstadt.

Wenig später sind schon 14.000 Choleraopfer spital-reif angesteckt und 2.000 Tote begraben. Und die Seuche wütet weiter. Die Spitäler waren überfüllt und konnten keine «Normalkranke» mehr aufnehmen. Ein richtiger Impfstoff besteht hier nicht, dass man sich waschen muss, vor allem die Hände, das wissen viele auch nicht. Um eine Verschleppung ins Ausland zu verhindern, sind Grenzen und Flughäfen immer noch geschlossen, und es könnte Jahre dauern, bis Haïti auf der Cholerakarte wie-der mit einer weißen Weste erscheint, als «sauberes Land», wenigstens choleramäßig.

Wir befragen einige in den Zelten, der Wissensstand ist unbeschreiblich. Zum Wasserkaufen haben sie kein Geld – seine Preise explodieren auch durch die plötzliche Nachfrage. Ich frage mich schon, weshalb die Hilfswerke eigene Häuser bauen und Autos kaufen, und den Ärms-ten nicht einmal gratis Wasser verteilen. Das wäre wahr-scheinlich noch billiger als Tausende Angesteckter in den Spitälern zu pflegen, wenn man schon alles am Geld messen muss.

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Ein richtiger Impfstoff besteht, scheint’s, nicht, aber wenigstens könnten sie wissen, dass man sich waschen muss, vor allem die Hände, aber sie wissen nicht einmal das. Und schon wieder steht das Wasserproblem an, in Pfützen die Hände waschen bringt nichts Gutes.

Es ist menschlich, bei Un- und Zwischenfällen den Sündenbock stets bei den Fremdesten zu suchen, und das waren hier mit Abstand die Blauhelme aus dem Hi-malaya, woher Mitte Oktober ein Truppenkontingent in Mirebalais eintraf, nur Tage, bevor dort die Seuche aus-brach. Blauhelme und US-Amerikaner müssen immer wieder als Teufel an der Wand herhalten und das Volk versucht zur Zeit, die UNO-Armee hinauszumobben. Das sorgt für wüste Straßenschlachten.

Da kommt mir ein anderes Unsinn-Erlebnis aus mei-ner Afrika-Zeit in den Sinn. Ich war gerade in Tansania, das damals mit Uganda im Kriegszustand steckte. Uganda war Hochburg des AIDS/SIDA-Syndroms, an dem dort die Menschen starben wie Fliegen. Im Feindland Tansa-nia war schon jedes Kind überzeugt, dass der amerikani-sche Geheimdienst dahinterstecke, das tödliche Teufels-zeug absichtlich eingeschmuggelt hätte, um die verhass-ten Ugander durch Genozid auszulöschen. Die Kinder wussten ohnehin nichts über die Vorgänge bei der AIDS-Infektion, und den Tansaniern konnte ein allfälli-ger Völkermord an ihren Feinden nur recht sein.

Apokalypse aus der Geldpresse

Eine ganz andere Art von Weltuntergang kommt von un-serer Papierwelt, genauer aus dem Papiergeld. Dass zur

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Zeit hierzuland immerhin noch Banknoten im Wert von 10 Gourdes (0,19 €) bis 500 Gourdes (4,85 €) zirkulieren, mag ja noch hingehen, aber die inflationäre Implosion wird bewirken, dass der gesamte Wert der Geldscheine verdampft und dereinst alles Geld vernichtet. Die Preise werden explodieren, auch weltweit, und in Haïti schon morgen. Weh denen, die nur Geld als einzigen Hafen kannten, vor allem die großen Banken, dann werden auch die kleinen dran glauben müssen. Dann folgen bald einmal die Bourgeois; nur die Armen, die haben nichts zu verlieren. Die Menschheit hat sich ihr papierenes Grab geschaufelt.

Die Hyperinflation ist nicht von Haïti verschuldet, und wenn wir dem Land nicht schon vor Generationen Gold und Bodenschätze gestohlen hätten, dürften die Menschen hier auch so lange leben wie wir. Geld mit praktisch Nullwert wird aber alle Probleme explodieren lassen, nicht nur die Preise der Lebensmittel, und die Ab-hängigkeit von den Hilfswerken wird unendlich.

In Haïti kann ein Großteil der Menschen schon heute nicht mehr für Nahrung und Wasser aufkommen. Eine ganz enorme Steigerung der bäuerlichen Ertragskraft wird vielen noch eine Zeitlang helfen, trotzdem wird das Volk vermehrt sterben an Hunger und Krankheiten.

Die Regierung wird nicht darum herumkommen, end-lich bevölkerungsstabilisierende Maßnahmen durchzuset-zen.

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Goudou-goudou – 316.000 tot

Nur der Himmel stürzt nicht ein

Gestern Abend habe ich mein schönes Haus, mein Tro-pengärtli und meine geliebten Tiere verlassen, nicht ah-nend, dass ich alles nie mehr sehen würde. Mein Mazda hatte eine neue Kupplung nötig, eine Reparatur, die nur in der Stadt ausgeführt werden konnte. Also fuhren wir an jenem Dienstagnachmittag in die Schwarzen Berge über der Stadt, ich wollte bei Melissa und ihrer Familie übernachten; sie ist seit zehn Jahren mein Schutzengel, das sollte sich wieder mal bewahrheiten. In Anspielung auf meine «Seeburg» mit Türmchen an der Küste nenne ich das einfache Blocksteinhaus hier oben «Bergburg».

Die Bergburg liegt 1.000 m über der Zweimillionen-stadt und dem Golf von Port-au-Prince auf einer Erosi-onskrete; man hat eine wundervolle Aussicht auf die Stadt hinunter, das Grabental gegen Osten und die Seen-kette bis zur Dominikanischen Republik, und den Golf im Westen, der von hier aus sauber und tiefblau aussieht. In der Mitte zwischen Ost und West, genau mir gegen-über im Norden La Vigie, der letzte Feuerspeier. Wir ha-ben schon von ihm gelesen.

Gegen 17 Uhr leuchteten die Berge der Nordhalbinsel ungewöhnlich, wie wenn sie etwas sagen wollten, sodass ich von der Stimmung ein Foto machte. Kurz vor 18 Uhr begann es zu rumoren, zu donnern und zu rütteln, die Wände wogten hin und her, Möbel und Flaschen stürz-ten zu Boden, das oberste Stockwerk krachte zusammen und erzeugte ein unbeschreibliches Rumpeln. Noch wäh-rend das Haus bebte, die Mauern wie Teufelstänzer hin

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und herwogten, Flachbildschirm und andere Geräte zu Boden klirrten, Vasen und Flaschen um meinen Kopf flogen und zerschellten, packte ich meine Geld-, Papier- und Schlüsselbörse sowie den in Betrieb befindlichen Laptop unter den Arm und sauste aus dem zweiten Stock treppab ins Freie, zum Glück unversehrt. Das dritte Stockwerk war eben am Herunterkrachen, Abstand, nur Abstand halten! Soweit meine Wahrnehmung, vielleicht muss man sagen Phantasie, denn Wahrnehmung funktio-nierte keine mehr. Nach Darstellung Melissas saß ich ge-schockt vor dem Computer und wusste nicht, was über-haupt geschah. Minuten später kam ich zu Sinnen, ich befand mich im Freien neben dem Haus, es krachte und brummte, rundum Familienglieder und Nachbarn, alle schrien und standen unter Schock. Was im Einzelnen los war, wird sich nie genau enträtseln lassen. Mit Sicherheit war ich mit einem Schlag nicht mehr «normal», das heißt wie vorher – das bin ich immer noch nicht. Normal war ich ja überhaupt noch nie. Über die erfahrenen psychi-schen und physischen Veränderungen werde ich später noch schreiben, die gab es und die bleiben. Im Moment nur, ich hatte ein unbeschreibliches Leben, ein Leben voller Abenteuer, und ich hatte vorher noch nie Angst. Jetzt habe ich!

