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891 -- - Zeitschrift far angewandte Chernie 41. Jahrgang 5.891-934 I Inhalteverreichnie: Siehe Anseigenteil 5.18 1 18. Auguet 1928, Nr. 83 Ged%chtnisrede auf Justus von Liebig. Von F. HABEB, Berlin. Vorgetrugeu bei der Eiiiweihung dee Liebig-Hawee in Dariiisladt a111 7. Juli 1V28. {Eingeg. 10. Juli 1828.) Heute betreten wir das erneute Haus, in dein vur .I25 Jahren, wie das Kirchenbuch sagt, dem Biirger und Handelsmann Herrn Georg L i e b i g und seiner Ehefrau Marie Karoline, geb. Moserin, ein. Sohn Johann Justus als zweites Kind geboren wurde. Dar- unter steht in dem Kirchenbuche eingetragen voii spaterer Hand: ,gestorben 18i3 in Miinchen als well- beriihmter Cheniiker". Mit uii- erliBrtem Glanz ist IA i e b i g R Name schon vor drei Menschenaltern zutn WeItruhm aufgestiegen. Voll ge- waltiger Kraft hat L i e b i g in gewaltigem Streit voii der Schwelle der Mannesjahre bis zum biblischen Alter nls ein Fuhrer unter den Menschen gestanden. Wie Ge- witterwolken hangen die MiDverstiindnisse iiber ihni, von Blitzstrahlen seines Genies zerrissen, hinter derieii Beifall und Kritik nls ein gemeinsamer Donner durch die inenschliche Atmosphare rollen. Er hat den Beruf zii einer Leistung in sich gefiihlt, fur die keines Menschrii Kraft und Lebenszeit geniigen konnte. Er wollte die Chemie, von der es in Deutschland nichts und auQerhalb Deutschlands nur ein bescheidenes Wissen auf dem Ge- biete der unbelebten Natur gab, so reich und glanzvoll in Deutschland aufbauen, daB nicht nur in ihreni eigeii- sten Hause Ordnung, Licht, Zusammenhang und System entstand. Er wollte durch sein Vorbild und seine Lehro der Jugend, die aus diesem Hause hervorgeht, die Rich- lung weisen und den Weg bahnen, auf dem all- Ver- standnis der Vorgange in der belebten Natur und neue Bltite der Gewerbe gelegen war. Was er gewollt hat, ist heute in unserem Lande der gemeinsame Wille eines g r o h n Faches, das er geschaffen hat. Was wir errungeri haben, iet erreicht worden, weil die nachfolgenden Qe- schlechter aul aeinen Schultern standen. Was tut's, dai3 er sich in mancheni Ilberstiirzt hat und in Irrtum ver- fallen ist. Der Irrtum des Mittelmadigen verwirrt dio Fiiden und hemmt den Fortschritt des Naturerkennens. Er getraut sich keiner bestimmten Behnuptung, und er kann sich doch nicht entschlieaen, seine Unklarheit rund heraus auszusprechen. Anders I, i e b i g. Wo er irrt, hat er den Mut und die Deutlichkeit des schtipferischen lrrtums. Die Methode der exakten Untersuchung, die er bei uns eingefiihrt hat, der Respekt vor dem Experiment, den er uber jede Autoritat eines Lehrers gesetzt hat, uberwinden, von seinen Nachfolgern ausgeiibt, seine Meinung, wo sie fehlgegangen ist. So erfiillt er seine ge- waltige Mission im haheren Sinne auch dort, wo er irn engeren Sinne des Spezialisten nicht zur Wahrheit durchfjndet. Darum kommen Reich und Land,'Staat und Hochschule heute mit den Fachgenossen aus Niihe und Verne zusammen, um sein Geburtshaus, das die Freunde der Hochschule und die Stadt neu aufgerichtet und reich ausgestattet haben, als ein Denkmal einzuweihen, das von seiner OrbDe zeugen wird, solange die Stadt steht. L i e b i g s Leben ist der wissenschaftlichen Welt zweimal in meisterlicher Weise geschildert worden: ein- ma1 in gedrangter Form von August Wilhelm v. Hof- Wahrlicli, das Kirchenbuch spricht recht. mew. Chem. la. Nr. S mann in seiner Faraday-Lecture zwei Jahre nach L i e b i g s lod, uiid dann 23 Jahre spater in ausflihr- licher Darstellung von Jacob V o 1 h a r d. Beide waren Schtiler, Mitarbeiter und Freunde des groden Mannes. Die Einzelheiten seines Lebens uud Wirkens waren ihnen noch nahe, vertraut und lieb. Uus Angehorigen einer jilngeren Generation erscheint L i e b i g s Bild im Sehwinkel des viel grbDereri Abstandes. Wir khnneii die Einzelheit seiner wissenschaltlichen 'l'atigkeit nicht mehr nach dem eigenen Erleben schildern, wir konneii sie auch vielfach nicht rnehr ohne gelehrteu historischeli Exkurs mit dem Gegenwartsbilde der Wissenschalt ver- binden. Aber je mehr Spezialistenlum von ihni abfallt, urn so mehr kommen die schlichten groijen Ziige dieses, Mannes heraus, auf die es ankommt. Cledachtnisredeii einer spateren Zeit sind wie die Xirchenglocken, die zur Erinnerung an das Ewige gelautet werden. Das Ewige aber wird urn niemals bewuDt durch die Aufziihlung der Einzelheiten, die ein grobes Leben erfiillt haben. Es steckt in der Personlichkeit des grol3en Meiischen, und wenn der Redner nicht die Kraft hat, es in seiner Ge- samtheit lebendig zu mnchen, so kann er doch nichts Besseres tun, als die gro5en Ziige, die er aus seineni Ab- stand zu erkennen glaubt, mit einfachen Worten zu schildern. Von L i e b i g s friiher Jugend wissen wir nicht viel, und das Beste, was wir wissen, stammt von ihm selbst. Sie fhllt in eine Zeit, in der der Gehorsam der Kinder wichtiger war als ihre Eigenart. Sicher ist, dal3 er schon ah Knabe die einseitige Leidenschaft fur die Chemie empfand, die ihn durch dae ganze Leben geWrt hat. Das kleine Laboratorium, das mit den1 viilerlichen Drogen- Cieschaft verbunden war, gab diesem cheniischen Trieb Entwicklung und Nahrung. Dort lernt er nach dem Re- zept Lack, YirniD und Farbe machen. Dem Nachbar sieht er beim Seifensieden zu. Beim Farber und Gerber ist er zu Hause, und dem fahrenden Zauberkunstler guckt er ab, wie inan Hnallerbsen'Inacht. Was an chemischeu Biichern in der Vaterstadt aufzutreiben ist, verschlingt er, und jedes Experiment wiederholt er so oft und so lange, bis er an den Erscheinungen nichts niehr sehen kann, was er sich nicht schon vorher eingepragt hatte. Durch diese leidenschaftliche und beharrliche Tiitig- keit gewann er zwei Dinge, die fur die Richtung und deli Erfolg seines Lebens entscheidend waren. Er Iernte chemische Erscheinungen mit einer Genauigkeit sehen und mit einer Sicherheit im Gediichtnis festhalten, die das mittlere Vermbgen der Menschen auf das auflerordent- lichste iibertraf. Von ihm selbst ist uns aus den Tagen, in denen er Professor in GieDen war, ein charakteristi- sches Beispiel dieser besonderen Sinnesscharfe iiber- liefert. Sein Freund W o h le r sendet ihm ein neues Praparat in Form eines weif3en Kristallpulvers, dereli es schon damals in der Chemie einen hellen Haufen gab. L i e b i g betrachtet dies weiDe Pulver, das fur jedes ge- w6hnIiche Auge von anderen weiDen Pulvern nicht ver- schieden war, und spricht es fur dasselbe Allantoin ar s3

Gedächtnisrede auf Justus von Liebig

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Zeitschrift far angewandte Chernie 41. Jahrgang 5.891-934 I Inhalteverreichnie: Siehe Anseigenteil 5.18 1 18. Auguet 1928, Nr. 83

Ged%chtnisrede auf Justus von Liebig. Von F. HABEB, Berlin.

Vorgetrugeu bei der Eiiiweihung dee Liebig-Hawee in Dariiisladt a111 7. Juli 1V28. {Eingeg. 10. Juli 1828.)

