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Gegenwärtige schulische Bildung in Österreich: diskriminierungstheoretisch gewendet İnci Dirim

Gegenwärtige schulische Bildung in Österreich ......Unterschiede und damit konstitutive Merkmale von Differenzlinien • Differenzlinien: kontingente gesellschaftliche Schemata der

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Page 1: Gegenwärtige schulische Bildung in Österreich ......Unterschiede und damit konstitutive Merkmale von Differenzlinien • Differenzlinien: kontingente gesellschaftliche Schemata der

Gegenwärtige schulische Bildung in

Österreich:

diskriminierungstheoretisch

gewendet

İnci Dirim

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Aufbau des Vortrags

Diskriminierung, auch entlang des Differenzmerkmals

„Sprache“

diskriminierungstheoretische Analyseperspektiven

Anwendung auf Teile des Bildungsprogramms der neuen

Bundesregierung in Österreich

weitere relevante Aspekte schulischer Bildung

Fazit: Neue und alte Diskriminierungen und Dilemmata

Ausblick/Wünsche

Dank

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Diskriminierung

• lat. discriminare „trennen, absondern, unterscheiden“

• spätlat. discriminatio „Scheidung“ und „Absonderung“ (Meyers-

Lexikon und DUDEN)

• Diskriminierung: Inferiorisierende Unterscheidung und damit

spezifische Benachteiligung von Menschen entlang bestimmter

überindividueller Differenzsetzungen (vgl. Dirim & Mecheril i.E.,

17f.).

• Differenzsetzungen: (diskursiv re-produziert) relevant gesetzte

Unterschiede und damit konstitutive Merkmale von Differenzlinien

• Differenzlinien: kontingente gesellschaftliche Schemata der

Konstruktion von Unterschieden zwischen Menschen, die zumeist

in dichotomer Weise gesellschaftlich wirksam werden (Lutz &

Wenning 2001, 21).

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Diskriminierungstheorie

Verschiedene Wissenschaftstraditionen, Bezugnahmen, Ordnungen…, u.a.:

• Kritische Diskusanalyse (Wodak & Meyer 2009)

• Institutionelle Diskriminierung (Gomolla & Radtke 2007)

• Migrationspädagogik (Mecheril u.a. 2010)

• Rassismuskritik (u.a. Mecheril & Melter 2010)

• Linguizismukritik (Dirim 2010, Dirim & Pokitsch i.E.)

• …

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Rassismuskritik

• Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis

• Ausgrenzung mit Hilfe und auf Grund kolonialer Denktraditionen

• Differenzmerkmale werden wie Rassekonstruktionen der Kolonialzeit herangezogen, um Gruppen zu konstruieren, diese zu hierarchisieren und die unterlegene Gruppe auszuschließen (Mecheril & Melter 2010; Rommelspacher 2011)

• (Re-)Produktion von Wir/Nicht-Wir-Gefällen (Mecheril 2004)

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Diskriminierung entlang von „Sprache“ / Linguizismus

• Diskriminierung an Hand des Differenzmerkmals „Sprache“: Relevantsetzung von sprachlichen Differenzen, um darüber symbolische/faktische Ausschlüsse zu erzeugen/begründen.

• Lange „Tradition“ von der Kolonialzeit bis in die Gegenwart (vgl. Cyffer 2001)

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Das migrationsbezogene Bildungsprogramm der neuen Bundesregierung

• Deutschförderung für außerordentliche SchülerInnen

• Deutschförderung für ordentliche SchülerInnen

• Sprachsensibler Unterricht in allem Fächern

• Zusätzlich: muttersprachlicher Unterricht

• Vorbild: Schulsprachenmodell in Hamburg

• Korrekturen nach massiver Kritik

(BMBWF 2018)

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Quelle: https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/oesterreich/politik/959424_Korrekturen-im-Gesetzesentwurf.html (recherchiert von Kevin Perner)

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Deutschlernklassen

• Vorbereitungsklassen; auch in anderen Ländern üblich

• Monolingualität des Bildungssystems wird beibehalten; Schüler_innen erwerben Grundkenntnisse de Deutschen, erfahren sich aber auch als solche, mit deren Sprache gearbeitet wird oder nicht gearbeitet wird (Wir/Nicht-Wir an Hand des Differenzmerkmals Sprache)

• Kooperation mit anderen Fächern sehr schwach ausgeprägt

• Deutschlernklassen mögen in diesem System eine Teillösung sein, aber sie (re-)produzieren Wir- und Nicht-Wir-Gruppen und damit verbunden superiore und inferiore Positionierungen

