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    Idsteiner Mittwochsgesellschaft 22. Januar 2014

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    Whrend er durch einen Wald reiste, bemerkte ein Mann eine Kreis, der auf einen Baum gemalt

    war. In dem Kreis steckte ein Pfeil, exakt in der Mitte. Einige Meter weiter bemerkte er noch ei-

    nige dieser Ziele, jedes Mal mit dem Pfeil genau in der Mitte. Spter, als er dem talentierten Bo-genschtzen begegnete, fragte er ihn: Wie hast du es geschafft ein solcher Experte zu werden,dass du mit deinem Pfeil immer genau in die Mitte des Zieles triffst? Es ist gar nicht so

    schwer,antwortete der Bogenschtze.Erst schiee ich den Pfeil, und dann male ich das Ziel

    um ihn herum.

    Christopher Clark

    Die SchlafwandlerWie Europa in den Ersten Weltkrieg zog

    In dieser Buchbesprechung, welche ichals staatsphilosophischen Beitrag ausle-gen mchte, soll ein Versuch unternom-men werden, mgliche Definitionen, Ent-stehungen, Formen, Aufgaben und Zieledes Staates sowie seine institutionellen,sozialen, ethischen und juristischen Be-dingungen und Grenzen zu beleuchten.Diese scheinbar peripheren Ereignisse derVorkriegszeit spielen jedoch eine wichti-ge Rolle fr die Entstehung des bewaffne-ten Konfliktes im Europa des 20. Jahr-hunderts.

    Christopher Clark, ein australischer His-toriker aus Cambridge, erzhlt in seinemjngsten Werk Die Schlafwandler (TheSleepwalkers) die Vorgeschichte des Ers-ten Weltkriegs nicht neu. Auf ber 800Seiten schildert er die damaligen Prota-gonisten als von ngsten, Misstrauen undFehleinschtzungen Getriebene.

    Das Buch (Die Schlafwandler), zeitlichpassend zum bevorstehenden Gedenkjah-res der viel zitierten Urkatastrophe des20. Jahrhunderts erschienen, wurde 2013

    ein Beststeller im deutschen Buchhandel.Die Schlafwandler bietet neuen Ge-sprchsstoff im Zusammenhang mit deraktuellen Diskussion.Das englische Original The Sleepwal-kers fr nur 12,99 - statt 39,99 imdeutschsprachigen Raum - findet weitweniger Absatz. Die franzsische Ausga-be fand nicht mal den Weg auf die Rega-le der National Bibliothek.

    Es scheint als ob es sich hier um einStandardwerk der europische Geschichtehandelt, das wie auch viele andere euro-

    pische Standards ganz unterschiedlichund je nach Interessenlage ausgelegtwird. Das Buch beschreibt unmissver-

    stndlich die Tragik der Ereignisse unmit-telbar vor Kriegsausbruch bei dem diebeteiligten Staaten eher bestrebt waren,die Grnde fr die eigene Bedrngung

    durch andere zu finden, anstatt auf eineVerhinderung des Krieges hinzuwirken.Wirklich neue Erkenntnisse sucht manallerdings vergeblich.

    In 60er Jahren legte Fritz Fischer dieThesen ber die Schuld des DeutschenKaiserreiches am Ausbruch des ErstenWeltkrieges dar. Die dadurch ausgelsteDebatte dauert an und es nicht verwun-derlich, dass das hier vorliegende Werkfr eine starke Polarisierung und heftigeDiskussion sorgt.Auch wenn Fischers Position, das Deut-

    sche Reich habe gezielt auf einen groeneuropischen Krieg hingearbeitet und sichan einem "Griff nach der Weltmacht"

    versuchte, an Popularitt verbt hat -falsch war sie nicht. Die Ausarbeitungenvon Volker Berghahn, Klaus Hildebrand,Wolfgang Mommsen oder GregorSchllgen stellen eine, wenn auch nichteinseitig deutschlandzentrierte Sicht aufdie Krise vom Juli 1914 dar.