Heute betreten wir das erneute Haus, in dein vur .I25 Jahren, wie das Kirchenbuch sagt, dem Biirger und Handelsmann Herrn Georg L i e b i g und seiner Ehefrau Marie Karoline, geb. Moserin, ein. Sohn Johann Justus als zweites Kind geboren wurde. Dar- unter steht in dem Kirchenbuche eingetragen voii spaterer Hand: ,gestorben 18i3 i n Miinchen als well- beriihmter Cheniiker".

Mit uii- erliBrtem Glanz ist IA i e b i g R Name schon vor drei Menschenaltern zutn WeItruhm aufgestiegen. Voll ge- waltiger Kraft hat L i e b i g i n gewaltigem Streit voii der Schwelle der Mannesjahre bis zum biblischen Alter nls ein Fuhrer unter den Menschen gestanden. Wie Ge- witterwolken hangen die MiDverstiindnisse iiber ihni, von Blitzstrahlen seines Genies zerrissen, hinter derieii Beifall und Kritik nls ein gemeinsamer Donner durch die inenschliche Atmosphare rollen. Er hat den Beruf zii einer Leistung in sich gefiihlt, fur die keines Menschrii Kraft und Lebenszeit geniigen konnte. Er wollte die Chemie, von der es in Deutschland nichts und auQerhalb Deutschlands nur ein bescheidenes Wissen auf dem Ge- biete der unbelebten Natur gab, so reich und glanzvoll in Deutschland aufbauen, daB nicht nur in ihreni eigeii- sten Hause Ordnung, Licht, Zusammenhang und System entstand. Er wollte durch sein Vorbild und seine Lehro der Jugend, die aus diesem Hause hervorgeht, die Rich- lung weisen und den Weg bahnen, auf dem all- Ver- standnis der Vorgange in der belebten Natur und neue Bltite der Gewerbe gelegen war. Was e r gewollt hat, ist heute in unserem Lande der gemeinsame Wille eines g r o h n Faches, das e r geschaffen hat. Was wir errungeri haben, iet erreicht worden, weil die nachfolgenden Qe- schlechter aul aeinen Schultern standen. Was tut's, dai3 er sich in mancheni Ilberstiirzt hat und in Irrtum ver- fallen ist. Der Irrtum des Mittelmadigen verwirrt dio Fiiden und hemmt den Fortschritt des Naturerkennens. Er getraut sich keiner bestimmten Behnuptung, und er kann sich doch nicht entschlieaen, seine Unklarheit rund heraus auszusprechen. Anders I, i e b i g. Wo er irrt, hat er den Mut und die Deutlichkeit des schtipferischen lrrtums. Die Methode der exakten Untersuchung, die er bei uns eingefiihrt hat, der Respekt vor dem Experiment, den e r uber jede Autoritat eines Lehrers gesetzt hat, uberwinden, von seinen Nachfolgern ausgeiibt, seine Meinung, wo sie fehlgegangen ist. So erfiillt er seine ge- waltige Mission im haheren Sinne auch dort, wo er irn engeren Sinne des Spezialisten nicht zur Wahrheit durchfjndet. Darum kommen Reich und Land,'Staat und Hochschule heute mit den Fachgenossen aus Niihe und Verne zusammen, um sein Geburtshaus, das die Freunde der Hochschule und die Stadt neu aufgerichtet und reich ausgestattet haben, als ein Denkmal einzuweihen, das von seiner OrbDe zeugen wird, solange die Stadt steht.

L i e b i g s Leben ist der wissenschaftlichen Welt zweimal in meisterlicher Weise geschildert worden: ein- ma1 in gedrangter Form von August Wilhelm v. H o f -

Wahrlicli, das Kirchenbuch spricht recht.

m e w . Chem. l a . Nr. S

m a n n in seiner Faraday-Lecture zwei Jahre nach L i e b i g s lod, uiid dann 23 Jahre spater in ausflihr- licher Darstellung von Jacob V o 1 h a r d. Beide waren Schtiler, Mitarbeiter und Freunde des groden Mannes. Die Einzelheiten seines Lebens uud Wirkens waren ihnen noch nahe, vertraut und lieb. Uus Angehorigen einer jilngeren Generation erscheint L i e b i g s Bild im Sehwinkel des viel grbDereri Abstandes. Wir khnneii die Einzelheit seiner wissenschaltlichen 'l'atigkeit nicht mehr nach dem eigenen Erleben schildern, wir konneii sie auch vielfach nicht rnehr ohne gelehrteu historischeli Exkurs mit dem Gegenwartsbilde der Wissenschalt ver- binden. Aber je mehr Spezialistenlum von ihni abfallt, urn so mehr kommen die schlichten groijen Ziige dieses, Mannes heraus, auf die es ankommt. Cledachtnisredeii einer spateren Zeit sind wie die Xirchenglocken, die zur Erinnerung an das Ewige gelautet werden. Das Ewige aber wird urn niemals bewuDt durch die Aufziihlung der Einzelheiten, die ein grobes Leben erfiillt haben. Es steckt in der Personlichkeit des grol3en Meiischen, und wenn der Redner nicht die Kraft hat, es in seiner Ge- samtheit lebendig zu mnchen, so kann er doch nichts Besseres tun, als die gro5en Ziige, die e r aus seineni Ab- stand zu erkennen glaubt, mit einfachen Worten zu schildern.

Von L i e b i g s friiher Jugend wissen wir nicht viel, und das Beste, was wir wissen, stammt von ihm selbst. Sie fhllt in eine Zeit, in der der Gehorsam der Kinder wichtiger war als ihre Eigenart. Sicher ist, dal3 er schon ah Knabe die einseitige Leidenschaft fur die Chemie empfand, die ihn durch dae ganze Leben geWrt hat. Das kleine Laboratorium, das mit den1 viilerlichen Drogen- Cieschaft verbunden war, gab diesem cheniischen Trieb Entwicklung und Nahrung. Dort lernt e r nach dem Re- zept Lack, YirniD und Farbe machen. Dem Nachbar sieht er beim Seifensieden zu. Beim Farber und Gerber ist er zu Hause, und dem fahrenden Zauberkunstler guckt e r ab, wie inan Hnallerbsen'Inacht. Was an chemischeu Biichern in der Vaterstadt aufzutreiben ist, verschlingt er, und jedes Experiment wiederholt e r so oft und so lange, bis er an den Erscheinungen nichts niehr sehen kann, was er sich nicht schon vorher eingepragt hatte.

Durch diese leidenschaftliche und beharrliche Tiitig- keit gewann er zwei Dinge, die fur die Richtung und deli Erfolg seines Lebens entscheidend waren. Er Iernte chemische Erscheinungen mit einer Genauigkeit sehen und mit einer Sicherheit im Gediichtnis festhalten, die das mittlere Vermbgen der Menschen auf das auflerordent- lichste iibertraf. Von ihm selbst ist uns aus den Tagen, in denen er Professor in GieDen war, ein charakteristi- sches Beispiel dieser besonderen Sinnesscharfe iiber- liefert. Sein Freund W o h l e r sendet ihm ein neues Praparat in Form eines weif3en Kristallpulvers, dereli es schon damals in der Chemie einen hellen Haufen gab. L i e b i g betrachtet dies weiDe Pulver, das fur jedes ge- w6hnIiche Auge von anderen weiDen Pulvern nicht ver- schieden war, und spricht es fur dasselbe Allantoin ar

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.t(Lrwm. % 41. 1. 1929 I= -- 898 Haber: Gedkhtnietede a d Jwtur, von Liebig

das ihrn G m e 1 i n sieben Jahre vorher geschickt hat, und das er damals analysiert hatte. Er llf rnit dem neuen Pulver die Analyse wiederholen. Aber die Zusammen- setzung findet sich verschieden von der, die er frllher liir -4llantoin ermittelt hat. Welcher Gelehrte von nor- ninler Schiirfe der Beobachtung und durchschnittlicher Krait des Gediichtnisses wurde angesichts dieses Resul- tntes riicht seiner Erinnerurig miBtraut haben. Nicht SO

L i e b i g. Das verlegte Flaschchen mit dem alten Pra- parat wird gesucht und gefunden, und die erneute Pru- fung seines Inhaltes zeigt, d;iD dieser wirklich rnit W o e h l e r s neuem Korper identisch und die alto Analyse iiur durch eiiie zuflllige Verunreinigung ver- schieden ausgefallen ist. P e t t e n k o f e r berichtet i n seiner L i e b i g - Gedlchtnisschrift von eineni zweiten solchen Falle, den e r selber in der Munchener Zeit uiiseres Helden staunend iiiiterlebt hat.

