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Geisel der Superintelligenz

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ATLAN 106 – Die Abenteuer der SOL

Nr. 605

Geisel der Superintelligenz von Peter Griese

Hidden-X ist nicht mehr! Und somit haben Atlan und die fast hunderttausend Bewohner der SOL die bislang gefährlichste Situation auf dem an Gefahren reichen Weg des Gene-rationenschiffs fast unbeschadet überstanden. Doch was ist mit dem weiteren Weg der SOL? Die Verwirklichung von Atlans Ziel, das schon viele Strapazen und Opfer gekostet hat – das Ziel nämlich, in den Sektor Varnhagher-Ghynnst zu gelangen, um dort den Auftrag der Kosmokraten zu erfüllen, scheint nun außerhalb der Möglichkeiten des Arkoniden zu lie-gen. Denn beim entscheidenden Kampf gegen Hidden-X wurde Atlan die Grundlage zur Erfüllung seines Auftrags entzogen: das Wissen um die Koordinaten von Varnhagher-Ghynnst. Doch Atlan gibt nicht auf! Im Bemühen, sich die verlorenen Koordinaten wieder zu besor-gen, folgt der Arkonide einer vagen Spur, die zu Anti-ES führen soll. Für die SOL bedeutet das den Einflug in die Randgebiete der Galaxis Xiinx-Markant und neue, erbitterte Kämpfe, die selbst auf dem Grund des Ozeans von Terv nicht aufhören. Indessen kommt bei Atlan der durch Wöbbeking ausgelöste »temporäre Reinkarnationsef-fekt« wieder zum Tragen, und der Arkonide – und mit ihm die Solaner – erfahren, was im Jahr 3587 geschah, als Atlan zu den Kosmokraten gebracht werden sollte. Der Arkonide wird zur GEISEL DER SUPERINTELLIGENZ ...

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Die Hauptpersonen des Romans: Atlan – Der Arkonide wird entführt. Anti-ES – Die Superintelligenz schmiedet üble Pläne. Anti-Homunk – Ein unfertiger Helfer. Ahratonn und Eppletonn – Grenzwäch-ter der Namenlosen Zone. Duusnorz, Beyl Transot, Paulau und Kärkär – Gefangene der Grenzwächter.

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ATLAN 106 – Die Abenteuer der SOL

Prolog

Die Beleuchtung in der Kabine des Arkoni-

den war auf die halbe Stärke herabgesetzt. Es herrschte Stille. Atlans Atemgeräusche waren kaum vernehmbar, denn er saß zurückgelehnt und entspannt in seinem Sessel.

Einmal hatte er bereits den temporären Re-inkarnationseffekt durch Wöbbeking erlebt. Nun stand er vor einer neuerlichen Entfüh-rung in die Vergangenheit. Er würde alles so hautnah und real erleben, als würden die Din-ge, die vor vielen Jahren an einem anderen Ort geschehen waren, noch einmal ablaufen.

Die Aufnahmesensoren SENECAS waren auf den Unsterblichen gerichtet. Ihnen würde keine Geste und kein Wort entgehen, so daß die Hyperinpotronik einen lückenlosen Be-richt aus dem Nacherleben fertigen konnte.

Es kann losgehen, dachte Atlan. Wöbbeking griff mit unfaßbaren Strömen

nach dem Bewußtsein des Arkoniden, hüllte es ein und transportierte es an einen anderen Ort in einer anderen Zeit.

Atlan hatte für Sekunden das Gefühl, der Wirklichkeit entrissen zu werden, aber er wußte, daß dies eine Täuschung war.

Die Wirklichkeit wurde nur vertauscht. Seine jetzige des Jahres 3807 gegen eine, die über 200 Jahre alt war und an die er keine Erinnerung besaß.

Der temporäre Reinkarnationseffekt setzte mit seiner harten Realität ein. Die gefühlsmä-ßige Bindung zur SOL riß ab ...

1.

»Daß ich mich von meinem Freund unter

solchen Umständen trennen muß, ist ein har-ter Schlag für mich«, sagte der Mann, der sich als Perry Rhodan ausgab und der in Wirklich-keit Orbanaschol war, zu dem Roboter Laire. »Er geht, ohne mich zu erkennen, schlimmer noch, er hält mich für seinen ärgsten Feind. Ich kann nicht mit ihm darüber sprechen, was er den Kosmokraten sagen soll.«

»Das wird er auch ohne dein Zutun wis-sen.«

»In diesem Zustand?« Orbanaschol lachte ironisch. »Es läßt sich nun einmal nicht än-dern«, erklärte der Roboter lakonisch. »Sam-

kar ist bereits aufgebrochen. Atlan und ich werden ihm nun folgen.«

Orbanaschol stand da, als ob er irgend et-was tun wollte. Dennoch wirkte er hilflos.

»Wann wird Atlan zurückkommen?« wollte er wissen.

Nach kurzem Zögern antwortete Laire: »Es ist besser, wenn ihr nicht auf ihn wartet, son-dern sofort mit der BASIS in Richtung Milch-straße aufbrecht.«

»Wie lange genau wird er auf der anderen Seite bleiben?« drängte Orbanaschol. Noch immer tat er so, als sei er Perry Rhodan.