    Die Fehlkalkulationen und Fehlentschei-dungen der deutschen Fhrung werdenweithin als mageblicher kriegsauslsen-der Faktor betrachtet. Hier bringt Clarkeine neue Debatten ber die Schuld am

    Ausbruch des Ersten Weltkriegs ins Rol-len. Er versucht die verworrenen Konstel-lationen im Vorfeld des Krieges zu diffe-renzieren, bleibt aber steckten in dem Ge-flecht der Vorkriegsdiplomatie, sowie ineinem Labyrinth von wechselndenMachtverhltnissen innerhalb der euro-pischen Big Five (England, Frank-reich, Russland, Deutschland und ster-reich-Ungarn) und deren diplomatischeBeziehungen im Vorfeld des Krieges.Ausgehend von der Fehleinschtzung,England, Russland und Frankreich wren

    nicht bereit, sich wegen des KleinstaatsSerbien auf dem Balkan militrisch zuengagieren, habe die deutsche Fhrungnach dem Attentat von Sarajewo auf eineLokalisierung des absehbaren sterrei-chisch-serbischen Krieges gesetzt und derWiener Regierung den "Blankoscheck"fr ein rasches Losschlagen gegen Ser-bien ausgestellt.Abgesichert durch die Rckendeckungdes deutschen Bndnispartners habe s-terreich einen harten, kompromisslosenKurs gesteuert, der zwangslufig Russ-land als Schutzmacht Serbiens auf den

    Plan gerufen habe.Clark stellt die Kriegsschuldfrage nichtneu und er vermeidet es, die Schuld am

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    Kriegsausbruch einem einzelnen Staatzuzuweisen, wie dies in der Vergangen-heit oft geschehen ist. Er rckt die einzel-ne Akteure in den Mittelpunkt, die in denJahrzehnten vor dem groen Krieg inEuropas Hauptstdten den Gang derAuenpolitik bestimmten - Monarchen,Regierungschefs, Auenminister, Diplo-maten. Im Buch erfahren wir, wer dieseMnner waren und von welchen Erfah-rungen und Wahrnehmungen, oder Ziel-setzungen, ihr politisches Handeln beein-flusst wurde. Dargestellt werden institu-tionelle Strukturen und die Wege vonEntscheidungsprozessen.Clark malt ein "multipolares" und "inter-aktives" nicht nur von den europischenfnf Gromchten - Deutschland, ster-reich-Ungarn, Frankreich, Grobritannienund Russland - sondern bezieht auch

    Staaten wie Italien, Serbien und Bulga-rien in die Darstellung mit ein.

    Der australische Historiker vertritt dieAuffassung, dass die Rolle Serbiens inder Vorgeschichte des Ersten Weltkriegesvernachlssigt wurde und lsst sein Buchin Belgrad beginnen, mit der ErmordungKnig Alexanders durch nationalistischeOffiziere im Juni 1903. Der darauf fol-gende Umsturz und Dynastiewechsel ha-be eine auenpolitische NeuorientierungSerbiens nach sich gezogen. Neuorientie-rung hin zum orthodoxen Russland und

    weg vom katholisch dominierten ster-reich-Ungarn. Serbien wurde danach un-bndiger Krisenherd. Es folgten die Bal-kankriege und eine Dauerkrise unter demzwielichtigen Ministerprsidenten NikolaPai und nationalistischen Untergrund-organisationen. Serbien hatte sich auf dieErrichtung eines groserbischen Staatesverschrieben. Knftige Konflikte mit s-terreich-Ungarn seien deshalb abzusehengewesen. Die serbische Regierung habenichts gegen die Untergrundorganisatio-nen getan und damit indirekt den Weg

    zum Attentat von Sarajewo geebnet.

    Clark beschreibt minutis das Attentatvon Sarajewo und den Verlauf der Juli-krise. Der Umgang mit der Krise allerbeteiligten Regierungen werden anschau-lich herausgearbeitet, darunter auch Feh-ler, die in Kombination miteinander zueiner schrittweisen Verschlimmerung derSituation fhrten. Dazu gehrten unteranderem, dass Belgrad auf provozierendeWeise eine Mitwirkung an der Aufkl-rung des Attentats verweigerte, K.u.K,von Berlin ermuntert, von Anfang an aus-

    schlielich auf eine militrische Aktiongegen Belgrad setzte und andere Optio-nen nicht in Betracht zog und die Augen

    vor der Mglichkeit einer russischenIntervention verschloss. Berlin hoffte, derKonflikt werde sich lokalisieren und zumAustesten der russischen Kriegswilligkeitnutzen lassen. Russland sprach Wien ri-goros das Recht ab, in irgendeiner Formgegen Belgrad vorzugehen. Die Folgewar, dass keiner der Akteure die entstan-dene Situation noch berschauen, ge-schweige denn im Alleingang kontrollie-ren oder beherrschen konnte.