Ein Blick talwärts ließ mich erstarren. Die Zweimillio-nen-Agglomeration war unter einer braunen Staubwolke verschwunden, auch der nahe Vorort Pétion-Ville lag un-ter einer Glocke, kein Haus war mehr sichtbar. Blockstei-ne und anderes flogen immer noch durch die Luft, ich war nicht allein, der «Deckung» suchte. Deckung ist zwar der falsche Begriff, denn das hieß in diesem Fall freien Himmel, nur der stürzt nicht ein. Aber zugleich war Schutz vor den umherfliegenden Mauerteilen gefragt, ein

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Widerspruch. Wir rotteten uns auf dem obersten Platz der Montagnes Noires, der Schwarzen Berge zusammen, die Frauen richteten ein Nest mit einigen Decken her, es dunkelte schon. Das starke Beben dauerte minutenlang, es folgten kleinere Erschütterungen, die nicht mehr auf-hören wollten.

Ich war «wohlauf» und musste das erst einmal realisie-ren. Erst einmal meine Schocks auszittern. Ich hatte schon manches Erdbeben erlebt, aber noch nie so eines, es erreichte 7,5 auf der Richter-Skala, in Gresye, wo ich eigentlich hätte sterben sollen, fast 8, hörte man später. Ich hatte noch Strom in der Kamerabatterie für eine letz-te Aufnahme, die schoss ich von unserem Biwakplatz im Freien. Der diente mir zehn Tage lang bis zur Evakuie-rung zum Wohnen und Nächtigen – die andern mussten noch monatelang so ausharren. Es gab keinen Strom, keine Taschenlampen, keine Batterien, auch kein Telefon. An Schlafen dachte die Nacht niemand. Und alle paar Minuten, später alle paar Stunden, kamen die Nachbe-ben, die sich monatelang wiederholten, zu Hunderten. Und setzten uns jedesmal in Trauma und Schrecken. Noch heute kann ich nicht zwischen echten Beben und Traumata unterscheiden und zucke bei jeder Erschütte-rung zusammen.

Der oberste Stock der Bergburg war zusammenge-kracht. Aber der Mittelstock war, abgesehen von der Trümmer- und Scherbenflut und einigen Rissen, noch in-takt. Am nächsten Tag wagte ich mich, entgegen dem hausherrlichen Verbot, in einer scheinbaren Goudou-goudou-Pause ins Haus, um Unentbehrliches zu erledi-gen. Ich suchte eine Dynamo-Taschenlampe, um auf dem harten Steinlager wenigstens ein Notlicht zu haben, und suchte eine Verbindung mit dem Internet, was mir

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vorübergehend gelang. Ich sandte statt einer meiner ge-wohnten, täglichen Geschichten eine Mitteilung an meine Freunde und Leser: «Aus dem Inferno gerettet. Vorerst ein Lebenszeichen für meine Freunde und Leser», für weitere Erklärungen blieb später Zeit.

Einzelne fanden ein batteriebetriebenes Taschenradio, das fetzenweise schaurige Informationen trällerte. Parla-ment und Kathedrale seien zerstört, das Lyceum in Pétion-Ville eingestürzt, mit Hunderten von lernenden Studenten, das größte Einkaufszentrum «Caribéenne» ebenfalls, auch dort seien Hunderte von Menschen be-graben. Zwei Pfarrer hatten in der örtlichen Kirche Zu-flucht gesucht und gebetet, dann stürzte die Kirchende-cke ein und tötete sie. Neben Teilen des Nationalpalasts seien sämtliche Ministerien und andere öffentliche Ge-bäude eingekracht, und auch die meisten Mitglieder der Regierung seien getötet. Im Nobelhotel Montana seien von 300 Verschütteten noch 100 Gäste überfällig; die an-reisenden Journalisten und Spezialisten werden es schwer haben, eine Unterkunft zu finden. Hier pflegte der UN-General und wichtige Häupter ihre Sitzungen abzuhalten. Auch alle Spitäler seien schwer betroffen, die übrigblei-benden Betten überfüllt.

Auf unserem Fluchtplatz wurde gebetet, Gottesdiens-te abgehalten, gesungen und geschrien von Verwundeten, von Bébés und Kindern, von Verlierern von Angehöri-gen und von ihren Häusern, von Erschreckten, es war chaotisch. Selbst unbekannte Hunde knurrten und kläff-ten, suchten Berührungsnähe von Menschen, trugen die Rute tief eingeklemmt zwischen den Beinen als Zeichen ihrer Angst. Noch in der Nacht rief meine Tochter aus Paris an. Sie war in Panik und wollte wissen, ob Papa wohlauf sei, und sie erzählte mir, was ich noch nicht

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wusste. Das Fernsehen berichte pausenlos über die Kata-strophe. Auch Sie, liebe Leser, hatten aus den Medien die besseren Informationen als wir, die Betroffenen. Das ist eben so in der Informationsgesellschaft. Kurz darauf wollte die Schweizer Botschaft wissen, ob ich noch lebe. Es waren die letzten Anrufe, die durchkamen, ein Wun-der, und das Handy funzte. Aber dann war Funkstille, je-der in- und ausländische Telefonkontakt war verstummt.

Morgens um fünf gab die Regierung über Radio Ent-warnung, – das war voreilig! – und kolonnenweise such-ten die Anwohner ihr Haus. Das erste war für mich der Internetanschluss, aber der blieb stumm, die Störung lag außerhalb. Vielleicht eine Antenne oder ein Server demo-liert, oder das Haus der Provider lag im Schutt. Dann konnten auch e-Mail, Facebook, Internet und andere Verbindungsmittel für lange Zeit ausfallen, allenfalls auch in der DomRep und Kuba, denn unterdessen hieß es, das Erdbeben tobe weltweit. So schrieb ich diese Kolumne offline und hoffte, sie dann später aufs Netz überspielen zu können, mit noch unbekannter Verspätung.

Noch lange war es nicht so weit. Die Luft war erfüllt von grauenhaften Schreien. Geschrei von Verletzten, von Menschen, die ihre Lieben verloren hatten, ihre Glieder, ihr Haus oder Hab und Gut. Noch wusste ich nicht, dass ich auch darunter war. Menschen liefen in Panik umher, schrien Sprüche über Jesus, der zurückgekommen sei, über den Jüngsten Tag, der gekommen sei, man solle kei-ne Angst haben, sondern Freude, nun sei alles gut, doch alle hatten Panik. Man schleppte Schwerverletzte herauf, die eine oder andere Leiche eines wiedergefundenen Fa-milienmitglieds. In endlosen Einerkolonnen die Voyeure, die auf allen Wegen zur Stadt hinunter zu eilen versuch-ten, um zu sehen, was es zu sehen gab, vielleicht auch um

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zu helfen. Sie werden irgendwo im selbstgebauten Chaos steckengeblieben sein, die Stadt nie erreicht haben.

Aus der Luft wurde die schaurige Geräuschkulisse er-gänzt durch das Geknatter der Helikopter, die pausenlos aufstiegen in den werdenden Tag, um zu erkunden, wie es überall stand und was noch stand und bestand, und wie und wo zuerst geholfen werden könne. Und jetzt die Aufforderung aus dem Radio, das Einzige, was noch tat, die Häuser wieder zu verlassen, es drohten neue Stöße … Und neue Schreckensnachrichten. Ein Tsunami hätte ge-wütet und das Meer steigen lassen, überlebende Fischer und Küstenanrainer waren zu Fuß in die Berge geflohen. Hundert Meter weiter unten, jenseits des Wildbachtobels, wo die Autopiste endet und karge Parkplätze für die paar motorisierten Dorfbewohner liegen, hatte sich eine Men-schenmenge angesammelt. Es seien Obdachlose, Meeres-anrainer und Fischer, die ihre Heimstätten wegen des ge-stiegenen Meeres hätten verlassen müssen.