Wir haben in unsereni Jahrhundert gelernt, Be- fiihigungsprufungen der Jugend anzustellen, und eine der Formeii der Pruiung besteht darin, dafi wir den Prilflingeii Bilder vorlegen, die sie eine Zeitlang be- trachten, uni d m n anzugeben, was sie auf dem Bilde ge- heheii haben. Es ist erstaunlich, aus den Antworten zu lernen, wieviel bei dieser Priifung dem Auge entgeht, und wie hiiufig von dem Inhalt des Bildes Einzelheiten mit Bestimmtheit angegeben werden, die sich ganz und gar iiicht darauf finden. Vorgange aber, die nicht still halten, erfassen sich noch schwerer als Bilder.

Vergangliche Erscheinungen schnell, vollstiindig, be- stininit und richtig mit den1 Auge aufzufassen und im Ciedlchtnis festzuhalten, gibt deni Naturforscher, der es veriiiag, deli gr6Dten Vorsprung. Ja, dies Kannen ist nach der techniacheii Hinsicht in der experimentellen Forschung das Entscheidenste und Wichtigste. Mit ihm verband sich bei L i e b i g als Erfolg seiner Jugend- beschaftigung die Schulung, durch Phantasie und Logik die Fiille der beobachteten Erscheinungen, die in seinem Ciedachtnis haiteten, zu verbinden. Er nannte das in Er- scheinungen zu denken. Hier bedarf es nicht der Anek- dote zuni Beweis oder zur Erlauterung. Denn dieses be- sondere Konnen geistiger Art erfiillt sein Leben, ja, Inacht dieses Leben recht eigentlich aus.

Halten wir einen Augenblick inne, um uns zu ver- deutlichen, was fur einen hochst merkwtirdigen und eigenartigen jungen Menschen wir hier vor uns haben. Er lernt das Beobachten, und er lernt die wissenschaft- liche Verwertung der Beobachtung, und er lernt beides ohne einen Lehrer. Das solide alte deutsche Schul- wesen, das den Knaben einigerniaijen gewaltsam nach philologischer Weise gleichforniigen Zuschnitt gab, hatte fur junge naturwissenschaftliche Genies weder Interesae ubrig noch Forderung, ja nicht einnial Duldung. Aber das Beachtlichste ist, dai3 das Buch fehlte, das ihm die rechte Fullrung geben konnte. Wieviele von uns sind ein grotleres oder kleineres Stuck ihres Bildungsweges auto- didaktisch gegangeri! Aber genau besehen, haben wir die bestcii Lehrer gehabt, weil wir das'Buch hatten, in deli1 der Lernstoff klar und deutlich und in iibersicht- licher Weise dargestellt war, und wir konnen uns nichts Besseren riihmen, nls dafi wir keinen Lehrer gebraucht haben, uni es lesen zu lernen. Aber wo gab es zu L i e b i g s Jugendzeiten die klnren und iibersichtlichen Schilderungen der Chemie? Die deutsche chemische Literatur enthielt damnls einzelne schone Versuche und eirizelno groije Erkenntnisse, eiugestreut in einen dich- ten Haufeii falscher Angaben, mystischer Vorstellungen, wertloser Analogien und abwegiger philosophischer Be- trachtungen, kurz und gut ein schreckliches Gemisch voii

vielem wertlosen Plunder mit einzelnen Edeleteinen, schwer, wie man meinen eollte, auseinander zu legen mr einen erfahrenen Mann und ganz ungeeignet und irre- fllhrend tilr einen Knaben, der auf sich selber ge- stellt war.

Aber die Jugend hat ihren besonderen Leitstern urid Schutz in ihrer Einseitigkeit. Von ihrer Idee besessen, ist ihr alles unwirklich, was zu dieser Idee nicht pafit, und gleitet an ihr nb. In L i e b i g s Ideenwelt sind seiu games Leben lang nur die chemischen Dinge wirklich, die man machen und sehen kann, und der abstrakte Zu- sammenhang, in den man sie bringen kann und bringen mull, hat Wirklichkeit und Bedeutung nur, insofern er die Ahnlichkeiten und Unterschiede geordnet zusammen- f d t und dadurch verstandlich macht, die die wirklichen Dinge bei solchen Experinlenten erkennen lassen. So gleiten Aberglaube und Mystik und alle jene Naturphilo- sophie, die e r spater die Pestilenz und den schwarzen Tod des Jahrhunderts nennt, unschadlich an ihm ab, und er holt aus dem literarischen Gemiille wahrhaftig dlts heraus, was ihn ohne Lehrer zu eirieni Chemiker machi.

Aber welch aufierordentlich schwere Arbeit hut dieser junge Mensch zu tun, und wie soll e r dabei in der Schule vorankommen und die Cirammatik der alteii Sprachen lernen, die ihn ganz und gar nichts angehen? SchlieDlich und zuletzt, was soll e r dein Rektor ant- worten, der ihn vor der Klasse vermahnt, weil er in der Schule nicht vorankommt, und ihn vorwurfsvoll fragt, was e r denn werden wolle! Er antwortet, was ihm das Selbstverstandlichste und Naturlichste von der Welt und was das Unverstandlichste und Schnurrigste fur Lehrer uud Mitschuler ist, daf3 er ein Chemiker werden will. Seine Antwort weckt helles Gelachter, und unter dieser inifitonenden Frohlichkeit endet seine Schtilerlaufbahn in der Sekunda. Aber was sollen Eltern in Darmstadt ini zweiten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts rnit einem solchen Sohne tun? Man versucht es mit der Apotheke in Heppenheim, wo e r zehn Monate bleibt, und, wie leicht zu denken, sich die Apothekerei ordenl- lich vertraut macht. Aber dann gefiillt sie ihrn nicht mehr, denn der Apotheker kann zwar ein Chemiker sein, aber der Apotheker in Heppenheim ist es offenbar nicht, uud so kommt er wieder nach Darmstadt zu den Eltern zuruck, ist 17 Jahre alt, hat auf der Schule nichts getaugt, in der Apotheke nicht ausgehalten und erklart nun, daD er ein Fach studieren will, das es in Deutschland eigent- lich nicht gibt, nlmlich die Chemie.

Es gibt kaum etwas Eindrucksvolleres in der Welt als den leidenschaftlichen Willen eines hervorragenden jungen Menschen, der nach einem fremdartigen idealen Ziele seinen Lebensweg richtet. Wenn die Menschen spilren, daS er das eine und nur das eine mit der vollen, ungebrochenen Kraft der Jugend will, so treten sie bei- seite und geben ihm den Weg frei. Denn es geht eiu besonderes Licht von solchen jungen Menschen aus, das wir mit unserer dammerigen Lebenserfahrung nicht tiber- helleii konnen. So gibt der Vater L i e b i g nach, obwohl e r rnit Olucksgiitern nicht tibermiiSig gesegnet ist, und schickt den Sohn nach Bonn zu dem beruhmtesten Che- miker, der damals in Deutschland wirkt, zu K a s t n e r. hlit diesem K a s t n e r geht der junge L i e b i g vou Bonn nach Erlangen, promoviert dort, nachdem er zwei experimentelle Arbeiten fertiggestellt hat, von denen die eiiie auf die Knallerbsen des fahrenden Zauberkiinstlers und seine Darmstadter Schiilerversuche dariiber zurilck- geht, und kommt nach drei Semestern als Doktor in das Elternhaus zuruck, urn vieles bereichert, aber in der Chemie von dem beriihmten Lehrer nicht belehrt. Die

893 - __ - - ___-___ _ _ - _ _ _. - Zsitrehr. car anucw. Haber: Gedllchtnisrede auf Justus von Liebig Chpnie. 41. J. 19281