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Schuleinschreibung

• Deutschkompetenz gilt als Teil von Schulreife: „Neben der körperlichen und geistigen Überforderung stellt ab dem Schuljahr 2018/19 auch die Beherrschung der Unterrichtssprache Deutsch ein Kriterium für das Vorliegen der Schulreife dar“ (BMBWF 2018)

• Wenn keine sonderpädagogischen Förderbedarfe diagnostiziert werden, werden Kinder mit nicht ausreichenden Deutschkenntnissen mit zusätzlicher Förderung in die Regelklasse oder in eine Deutschlernklasse aufgenommen

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Generelle Bewertung

• Strikte deutschsprachige Monolingualität des Bildungssystems wird beibehalten (Ausnahme: Minderheitenschulen, besondere Projekte, Fremdsprachenunterricht und MSU)

• Monolingualer Habitus (Gogolin 1994)

• Verbesserungen im Vergleich zu den Vorgehensweisen früherer Regierungen im Hinblick auf Deutschlernangebote, aber stärkere soziale Segregation

• Mechanistische Vorstellung von Sprachlernen

• Evaluation der Angebote bleibt unklar

• Dilemma der Ermächtigung und der Diskriminierung an Hand von Sprache (Deutsch) bleibt erhalten und wird verstärkt

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Große Schwächen

• Weiterhin keine Aufmerksamkeit für Prozesse von Einbezug und Ausgrenzung

• Keine Aufmerksamkeit von Fragen von Anerkennung (Stojanov 2011)

• Keine Aufmerksamkeit für institutionelle Diskriminierung (Gomolla & Radtke 2008)

• Keine Aufmerksamkeit für (gewollte und ungewollte) Diskriminierung durch Lehrmaterialien, Curricula, Lehrendenhandeln

• Keine Aufmerksamkeit für kritische Selbstreflexion von Lehrkräften

• Ausschließlicher Fokus auf Deutsch: Linguizismus und Lingualisierung(Dorostkar 2014)

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(Weiterhin und verstärkt) Wirksamkeit postkolonial rassisalisierend-linguizistischer Denkschemata

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Auswirkungen: Selbstothering

• […] Es wird allzu transparent gemacht zum Beispiel die Kinder werden dann aus dem Unterricht per Lautsprecher zur Direktion gerufen alle Kinder die Muttersprache Bosnisch-Serbisch-Kroatisch haben sollen jetzt zu mir herkommen da ist eure muttersprachliche Lehrerin (schnauft (?)) wo ich mir damals gedacht hab ich bin nicht von (enna?) ich bin jetzt hier der der Interesse hat hat sich schon angemeldet ich brauche jetzt nicht alle Kinder bei mir das heißt noch einmal stigmatisieren noch einmal irgendwo aufhängen das sind die die anderen ja (.) und die Kinder schämen sich also in der Neuen Mittelschule die Kinder sind schon älter die sind in Pubertät ja manche schon ziemlich weit ja und dann müssen sie noch extra einmal aus dem Raum gehen ja nur weil die Muttersprache nicht Deutsch ist (.) also das hat mich unglaublich gestört damals ja (.) (Z. 8-17, S. 3) (Lehrerin in Linz, Erhebung Dirim & Döll, 2015, nur teilweise ausgewertet und veröffentlicht)

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Im gelobten Hamburg: Selbstothering

• Eine Lehrerin einer Regelklassen ist krank, die Türkischlehrkaft kommt zur Vertretung. Sie sieht sich im Klassenraum um, geht zu einem Schüler und sagt ihm auf Türkisch: „Was ist das denn für ein Chaos! Räum sofort deinen Tisch auf! Was sollen denn die Deutschen von uns denken!“ (Eigene Beobachtung von İnci Dirim, 2009)

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Fortsetzung von Linguizismus

• Zitat einer Schülerin aus Wien (Malušić 2013: 80)

• ((Übersetzung; Original Serbisch): „Die Lehrerin aus Serbien darf nicht auf Serbisch sprechen. Unsere Lehrerin mag es nicht, wenn man auf Serbisch oder in einer anderen Fremdsprache spricht, weil sie denkt, dass man etwas Geheimes oder Schlimmes über die anderen Kindern spricht. […] Die Lehrerin hat bereits zu Schulbeginn klar gemacht, wie man sich benehmen soll. Sie hat den Schülern verboten, Kaugummi auf die Schulbänke zu kleben, die Tür zuzuknallen und mit lackierten Nägeln in die Schule zu kommen. Und dann hat sie noch gesagt, dass wir nur auf Deutsch reden dürfen“ (Sophia, 8)

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Tradierte Schwächen und Diskriminierungen