»Das kann ich nicht genau beantworten, aber es wird für eine lange Zeit sein.«

Orbanaschol verzog in künstlichem Schmerz sein Gesicht, als hätte Laire »für immer« gesagt und ich sei sein bester Freund. Dann starrte er mich an, als wollte er mich fragen, was die Kosmokraten wohl mit mir beabsichtigten. Er spielte seine Rolle als Perry Rhodan so geschickt, daß seine scheinbaren Gefühle verdammt echt wirkten.

»Sobald wir gegangen sind, wird Natrus dich zur Space-Jet bringen«, fuhr Laire fort. »Ich gebe ihm vor unserem Aufbruch einen entsprechenden Befehl.«

»Warte!« rief Orbanaschol. »Ich weiß, daß du dich jederzeit mit den Kosmokraten in Verbindung setzen kannst. Ich möchte mit ihnen reden und ihnen nochmals meine An-sichten klarmachen.«

»Die Möglichkeit, jederzeit mit den Kos-mokraten zu sprechen, ist einseitig«, setzte Laire ihm auseinander. »Das heißt, daß sie immer, wenn sie es für richtig halten, Kontakt mit mir aufnehmen können. Umgekehrt ist das nicht möglich. Ich kann sie zwar anrufen, aber ich kann nie sicher sein, ob sie darauf reagieren.«

»Dann versuche es!« »Das habe ich bereits getan.« »Versuch’s noch einmal!« »Ich weiß, daß es sinnlos ist«, erwiderte der

Roboter. »Aber zum Zeichen meiner Verbun-denheit mit dir will ich es tun.«

Er konzentrierte sich. Orbanaschol blickte abwechselnd zu ihm und zu mir. Ich beobach-tete ihn voller Feindseligkeit.

»Nichts«, sagte Laire nach wenigen Minu-ten. »Sie ändern ihre Entscheidung nicht.«

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Er näherte sich mir. Die Szene besaß etwas

Gespenstisches und Endgültiges. »Atlan!« rief Orbanaschol beschwörend

und ahmte wieder Perry Rhodans Stimme nach. »Du allein bist jetzt noch in der Lage, etwas zu tun. Weigere dich, auf die andere Seite zu gehen, bevor man uns nicht sagt, was dich dort erwartet.«

Mein Gesicht verzerrte sich. Ich litt schreckliche Qualen, denn ich war mir meines Dilemmas bewußt. Ich wollte mit Laire in die Daseinsebene der Kosmokraten wechseln. Ich sollte mit dem Roboter die Materiequelle pas-sieren. Und in dieser entscheidenden Stunde stand ich meinem Todfeind gegenüber. Orba-naschol. Meine Hände krümmten sich.

»Gib mir eine Waffe!« fuhr ich Laire an. »Ich will diesen verdammten Tyrannen tö-ten.«

»Er ist dein Freund«, versuchte mich der Roboter sanft zu korrigieren.

»Er ist Orbanaschol«, schrie ich zurück. Im selben Moment verschwand die Umge-

bung. Ich hörte keinen Laut. Ich sah nichts. Ich

spürte nicht einmal das charakteristische leichte Ziehen im Nacken, das bei einer Tele-portation üblich war.

*

Helligkeit und Wärme. Das waren zwei

gleichzeitige Empfindungen, die mich bis in die letzte Faser meines Körpers durchfluteten. Ich nahm sie nicht über die äußeren Sinne auf. Sie wirkten direkt auf meinen Körper und mein Bewußtsein. Dazu spürte ich keine Be-wegung. Da der Vorgang des Passierens der Materiequelle mir sowieso in seinem Charak-ter nicht bekannt war, wunderte ich mich we-der über diese Erscheinungen noch über die weiteren, die in der Folgezeit auf mich ein-stürmten.

Die Helligkeit und die Wärme waren unbe-stimmt. Sie waren da, und doch in keiner Weise greifbar oder erklärbar. Sie begleiteten mich auf meinem Gang zu den Kosmokraten wie Laire. Sie waren Selbstverständlichkeiten.

Laire? Zum erstenmal merkte ich, daß der Roboter

nicht körperlich in meiner Nähe war. Die Fra-

ge drängte sich mir auf, ob das etwas zu be-deuten hatte. Mein Extrasinn, wohl von dem vorangegangenen Training noch erschöpft, schwieg zu meinen Überlegungen. Ich ver-nahm ein leises Regen in mir, aber klare Ge-danken konnte ich nicht empfangen. Daraus schloß ich, daß es keinen Grund zur Beunru-higung gab.

Das war logisch, denn wenn Wesen, wie sie die Kosmokraten darstellten, etwas in ihre Hände nahmen, dann konnte es keine Pannen geben. So stellte ich mir das zumindest vor, wobei ich mir darüber im klaren war, daß die Begriffe »Wesen« oder »Hände« mit aller Wahrscheinlichkeit weit neben der Realität lagen.

In mir kämpften Neugier und Vernunft. Was stand mir bevor? Was erwarteten die Kosmokraten von mir? Würde ich die Interes-sen Perry Rhodans und der Menschheit wür-dig vertreten können? Würde ich die Kos-mokraten sehen?