    Paris tat nichts, um Petersburg zurckzu-halten, auch nicht vor der Generalmobil-machung am 29./30. Juli, mit der Russ-land die Weichen endgltig in RichtungKrieg stellte. Nun hatte Berlin keine an-dere Wahl, als ebenfalls mobil zu ma-chen. Der franzsische Prsident Poincarund der russische Auenminister Saso-

    now, seit Jahren vereint in rabiater Feind-seligkeit gegenber Deutschland, hattenunversehens den Balkankonflikt bekom-men, der ihrer Ansicht nach ntig war,um gemeinsam gegen das Deutsche Reichvorgehen zu knnen. Bis Ende Juli hoffteBerlin, London werde neutral bleiben.Mit dem Hinweis, dass Frankreich undRussland gar nicht direkt bedroht seien,lehnte die britische Regierung bis zum 1.August eine Parteinahme ab. Tags darauferfolgte dann der jhe Umschwung. Nichtdie Verletzung der Neutralitt Belgienshabe den Ausschlag gegeben, so Clark,sondern die Furcht, Grobritannien werdesich Russland wieder zum Feind machen,wenn es nicht an seiner und FrankreichsSeite gegen Deutschland in den Kriegziehe. Mit dem Kriegseintritt habe Gro-britannien zweierlei erreichen wollen:Eindmmung der deutschen Gefahr und

    Festigung des Bndnisses mit Russland.

    Das alleine erklrt die Auslegung des Bu-ches, wie wir sie in der FAZ1 oder DieWelt

    2vorfinden, nicht. An diesen Stellenwird geuert, dass Clark berzeugend

    die Alleinschuld Deutschland widerlege.Besonders wenn man beachtet, dass derHistoriker Clark nicht urteilt, sondernbeschreibt, was in den Jahren vor und denWochen nach den Todesschssen vonSarajewo passiert ist.

    Der Kriegsausbruch von 1914 ist keinAgatha-Christie-Thriller, an dessen Ende

    1Die Selbstzerstrung Europas inhttp://www.faz.net/suche/?query=Die+Selbstzerst%C3%B6rung+Europas+&suchbegriffImage.x=0&suchbegriffImage.y=0&resultsPerPage=202Besessen von der deutschen Kriegsschuld inhttp://www.welt.de/geschichte/article121231599/Besessen-von-der-deutschen-Kriegsschuld.html

    wir den Schuldigen im Konservatorium

    ber einen Leichnam gebeugt auf frischer

    Tat ertappen. In dieser Geschichte gibt es

    keine Tatwaffe als unwiderlegbaren Be-

    weis oder genauer: Es gibt sie in der

    Hand jedes einzelnen Akteurs. So gesehen

    war der Kriegsausbruch eine Tragdie,

    kein Verbrechen.

    Dennoch schwebt die Fischer-Kontroverse

    3, ber noch immer fehlen-

    den Auseinandersetzung mit unserer Ver-gangenheit.

    Clark dazu: Nach dieser Sichtweise stol-perten oder schlitterten die Deutschen

    nicht in den Krieg. Sie entschieden sich

    fr ihn schlimmer noch, sie planten ihn

    im Voraus, in der Hoffnung, aus ihrer

    europischen Isolation auszubrechen und

    den berchtigten Griff nach der Welt-

    macht zu wagen.

    Ivica Koak

    3Die Argumente der deutscher Historiker wieFritz Fischer und Imanuel Geiss aus den 60erJahren. Danach trug Deutschland die Hauptschuldam Kriegsausbruch 1918.

    Und deshalb wiederhole ich hierden Satz, den ich an dem Tagden Menschen auf dem Sol-datenfriedhof in Luxemburg zu-rief: Wer an Europa zweifelt,wer an Europa verzweifelt, dersollte Soldatenfriedhfe besu-

    chen! Nirgendwo besser, nir-gendwo eindringlicher, nirgend-wo bewegender ist zu sprenwas das europische Gegenein-ander an Schlimmstem bewirkenkann.

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    Jean-Claude JunckerBundestag, Volkstrauertag 2008