- ._ - geistreichen Ideen dieses beriihmten Lehrers kenn- zeichnet L i e b i g durch Wiedergabe seiner AusfOhruii- gen vom Verhiltnis des Mondes zu den Wolken. Die Stu- denten kommen in die Vorlesung mit der primitiven Meinung, da9 der Mond am Himmel hervortritt, wenii der Wind die Wolken verjagt hat. Aber der geistreiche Lehrer predigt ihnen den tieferen Gedanken, dab der Mond Einflu0 auf die Wolken haben musse, denn waruni sollten sie sonst weggehen? Als L i e b i g ihn dann nach Erlangen begleitet hat, weil er ihni in Aussicht gestellt hatte, dort mit ihm Mineralanalysen zu machen, da ergab sich, da9 er dieser chemischen Kunst nicht miichtig w3r. Was ihn sonst auf der Universitat, vom studentischen Leben abgesehen, besonders beeindruckt hat, ist wenig bekannt. Nur von der S c h e 11 i n g schen Philosophie erFahren wir spater von ihm, daD sio ihn vorubergehend gefesselt hat. Die leidenschaftliche Einseitigkeit seines Wesens wisch t in seinen Erinnerungen alles weg, was nicht Chemie ist. In seinen Aufzeichnungen, die sein Enkel vor 40 Jahreri veroffentlicht hat, gibt es nichts von den unerhbrt groDen Dingen, die die Welt urn ihn heruni in seinen Knaben- und Jiinglingstagen erftillten. Da ist kein Napoleon und kein Bliicher, kein Schiller und kein Korner, kein Beethoven und Schubert. Nicht Literatur uiid nicht Kunst, nicht Sprachwissenschatt und Geschichte, nicht nationales Leben und soziale Ideen, nicht einmal die Nachbarfiicher, die beschreibenden Naturwissen- schaften auf der einen und die Mathematik auf der an- deren Seite tauchen auf. Alles das sind unwichtige und unwirkliche Dinge. Immer ist es nur die Chemie, seino Chemie, die Wissenschaft vom Zusammenhang der Stoff e durch ihre Reaktionen, die die wirkliche Welt ausmacht, und fur die es zu leben und zu kampfen, zu wirken und sich zu verbrauchen verlohnt. Aul dieser schnialen Basis, so scheint es, reckt dieser aufierordentliche Mensch sich empor, bis sein Scheitel die Sterne beriihrt. Nur dieser eine Ton geht aus seinem Munde, aber e r hat eine Laut- starke und Gewalt, die alle Volker der Erde aufhorchen 1aDt. Aber wir glauben ihm diese Einseitigkeit nicht. So kann die Studentenzeit nicht ausgesehen haben, in der e r mit August v. P 1 a t e n die Freundschaft schloD, die in P 1 a t e n s Sonetten und Gaselen fortlebt. Es gibt ein Zeugnis fur die allgerneine Bildung des Menschen, das schwerer wiegt als alles Einzelwissen, das wir bei ihm antreffen, und als alles Einzelinteresse, das e r be- kundet, und dieses Zeugnis ist seine Sprache. Wer unter uns ein paar Jahrzehnte unter den richtigen Spezialisten der Chemie gelebt und unter den schrecklichen Dar- stellungen gelitten hat, die sie unter der Behauptung, deutsch zu schreiben, als Schilderungen ihrer Ideen urid Versuche von sich geben, der kann die L i e b i g scheii Abhandlungen und Reden nicht durchsehen, ohne das lebendigste Empfinden, da9 in ihnen ein Mensch sich ausspricht, der den geistigen Reichtuni seiner Zeit in sich aufgenommen hat. Er war im F i c h t e schen Sinna ein Priester seiner Wissenschaft, und j e alter e r wurde, uni so weniger liebte er das Prolaoe, zu dem alles ziihlte, was nicht Chemie war. Aber die Abgeschlossenheit seines Priestertums stammte nicht von der geistigen Enge, die die auDerhalb liegende Welt nicht kennt, soil- dern aus der pathetischen Seele, die sie verwirft, und rille Wahrscheinlichkeit spricht dafiir, daD die Studenten- jahre die Zeit waren, in der e r sie kennengelernt hat.

Als L i e b i g von Erlangen nach Darmstadt mit 19 Jahren zuriickkommt, begleitet ihn eine Empfehlung K a s t n e r s an die Hessische Regierung. Er bedarf ihrer Hilfe, denn er will nach Paris, wo es groDe Che- miker gibt, vor allem G a y - L u s s a c , T h e n a r d und

D u 1 o n g. Wieder scheint das Licht aus ihm heraus und jetzt schon mit so starker Helligkeit, daD es bis in die Amtsstuben der Stnntsverwaltung dringt. Die vaterlichen Mittel reichen nicht, und die Hessische Regierung greift in ihren Beutel und zahlt, damit er reisen kann. So kommt er auf 1% Jahre nach Paris und erlebt die Olanz- zeit seiner Jugend, die in seinem Herzen nachleuchtet bis in die spaten Tage des Alters. Zum ersten Male hbrt e r cheniische Vorlesungen, die ihm nicht eine Tr6del- bude des Wissens und vermeintlichen Scharfsinn, son- dern Mares und geordnetes Naturerkennen auf dem Felde einer werdenden Wissenschaft offenbaren. In dem Laboratoriurn aber, in dem er zunachst Aufnahme findet, setzt er - wohl ohne vie1 Anleitung - die Arbeit Dber die knallsauren Salze fort, und das niit solchem Erfolg, daD G a y - L u s s a c die Resultate am 28. Juli 1823 der Pariser Akadeinie vorlegt, Alexander v. H u m b o 1 d t , der der Sitzung anwohnt, an ihm Interesse gewinnt und schlieBlich durch H u m b o 1 d t s Vermittlung G a y - 1, u s s a c ihn zwecks Fortfiihrung seiner Arbeit als Mit- arbeiter in sein Laboratorium aufnimmt. Die kurze Zeit dieser Zusnninienarbeit G r? y - L u s s a c s und L i e b i g a voni Somnier 1823 bis zum Friihjahr 1824 bringt der Wissenschaft die endgiiltige Formel der knallsauren Salze, L i e b i g aber nlle Bereicherung, die ein grober Forscher in seinen Enlwicklungsjahren yon einem an- deren groben Forscher gewinnen kann, der in der Periode der hiichsten Reife und Entfaltung steht.

Was kann ein auaerordentlicher junger Mann, der sich schon als bedeutende Kraft in der Forschung gezeigt hat, von einem groi3en Meister hinzulernen? Es wird nicht auf diesen Handgriff und jene Erfahrung ankommen, die er ihin absehen mag. Vielleicht sieht der Xltere vom erhbihten Stniidpunkt eines erfolgreichen Forscherlebens einen weiteren Horizont. Vielleicht hat er, durch die Erfahrung belehrt, den schiirferen Blick dafUr, wieweit die vorhandenen Methoden luhren, die die gebahnten Wege der Forschung darstellen. Aber auch da, wo der Jiingere voni Alteren diesen unmittelbaren Gewinn nicht zieht, entgeht ihm der inittelbare nicht, der vielleicbt noch groijer ist: e r findet sein Ma& Alles mag der Werdende atis sich nehmen. Das eigene Maf3, nach dem er seine Aufgaben wiihlen mu& uni ein Meister zu sein, gewinnt er nur von dern Gereiften, i n dem er selbst deli Meister ehrt.

Im Friihjahr 1824 kehrt L i e b i g aus Paris nach Darinstadt zuriick, von solcher Empfehlung Alexander v. H u m b o l d t s und G a y - L u s s a c s begleitet, daB die Hessische Regierung, ohne die Fakultat zu fragen, ihn zum auberordentlichen, und nach ganz kurzer Zeit z u m ordentlichen Professor nn der Landesunivemitiit Giei3en bestellt.

Die Werdejahre sind vorbei. Von den drei Lebene- perioden des Gelehrten, der, in welcher er etwas wird, der zweiten, in der e r etwas ist, und der dritten, in der e r etwas bedeutet, hat die zweite begonnen. Er ver- bringt sie in Gieben, vio er 28 Jahre bleibt und iiber- nimnit die Fuhrung in der Chemie der organischen Stoffe.

Es gibt in der Geschichte der Chemie einen 90jlhri- gen Abschnitt, von 1776 bis 1865, von L a v o i s i e r s A ulkla rung des Ver brennungsvorganges bis zu K e k u 1 6 s Benzoltheorie, wiihrend deren urn die Orund- nnschauungen der Reaktionslehre gerungen wird. Wie muD man sich den Aufbau der chemischen Verbindungen aus den Elementen vorstellen, damit ihre chemischen Umsetzungen zwanglos und einheitlich aus ihrem Auf- bau verstandlich werden ?

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In der ersten Halfte dieses Wjahrigen Zeitraumes ist die Zahl der namhaften Manner, die sich der Aufgabe widmen, sehr klein. Der Umfang der Kenntnisse, die nach einheitlicher Darstellung verlangen, ist gering. Aber um die Wende des Jahrhunderts beginnt das Inter- esse sich auszubreiten. L i e b i g s Altersgenossen wen- den sich dem neuen Gebiete in merklich grbi3erer Zahl zu als ihre Vater und entdecken einen Reichtum neuer chemischer Erscheinungen. Das nachste Geschlecht bietet nienschlich und sachlich das Bild eines groBen: neuen, bliihenden Zweiges der Wissenschaft.