Auch wir verbrachten den Tag wieder im «Nest», das über Nacht notdürftig abgedeckt wurde. Zum Glück, denn zu alldem begann es auch noch zu regnen. Das Ra-dio schepperte, es seien Spezialequipen angekommen, die dem Schweizer Katastrophenhilfskorps entsprechen, zwei aus den USA und eine aus Kanada. Die ganze Nacht über hörte man das Surren von Helikoptern, die offenbar lange Zeit am gleichen Ort in der Luft «stehen» blieben, wohl um größere Hausteile von den Opfern wegzuhie-ven, oder das periodische Rattern von Pressluftbohrern, mit denen Verschüttete freigebohrt wurden.

Im Übrigen entsprach die Geräuschkulisse der der Vornacht; das Liegen auf der harten Unterlage war kaum mehr auszuhalten, obwohl die Einheimischen alles beige-steuert hatten, um mir die Unterlage zu «erweichen». Man

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hörte von den Schäden an Betonvillen der Reichen, die seien teilweise ausgezogen, um ein Lager mit Einheimi-schen zu teilen. Jemand bemerkte spöttisch, jetzt seien es die Armen, welche die gierigen Mäuler der Reichen füt-tern. Ich hielt es ja auch nicht anders.

Wasser für die Toilette kam im Kesseli, an Sparsam-keit war ich ja bereits gewöhnt. Eine Weltorganisation brachte uns Reis und Nahrungsmittel, im Haus fand sich noch eine Ketchup-Flasche. Darauf stand in großen Let-tern «Rich and Thick»; glauben denn die, dass ich das werden möchte? «Reich» – ein Hohn, und «Dick» – noch weniger! Man darf doch nicht immer nur meckern, muss auch mal was Gutes sehen, sie hat blitzschnell gefunzt, die Hungerhilfe! Ein schießwütiger Plünderer und Pisto-lenheld wurde gleich verhaftet.

So ging es zehn Nächte lang, für die andern noch län-ger. Das waren unter anderen die Familie von Melissa und ihrem Mann, Mystal, später Majorie, ihre Schwester, und einige Nachbarn. Zuerst schaffte es Majorie nicht mehr. Sie wurde unterwegs von einer einstürzenden Mauer begraben, befreit und nach ein paar Tagen hierher geschleppt und war schwer verletzt. Wohl mehrere Kno-chenbrüche und Schlimmeres. Sie ließ sich kaum berüh-ren, ich hatte nur wenige Schmerztabletten bei mir und Transportmöglichkeiten fehlten, zudem waren auch die Ärzte betroffen und wurden per Radio gesucht.

Sämtliche Medizinstudenten ab zweitem Studienjahr, auch aus den Nachbarstaaten, wurden gebeten, sich im Universitätsspital zu melden, das größtenteils auch zerstört und wie alle anderen Spitäler total überfüllt war. Melissa hatte sich beim Aufklappen eines eisernen Klappbettes für mich einen Finger abgeklemmt, er hing noch knapp her-unter und verursachte unsägliche Schmerzen.

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Eine Schwester von Mystal ist mit all ihren Kindern und der ganzen Familie unter den Trümmern gestorben. Im Radio wurden alle Autobesitzer gebeten zu versu-chen, die Stadt zu erreichen; alle Särge waren ausverkauft, an Verteilstellen wurden Plastiksäcke als Ersatzsärge ab-gegeben, und die Autofahrer sollten Leichen zusammen-sammeln und an publizierten Sammelstellen abgeben, denn die Stadt sei unbewohnbar und äußerst seuchenge-fährdet. Tiefer gelegene Stadtteile waren infolge des ge-stiegenen Meeresspiegels überflutet, und Hunderttausen-de von Kadavern schwammen in den Fluten, verbreite-ten einen fürchterlichen Gestank und waren eine enorme Seuchengefahr. Aber die Straßen waren zerstört, und die Autobesitzer konnten die Sammelstellen nicht erreichen.

Jede Nacht besaß ihre eigene Klangwelt, das pausenlo-se Dröhnen und Knattern der Flugzeug- und Helimoto-ren bei Tag und bei Nacht, in den ersten beiden Nächten die Schreie der Verletzten und Verängstigten, der Kinder und der Verzweifelten, dann zunehmend Gebets- und Gesangschöre aus allen Religionen und Kulturen, die Stimmung war unbeschreiblich, schaurig, traurig, und doch irgendwie schön. Man hörte und spürte, dass die ganze Welt am Helfen war, wo noch zu helfen war. Der Nachtwächter scherbelte durch das Megaphon seine afri-kanischen Trostlieder und Aufforderungen zum Beten.

Bald begannen sich Misstöne in die Trümmerklänge zu mischen. Es wurde immer häufiger geschossen, oft in nächster Nähe. Als das Radio noch krächzte, hatten wir gehört, dass über 6.000 Schwerverbrechern die Flucht ge-lungen sei. 10.000 UNO-Soldaten und -Polizisten waren auf der Jagd nach ihnen, und nochmals doppelt so viele kamen aus den USA, aber die hatten unten genügend zu tun. Dort wurde auch unser Freund Etienne erschossen,

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als er uns in Gresye besuchen wollte. Aber das hörten wir erst später.

Zu uns herauf kamen nun die Pistolenhelden, und die Angst vor diesen war größer als die vor den Erdstößen, die uns immer noch durchschüttelten. Obwohl gerüttelt und geschossen wurde, war es wie in einer Kirche. Einer Kirche ohne Geistliche. Man hörte, es gäbe fast keine Geistlichen mehr. Die seien geflohen oder in den Kir-chen umgekommen.

Grenzen und Flughäfen waren geschlossen, die US Army hatte den Flughafen der Hauptstadt übernommen und fertigte bis zu 1.300 Hilfsflüge pro Tag ab, zum Teil in Zweierkolonnen, die sich erst vor dem Aufsetzen ein-fädelten. Auf dem Golf schwammen Helikopterträger und ein amerikanisches Spitalschiff. Das Rote Kreuz und die Schweizer Botschaft organisierten Flüchtlingstrans-porte auf dem Landweg nach Santo Domingo.

Nach der 10. Schreckensnacht wurde auch ich mit Melissa dorthin gebracht. Sie durfte mich «aus medizini-schen Gründen» begleiten, das hatte ich ja auch nötig. So ging es noch einen guten Monat weiter, und wir warteten auf Plätze nach Europa. Denn alle wollten die Insel ver-lassen, und es kam kein anderer Flughafen mehr in Frage.

Millionen von Haïtianern dürfen die Schreckenszone nicht verlassen. Sie bekommen von keinem Staat ein Vi-sum und riskieren bei jedem Goudou-goudou zu sterben. Und Erdbeben gibt es fast jeden Tag, ein noch stärkeres ist schon wieder angesagt.