Fragen über Fragen, aber keine Antworten. Das sogenannte Training, das ich nach dem Willen Laires absolviert hatte, war für mich unbemerkt geblieben. Ich dachte, daß es etwas mit einer Art Konditionierung zu tun gehabt haben mußte, die meine Psyche und meinen Körper betraf, nicht jedoch in mein eigentli-ches Bewußtsein gedrungen war.

Die scheinbare Umgebung änderte sich nicht. Der wohltuende und dennoch unerklär-liche Vorgang hielt an. Aber ein anderer Ge-danke drängte sich in meine Überlegungen.

Vor dem Beginn der Versetzung durch die Materiequelle war ich mit Laire und Perry Rhodan allein gewesen. Die letzten Sekunden vor dem Abschied vollzogen sich noch einmal vor meinem geistigen Auge. Mir wurde heiß, so heiß, daß ich die wohltuende Wärme als angenehme Kühlung empfand.

Ich hatte meinen besten Freund für meinen größten Feind gehalten. Für mich war Perry Rhodan eindeutig identisch gewesen mit dem längst nicht mehr existierenden Erzfeind von Arkon, mit Orbanaschol, dem Tyrannen. Nun sah ich diesen Irrtum mit aller Deutlichkeit. Perry würde mir verzeihen. Das war nicht das Problem.

Ich mußte mich der Frage stellen, wie es zu diesem Irrtum kommen konnte. War er eine

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Folge des Trainings gewesen? War am Ende gar irgend etwas an dieser unverständlichen Prozedur nicht so verlaufen, wie es Laire oder die Kosmokraten geplant hatten?

»Es hat nichts mit dem Training zu tun«, meldete sich unvermutet die Stimme des Ro-boters. Ich öffnete meine Augen weit, aber ich sah weder ihn noch etwas anderes. Die Hel-ligkeit war in mir. Nicht draußen. »Das Trai-ning mußte aus bestimmten Gründen vorzeitig beendet werden«, fuhr Laire fort. Seine Stimme klang nüchtern und sachlich.

Es war also alles in Ordnung. Ich wollte eine Frage an ihn richten, aber

mehr als eine gedankliche Formulierung war mir nicht möglich. Mein Körper gehorchte zwar dem Befehl, aber ich hörte mich selbst nicht. Auch das schrieb ich der Umgebung zu, in der ich mich befand.

Den Weg durch die Materiequelle hatte ich mir unbewußt als einen zeitlich kurzen Schritt vorgestellt. Diese Erwartung wurde nicht er-füllt. Nach meinem Gefühl war seit dem Ver-lassen Perry Rhodans bereits mindestens eine Stunde vergangen. Gleichzeitig sagte ich mir jedoch, daß dieser Eindruck täuschen konnte, denn ich besaß keinen konkreten Anhalts-punkt für irgendeine Realität.

Warum hatte Laire nicht eingegriffen, als ich der Wahnvorstellung erlegen war, in Perry Orbanaschol zu sehen?

»Es ist richtiger«, meldete sich mein un-sichtbarer Begleiter, »wenn du dir keine Ge-danken über die derzeitigen Umstände machst. Die Kosmokraten haben für alles Sorge getragen.«

Mir fiel auf, daß die Stimme Laires nun lei-ser oder ferner klang. Dann dachte ich daran, daß es dem Roboter in den letzten Minuten vor dem Abschied nicht gelungen war, einen Kontakt zu seinen Herren herzustellen.

Hatte das etwas zu bedeuten? »Die Materiequelle wird sich zum richtigen

Zeitpunkt öffnen«, teilte mir Laire nun mit. Seine wohlklingende Stimme drang nun scheinbar aus noch weiterer Ferne zu mir. Sein Satz bedeutete aber auch, daß ich mich in einem grundlegenden Irrtum befand.

Ich hatte die Materiequelle noch gar nicht passiert!

Die Helligkeit wurde eine Nuance stärker,

aber die Wärme nahm ab. Ich versuchte mich selbst zu fühlen. Die

Arme gehorchten den Bewegungsbefehlen, aber mein Leib fühlte sich an wie ein alter Schwamm. Als ich beide Hände kräftig inein-ander drückte, glitten sie durch sich selber hindurch. Ich hatte meine volle Körperlichkeit verloren.

»Es besteht kein Grund zur Sorge.« Laires Stimme war nur noch ein Flüstern. Auch konnten mich seine Worte nicht überzeugen, denn mein Verstand sagte mir, daß alles an-ders verlief als geplant. Oder war es nur mein Unterbewußtsein, das mich warnen wollte? Der Logiksektor hüllte sich nach wie vor in Schweigen.

»Der Ort der Materiequelle ist nun ...« Die letzten gemurmelten Worte wurden von

einem kalten Schweigen verschluckt, das sich über meine Sinne legte. Die Helligkeit nahm eine grelle Farbe an, die jedoch kalt und un-persönlich war.

Ich wollte nach meinem Begleiter schreien, aber meine Worte konnten das Gehirn nicht verlassen. Mein Unterbewußtsein spiegelte mir wirre Bilder einer beginnenden Panik vor. Ich empfand Angst!