Aber wie konnte dieses neue bltihende Fach etil- stehen? Wie lernte die zahlreiche Jugend, die sich ihiii widmete, das chemische Koiinen? Ging jeder den auto- didaktischen Weg, den L i e b i g gegangen ist, bis er reif war, von G a y - L u s s a c den letzten Schliff zu erhalten? Auf diesem autodidaktischen Wege werden zu allen Zeiten tiberragende Menschen zu Begriindern neuer Dis- ziplinen, aber ein neues Fach entsteht nur, wo ein ge- ordneter Unterricht geschaffen ist.

Es war die erste Tat L i e b i g s in GieDen, dafi er im Winter 1824 auf 1825 rr i i t der Einrichtung dieses Un- lerrichts begann. Das Vorbild der Vorlesung brachte er aus Paris mit. Fur die Fortbildung gereifter junger Fachgenossen im Laboratorium wies ihrn die eigeno Tatigkeit bei Ci a y - L u s s a c den Weg. Aber wie wurde man ein gereifter junger Fachgenosse? Dafiir gab es weder Hilfsmittel noch Methode. Die unentbehrlichsten Bewilligungen hat L i e b i g der Hessischen Regierung mit leidenschaftlicher Hartnackigkeit abgerungen. Das System und den Gang der experimentellen Anleitung hat er in den ersten Giehner Jahren planmaf3ig geschaffen, und so, wie er sie geschaffen hat, sind sie grundsatzlich in den 100 Jahren geblieben, die seither vergangen sind. Um den Rang dieser Leistung zu verstehen, muD man den Blick nicht auf das einzelne beschranken, etwa dar- auf, wie er die qualitative Analyse und auf ihr die quan- titative aufbaute, die Darstellung chemischer Praparate daran anschloD und an das Ende die selbstandige wissen- schaftliche Arbeit stellte. Der g r o k r e Gedanke und die wuchtigere Tat bestanden darin, dafi e r das Seifensieden, das Branntweinbrennen, das Schwefelsiiureniachen und was es sonst in jener Zeit an wohlangeseheneni chemi- when Gewerbe gab, aus seinem Unterrichte ausschloD. Was hatte ihm besser zu offentlichen Mitteln verhelfen konnen a l s der Hinweis darauf, daD solche sichtbar niitz- lichen Dinge in seinein Laboratoriuni getrieben wurden! Wer kam zu ihm, um bei ihm zu lernen, wenn nicht in erster Linie die derlei praktischer Chemie zugeneigten Sbhne solcher Faniilien, die niit einem der chemischen Gewerbe irgendwie in Verbindung waren? @r aber erfaDte lnit der Kraft und Erleuchtung eines Propheten die Erkenntnis, daD die chemische Technik nur aus einer Jugend herauswachsen konne, die gelernt hatte, wie rein wissenschaftliche Fragen losbar sind und gelost werden mussen. Mit welchem berechtigten Stolze mag er nach 16 Jahren 1840 in seiner Schrift iiber das Studium der Naturwissenschaften und tiber den Stand der Chemie in Preufien die Siitze geschrieben haben: ,,Ich kenne viele, die jetzt an der Spitze von Soda- und Schwefelsaure-, von Zucker-, von Blutlaugensalzfabriken, von Farbereien und anderen Gewerben stehen, ohne je damit zu tun gehabt zu haben. Waren sie in der ersten halben Stunde mit dem Fabrikationsverfahren vollkommen vertraut, die nachste brachte schon eine Menge der zweckmaDigsten Ver- besserungen." Der auf diesem Grundsatze aufgebaute L i e b i g sche Unterricht hat damals das Fach und in den

nachfolgenden beiden Menschenaltern die Weltstellung der deutschen Chemie entstehen lassen.

Dies ist sein Verdienst um die Menschen, die das Fach ausmachen. Wie aber steht 88 um dessen Inhalt, um die Lehre von den chemischen Verbindungen?

Das erste, was man von den chemischen Verbindun- gen wissen muDte, urn in ihr Wesen niiher einzudringen, waren die Grundstoffe, aus denen sie sich zusammen- setzten, und die Mengenverhiiltnisse, in denen diese Grundstoffe in den Verbindungen vertreten sind. Damit ruckte die chemische Analyse in der Entwicklungszeit der Chemie in den Vordergrund des Interesses. Die Waage wurde Zuni wichtigsten physikalischen Werkzeug des Chemikers. Neben der Gewichtsbestimmung ge- langten Volumenmessung, Temperatur- und Druck- ermittlung fiir ihn zur Bedeutung.

In der Welt der Mineralstoffe schritt die Analyse gleichmiifiig rnit der spezifisch chemischen, qualitativen Kenntnis vom Verhalten der Stoffe voran, besotlders gefbrdert durch den groi3en schwedischen Chemiker B e r- z e 1 i u s , der, 24 Jahre alter als L i e b i g , etwa von 1820 ab zum verdienten grbi3ten Ansehen gelangte und bin zu seinem Tode im Jahre 1848 als ein gewaltiger M a n n im Fache wirkte. In der Welt der organischen StoHe, deren Hervorbringung bis zu W 5 h 1 e r s umwiilzender Darstellung des Harnstoffs aus mineralischen Ausgangs- stoffen im Jahre 1828 ein Vorrecht der lebenden Natur zu sein schien, hielt der Fortschritt der analytischen Pertigkeit mit dem Fortschritt der Kenntnisse nicht Schritt.

Nicht dai3 man aders tande gewesen wiire, diese Substanzen, die im wesentlichen Kohlenstoff, Wasser- stoff, Sauerstoff und Sticbtoff enthalten, nach ihrer quantitativen Zusammensetzung zu bestimmen. Aber unziihlige Bestimmungen fielen falsch aus, und der Meister B e r z e 1 i u s brauchte, wie L i e b i g betont, zur exakten Analyse von sieben Substanzen 18 Monate, wahrend das Fach dasselbe Ergebnis in einer Woehe verlangte. L i e b i g ersinnt nicht einen grundsiitzlich neuen Weg, aber e r veriindert und vervollkommnet die vorhandenen Vorschliige und Hilfsmittel so lange, bis bei einiger Ubung das geforderte schnelle und zugleich sichere Resultat verbiirgt werden kann. Bei seinem Verfahren ist es I00 Jahre lang bis zum heutigen Tage geblieben. Es war recht eigentlich der Schlilssel zur organischen Chemie.

Aber wenn wir das Tor aufgeschlossen hahen, was erwartet uns? Eine verwirrende FUlle von Wechsel- wirkungen der organischen Stoffe untereinander und rnit den anorgmischen Stoffen! Nuch welchen Gesichts- punkten ist die Masse dieses Materials zu ordnen, das durch neue Entdeckungen in jedem Jahre auschwillt? Das ist das groi3e Thema in der zweiten Halfte der er- wahnten 90 Jahre, um das die besten Kbpfe sich be- miihen. Zweimal greift L i e b i g mit besonderem Er- folge in die Entwicklung dieser Vorstellungen ein. Das erstemal schenkt er der Wissenschaft eine Theorie der mehrbasischen Sauren, von der K e k u l 6 nahezu 20 Jahre spater sagt: ,$in groDer Teil der jetzigen Anschauungsweise ist nichts weiter als eine weitere Ausdehnung und konsequentere Durchfllhrung der in der Theorie der mehrbasischen Sguren benutzten Be- trachtung." Das zweitemal begrtindet er durch eine in Gemeinschaft mit seinem Freunde W CI h 1 e r ausgs- Qiihrte wundervolle Untersuchung die Lehre von den organischen Radikalen. Dies6 beiden groSen Minner zeigen, dai3 es in den verwickelt gebauten organischen Stoffen Gruppen von Atomen gibt, die bei mannigfalti-

Zslt.chr.fbrrnuew. Haber : Gedtlchtnisrede auf Justus von Liebig 895 ____- ChsmiC. 41. J 19291 -_

gen chemischen Unisetzungen wie ein einheitlicher Grundstoff zusammenhalten, und sie zeigen e6 rnit sol- chen Belegen und mit -so schlagender Kraft, dab B e r - z e 1 i u s die Untersuchung als die Morgenrgte einer iieuen Zeit begrfff3t und das Fach die neue Lehre rnit widerspruchsloser Anerkennung aufnimmt.