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Überfall auf der Flucht

Schließlich ergatterten wir zwei Tickets über Paris in die Schweiz. Gestern war es endlich so weit, wir taxelten zum Flughafen und stapften durch das Heer von Polizis-tinnen und solchen, die das hätten scheinen wollen. Ich ziehe die Abenteuer bekanntlich an, so ließ man mich bei der Passkontrolle passieren, Melissa mit Haïti-Pass und Schengen-Visum jedoch nicht, man behielt sie in Dom-Rep-Gefilden und brachte sie schließlich zurück zu den Höher-Dekorierten. Während die Beamtinnen am Kon-trollpunkt mit einem oder zwei goldenen Spaghetti deko-riert waren, hatte man meine Begleiterin in ein Büro ge-bracht, wo die Dickwanste zwei und drei breite Nudeln trugen, scheinbar die Direktoren der Teigwarenfabrik. Diese hätten der übereifrigen Polizistin echt dominika-nisch-spanisch die Leviten verlesen, und kleinlaut kam die Dame mit Melissa zu ihrem Posten zurück und ließ die verängstigte Haïtianerin passieren.

Endlich saßen wir in dem spanischen Riesenadler und genossen die Reise über den nächtlichen Teich mit rotem Wein, den Roquefort mussten wir uns vorstellen, und die Zigarre war ohnehin nicht geduldet, weder von Melissa noch von der Airline aus. Der lange Flug war das Einzige, was wir genießen konnten, denn Fliegen war für mich ja kein Schreckgespenst wie für die meisten, sondern immer noch ein Vergnügen. Der Anschlussflug nach Zürich war kurz und schmerzlos, und Melissa konnte fünf Tage Schweizer Schneetreiben, Schokolade, Fastnacht, Kulina-rik und Mentalität kosten, dann wollte sie wieder zurück zu ihren Kindern. Im Gegensatz zu all den anderen Haïtianern, die im Osten untertauchen und nie mehr zu-

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rück wollen in die Hölle. Aber die Teufel spielten noch-mals Spielverderber.

Es war in Paris. Mein gewohntes Hotel fand sich nicht mehr. Man hatte die U-Bahn-Linie verlängert, und die heutige Endstation lag anderswo. Wir irrten in der Nacht umher, mitsamt Gepäck, die Sohlen waren fast durchge-laufen, die Zehen schmerzten, und Taxi fand sich keines. Schließlich waren wir da. Computer und was übrig blieb im Zimmer abgelegt, Ende gut – alles gut, könnte man meinen, aber das wäre naiv. Ich hatte Hunger und Lust nach einem französischen Steak Tatare, das hatte ich schon jahrelang nicht mehr genossen. Das brachte ich umgehend in Ordnung, das Restaurant war mir bekannt und gleich angebaut, aber leider hatte es keinen Durch-gang im Innern des Gebäudes. Man musste dieses für ein paar Sekunden verlassen, aber das genügte einer offenbar eingeübten Bande für einen Überfall.

Es war unter den Objektiven von Überwachungs-Ka-meras und den Augen herumstehender Wächter, unmittel-bar vor dem Hoteleingang, als ich von hinten einen hefti-gen Schlag verspürte und mir meine Tasche entrissen wur-de. Der dreiste Räuber hatte alles bestens geplant und ein-geübt, vor allem die kunstvolle Flanke über das zwei Meter hohe Abschlussgitter der «Sicherheitszone». Da half mein Geschrei auch nichts mehr, und ich verfolgte den blitz-schnellen Räuber vergeblich. Ich wusste gar nicht, dass ich schneller rennen konnte als all die Menschen, die mir hel-fen wollten und mir mit zu großem Abstand folgten; der Schurke war schon ins Dunkel abgetaucht.

Der Rezeptionist telefonierte sofort der Polizei und kontrollierte die Bilder der Überwachungskameras, aber ohne Erfolg. In wenigen Minuten war eine Gruppe von Polizisten da; nachdem ihre Inspektion nichts ergab, nah-

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men sie uns mit auf den Posten, wo wir die Nacht ver-brachten und ausgefragt wurden. Gegen Morgen wurden wir von der Polizei entmutigt zurückgebracht. Wir hatten nur noch den Polizeirapport in der Hand, zum Glück hatte ich meinen Laptop auf dem Zimmer gelassen.

Was ich in meiner Tasche unglücklicherweise mitge-tragen hatte, waren unsere gesamten Papiere, Melissas und mein Passeport, das ihre mit den Visa, die Flug-tickets, sämtliche Ausweise incl. Fahrausweise, Kredit- und Bankkarten, Bankbüchlein, Schlüssel, alles Geld, Agenden mit allen Adressen, Telefonnummern und sons-tigen Angaben, Fotoapparat, und last but not least Bar-geld in vierstelliger Höhe, meine ganze Papierwelt.

Die nächsten Tage waren erfüllt mit Besuchen von Botschaften und Ämtern. Der Schweizer Pass, mein Lais-sez-passer und mein Flugticket gingen zügig und machten keine Probleme. Anders war es mit Melissa, die in der Fol-ge mehr als einen Monat in Paris bleiben musste und keine Verbindung zu ihrer Familie bekam, ihre vier Kinder mussten die Hölle ausgestanden haben. Nach Ansicht der französischen Regierung bestand Haïti als Land nicht mehr, nach ihrer Meinung wäre die Bewilligung einer Reise nach Haïti staatlicher Mord. Die Behörden dort bestanden nicht mehr, die Passmaschine war unter Schutt, es konn-ten zur Zeit keine Pässe ausgestellt werden. Die arme Frau musste einen neuen Schock, ein neues Trauma aushalten.

Ich selbst konnte in den Schulen von Suhr spontan ei-nige Vorträge halten; die Schüler sammelten einen vier-stelligen Betrag für Melissa und ihre Familie, den ich ihr gleich nach Paris brachte – diesmal per Eisenbahn. Und für mich sammelten sie das Geld für einen neuen Foto-apparat, liebevoll und aufmerksam! So konnte ich mit ei-ner Unterbrechung von wenigen Tagen meine Internet-

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Geschichten fortsetzen, und auch meine Leser waren zu-frieden. Allen vielen Dank!

Nach vielen Schwierigkeiten erhielt Melissa ein Lai-ssez-passer für die Reise über die DomRep nach Haïti, und an Ostern war es so weit – die tapfere Frau reiste zu-rück und feierte mit ihrer Familie, hoffentlich gebührend, Ostern. Ich selber war zurück in der Schweiz, wo sich al-les zügig erledigen ließ. Lustig und typisch schweizerisch war noch die Steuerrechnung, die ich da sofort erhielt – die sei nur provisorisch, es folge noch mehr. Ich wollte ja eigentlich nur wieder einen Pass, aber dafür müsse man angemeldet sein, und das koste eben Steuern – mindes-tens für drei Monate. Wie glücklich war ich, nicht in die-sem Land bleiben zu müssen, trotz Wasser und sauberen Toiletten.

So wird man Mensch der Woche!

Kaum zurück, lud mich das Deutsche Fernsehen ein, bei einer Sendung bei Frank Elstner mitzumachen. Da sagte ich nicht Nein, wenn es auch kein Vermögen brachte, aber es war wieder ein Abenteuer. Und Hand aufs Herz, wer will es denn nicht gerne mal als «Mensch der Woche» versuchen. Tage vor dem Auftritt fühlte ich mich betreut, wie seinerzeit während und nach der Flucht. Täglich rie-fen mich rührige Damen an und erkundigten sich nach Wünschen und Befinden, schön, so umsorgt zu werden, ich konnte nicht mehr verloren gehen. Mit einiger Ver-spätung brachte ein Kurier das Ticket des Reisebüros, darauf war «ELSTNERTAINMENT» aufgedruckt, damit war ja alles bekannt. Ich war mit meiner Frau in eine gi-

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gantische Unterhaltungsmaschinerie eingespannt, schon die ganze Woche, und die tickte vorwärts, sekunden-genau, wie eine Schweizer Uhr.

