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EUGEN BERTHOLD BERTOLT “/„ BERT FRIEDRICH BRECHT (1898–1956) Frühling 1938 (I/1. Strophe) Heute, Ostersonntag früh Ging ein plötzlicher Schneesturm über die Insel. Zwischen den grünenden Hecken lag Schnee. Mein junger Sohn Holte mich zu einem Aprikosenbäumchen an der Hausmauer Von einem Vers weg, in dem ich auf diejenigen mit dem Finger deutete Die einen Krieg vorbereiteten, der Den Kontinent, diese Insel, mein Volk, meine Familie und mich Vertilgen mag. Schweigend Legten wir einen Sack Über den frierenden Baum. Über dem Sund hängt Regengewölke, aber den Garten Vergoldet noch die Sonne. Die Birnbäume Haben grüne Blätter und noch keine Blüten, die Kirschbäume hingegen Blüten und noch keine Blätter. Die weißen Dolden Scheinen aus dürren Asten zu sprießen. Über das gekräuselte Sundwasser Läuft ein kleines Boot mit geflicktem Segel. In das Gezwitscher der Stare Mischt sich der ferne Donner Der manövrierenden Schiffsgeschütze Des Dritten Reiches. In den Weiden am Sund Ruft in diesen Frühjahrsnächten oft das Käuzlein. Nach dem Aberglauben der Bauern Setzt das Käuzlein die Menschen davon in Kenntnis Dass sie nicht lang leben. Mich Der ich weiß, dass ich die Wahrheit gesagt habe Über die Herrschenden, braucht der Totenvogel davon Nicht erst in Kenntnis zu setzen. Aufgabe Analysieren Sie die erste Strophe des Gedichts nach Inhalt, Form sowie Sprache! 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29

Gedicht-Interpretation – Eugen Berthold „Bertolt“/„Bert“ Friedrich Brecht (1898–1956) – Frühling 1938 (I/1. Strophe)

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Anonymous/Schüler(in) (Autor[in]), Ulrike Lang (Gymnasiallehrerin am Beruflichen Gymnasium), Jens Liebenau (Editor/Bearbeiter): Gedicht-Interpretation – Eugen Berthold „Bertolt“/„Bert“ Friedrich Brecht (1898–1956) – „Frühling 1938“ (I/1. Strophe)

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EUGEN BERTHOLD „ BERTOLT “/„ BERT “ FRIEDRICH BRECHT (1898–1956)Frühling 1938 (I/1. Strophe)

Heute, Ostersonntag frühGing ein plötzlicher Schneesturm über die Insel.

Zwischen den grünenden Hecken lag Schnee. Mein junger SohnHolte mich zu einem Aprikosenbäumchen an der Hausmauer

Von einem Vers weg, in dem ich auf diejenigen mit dem Finger deuteteDie einen Krieg vorbereiteten, der

Den Kontinent, diese Insel, mein Volk, meine Familie und michVertilgen mag. Schweigend

Legten wir einen SackÜber den frierenden Baum.

Über dem Sund hängt Regengewölke, aber den GartenVergoldet noch die Sonne. Die Birnbäume

Haben grüne Blätter und noch keine Blüten, die Kirschbäume hingegenBlüten und noch keine Blätter. Die weißen Dolden

Scheinen aus dürren Asten zu sprießen.Über das gekräuselte Sundwasser

Läuft ein kleines Boot mit geflicktem Segel.In das Gezwitscher der StareMischt sich der ferne Donner

Der manövrierenden SchiffsgeschützeDes Dritten Reiches.

In den Weiden am SundRuft in diesen Frühjahrsnächten oft das Käuzlein.

Nach dem Aberglauben der BauernSetzt das Käuzlein die Menschen davon in Kenntnis

Dass sie nicht lang leben. MichDer ich weiß, dass ich die Wahrheit gesagt habe

Über die Herrschenden, braucht der Totenvogel davonNicht erst in Kenntnis zu setzen.

Aufgabe

Analysieren Sie die erste Strophe des Gedichts nach Inhalt, Form sowie Sprache!

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Gedicht-InterpretationE. BERTHOLD „ BERT ( OLT )“ F. BRECHT (1898–1956): Frühling 1938 (I)

(Dichter/Poet/Lyriker/Autor)Eugen Berthold „Bertolt“/„Bert“ Friedrich Brecht (1898–1956) ist ein Dichter, der den meisten als Begründer des epischen Theaters ein Begriff ist. Schlagartig berühmt wurde er 1928 mit der Aufführung der Dreigroschenoper. Aber auch als Lyriker hat er ein beachtliches Werk geschaffen, bereits als Schüler schrieb er erste Gedichte und brachte eine Art Schülerzeitung heraus, in denen seine Gedicht erschienen. Als Vertreter des Marxismus musste er vor den Nationalsozialisten fliehen. Das zu analysierende Gedicht Frühling 1938 erschien im Exil.

(Inhalt)Ein lyrisches Ich beschreibt eine Situation, die es mit seinem Sohn erlebt. Es ist Ostersonntag, sehr stürmisch und kalt, sie leben auf einer Insel. Der Elternteil (Mutter oder Vater), das lyrische Ich, arbeitet gerade an einem Gedicht, in dem der Krieg beklagt wird. Die im Titel enthaltene Jahreszahl „1938“ (Titel) lässt die Vermutung zu, dass es sich um den drohenden Zweiten Weltkrieg handeln könnte. Sein Sohn führt ihn zu einem jungen Obstbaum („Aprikosenbäumchen“, Vers 4), sie bedecken ihn, um ihn vor Frost zu schützen.