Was in den 30er Jahreii des vergangenen Jahr- hunderts an Leistungen fiir die systematische Chemie iiwh sonst aus L i e b i g s Hiinden hervorgeht, ist eine Fulle, die im Rahmen dieser Obersicht nicht Platz fin- den kann. Da sind von wichtigen Stoffen die Cyan- verbindungen und der Acetaldehyd, da ist das Chloro- form und das Chloral, die spater zu grof3er medizinischer Verwendung gelangen sollen. Da ist von besonderem Glanz umgeben die Gruppe der Harnsaurederivate, die I, i e b i g und W 6 h 1 e r gemeinsam durchforschen. Da sind un?Khlige Analysen, ein Haufen erperimenteller Einzelangaben der verschiedensten Art, Beitrage zur Theorie und eine Ftille kritischer XuDerungen zu frem- den Arbeiten.

Kaum gibt es einen tiegeristand in der Cheniia jener Tage, in den er nicht eingreift. Der dumnie Teufel, der einigen eitlen Unsinn als seine chemische Leistung veruffentlicht, ist ihni nicht zu gering, um ihn auf den Kopf zu schlagen, und niemand steht ihm zu hoch, als daD er an seinen Irrtumern schweigend vorbeiginge. Und was f(ir eine Schroffheit hat dieser kritisierende lunge Professor, der mit 28 Jahren eben in die Hedaktion des Magaziiis ftir Pharmazie eingetreten ist, auf dessen l'itelblatt mit seinem Eintritt der Zusatz Platz findet: ,,in Verbindung mit einer Experinientalkritik" ! Frei- lich, wo es angeht, macht er eigene Versuche als Grund- Iage der Kritik. Aber es geht bald nicht mehr an, denn die Arbeit wachst ihm uber den Kopf. So kommt es dazu, daf3 er rnit seiner Kritik gelegentlich fehlgreift und hnrte Wse Worte benutzt, wo er im Unrecht ist. Aber wenn ihn die Tatsachen eines Besseren belehren, SO

r h m t er seinen Fehler ohne Riickhalt ein. Der Freund W 6 h 1 e r warnt ihn, sich Feiride zu machen. Aber wie sol1 in dem jungen Fache ein hohes Niveau und eine allgemeine Sicherheit in der Beurteilung sich heraus- bilden, wenn unser L i e b i g das Gute nicht unter- streicht und das Schlechte anprangert. Wahrlich, eino iingewghnliche Art und Weise, aber - in der Ausdrucks- weise C a r 1 y 1 e 8 - sehr heldenhaft und insbesondere geeignet, uns das Gefiihl des Fiihrertums und der Fuhrer- verantwortlichkeit zu verdeutlichen, mit dem unser Id i e b i g der Chemie gegentibersteht! Freilich auch eine Art und Weise, die im Fortgang des Lebens viel bittere Stunden zu bringen bestimmt istl Wer zugeschlagen hat, auf den schlagen die anderen zurtick, wenn er sich eine BlbDe gibt, und mit den zunehmenden Jahren schmer- nen die Schlage immer starker.

Aber iioch steht unser Held in den Jahren der hkhsten Kraft, unvergleichlichen Konnens voll, fiber- sprudelnd von Ideen und wie es scheint, berufen, in der systemafischen Chemie der organischen Verbindungen die Entwicklung auf eine Hohe zu fuhren, die wie seiri Analysenverfahren und seine Unterrichtsmethode 101. ein Jahrhundert einen AbschluD bildet.

Da biegt e r im vierten Jahrzehnt seines Lebens ab. Das systematische lnteresse laDt nach. Es vollzieht sich in seiner Arbeitsrichtung die Wendung, die ihn zur land- wirtschaftlichen und physiologischen Chemie und damit auf den Hbhepunkt seines Ansehens fiihrt.

Wie begreift sich diese dnderung der Hichtung? Die organische Chemie begegnet auf ihrem Entwick-

lungsgange bei jedem Schritte den Produkten, die der

Lebensvorgang in der Pflanze und im Tiere hervor- bringt. Aber die Entstehung und das Schicksal dieser Produkte in den Organismen der lebendigen Natur, ihre Fuiiktion und Bedeutung ergeben sich nicht unmittelbar aus dem chemischen Experiment. Dennoch gibt es kein Ziel, das dem organischen Chemiker im Grunde wich- tiger ware als das Verntandnis der chemischen Vor- glnge des Lebens. Welche Verlockung lag in jeneii Ta- gen des ersten groDen Aufschwungs der organischen Chemie in dem Versuch, mit der Kraft der neu ge- wonnenen chemischen Einsichten in das Dunkel der Vorgsnge des Pflanzen- und Tierlebens hineinzugreifen und dort Licht zu niachen. Freilich war dabei eine grofie, damals unterscliatzte Uefahr. Worau! beruht der Erfolg in der Chemie, wenn nicht auf sorgfaltigen Ver- surhen, die unter klaren Bedingungen durchgeftlhrt . waren? Zugegeben, daD die Gesetze des chemischen Geschehens in der belebten Natur dieselben sein mu% ten wie in der unbelebten Welt, so waren doch die Be- dinguiigen in der belebten Welt, unter denen die Einzel- vorgange sich abspielten, alles andere eher als durch- sichtig zu nennen. Wer vor Fehlschllgen gesichert sein wollte, durfte sich nicht mit dem besten chemischeil Wissen und rnit der gediegensten Erfahrung in der Chemie der unbelebten Stoffe begnUgen. Er muDte neue Methoden ersinnen, Kulturversuche rnit Pflanzen, physiologische Experimente an Tieren unternehmen mid die daraus gewonnene neue Erfahrung seiner alteren Erfahrung in der Cheniie hinzu- fugen. Aber so dachte jene Zeit nicht, und je mehr Beruf der Chemiker zur Fuhrung seines Faches hatte, um so mehr Verpflichtung muDte er fiihlen durch die Bresche, welche die W o h 1 e r sche Harnstoff- synthese geschlagen hatte, sein Urteil und Wissen i n das Bereich der belebten Natur vorzutragen.

L i e b i g s Ausgangspunkt ist eine der schonsten und allgemeinsten Erkenntnisse, die wir besitzen. In einer groDartigen Erleuchtung begreift er, dai3 die grtine Pflanze und nur sie unter der Wirkung dea Sonnen- lichtes aus den anorganischen Bestandteilen der Luft und der Erde die verwickelten organischen Stoffe aufbaut, indem sie dabei Sauerstoff an die umgebende Atmo- sphare abgibt. Das Tier aber lebt von der Pflanze und baut in seineni Korper unter Verbrauch von Sauerstoff wieder ab, was die Pflanze aufgebaut hat.

In Verlolg dieses grooartigen Gedankens gilt cs offenbar, zunichst eine Art wissenschaftlichen Konto- buches fur die Pflanze aufzumachen. Was bekommt sie im einzelnen, urn davon zu leben und zu wachsen? D:i ist zunachst das Wasser, uber das nicht viel Neuee zu sngen ist. Da ist die Kohlensiiure der Luft, die deni Standort der Pflanze mit dem Winde zwar in grober Verdiinnung, aber in unbegrenzter Menge zugefffhrt wird, und da ist, wie es scheint, auch als atmosphilrischer Bestandteil in zureichender Menge das Ammoniak, dessen Stickstoff bestimmt ist, niit dem Kohlenstoff der Kohlen- saure und mit den Bestandteilen des Wassers den Auf- bau der EiweiDstoffe in der Pllanze zu ernibglichen. Aber gentigen diese Bestandteile? Labt uns die Asche der Pflanze untersuchen, und es zeigt sich in hundert und aberhundert Analysen, dai3 sie noch ein halbes Dutzend anderer chemischer Elemente in Form ihrer Verbindungen aufweist, die nicht aus der Luft gekom- men sein konnen, weil sie nicht darin enthalten sind, und die notweudig aus dem Boden entnommen sein. miissen, auf dem die Pflanze wlchst, weil keine dritte Quelle besteht. Damit aber bekommt das wissenschaft- liche Kontobuch eine neue Seite, ein Ausgabe- und Ein-

Zdtrhr. Hlr anmv. chamlo. 4t J. l @ l 3 I -- Haber: Ged&chtnierede a d Juetus von Liebig

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nahmekonto des Bodens. Denn wenn wir die Ernte vom Boden nehmen und sie wegfiihren, fuhren wir nicht alle die mineralischen Stofte mit fort, die die chemische Analyse in der Pflanzenasche nachweist? So wird der Boden verarmen, bald mehr an dem, bald mehr an einem anderen Bestandteile, je nachdern, was er nach seiner Zusammensetzung herzugeben vermag, und was die einzelne Pflanzensorte ihni : in niineralischen Be- standteilen entzieht.. Dieser Veriirmung wirkt die fort- schreitende Verwitterung entgegen, die neues Gesteins- material aufwhliebt und in eine chemische Form bringt, in der es die Pflanze zu verarbeiten vermag, und was als Defizit iibrig bleibt, mogen wir durch Zufuhr voii Dun- ger decken und mtissen es so decken, wenn der Bodeii nicht unfruchtbar werden soll. Und n u n laDt uns die Arbeitsweise der Landwirtschaft, ihre Lehren und Er- folge durchnehinen und im einzelnen zusehen, wie weit sie der neuen Einsicht entsprechen, und was besser ver- standen und besser gernacht werden niufi.