Schließlich kam der 10. April 2010. Wir saßen, meine Frau Rosita und ich, im ICE der Deutschen Bahn, und sausten nordwärts. Nach Norden sagt man auch für «auf-wärts», denn auf einer geographischen Karte ist Norden oben. Auch im allgemeinen Sprachgebrauch, etwa wenn es mit den Kursen aufwärts geht. Und auch diese ICE-1. Klasse-Fahrt ging nicht nur wirklich nach Norden, sondern gab uns das Gefühl, dass es auch sonst wieder aufwärts gehe, wie immer nach einer langen Talfahrt.

Rosita hatte sich dazu die richtige Lektüre gekauft: «Barack Obama, ein amerikanischer Traum. Eine beein-druckende Schilderung der Suche nach seiner Identität als schwarzer US-Bürger». Dabei fielen für mich natürlich zahlreiche Nebeninformationen ab, über diesen raketen-haften Aufstieg in den Nordhimmel, dieser Persönlich-keit, die ja auch Haïti so sehr verhaftet ist. Und schon wieder wären wir beim Thema Märchen und Wunder, an die man glauben muss, damit es aufstellt.

So ging die Fahrt rasch vorüber, und schon saßen wir im Taxi und rauschten durch prächtige Parkanlagen zum Dorint Hotel Messner, einer Luxusabsteige, wie ich sie mir seit zwanzig Jahren nicht mehr leisten konnte. Gesichter von Berühmtheiten tauchten wie Schemen im Nebel auf. Und kaum reichte die Zeit für eine flüchtige Ruhepause, Retablierung, einen kurzen Spaziergang und einen Imbiss. Und schon wieder laufen wir Barack Obama über den Weg. Ich frage nämlich den uns begleitenden Regisseur, warum denn auf der Straße alle Schachtdeckel weiß ver-siegelt seien, erklärt der uns, das hätte der amerikanische Geheimdienst bewirkt. Kürzlich sei Obama hier durch-

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spaziert und seine Sicherheitsleute wollten verhindern, dass sich im Röhrenlabyrinth gefährliche Elemente ver-stecken konnten. Mit einem Wagen des Fernsehstudios geht’s weiter aufwärts. Im Studio treffe ich auch alte Freunde wieder, ein Fernsehteam war schon bei uns in Haïti, als unser Haus noch intakt und prächtig war, und es dort einiges zu filmen gab.

Nach einer schnellen Schminke gab es Probeaufnah-men, Aufnahmen durch den Fernsehfotografen, und ein Tonmeister versteckte Mikrophone in meinen Kleidern. Dann musste ich ein Stockwerk höher klettern in die «Maske» und durfte mich in zarte Damenhände begeben. Da wurde ich – wohl zum letzten Mal – beschminkt, be-nebelt und bepudert, bis mein Gesicht auch einem jener Nebelschemen glich – ich hörte jedenfalls nachträglich von grotesken Jüngerschätzungen durch Zuschauer, die gerne etwas über mein wahres Alter erfahren hätten. Aber über das wahre Alter spricht man nicht, wenigstens bei «Stars». Das könnte Fans kosten …

Und schon führt uns der Aufnahmeleiter hinunter ins Studio, es ist voller Zuschauer. Wir werden hindurchge-lotst, meine Frau zu einem Zuschauerplatz auf der Seite, und uns werden Plätze zugewiesen, ganz nahe dem «Tat-ort». Was folgte, erlebte ich fast hektisch. Frank Elstner, der unter anderem im Südwestrundfunk die Talk-Show Menschen der Woche moderiert, stellte sich vor und erklärte mir ganz kurz den Ablauf der Sendung; für Lampenfieber blieb keine Zeit, trotz der Hunderte von Lampen, die von der Decke hingen. Da gab es so viele Beschäftigte, Regisseure, Techniker, Kabelträger und weiß nicht was, und im letzten Moment wurde noch umgestellt. Herr Elstner kennt mich aus meinen Internet-Geschichten und wollte mich zuerst als Menschen und Abenteurer

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vorstellen, er hatte sich eigentlich darauf vorbereitet, mit den drei Flugzeugcrashs zu beginnen, die ich schon heil überlebt hatte, und dann aufs Erdbeben überleiten. Da sich Minuten vor der Sendung zwei tragische Flugzeugab-stürze in Polen und Russland abspielten, wobei die ganze polnische Politelite ums Leben kam, entschloss er sich, auf dieses sensible Thema zu verzichten und auf ein Höhlenmotiv auszuweichen. Zum Glück kannte er ja meine Geschichten schon. Und ich kannte die kommen-den Fragen ohnehin nicht, so spielte mir das keine Rolle. Vier Kameras waren im Einsatz, davon eine an einem Kran. Die Sendung erlebte ich stressig, meine Antworten waren immer zu lang, und wenn ich in die Nähe der Hauptsache kam, die ich eigentlich sagen wollte, empfand ich mich schon unterbrochen durch ein anderes Thema. Ich passe eben nicht in eine tickende Maschine mit so kurzem Takt. Es war so stressig, dass ich die Bilder und die Texteinblendungen nicht einmal gewahrte, und schon war meine Zeit um.

Wie man doch immer wieder bei seiner eigenen Ge-schichte landet. Ich bin bei jeder bestrebt, andauernd zu kürzen, dabei werden die Geschichten fortwährend län-ger. Ich erreiche so oft das Gegenteil von dem, was ich will. Geht das dir auch so?

«Einer der letzten großen Abenteurer dieser Welt», so stellte mich Frank Elstner seinen Zuschauern vor, den Gästen von «Menschen der Woche» des SWR. Demge-mäß werde ich übermorgen voller Zuversicht und mit neuem Elan wieder westwärts fliegen, zu meinen Men-schen, ihren Problemen und meinen Abenteuern, vorerst über Paris durch die Aschenwolken der isländischen Vul-kane, dann nach Santo Domingo und von dort per Bus nach Haïti, neuen Erlebnissen entgegen. Frank Elstner

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fragte mich vor den Kameras, warum ich denn nicht blei-ben wolle. Meine Antwort war, weil ich kein Deserteur sein möchte. In derselben Nacht kamen noch Mails aus Haïti, man konnte dort offenbar die Sendung empfan-gen, mit der Meldung «Nein, du bist kein Deserteur!».

Bankrott der UNO; Bürgerkrieg im Armenhaus

Das Weltgesicht passt nicht zu Haïti, eine Maske soll dem Unland aufgezwungen werden. Zahlen und Zwänge, Geld und Gewalt, die Werte der Welt. Auch Haïti gehört noch zur Welt, aber in einer anderen Richtung, als es das Weltgesicht will.

Das Volk hätte am 28. November einen neuen Präsi-denten wählen sollen, nach dem Willen der Welt, denn der alte war abgelaufen und ausgebrannt, die Welt lachte nur noch über den Marionettenkopf, wie sie sagte. Jetzt ist ein Monat später, man kennt noch kein Ergebnis. Das Volk lebt vor sich hin, immer dezimierter. Es lebt ohne Kopf, aber mit dem Herzen, mit Stolz und Feuer in sei-nen Adern. Und mit genügend Händen, die nur auf einen Kopf und auf Arbeit warten.

Dieses Volk braucht keinen Präsidenten, es hatte ihrer genug. 74 in 200 Jahren, das reicht. Das Volk braucht endlich einen starken Mann.

Seit dem Erdbeben gab es nur noch Köpfe aus dem Ausland. Das US-Triumvirat mit Bill Clinton, Jimmy Car-ter und George Bush, der in seinen alten Tagen wohl noch etwas tun wollte für sein schlechtes Gewissen. Die-ses Triumvirat hat wohl ausgespielt und die nachfolgende Hydra Clinton-Chavez-Préval-Obama und Ban Ki Moon

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hat noch anderes zu tun, als sich mit Trümmern und Trä-nen zu beschäftigen. Und im Übrigen hat Clinton selbst das zu besetzende Präsidentenamt als schwierigsten Job der Welt und die benötigte Zeit zum Trümmerräumen mit 15 Jahren beziffert, gibt drei Präsidenten, in Amtspe-rioden gezählt. Ich meine, für diesen Job gibt es gar kei-nen Kopf, auch nicht außerhalb des Trümmerhaufens.