Der ohnehin lose Kontakt zu Laire war ab-gerissen. Daran bestand kein Zweifel. Die Frage, die mich nun beschäftigte, war, was das zu bedeuten hatte. Sollte ich am Ende gar ohne meinen Begleiter zu den Kosmokraten gelangen? Wo war die bewußte Materiequel-le? Wer oder was lenkte nun meinen weiteren Weg?

Noch immer empfand ich keine spürbare Bewegung, obwohl mein Verstand mir sagte, daß ich mich immer weiter entfernte. Entfern-te? Wovon?

Die gleichmäßige Helligkeit hatte ihren Höhepunkt erreicht. Sie war gleißend und überall. Die anfängliche Wärme war einer einschnürenden Kälte gewichen. Ich fühlte mich wie betäubt.

Endlich empfing ich direkte Informationen aus meiner unwirklichen Umgebung. Ich konnte wieder sehen. Neuen Mut machte mir das jedoch nicht, denn mein Blick erfaßte auch nichts anderes als das, was ich zuvor unmittelbar empfunden hatte, Helligkeit ringsum. Nun aber nahm diese die Form einer

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unendlichen Wand an, die sich in einer unde-finierbaren Entfernung vor mir erstreckte.

Ich glitt langsam auf diese Wand zu, die ei-ne Grenze oder Barriere oder etwas Ähnliches sein mochte. Vorsichtig hob ich eine Hand vor das Gesicht. Ich erblickte meine Finger und die Ärmelstulpen eines Kleidungsstücks, das ich nicht kannte. Die Erinnerung an die Ereignisse während des Trainings begann zu verschwimmen. Ich vermochte nicht mehr schlüssig zu sagen, was in der letzten Zeit geschehen war.

Ohne Mühe gelang es mir nun, mich in dem Nichts zu bewegen. Ich drehte mich um, be-merkte nirgends einen festen Boden und spür-te keine Atmosphäre. Mein Körper fühlte sich jedoch wieder fest und normal an. Ich trug eine hellbraune, einteilige Kombination und halbhohe Stiefel. Ein schmaler Gürtel war um meine Taille geschwungen. Andere Ausrüs-tungsteile entdeckte ich nicht.

Jenseits der weißen Wand, die ich gegen meinen Willen ansteuerte, herrschte Dunkel-heit. Ich machte ein paar Nebelerscheinungen aus, die ich aber nicht deuten konnte. Wenn das der Ort war, von dem ich kam, dann war das die Dunkelheit. Vor mir aber lag das Licht.

Meine Angst legte sich wieder etwas, ver-schwand aber nicht zur Gänze, denn das, wo-nach ich suchte, entdeckte ich nicht. Ich konn-te nirgends eine Spur von Laire entdecken. Ich war allein in dieser Unwirklichkeit. Daß es für mich keinen Weg zurück gab, stand ebenfalls fest.

Mein Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Kosmokraten war etwas geschwunden, denn alle Eindrücke zusammen versprachen nicht den erhofften und problemlosen Gang durch die Materiequelle.

Ich rief nach dem Roboter, aber ich bekam keine Antwort. Die Weite verschluckte meine Worte.

Ein Gefühl beschlich mich, als ob Jahrhun-derte vergingen, und doch sagte mir mein Verstand, daß es nur Sekunden, allenfalls Mi-nuten, sein konnten. Die Öde und Verlassen-heit besaß etwas Totales. Sogar der Extrasinn, mein zweites Ich, meldete sich nicht. Er hatte wohl die logische Konsequenz aus den Beo-bachtungen gezogen. Hier gab es nichts zu

folgern und nichts Logisches zu denken. Si-cher war es für ihn nicht minder erschreckend als für mich, denn das Fehlen realer Anhalts-punkte schockierte.

Meine Augen waren jetzt weit aufgerissen. Immerhin sah ich etwas. Es war zwar nur eine weiße, strahlende Wand vor mir. Und eine finstere, dunkle und Furcht erregende Barriere hinter mir, aber was besagte das? Wo war vorn? Wo war hinten? Wo war die Vergan-genheit und wo die vor mir liegende Zeit?

Die Beklemmung wich einem Gleichgül-tigkeitsgefühl, das aus der Not geboren war. Mein Verstand begann, sich gegen die un-wirklichen und monotonen Eindrücke abzu-kapseln. Da war es nur zu natürlich, daß er sich einer Realität versperrte, die nach seinen Maßstäben keine sein konnte. Jetzt zählte nicht mehr der Wahn, in Perry Rhodan mei-nen Erzfeind Orbanaschol gesehen zu haben, jetzt zählte nicht mehr der Wunsch, der Menschheit einen Gefallen zu tun, durch ei-nen fragwürdigen und unklaren Schritt in eine andere Existenzebene, zu Wesen, die wir in Ermangelung besserer Begriffe Kosmokraten nannten. Jetzt zählte nicht einmal mehr der Wille zum Überleben, denn die Trostlosigkeit dieser Daseinsform war von einer grausamen Totalität, die jede Überlegung unterdrückte.