(Form sowie Sprache)Das Gedicht besteht aus einer Strophe, die zehn Verse (Zeilen) sind unterschiedlich lang. Zunächst fällt der „epische“ Charakter auf, wären die Zeilen nicht gebrochen, könnte es sich um eine kleine Erzählung handeln, das Fehler von Reimen unterstützt diesen Eindruck. Die Verbindung von Naturgeschehen und realer politischer Situation wird in sehr konkreter Bildlichkeit vermittelt, was dem Text en Charakter von etwas sachlich Dargelegtem verleiht. Aber nicht alle Zeilen entziehen sich einer metrischen Bestimmung: So wirkt der daktylisch gegliederte Vers „Zwischen den grünenden Hecken lag Schnee“ (V. 3) fast spielerisch, hier wird eine fröhliche Stimmung erzeugt, die in der Beschreibung des ‚Verses‘ wieder gebrochen wird: „Von einem Vers weg, in dem ich auf diejenigen mit dem Finger deutete“ (V. 5). Das politische Geschehen bekommt auch im Metrum eine Störung, einen Kontrast, der sich im Titel bereits anbahnt. „Frühling“ – positiv konnotiert – „1938“ – Bote nahenden Unheils. Der Kontrast von Blühendem, Lebendem („grünendem“, V. 3; „Sohn“, V. 3; „Aprikosenbäumchen“, V. 4) sowie Gefahr, Bedrohung („Krieg“, V. 6; „Vertilgen“, V. 8) ist also das Thema dieses Gedichts und spiegelt sich nicht nur im Titel, sondern auch in der Wortwahl und im Metrum wider.

Auffällig sind die Enjambements (Verssprünge), die zu einer zunehmenden Brechung des Leseflusses führen. Der Satz „Mein junger Sohn / Holte mich zu einem Aprikosenbäum-chen […]“ (V. 3 f.) lässt sich noch ohne Unterbrechung – im Sinne der Erzählung einer scheinbar alltäglichen Begebenheit – lesen. Der Zeilenbruch vor dem Relativsatz „Die

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einen Krieg vorbereiteten […]“ (V. 6) führt bereits zu einem kurzen Stocken, zu einem Erheben der Stimme, nach dem allein stehenden Partizip „Schweigend“ (V. 8) erwartet man eine Leerstelle, ein „Schweigen“ eben, angesichts des drohenden Unglücks.

Die Zeilen werden in der Tendenz kürzer (Ausnahme: Vers 1), diese optische Anordnung spiegelt eventuell die zunehmende Sprachlosigkeit.

Wendet man sich der Wortwahl zu, so fällt auf, dass die Verben „vorbereiteten“ (V. 6) und „vertilgen“ (V. 8) euphemistisch (beschönigend) wirken, bedenkt man dabei, dass es um Krieg geht. Die Personifizierung „vertilgen“ macht klar, dass Menschen die Auslöser sind, jedoch sind Menschen auch die Leidtragenden („Mein junger Sohn“, V. 3). Obwohl das lyrische Ich mit dem Finger auf die Schuldigen „deute[t]“ (V. 5), wird doch niemand persönlich angeklagt. Die Täter werden relativ nichts sagend mit „diejeni-gen“ (V. 5) bezeichnet, so als wären sie unter uns, kaum auszumachen. Das Substantiv (Nomen) „Sohn“ (V. 3) findet eine inhaltliche Entsprechung in dem „frierendemBaum“ (V. 10) – hier auch personifiziert. Das Bedecken mit einem Sack hat etwas rührend Hilfloses, die Endstellung gibt diesem Bild der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins eine besondere Gewichtung.

Der substantivische(/nominale) Stil (wenig[e] Adjektive) unterstützt den Eindruck der Sachlichkeit. Die Wahl der Substantive lässt eine Anordnung vom Allgemeinen zum Besonderen erkennen: „[…] Kontinent, […] Insel, […] Volk, […] Familie (undmich)“ (V. 7). Die Bedrohung kommt immer näher, die Aufzählung respektive Anordnung der Substantive gibt eine Richtung an.

Ein Augenmerk sollte auch auf das Wort „Ostersonntag“ (V. 1) gelenkt werden. Ostern steht für Auferstehung, neues Leben, Hoffnung, Erlösung. Das Bild des „frierenden Baum[s]“ am Ende lässt diese zu Beginn geweckte Erwartungshaltung jedoch als trügerisch erscheinen. Man verlässt diese Szenerie rat- und hilflos.

(Schlussbemerkung/-gedanke[n])Von einem lyrischen Ich auf den Dichter beziehungsweise Autor zu schließen, ist nicht zulässig, weil dies stets spekulativ ist. Doch stelle ich mir hier den Lyriker Brecht in seinem Arbeitszimmer vor, nachdem er Mitte der 1930er Jahre aus Deutschland vertrieben worden ist. Sein Gedicht bekommt hier den Charakter einer Prophezeiung.