Vielleicht hätte Haïti einen Präsidenten gehabt. Prak-tisch, nicht nach den Regeln. Der Musiker, Songwriter und Produzent Wyclef Jean konnte mit Klängen, Rhyth-men, Worten, Werken und Werten Massen von Men-schen bewegen.

Der Künstler hat dieses Kunststück auf mancherlei Weise fertiggebracht. So gründete er 2005 Yéle Haïti, eine erfolgreiche gemeinnützige Organisation, die tut, was die Regierung nicht tut, Projekte zur Verbesserung der Le-bensqualität initiieren und fördern, Umwelt-Camps, Sportanlässe, Reintegration junger Gang-Mitglieder, Nah-rung für Slums, Bildungsprojekte, Ernährung, Sport, Kunst & Kultur, Scanning- und Zugriffsysteme auf histo-rische Quellen, Motivation der Welt-Künstlergemein-schaft zur Hilfe für Haïti, Umweltprojekte, Katastro-phenschutz, Trümmer- und Abfallräumung, Förderung von Sauberkeit und Hygiene, Straßenreinigung, Verbesse-rung des Straßennetzes und mehr.

Wyclef ist schon lange «Präsident», auch ohne Wahl. Mindestens seit 2005, der Gründung von Yéle. Er tut das, was ein echter Präsident tun sollte. Als Hobby und erfolgreich. Es wäre logisch, wenn jetzt auch der Titel folgen würde. Aber der echte Präsident empfindet die Konkurrenz als Dorn im Auge. Der möchte lieber, dass nichts getan würde. Die Machthaber «lösen» ihre Proble-me wie eh und je: mit Geld und Gewalt. Die Welt macht

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es vor. Sie überschwemmen Wyclef gar mit Morddro-hungen. Methoden wie einst und je. Sie haben Demokra-tie noch nicht begriffen.

Schlammschlachten haben wir ja erwartet. In einer Schlammschlacht werden Binsenwahrheiten, Halbwahr-heiten, Unwahrheiten ausgegraben und aufgebauscht, strategisch eingesetzt. Aber das ist nicht mehr Schlamm-schlacht. Das ist Mittelalter pur!

Gestern musste das Ergebnis bekanntgegeben wer-den. Der Wahlrat hatte zu entscheiden, welche Bewerber zur Wahl zugelassen werden und welche nicht, für wen Demokratie gelte und für wen nicht. Der Wahlrat hat verkündet, dass der Kandidat der Regierungspartei Inité, Célestin, gegen die frühere Präsidentengattin Mirlande Manigat am 16. Januar in einer Stichwahl antreten werde. Der Sänger Martelly landete demnach mit knapp 7.000 Stimmen Rückstand hinter Célestin. Er sagte im Radio, der Wahlrat habe das Land mit seinen fehlerhaften Er-gebnissen in eine Krise gestürzt. Auch die internationale Gemeinschaft und nationale wie internationale Beobach-ter erkennen an, dass diese Ergebnisse nicht richtig sind. Auch im Westen wird Demokratie zurechtgebogen und manipuliert.

Die Bevölkerung ist zornig, und mit Recht. Sie ist auf den Straßen. Bereits gestern früh hat es im Sorgen- und Millionen-Slum Cité Soleil Tote und Verletzte gegeben, Helikopter sind ausgerückt. Die Mehrheit wird nicht ge-sucht, sie wird überfahren, Vernunft hat versagt, „Re-geln“ haben gewonnen. So gilt die Regel, dass ein Präsi-dent-schaftskandidat während fünf Jahren ununterbro-chen im Land gewohnt haben muss, das wurde Wyclef zum Verhängnis. Obschon es die Regierung war, die ihn als Bot-schafter ins Ausland verbannt hatte. Also kann

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ein Botschafter nie Präsident werden, oder er muss zu Hause bleiben.

Das Establishment hat die Wahlen gekauft, die Welt-organisation hat versagt, und ähnlich tönt es von unten. Die haben ein System erfunden, das es einem vom Volk erwünschten Führer nicht gestattet, sich zur Wahl zu stel-len. Sie wollen, dass Führung bei den Reichen bleibt. Wy-clef gehört zwar zu den Superreichen, aber er denkt und handelt nicht wie sie. Die UNO will wieder Sklavenhalter, Profiteure, keine Helfer und Entwickler. Ich kann es ein-fach nicht glauben.

Andere finden, Wyclef sei dem versteinerten Establis-hment suspekt, weil er zu viel wisse über den Verbleib der Spendengelder und mit seiner Wahl ein Fenster hin-aus auf die Welt geöffnet würde, das man lieber verram-melt halte. Der Gründe werden viele ausgescharrt und diskutiert, das ist ein Vorteil, es kommt etwas in Bewe-gung. Angesichts der momentanen Situation kann man nur hoffen, dass Wyclef Mut und Geduld behält und es in fünf Jahren wieder versuchen wird.

Aber auch in einem heutigen politischen Gremium, etwa einem Wahlrat, gibt es nicht mehr nur Rechtsden-ker, sondern auch Rechtdenker, immer mehr. So taten die sich schwer und konnten sich bis spätnachts nicht entscheiden. Als es dunkel war und die potentiellen Pro-testler vermutlich im Bett, gab man den Vorbescheid be-kannt. Es war eine Sprengbombe.

Hatten wir doch schon einmal. 1990 war es ein Kir-chenmann, der zu berühmt war, um Demokratie zu spie-len, der die Wahl schon ohne Wahl gewonnen hatte. Und 2010 ist es ein Hip-Hopper, der einen Volksentscheid vorwegnehmen würde. Kirchenmann und Hip-Hopper müssten eigentlich eine ganz große Lehre sein und der

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Welt zeigen, was das Haïti-Volk will. Es will Nahrung für Körper, Seele und Geist, Friede, Freude und Glück − sind denn die Politiker schwer von Begriff ? Halleluyah, Yéle Haïti!!! Wyclef wäre doch im Voraus gewählt, ohne Gegenstimme, ohne Chaos. Aber man zieht das Chaos vor, Erfolg will man nicht, System über alles. Ein welt-weit brauchbares System ist eben noch nicht erfunden!

Eine erste Verfassungsänderung steht an. Wenn nur wählbar ist, wer mindestens fünf Jahre im Inland blieb, sind alle Fähigen, die in der Diaspora, von vornherein ausgeschlossen. Die Kasper bleiben unter sich.

Wenn die UNO für einige Jahre ihre Arbeit zufrieden-stellend leisten würde, dann würde es im Grunde gar kei-nen Präsidenten brauchen. Es würde einen Rechtsmen-schen brauchen, einen solchen können die Ausländer nicht ersetzen. Die UNO-Schergen zappeln schon genug ohne die Rechtsprobleme. Laut Verfassung muss die Wahl halt sein. Cholera, Kasper & Co. hin oder her.

Es hätte unter den Kandidaten sogar einen Rechtsge-lehrten gegeben, einen, der das Herz am rechten Fleck trägt. Leider ist Henry Céan zu rechtschaffen, ehrlich und dem Volk zu wenig bekannt. Ihn hätte ich als Einzigen von der erlauchten Auswahl gesehen, um auch über den ausufernden Rechtsproblemen zu stehen, aber das hat das Volk nicht gemerkt.