Ich sah Bilder und Wesen vor mir: Laire, der irgendwo verschwunden war. Perry Rho-dan, an dem ich mich durch meine Worte und mein Verhalten schändlich vergangen hatte, Ischtar, eine Begegnung aus Traum und Wirk-lichkeit, Gucky, der mir lachend seinen Nage-zahn entgegenreckte. Und Orbanaschol, wie er wirklich gewesen war. Daneben stand Cry-salgira, ein Wunder und unrealistisch zu der Person des Tyrannen.

Meine Gedanken wurden noch wirrer, aber ich glaubte, daß sie in Wirklichkeit an Klar-heit gewannen. Das sterbende Atlantis lebte, und das lebende Atlantis ...

... die Maahks! ES. Der Zellaktivator. Meine Gedanken sprangen zurück zu ES,

dem Mentor der Menschheit, der auch ich mich verschrieben hatte. Ich erkannte, daß mich Trugbilder irritierten. Der Hauch einer gedanklichen Willensäußerung genügte, um die Palette der Visionen aus meinem Bewußt-sein zu fegen.

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Ich erkannte wieder meine Situation. Und

doch blieb da ein Bild. Es war das Bild des ehemaligen Herrn von Wanderer, das Bild von ES. Ich wünschte mir sehnlich, von dem Geisteswesen jetzt einen Hinweis zu bekom-men, aber nichts geschah. Die weiße Wand vor mir leuchtete noch weißer und die dunkle in meinem Rücken noch schwärzer. Dennoch stimmte es mich nachdenklich, warum gerade das Bild von ES blieb, denn dies war ein höchst ungenaues Bild, da ich diese Superin-telligenz nie hautnah hatte erleben können und auch wohl nie erleben würde.

Warum gerade dieses Bild? Es war leuch-tend und stark in seinem Gehalt, sogar heller als der Wall, dem ich entgegenfiel. Es mußte einen Grund geben, daß meine Gedanken sich so an diese Vision klammerten.

Ein erster vager Verdacht keimte in mir auf, als sich die Sinneseindrücke über ES zu verändern begannen. Sie veränderten sich in einer Weise, die nicht nur jeder Logik, son-dern auch meinen Erinnerungen und meinem Gefühl widersprachen. Das Helle wich dahin, und seinen Platz nahm die Finsternis ein, die ich hinter mir sah.

Auch das konnte nicht stimmen! Ich konnte mich nicht jahrtausendelang so geirrt haben, daß ich in ES etwas Negatives sehen konnte.

Etwas oder jemand versuchte, meine Ge-danken zu manipulieren. Er versuchte, mir vorzumachen, daß ES schlecht sei. Schlecht im Sinn der kosmischen Kräfte des ewigen Kampfes zwischen den positiven und den negativen Kräften. Dieser Jemand sollte sich täuschen, sagte ich mir mit aller Konsequenz. Noch war ich da, noch lebte ich, auch wenn ich diese Form des Daseins nicht begreifen konnte. Aber nichts würde mich davon ab-bringen, den einmal eingeschlagenen Weg, der in meiner Jugend auf Arkon begonnen und der auf Terra eine unerwartete Erfüllung voller Problematik gefunden hatte, zu verlas-sen.

»Man manipuliert Atlans Gedanken nicht«, flüsterte ich gegen die Unwirklichkeit. Es kam nicht auf die Lautstärke dieser Worte an. Die Bedeutung lag nur in der Stärke, die ich aus meinem Willen heraus in den Satz legte.

In einem Sekundenbruchteil huschten die letzten Gedanken noch einmal an mir vorbei.

Die Folge der Überlegungen mündete in einen Entschluß, der seine Trotzigkeit gegen die Unwirklichkeit schleuderte.

Handle! Das Wie und Wo zählte nicht. Meine Ge-

danken sollten bestimmen, was nun geschah. Vielleicht war es ein Wunschbild.

In der gleißenden Wand schälte sich eine Veränderung heraus. Die Trugbilder, die ich nun erkennen konnte, spiegelten mir das Ant-litz von Ischtar vor. Mein Verstand wischte die Illusion aus und erfaßte die Wirklichkeit.

Das Scheingesicht veränderte sich, und es strahlte einen wohltuenden Gedanken aus, der mich anlockte. Es war weder eine Öffnung noch eine Verlockung. Es war weder eine berauschende Farbe noch ein Versprechen der von Laire im Training angedeuteten Erfül-lung. Es war Wirklichkeit.

Ich erlebte, wie sich das öffnete, worauf ich in den vergangenen Stunden so sehr gehofft hatte, die Materiequelle.

Ich mußte glauben, daß sie es war, obwohl ich nicht wußte, was genau eine Materiequelle war. Sie war etwas, und sie lockte mich an, sie öffnete sich, sie bot mir den Einlaß an in das Reich der Kosmokraten. Perry Rhodan hatte sich so sehnlich gewünscht, an meiner Stelle zu sein. Jetzt sah ich den Übergang, der mich wollte. Und das, obwohl mein Begleiter Laire nicht mehr bei mir war.

Für Sekunden stutzte ich. Die alten Zweifel drangen wieder in den Vordergrund meiner Überlegungen. Warum hatte Laire mir in dem Training die Gewißheit gegeben, an meiner Seite zu sein, wenn er jetzt nicht da war?