Das ungefahr ist die neue Einsicht, die L i e 1) i g niit einer fortreiDenden Ciewalt des Gedankens und der Dar- stellung der aufhorclienden Welt vortrlgt!

Der Eindruck ist uber alle Mafien grofi. Freilich ist es dienial nicht, wie bei den Ijeitrlgen zur Radikal- theorie einigo Jalire zuvor, die widersprurhslose Ail- erkennung der naheren Fachgenossen, die ihm begegnet. Im Gegenteil, der eine bemiingelt die Richtigkeit, der andere die Neuheit, und vor nllen Dingen ist ini eiii- zelnen vielerlei nicht hewiesen und noch erst zu pru- fen. Der gefahrliche Reifall der groi3en Menge der Menschen, deren Berui die L:indwirtschaft ist, ii1)erloiit diese Bedenken. Aber dieser Beifall wird niclit stand- halteo, wenn nun die widersprechenden Erfnhrungen kommen, die nicht ausbleiben konnen, weil wirklich das eine und das andere Stuck der grdar t igen Schiipfung ohne zureichendo experimentelle ErfnlirungsgI.uiidlage uberstiirzt aufgebaut isti

Mit den Einwendungen, daij er Rekanntes wieder- holt hahe, wird e r fertig. Er h i i t nnch seinen eigenen Worten versucht, in ein dunkles Ziinnier gani. einfacli ein Licht zu stellen. Al le Mohel w r e n darin vorhan- den, auch Werkzeuge und (;egenstiinde der l3eqiiimlich- keit und des Vergnugens; aber nlle diese 1)inge wnren fiir die Gesellschaft, die dimes Ziminer zu ihreni Nutzeii und Vorteile gebrauchte, nicht klar und deutlirh sicht- bar. ,,Nachdem nun jeder (fcgenstnnd einen Teil VOII

dem, wenn auch schwachen Lichte, enipfangen hatte, FO schreien nun viele, daO &is Lirht in deni Ziinmer nichts Wesentliches geiindert habe. Der eine hntte dies, der andere jenes schon gekannt und henutzt, zusainmen hatten alle das Vorhandene schon geftihlt und hetastet."

Nicht ganz so gut wird er mit denen fertip, die ihm Versuche entgegenhalten, deren Ergehnisse sie init seiner Lehre nicht vereinharen konnen. I n der Tat kann er auch nicht bis Zuni letzten mit seiner Meinuiig durchdringen, weil die Rolle der Mikroorganismen in1 Boden noch unbekannt ist, die nmnches in ein neues Licht rucken wird, insbesondere hinaichtlich dea Stick- stoffs.

Aber das schlimniste fur ihn ist, daD es einen Punkt gibt, in welcheni seine eigene Reobachtung die Angriffe der Gegner bestiitigt. Denn e r hat nun selbst angefangen, landwirtschnftliche Versuche zu mnchen, und erprobt den Patentdunger, den er empfohlen hat. Der wird aus Phosphaten und Kalisalzen nach seirien Angaben so zusammengeschniolzen, daD er die Phosphor- saure und das Kali in schwerloslichem Zustande ent- halt, damit sie vom Regenwasser nicht aufgelost und weggeschwemmt werden. Dieser Patentdtinger ver-

sagt, und es vergehen viele Jahre, ohne daf3 er den Grund finden kann. Sicherlich schwere Jahre fur unseren Helden, solange dieses Loch nicht ge- schlossen ist und damit ein Pfeiler seines Gedanketi- gebiiudes hohl steht. Aber endlich gelingt es ihm doch, die Schwierigkeit zu losen. Der Grundgedanke vom Redurfnis des Bodens nach Kali und Phosphorsliure war richtig. Nur die Zusatzuberlegung, dai3 man beides den1 Roden in unloslichem Zustande zufuhren musse, war falsch. Der Hoden hat fur diese Stoffe eine zuriick- linltende Kralt. Sie werden auch im leichtlbslichen Zii- 4ande nicht schnell ausgewaschen, und ihre Verwendung ini schwer:oslichen Zustand verzogert nur ohne Not und Nutzen ihre Aufnahme durch den Boden.

In1 einzelnen findet ein neues Geschlecht vielerfei zu t u n mit Zufugungen und Ablnderungen. Aber im ganzen erlebt L i 6 b i g noch die Freude, dai3 sich iiber- :ill in der Welt ein gemeinsamer Respekt vor seinem Werke als einer GroDtat durchsetzt, und bei diesem Respekt ist es geblieben. Eine machtige Entwicklung der Dungerindustrie nimnit von seinen Lehren ihren Aufschwung, und Millionen von Menschen leben von der erhohten Produktion des Bodens, die auf ihn zuriickgeht. Wer die Wirkung auf das allgemeine Leben zum MaB der Leislung nimmt, wird ihm ftir seine landwirtschaft- liche Chemie die hochsten Ehren widmen.

Nicht so weit tragen d i s anderen Schritte, die er in der Wissenschaft vom Leben gemacht hat. Wohl zieht die Physiologie die grbDten Anregungen aus ihnen, und dies und jenes Stuck seiner Gedanken iiberdauert allen Streit und ist hleibender Besitz der Wissenschaft. .\her ins Ganze gesehen, erweist sich hier der Gegen- stand als zu verwickelt und die Natur zu reich, um mil den Erkenntnissen seiner Tage von eeinem groi3en Aus- gnngsgedanken zum Verstandnis der einzelnen Lebens- vorgange zu gelangen. Wir sind diesem Ziele heute, 90 Jahre, nachdem L i e b i g sich ihm zuwandte, um ein Stuck niiher. Aber wir haben nur einen Berg erstiegen, iiin zu erkennen, wie weit der Himmel ist.

Die 28 GieDener Jahre gehen zu Ende, nicht aus- aeschgpft nach ihrem Inhalte durch diese Darstellung, sondern hochstens durftig umrissen. Im August 1W2 siedelt L i e b i g an die Universitat Munchen tiber uod wirkt dort in hbchsten Ehren, bis ihn am 18. April 1873 der Tod hinwegnimmt. Unerhorte Arbeit, ausreichend, vielcr Menschen Krafte aufzuzehren und doch allein von ihni vollbrachht, hat in den GieDener Jahren diesen Rie- >en zwar nicht verbraucht, aber ermudet. Die schdpfe- rische-Leistung wird nun langsamer. Er nirnmt keine Srliiiler mehr auf, und seine beste Kraft ist der Verbrei- iung der Einsicht gewidmet, die e r den GieDener Tagen i n dio helebte und unbelebte Natur gewonnen hat. Vor- 1 rlge, akademische Reden, neue Auflajen seiner Bucher und Schriften, vor allem die Ausgestaltung seiner che- rnischen Briefe, mit denen er das Fach und seine Lei- stung allen Menschen von Bildung und Horizont nahe xu bringen unternimmt, erfiillen seine Tage. Dazwischen leuchten neue Funken auf, teils organisch-chemischer, teils biochemischer, teils technischer Art. Da ist die letzte organisch-chemische Verbindung, die e r darstellt und besrhreibt, die Fulminursaure, mit der er noch ein- nial zu dem Erscheinungsgebiete zuriickkehrt, von dein er in seinen Schtilertagen seinen Ausgang genomrnen hat. Da ist die Fleischbriihe fur Kranke, die Entdurung und Verbesserung des Roggenbrots, das Backpulver und die Malzsuppe, und vor d l e m der Fleischextrakt, der als ein Genui3mittel voni grbl3ten Wert zum aegenstande einer wichtigen Industrie wird. Da sind schlieblich die