Man denke an die unter Notrecht besetzten Gebiete und an die Entschädigung der Unternehmer, die ihre Projekte in nun besetzten Ländereien begonnen hatten, an die noch bestehenden Schulhäuser, die von Obdach-losen besetzt sind, aber dringend benötigt würden und an tausend andere Folgeprobleme des Notrechts. Die Pro-bleme mit den verschwundenen Dokumenten, von Iden-titätsbeweisen bis zu Kauf- und Grundbuchpapieren.

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Céant ist Rechtsprofessor an der Universität in der Prin-zenstadt und Seminarleiter im ganzen Land. Er hat das Herz auf dem rechten Fleck, politisch nicht zu weit rechts noch zu weit links, sondern schön in der Mitte, dort wo es auch bei einem echten Menschen tickt. Er hilft, Projekte zu realisieren, gerade in Grundbuchangele-genheiten, Bau- und Siedlungswesen. Zum Beispiel das St-Joseph-Spital, das Erzbistum und andere Organisatio-nen. Sein Motto ist: Unkenntnis schützt vor Strafe nicht.

Das Volk ohne Kopf braucht gar keinen Präsidenten, deren 74 sind genug. Das Volk braucht endlich einen Kopf, Herzen und Hände hat es ausgiebig.

19 Köpfe stehen Schlange vor der Tür des National-palasts, die noch nicht einmal montiert ist. Und infolge der grassierenden Cholera diskutiert man über den Wol-ken eine Verschiebung der Wahl. Viele der 19 sind vor lauter Kopf zu verkopft und können nicht mehr mit allen sozialen Gruppen reden, etwa der dilettantischen Unter-schicht. Ich bekomme dieses Gefühl, wenn ich als sprachloser Ausländer die endlosen Fernsehreden und Auftritte verfolge, die erinnern allzuoft an das Début ei-nes Uni-Assistenten. Problem und Chance dieses Volkes sind seine Vielfalt und Divergenz.

Der abtretende Präsident klammert sich wie ein Blut-egel an seine Macht, die er glaubt, mittels erzwungenem Wahlsieg seines Günstlings Célestin erpressen zu können. Erpressungsgeschichten zirkulieren auch seitens seiner Frauen und Geliebten, die ihn bei Nichtgelingen der Wahl mit Ausplaudern von Peinlichkeiten über politische Morde und Verschwinden von Spendengeldern unter Druck setzen sollen. Um gewählt zu werden, muss ein Kandidat oder eine Kandidatin im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen erhalten. Eine Stichwahl

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unter den beiden Bestplatzierten werde am 16. Januar stattfinden.

Am 28. November 2010 war Wahltag, unter interna-tionaler Kontrolle. Es war nicht ein Kaspertheater, das damit begann, es war ein Drama, das stündlich eskalierte. Menschen wurden getötet und verletzt, sie seien an den Straßen gelegen wie am 12. Januar, behaupten Augenzeu-gen, – derweil das Radio von «nur» 5 Toten berichtete – man kennt die Wahrheit nicht, sogar staatliche Medien berichten gegensätzlich. Bisher hatten das Weltgesicht, UNO, CARICOM, internationale Beobachter und ande-re Hochdekorierte noch einen Vertrauenskredit, der schmilzt jetzt dahin wie das Eis durch den Klimawandel. Die Situation spitzt sich dramatisch zu, seit Tagen ist es nicht mehr möglich, das Haus zu verlassen, es gibt kein Brot und keinen Treibstoff. Den muss man ohnehin ver-gessen, denn der gesamte Verkehr ist abgewürgt. Das In-teresse an Demokratie auch.

Während der Wahl wurden Urnen gestohlen, ausge-leert, mit falschen Stimmzetteln gefüllt, angezündet. Die Offiziellen der Welt sprachen von leichten Verfehlungen, die einen Abbruch der Wahlen nicht rechtfertigen würden. Die Wut der Letzten, die noch an Politik glauben, aber ist grenzenlos. Die Straßen sind blockiert, alle paar Meter brennen Barrikaden; Autos, die nicht rechtzeitig Deckung fanden, werden umgestürzt, auf den Straßen übereinander-geworfen, die Reifen abmontiert und angezündet. Von den wenigen noch ver-kehrenden Fahrzeugen werden als Tribut Reifen eingefordert; um weiterfahren zu können, muss ein Reifen abgegeben werden, sie werden angezün-det, Autos ohne Reifen blockieren die Straße. Da alte und neue Reifen längst verbrannt sind, wird Brennmaterial für die Barrikaden gesucht, auch Truppen, Polizei, Ambulan-

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zen und Reporter kommen nicht mehr durch, der Verkehr steht still. Es gibt nur noch Scherben statt Scheiben, das Chaos ist unbeschreiblich.

Von den 19 Kandidaten agierten 12 gemeinsam und verlangten die Anullierung der «Wahlen», weitere waren derselben Meinung, konnten aber aus Verkehrsgründen nicht kommen − Verkehr existiert seit Tagen nicht mehr. Die 12 veröffentlichten ein gemeinsam unterzeichnetes Dokument, das die Entmachtung des Präsidenten Préval und seines «Schwiegersohns» Célestin verlangte, um des-sen Bevorzugung alles ging. Er hatte seine Wählerschaft massenweise gekauft, lange vor der Kontrollperiode, an-geblich zu 1000 HT$ entsprechend ca. 100 € pro «Parti-san» und Stimme, und die «Söldner-Partisanen» sorgten für Tötung und Verletzung von Gegnern und ließen nur Wähler zu den Urnen, die für ihn stimmten.

Jetzt melden sich auch die Senatoren in einem offenen Brief. Das Chaos wurde um jeden Preis vom unpopulären Präsidenten René Préval herbeigeführt, um sich selbst mit letzter Kraft an die Macht zu klammern, um seinem Schwiegersohn Jude Célestin das Präsidentenamt zu er-zwingen, und zwar unter dem Schwindel der international geforderten Stabilität, für die eigentlich die MINUSTAH bürgen sollte. Die Präsenz der Welttruppen hat das Ge-genteil, die Destabilisierung des Landes, erreicht.

Préval soll den Einwohnern von Site Soley sogar Waf-fen verteilen und sie aufgefordert haben, politische Geg-ner − die Partisanen des Gegenkandidaten Martelli − umzubringen, eine offene Aufforderung zu Blutbad und Bürgerkrieg. So erzählten vermummte Zeugen im Fern-sehen. Und heute, nach 8 Tagen, eskaliert das Chaos im-mer noch.

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Sämtliche Flughäfen, Schulen und Geschäfte sind seit Tagen geschlossen, letztere von Randalierern und Plün-derern zerstört. Blauhelme und Polizei fliehen vor dem wütenden Mob. Ein solches Chaos habe ich noch nie er-lebt. Außer Helikoptern und Panzern gibt es keine Ver-kehrsmittel mehr.

Die MINUSTAH verzeichnet einen Rekordumsatz an Tränengas, denn jeden Augenblick versuchen Gruppen, Gebäude, vor allem das Wahlzentrum, und Wahlbüros anzuzünden. Die Rauchschwaden der Tränengasgranaten sind erst mit einiger Übung von denen der brennenden Barrikaden und Autoreifen zu unterscheiden. Truppen, Tränen und Trauer regieren, und die Welt verliert ihr Ge-sicht. Es herrscht Démoligarchie statt Demokratie.

Die großen Mehrheitsparteien, «Fas-à-Fas» von Wy-clef Jean und «Fanmi Lavalas» von Jean Bertrand Aristi-de, sind ausgeschlossen. DORT würden doch die Schlüs-sel liegen. Eine Wahl ohne diese ist eine Farce und ein Betrug und kann keinen demokratischen Anspruch erhe-ben. Und Papa Préval mit seinen Familieninteressen fuchtelt mitten drin.