Hoffnung, Vertrauen und Zweifel rangen miteinander. Sie tobten sich ergebnislos aus, während ich auf die Stelle zuraste, die mich auf die andere Seite bringen sollte. Die Ver-lockungen der bizarren Formen, in denen ich die Materiequelle sah, waren stark und schön. Vielleicht schränkten sie meinen Verstand etwas ein. Aber die Geborgenheit war riesig. Zu sehen, kurz vor dem ersehnten Ziel zu sein, den Kosmokraten ins Angesicht sagen zu können, was der Wille meiner heißgelieb-ten Menschheit war, welche unausgesproche-nen Gedanken mir Perry Rhodan mit auf mei-nen Weg gegeben hatte, das alles kann selbst einen wieder nüchtern gewordenen Verstand

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erfreuen und beleben. Vielleicht war es eine falsche Euphorie, die ich empfand.

Zwei Schocks schlugen kurz hintereinander auf mich ein. Der erste Schlag war noch zu verkraften, der zweite nicht.

Wider alle Erwartungen meldete sich mein Extrasinn.

Ich räume ein, erklärte er lakonisch, daß ich auch eine gewisse Zeit benötigt habe, um die richtigen Folgerungen zu ziehen. Der Zeitverlust spielt jetzt aber auch keine Rolle mehr, obwohl ich ihn verursacht habe, denn meine Überlegungen waren zu langsam. Wenn ich dir jetzt sage, daß du, gelinde aus-gedrückt, in eine gewaltige Falle rennst, dann wäre das untertrieben. Du bist nämlich be-reits mittendrin. Die negativ veränderten Formen des Empfindens über ES. Ich habe zu lange gebraucht, sie zu deuten. Und du hast nicht gesehen, nicht gedacht und nicht gefol-gert, was geschieht.

Ich freute mich zwar, daß der Extrasinn et-was bemerkte, aber ich wischte seine Gedan-ken weg, wie man einem unliebsamen Kos-mohändler auf dem terranischen Raumhafen die Landeerlaubnis verweigerte.

Dafür war der zweite Schock um so schlimmer.

Ich sah und fühlte den Übergang vor mir. Es mußte die Materiequelle sein, die Schwelle zu dem Reich der Kosmokraten. Ihre Aus-strahlung war eindeutig und gut. Sie entsprach den Dingen, die ich in dem Training unbe-wußt gelernt hatte.

Mit frohem Herzen und allen positiven Er-wartungen strebte ich dem bizarren Gebilde aus wohltuenden Farben entgegen. Es breitete seine Fühler aus, um mich aufzunehmen und an das Ziel zu befördern.

Plötzlich verschloß sich dieser Weg. Ich sah und empfand, daß der Weg das nicht wollte, aber so geschah es. Die wohltuende Wärme und Geborgenheit verwandelte sich in eine eisige Wand aus Härte und Ablehnung. Ich prallte auf das, was ich für die Materie-quelle hielt und auch immer halten werde, aber sie wollte mich nicht.

Nein! Sie konnte mich nicht wollen. Etwas anderes schob sich dazwischen. Etwas Wol-lendes, etwas Forderndes, das Überheblich-keit und Arroganz ausstrahlte. Das war die

wirkliche Mauer, an der ich scheiterte. Ich prallte ab. Dann spürte ich die eisige Kälte des Griffs

in meinem Nacken, in meinem Kopf und in mir. Etwas riß mich aus dieser Szene heraus.

Es riß mich weiter weg, als ich je von mei-nen Terranern hätte sein können.

Es riß mich aus meinem Weg zu den Kos-mokraten, aus meinen verbliebenen Visionen und aus der unverständlichen Realität des Augenblicks. Es riß mich aber nicht aus mei-nen Empfindungen für meine Freunde, für Perry Rhodan und die Menschheit.

Die eisige Faust entfernte mich aber von dem Ort, den ich erreichen wollte. Sie zog mich hinweg von den Hoffnungen, der Menschheit zu dienen und zu helfen. Und sie betäubte meine Sinne in einer Brutalität, die ich noch nie am eigenen Leib und Geist ge-spürt hatte.

2.

Das Fremdartige, das nach mir griff und

mich aus allen meinen Zweifeln und Hoff-nungen riß, zog mich aus dem Wechselspiel von Licht und Wärme in die Kälte, die ich bereits gespürt, aber nicht genügend beachtet hatte. Es besaß eine unergründliche Tiefe und Verborgenheit, bis ich etwas von den Gefüh-len des Urhebers merkte. Da mischten sich Verzweiflung und Wahn, Hoffnung und kalte Härte, Triumph und Bedenken in einem gran-diosen Spiel durcheinander.

Harte Realität, bemerkte der Logiksektor. Ich dachte nicht anders, aber es beunruhigte

mich tief, daß ich die Hintergründe nicht er-kannte.

Noch nicht! Die Worte des Extrasinns wa-ren ein wirklicher Trost. Ich werde an deiner Seite sein, so wie ich es immer war. Aber das Unfaßbare stellt auch mich vor Probleme.