Wohl: Zur Hundertjahrfeier von Wllhlers Harnsloffsynlhcse 897

Silberspiegel, mit denen er sich beschaftigt, bis er nach lichen, wie groS auch seine Kraft und wie erleuchtet langen MUhen zeigen kann, wie sie sich im GroDbetriebe seiii Geist sei, wenn ihni die GroSe der Seele mangelt. herstellen lassen. Freilich, der AnschluD an die Entwick- Alle, die ihn gekannt haben, ruhmen, daD er wahrhait war lung der chernischen Systematik geht allmahlich verloren. von Grund seiner Seele, grade und treu, dabei stolz uiid Andere HInde bebaueii das Feld, das er in jungen Jnh- von grol3eni Sinn. Eine Kampfnatur voll leidenschaftlicheii ren urbar gemacht hat. Aber sein Miinchener Wirken Temperamentes und schwer zu anderer Meinurig zu be- hebt die Chemie aus der stillen Niitzlichkeit des Spezial- kehren, besonders im Alter! Die Freunde berichten fachs zur Stellung und Geltung eines der groi3en Oebiete Einzelerlebnisse, die zeigen, da5 er von giitigem Her- menschlicher Kultur. Fortan bedeutet sie viel, weil er Zen war und hilfreich. Aber es scheint rrrir, daB mehr xelbst viel bedeutet. So geht er, ganz erfiillt vom Denken als solche Einzelztige, die der Zufall vor ber Vergessen- und Wirken in der Chemie, als ihr Kiimpfer und Held heit bewahrt, fur die Seele eines Menschen die Liebe mit langsamer werdenden Schritten dem Ende seines zeugt, die er im Leben erworben hat, und die ihni ubcr Lebens zu. den Tod hinaus bleibt. Nun denn, ich weiij keinen unter

Wir aber fragen, ehe wir von ihm Abschied nehmen, den'streitern des Faches, ja, im ganzen Bereich der nachdem wir von seiner Willensstarke und seiner Naturwissenschaft, der mehr dankbare Liebe in seinen Geisteskraft so viel geredet haben, wie seine Seele war. Lebenstagen erworben hltte, und den mehr dankbare Denn niemand verdient eine Stelle unter deli Unsterb- Liebe in die Ewigkeit begleitet hatte.

Zdtschr. far mum. gI3nir.-4lLJ-*Ogl ---_______

[ A . 156.1

Zur Hundert jahrfeier von WCIhlers Harnstoffsynthese. V o n A. WOHI., Danzig.

Vorgetragen bei der Einweihung dee Liebig-Hauses in Darmstadt am 7. Juli 19'28 (Eingeg. 10. JuIi 1928.)

Wir feierii heute ein glanzendes Doppelgestirn unter den wissenschaftlichen Sternen des vorigen Jahrhunderts, in hochgestimmter geistiger Gemeinschaft eng verbunden durch lange Arbeitseinheit und lebensllngliche Freund- schaft. Dem Andenken Justus v o n L i e b i g s war der erste Teil dieser Feier gewidmet. Die Verkniipfung seines Erlebens mit der ungeheuren Tragweite seines Schaffens ist URS in beredten Worten lebendig geworden. Nun ist Friedrich W 6 h 1 e r s zu gedenken.

Ihm war nicht die gleiche vorwilrtsstiirmende Wucht eigen, mit der L i e b i g uber seine ersten Arbeitsgebiete hinaus a d weite Lebenskreise seiner Zeit so stark ge- wirkt hat. In einem schlichten Gelehrtenleben, fern von jedem Streit des Tages, unermudlich forschend und lehrend und dabei von Erfolgen zu Erfolgen schreitend, hat Friedrich W 6 h 1 e r uns Chemikern in aller Stille eine Fiille der sch6nsten Arbeiten geschenkt, die fort- wirken fur alle Zeiten. In 276 Abhandlungen sind die Ergebnisse seines 60jiihrigen Lebenswerkes 1821-1880 niedergelegt. Erstaunlich wie ihre Fiille ist ihre Mannigfaltigkeit, mit gleicher Meisterschaft beherrschte W 6 h 1 e r alle Oebiete des chemischen Wissens seiner Zeit.

Nur einige der schansten BlUten aus dieeem reichen Kranze seien aufgezeigt. Arbeiten ilber C y a n v e r - b i n d u n g e n , mit denen er schon als junger Student der Medizin in Marburg eifrigst und erfolgreich be- gonnen hatte, fiihrten spiiterhin zur Entdeckung der H a r n s t o f f s y n t h e s e , die W b h 1 e r s Ruhm be- griindet hat und im Mittelpunkt dessen steht, was uns heute die Erinnerung an ihn wert und lebendig macht. Von ihr wird weiterhin die Rede sein. Von grund- legender Bedeutung fOr die Entwicklung der organischen Chemie waren weiter die gemeinsam rnit L i e b i g durchgefilhrten R e n z o y l a r b e i t e n , in denen B e r - z e 1 i u s die Morgenrate eines neuen Tages in der vege- tabilischen Chemie erblickte. Ihnen schloasen sich klas- sische Untersuchungen liber die vielgestaltigen Um- wandlungen der H a r n s a u r e an; die so wichtig ge- wordene Arbeikweiee des E r h i t z e n s i m G l a s - r o h r u n t e r D r u c k hat dabei W o h l e r zuerst an- gewendet. Die Aufkllrung der Zusammensetzung des C h i n o n s , die Oberfiihrung von Calciumcarbid in A c e t y I e n sind apiitere folgenreiche Entdeckungen aw dern aebiete der organischea Cbemie, Keime, die

hochragend und fruchtbeladen emporgewachsen sind und weite Gebiete der Wissenschaft und Technik mit ihren Friichten niihren.

Unzahlige M i n e r a 1 i e n und m i n e r a 1 i s c h e S t o f f e hat W 6 h 1 e r untersucht und eingeordnet und die a n a 1 y t i s c h e n M e t h o d e n dafiir fortgebildet. Mit S t . C l a i r e D e v i l l e teilt er den Ruhm, das kristallisierte B o r und S i 1 i c i u ni entdeckt zu haben, und eine der denkwiirdigsten seiner anorganischen Ar- beiten ist die Herstellung des metallischen A 1 u m i - n i u m s aus dem Aluminiumchlorid mit Kalium. Ini vorigen Jahre war gerade ein Jahrhundert seit der Ent- deckung des Aluminiummetalls verflossen ; kurz zuvor ist die Erinnerung an drei Jahre altere, minder gelungene Versuche des groSen diinischen Forschers 0 e r s t e d t wieder aufgetaucht und hat eine um ein Jahrhundert verspiltete Prioritatserorterung zu seinen Gunsten lier- vorgerufen.

0 e r s t e d t s Veroffentlichutig 1aDt keiiien Zweifel, daD er reines Aluminium nicht in Handen gehabt hatte. DaD seine Vorschrift ein Jahrhundert spater mit den Er- fahrungen der Jetztzeit ausgefuhrt, Aluminium liefern kann, ist, wie mir scheint, kein Beweis dafilr, da9 sie zu ihrer Zeit rnit Erfolg auszufuhren war. Dagegen steht das unantastbare Zeugnis W a h l e r s und das zu- stimmende Schweigen 0 e r s t e d t s. Er hatte zuvor er- klart, dai3 er die Versuche nicht fortsetzen wolle und hatte selbst W o h 1 e r zur weiteren Verfolgung dieses Gegenstandes aufgemuntert. Nicht minder wichtig ftir W 6 h 1 e r s Prioritat ist das Zeugnis von B e r z e I i u s , der, mit beiden befreundet, in seinem Lehrbuch die Ent- deckung des Aluminiums uneingeschrankt W o h 1 e r zii- schreibt und die Versuche O e r s t e d t s als , ,mr unvoll- stiindig geglikkt'' bezeichnet. In dem scherzenden Ton seiner Briefe schreibt B e r z e l i u s dann 1828 an W 6 h 1 e r vom Aluminium und kiinstlichem Harnstoff, ,,die als Edelsteine in Ihren Lorbeerkranz eingeflochten we rden".

Es wiederholt sich imrner wieder in der Oeschichte der Wissenschaften und Gewerbe, da9 sieh zu wichtigen Fortschritten vor dem Triiger des Erfolges, yon dem die Wirkung auf die Umwelt ausgegangen ist, Vorganger finden, die minder ausdauernd oder minder gliicklich a d lhsliobea Wegen nicht ganz zum Ziele gekornmea siad,