So kämpfen Bürger, die Söldner sind, gegen Bürger, die einfach wählen möchten. Es herrscht Bürgerkrieg zwischen den Zelten. Schuld sind nicht die einfachen Leute. Die möchten endlich Frieden und Recht. Schuld sind die Etablierten, die Weltleute, die Dreinreder und Besserwisser – ich nehme die UNO nicht aus. Ihre Re-geln richten sich gegen das Volk. Einst stellte man solche Leute vor ein Kriegsgericht. Welche Richter zeigen der hiesigen Politik ihre Grenzen auf?

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Das letzte Wort

In Haïti hat der Weltuntergang begonnen. Spätestens am 12. Januar 2010. Es gibt eben ihrer mehrere, einen für jede Welt, wie sie für jedes lebende Wesen existiert. Und es gibt einen irdischen, die Erde ist ja auch ein lebendes Wesen, und einen persönlichen, denn jeder hat seine Welt.

Haïti ist ein kleines, zurückgebliebenes Land, das ab-hängig ist von allem, was rundum geschieht, das sich von planetären Entwicklungen so wenig abkoppeln kann wie jedes Land, das wird noch Generationen lang so weiter-gehen – ein schlechter Trost …

Wir kommen nicht umhin, die Auswirkungen des sys-temischen Weltuntergangs auf das «Armenhaus Ameri-kas» zu betrachten. Auch Amerika wird zum Armenhaus. Der Wert des Geldes wird sich verflüchtigen, die Preise und der Hunger werden explodieren. Nicht nur in Haïti. In Haïti kann ein Großteil der Menschen schon heute nicht mehr für Nahrung und Wasser aufkommen. Bauern und Ärzte sind gefordert. Und die Regierung wird nicht darum herumkommen, endlich bevölkerungsstabilisieren-de Maßnahmen durchzusetzen. Auch eine Sozialschicht, in der Kinder- und Vielfachschwangerschaften normal sind, schaufelt am eigenen Grab.

Für den globalen Weltuntergang ist ebenfalls bestens gesorgt: das Steigen des Meeresspiegels genügt, um bis zur Jahrhundertwende in Haïti (und anderswo) Millio-nenstädte unter Wasser zu setzen, weitere Großkatastro-phen sind vorgezeichnet. Überschwemmungen, Erdlawi-nen, Brechen und Wegschwimmen von Hoch- und Tief-bauten, vor allem von Brücken und Straßennetzen, und

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die Mittel für Hilfe ans Armenhaus werden knapper, da die Spenderländer den eigenen Bedarf nicht mehr decken können.

Auf der Berginsel haben sie alles, was zum Heimfin-den nötig ist: Hunger und ungute Nahrung, Hurrikane und Wirbelstürme, Seuchen und Krankheiten wie Hüh-ner- und Schweinegrippe, Typhus und Cholera, Fieber wie Dengue und Malaria.

Noch sitzen wir im selben Boot. Das rast mit hundert Sachen ungebremst auf die Kliffküste zu. Die Insel Eden ist einst aus dem Meer entstanden, und sie wird sich wie-der heim begeben, zurück ins Meer. Aber noch vorher müssen die Lebenden heimfinden, die so lange ausge-harrt haben.

Was tun? Nicht weinen, versuchen zu schmunzeln, das Leben geht weiter. Das Steuer herumreißen. Die Ein-heimischen begeben sich in die Arme von Jesus oder Göttern, sie beten und singen, sie tanzen sogar. Andere begeben sich in die Arme von Alma Mater, der Götter-mutter der Bildung, die hilft immer.

Wellentäler und Krisen müssen in jedem Leben auf-treten, damit wieder Wellenberge entstehen, sich Men-schen weiterentwickeln können. Die Zukunft sieht gut aus für Haïti und seine Menschen. Aber alles braucht Zeit!

Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, und das spreche auch nicht ich. Aber dieses Buch habe ich mit ei-nem Vorwort begonnen, und deshalb habe ich auch das Recht zum letzten Wort:

Haïti, tanze, singe und bete weiterhin, viel Glück!

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Der Autor

Otto Hegnauer ist Schweizer, Jg. 32, in Zug aufgewachsen, hat dort Schulen und Gymnasium besucht und bis in die 60er-Jahre bei den Eltern gewohnt. Als Protestant war ihm der erwünschte Besuch eines Innerschweizer Seminars verwehrt; so besuchte er das Aar-gauische Lehrerseminar Wettingen und schloss 1954 als Primarleh-rer ab. Anschließend absolvierte er die Ausbildung als Realschulleh-rer und studierte Naturwissenschaften, speziell Geomorphologie.

Jahrzehntelang versah Hegnauer Berufe als Lehrer und Geograph, daneben begann er, sich für Film und Fernsehen auszubilden. Er produzierte zahlreiche Filme im 16mm-Format und hatte im Schweizer Fernsehen Gelegenheit, die wichtigsten Jobs kennenzu-lernen und darin zu arbeiten.

Neben der Entwicklung von interessanten Tätigkeiten und Hobbys, so als Höhlenforscher, Filmer in Nationalparks, Leiter von Studien- und Abenteuerreisen und mehr gestaltete er Lehrmittel und Lehr-veranstaltungen für Schulen und Industrie. 1980 holte ihn die Mi-gros-Gemeinschaft zum Aufbau einer Ausbildungsabteilung mit Schaffung geeigneter Medien für weltweiten Einsatz, wobei er die für ihn wichtige Bedingung aushandelte, in den Ferien seine Reise-leitungen in Afrika weiterhin ausführen zu dürfen.

Nachdem er in der Schweiz eine Haïtianerin kennengelernt und ge-heiratet hatte, wurde Haïti seine neue Destination, und er baute sich dort ein Haus. Als er 1994 altershalber pensioniert wurde, war das prächtige Haus auf einem Hügel am Meer schon fertig, in unverbau-ter Lage und mit 60 Metern Länge und 4 Stockwerken zu schade zum Zusammenstürzen. Aber am 12. Januar 2010 kam das Erdbe-ben, hinterließ mehr als 300.000 Tote und zerstörte alles, was er hat-te. Sein besonderer Gott ließ ihn auch diesmal überleben. Es blieb nur noch das Schreiben, was er schon seit 1994 getan hatte, in:

www.swissfot.ch, www.latina-press.ch

und anderen Internet-Präsenzen. Dass Bücher folgen mussten, war nur folgerichtig.

Otto Hegnauer im Wagner Verlag

Von der Leseratte zur ErlebnisraketeZombies wurzeln in Europa und stängeln in Haïti

Das zweite Buch von Otto Hegnauer erzählt sein Werden. Er blieb keine Leseratte, er setzte um, was er gelesen hatte. Das Erdbeben vom 12. Januar 2010 tötete 316.000 Menschen und zerschmetterte auch sein Haus. Er behielt sein Leben und seinen Reichtum an Er-lebnissen, die er jetzt aufschreibt. Er möchte die Menschen wieder zum Schmunzeln bringen. Denn sein Motto heißt:Schmunzeln bringt Leben, Weinen den Tod!

Märchen aus der Vaudou-TrommelMärchenroman aus Haïti, dem Land der Zombies

Im dritten Buch sucht Fabulus eine andere Welt und andere Werte, um die Scheidung von seiner europäischen Frau zu verkraften. Er findet in Haïti eine Unwelt, wo sich Menschen zu Stieren und Unto-te zu Zombies verwandeln, wo alles möglich und nichts unmöglich ist. Das Land des Schmachtens wird zum Land des Schmunzelns, denn Hegnauer weiß, dass Weinen nichts, Schmunzeln dagegen alles bringt. Also macht er die Leser schmunzeln.