Die Dunkelheit, in die ich stürzte, war schlimmer und intensiver als die, die ich ge-sehen hatte, als ich mich in dieser fremden Sphäre einfach umgedreht hatte. Da war das Dunkel der Vergangenheit und des Herkom-mens unergründlich lichtlos gewesen. Jetzt jagte ich gegen meinen Willen, weggerissen vor dem verheißenden Tor zur Existenzebene der Kosmokraten, einem absoluten Nichts

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entgegen, das kein Dasein mehr verhieß. In der Erinnerung war noch das verheißungsvol-le Licht, die Wärme, der tiefe Wunsch der anderen Seite, mich dort haben zu wollen. Aber was zählte das? Nichts.

Der Verstand gewann wieder die Oberhand über meine subjektiven Eindrücke. Das mußte die Materiequelle gewesen sein. In diesem Punkt war ich mir sicher, obwohl der stichhal-tige Beweis fehlte. Ich hatte die Materiequelle verfehlt. Bestimmt nicht durch meine Schuld. Auch nicht durch die Laires und nicht einmal durch die der Kosmokraten, deren Willen und Wollen mir immer so fern waren wie jetzt Arkon, meine Heimatwelt.

Ich war mir inzwischen auch sicher, daß etwas anderes in die Geschehnisse eingegrif-fen hatte.

Stimmt, sagte der Extrasinn. Kurz danach spürte ich die Veränderung.

Ich hatte plötzlich festen Boden unter meinen Füßen. Hartes Gestein, signalisierten meine Nerven durch die halbhohen Stiefel unbe-kannter Herkunft.

Training. Vorbereitung. Von Laire. Mein Extrasinn warf mir seine Überlegungen wie Brocken zu, aber ich merkte, daß er von den Stiefeln sprach.

Ich hatte mich inzwischen – mein Gefühl sagte mir das – lichtjahreweit von dem Ort entfernt, den ich für das Tor zur Welt der Kosmokraten hielt, von der Materiequelle. Also, so fragte ich mich, wo war ich denn?

Die unvermutete Stimme auf gedanklicher Ebene rüttelte mich noch mehr in die unwirk-liche Wirklichkeit, als ich diese akzeptieren konnte oder wollte. Die Stimme lachte. Das Lachen war höhnisch und ...

... dreckig. So empfand ich es. Der hohn-triefende Beiklang war genau das Gegenteil von dem überheblich wirkenden, aber liebe-vollen Lachen des Geisteswesens von Wande-rer, der Superintelligenz ES.

Natürlich das Gegenteil, verhöhnte mich der Extrasinn. Weißt du jetzt, woran du bist?

Ich schwieg und lauerte auf die fremde Stimme, die mit ihren hämischen Gedanken in meinem Gehirn wühlte. Ich war mir sicher, diese Stimme noch nie gehört zu haben, aber dennoch wußte ich, daß ich sie kannte. Ir-gendwie stellte ich wohl einen falschen zeitli-

chen Bezug her. Richtig, sagte der Extrasinn. Ich wußte nicht, woran ich war. Der feste

Boden unter meinen Füßen gab mir eine inne-re Sicherheit. Aber diese genügte nicht, um mich sofort erkennen zu lassen, was gesche-hen war. Klar, ich hatte nicht mein Ziel, die Kosmokraten, erreicht. Aber, wo zum Teufel, war ich?

Und wer hatte mich kurz vor der Materie-quelle aus meinem Weg gerissen?

Anti-ES, teilte mir der Logiksektor unge-rührt mit. Es hat versucht, in deinen Gedan-ken ES als falsch zu profilieren. Es hat dir den Weg zu den Kosmokraten versperrt und dich kurz vor der Materiequelle abgefangen.

»Warum?« schrie ich. Du wirst es erfahren.

* »Heh!« Ich wollte nichts sagen, aber ich dachte ei-

nen hinterträchtigen und zweideutigen Fluch auf arkonidisch.

»Heh, Atlan. Jetzt bist du wenig mehr als eine Geisel. Immerhin lebst du noch.«

Die Stimme quälte mich, aber ich ließ mir das nicht einmal in meinen Gedanken anmer-ken. Anti-ES, so hatte mein zweites Ich ge-sagt. Erinnerungen kamen in mir auf, aber die Wesenheit in meiner Nähe nahm mir jede Chance des Nachdenkens und jeden Zweifel. Die Stimme war so hohntriefend wie das La-chen zur Einleitung.

»Diesmal habe ich den längeren Arm«, tri-umphierte das unsichtbare Wesen. »Du bist in meiner Gewalt. Die Hohen Mächte werden staunen und vor mir auf dem Boden kriechen, um ihren Schützling wiederzubekommen. Sie wollen dich, und sie brauchen dich, aber ich habe dich. Das ist der entscheidende Unter-schied.«

»Wer bist du?« brüllte ich heraus. Wieder erklang das nervenzerreißende Ge-

lächter. Noch bevor es verlief, setzte die men-tale Stimme wieder ein.