• Fortwährende Dilemmata

• Fortwährende mangelhafte Berücksichtigung von migrationsbedingter Mehrsprachigkeit

• Fortwährende Mängel in der Deutschförderung

• Fortwährende Rassismen und Linguizismen/Diskriminierungen gewollter und ungewollter Art

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Ausblick

• Kritik hilft

• Kritik sollte sich nicht nur auf Organisationsformen beziehen

• Kritik muss Öffnung für Mehrsprachigkeit einbeziehen

• Berücksichtigung der Verstrickung von Deutschförderung und Umgang mit Sprachen sind massiv in postkoloniale(,) nationale Diskurse Fachdidaktik Deutsch und Linguistik sind nicht ausreichend

• Dringend notwendig: Auseinandersetzung mit Postkolonialität (Neo-Rassismus und Neo-Linguizismus), Auseinandersetzung mit methodologischem Nationalismus, Auseinandersetzung mit Möglichkeiten des Erkennens und der Reduzierung von verschiedenen Formen von Diskriminierung

• Dringend erforderlich: Rassismus-, linguizismus-, und diskriminierungskritische Selbstreflexion („involvierte Professionalisierung“ nach Messerschmidt 2010) und Systemevaluation

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Literatur

• Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (2018): Deutschförderklassen und Deutschförderkurse. Leitfaden für Schulleiterinnen und Schulleiter. Wien: Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung.

• Cyffer, Norbert (2009): Gibt es primitive Sprachen oder ist Deutsch auch primitiv? Manuskript eines am 23. September 2009 an der Universität Bremen gehaltenen Vortrags. Manuskript bei İnci Dirim erhältlich ([email protected])

• Dirim, İnci (2010): ‚Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so.‘ Zur Frage des (Neo-)Linguizismus in den Diskursen über die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In: P. Mecheril/İ. Dirim/M. Gomolla/S. Hornberg/K. Stojanov (Hrsg.): Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung. Münster: Waxmann, 91-114.

• Dirim, İnci/ Mecheril, Paul (i.E.): Heterogenitätsdiskurse, Sprachverhältnisse und die Schule – Einführung. In: Dirim, İnci/ Mecheril, Paul u.a.: Heterogenität, Sprache(n), Bildung. Die Schule der Migrationsgesellschaft. Stuttgart: UTB, S. 17-19

• Dirim, İnci / Pokitsch, Doris (i.E.): (Neo-)Linguizistische Praxen in der Migrationsgesellschaft und ihre Bedeutung für das Handlungsfeld ‚Deutsch als Zweitsprache‘. In: OBST (Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie) 2018

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• Dorostkar, Niku (2014): (Mehr-)Sprachigkeit und Lingualismus. Die diskursive Konstruktion von Sprache im Kontext nationaler und supranationaler Sprachenpolitik am Beispiel Österreichs. Göttingen: Vienna University Press bei V&R unipress (= Kommunikation im Fokus 3). Online verfügbar unter http://www.univie.ac.at/sprachigkeit/lingualismus.pdf.

• Gogolin, Ingrid (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster: Waxmann.

• Gomolla, Mechtild/Radtke, Frank-Olaf (2007): Institutionelle Diskriminierung. Die Herstellung ethnischer Differenz in der Schule. 2. Aufl., Wiesbaden: VS Springer.

• Lutz, Helma/Wenning, Norbert (2001a): Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatten. In: Henning Lutz/Norbert Wenning (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske + Budrich, 11-24.

• Malušić, Jasmina (2013) Welche/n Lehrer/in wünschst du dir? Diplomarbeit, Universität Wien. Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät. BetreuerIn: Dirim, İnci.

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• Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz

• Mecheril, Paul; Castro Varela, María do Mar; Dirim, İnci; Kalpaka, Annita & Claus Melter (2010): Migrationspädagogik. Beltz (Weinheim)

• Mecheril, Paul & Claus Melter (2010): Gewöhnliche Unterscheidungen. Wege aus dem Rassismus. In: Mecheril, Paul; Castro-Varela, Maria do Mar; Dirim, İnci; Kalpaka, Annita & Claus Melter (2010): Migrationspädagogik. Beltz (Weinheim), S. 150-168.

• Rommelspacher, Birgit (2011): Was ist eigentlich Rassimus? In: C. Melter/P. Mecheril (Hrsg.): Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag, 25-34.

• Stojanov, K. (2011): Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktionen eines umkämpften Begriffs. Wiesbaden:VS Springer

• Wodak, R./Meyer, M. (2009): Critical Discourse Analysis. History, Agenda, Theory, and Methodology. In: R. Wodak (Hrsg.): Methods of critical discourse analysis. London: SAGE, 1-34.