»Du weißt es doch, Arkonide. Man nennt mich Anti-ES, aber in Wirklichkeit bin ich das richtige ES. Du mußt wissen, daß nach dem Willen der Hohen Mächte, die du die

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Kosmokraten nennst, in der fernen Vergan-genheit ein Wesen aus vielen Einzelbewußt-seinen gebildet wurde, das einmal als Herr der Menschheit fungieren sollte. Dabei gab es eine Polarisierung aus zwei unterschiedlichen Bewußtseinstypen. In mir sammelten sich die starken und ausdauernden Geister, aus denen der wahre Beherrscher der Menschheit ent-standen ist. Zugegeben, ich habe mein Erbe noch nicht antreten können, denn der andere Teil dieses Entstehungsprozesses, der Teil, den du ES nennst, wurde noch nicht beseitigt. Das ist nur eine Frage der Zeit. Der, den du ES nennst, der aus schwachen und unbestän-digen Bewußtseinsinhalten entstand, spielt sich seit einiger Zeit als Mentor der Mensch-heit auf. Er lullt das Volk ein, dem auch du dienen willst.«

»Ich sehe die Sache genau andersherum«, widersprach ich laut. »Du bist der negative Part in diesem Geschehen. ES ist der positi-ve.«

»Eine lächerliche Anmaßung, Menschen-knecht. Ein Irrtum, dem ES aufgesessen ist. Und Perry Rhodan und du. Sogar die Hohen Mächte scheinen diesen Unsinn für den rich-tigen Weg zu halten. Ich werde sie eines Bes-seren belehren.«

»Wenn ich mich recht entsinne«, schrie ich meinen Spott heraus, »dann hast du den Kampf gegen ES bereits verloren.«

»Verloren? Er hat noch nicht einmal richtig begonnen. Was du meinst, war ein Vorge-plänkel, das zu einer vorübergehenden Pause führte. Der Grund dafür waren die Hohen Mächte, die in einem meiner Schachzüge an-geblich Waffen der Vierten Kategorie gese-hen haben wollen. Ich aber weiß, daß es kein Regelverstoß war. Da man mir keinen Glau-ben geschenkt hat und auch jetzt noch keinen schenkt, muß ich meine Taktik ändern. Ich passe mich den Gegebenheiten an, und des-wegen habe ich dich in meine Gewalt ge-bracht.«

Ich ahnte, was diese böse Superintelligenz damit sagen wollte.

»Wo bin ich?« wollte ich wissen. »Hier!« Wieder dröhnte das hämische La-

chen auf. »Du bist in der Namenlosen Zone, einem Raumgebiet, das für dich fremdartig sein mag. Es ist der Ort, an dem ich mich

nach dem Willen der Hohen Mächte bis jetzt aufhalten mußte. Du hast einen Schimmer der Materiequelle gesehen, als der Sog dich in die andere Richtung zog. Du hast die Materie-quelle nicht erreicht. Dafür habe ich gesorgt. Schon lange habe ich unbemerkt die lächerli-chen Vorbereitungen Laires aus der Ferne verfolgt. Deine Konditionierung verlief nicht ganz planmäßig. Das hast du wohl gemerkt. Laire, die dumme Maschine der Hohen Mäch-te, erkannte das nicht.«

»Willst du damit sagen, daß du die Ursache für meine Wahnvorstellungen warst? Du hast bewirkt, daß ich in Perry Rhodan einen Feind gesehen habe?«

Das Lachen war eine eindeutige Bestäti-gung meiner Vermutung.

»Du wurdest unbemerkt so mit meinen E-nergien aufgeladen, daß die Materiequelle dich abstoßen mußte. Ich brauchte nur noch eine Hand aufzuhalten, um dich aufzufangen, so wie man eine reife Frucht fängt, die vom Baum fällt.«

»Ich sehe nur Schwärze.« Selbst jetzt ver-suchte ich noch, wichtige Informationen zu bekommen. »Ist das die Namenlose Zone?«

»Unwissender Narr! Natürlich könnte man direkt durch die Materiequelle gelangen, wenn man zu den Hohen Mächten will. Aus deiner Sicht mag alles andere jenseits der Ma-teriequellen liegen. In Wirklichkeit liegt die Namenlose Zone aber vor der Materiequelle.«

»Das ist ein Widerspruch. Wie gelange ich zu den Kosmokraten?«

Das Lachen war anhaltend. »Es mag für dich ein Widerspruch sein, weil du nichts von den Wirklichkeiten kennst. Finde dich damit ab.«

Ich deutete diese Aussagen so, daß die Na-menlose Zone weder dem Einsteinraum ange-hörte noch dem Gebiet, in dem die Kos-mokraten existierten. Es mußte sich also um etwas handeln, was zwischen dem Einstein-raum und den Materiequellen lag. Wie dieses »Zwischen« dabei in Wirklichkeit aussah, konnte ich dahingestellt sein lassen. Mit ei-nem einfachen dreidimensionalen Bild ließ es sich bestimmt nicht beschreiben.

Nun waren aber die letzten Hoffnungen in mir zerstört. Ich hatte das von den Kosmokra-ten gesetzte Ziel nicht erreicht. Hatte ich ver-

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ATLAN 106 – Die Abenteuer der SOL

sagt? Würde man mir einen Vorwurf aus die-sem Geschehen machen und mich am Ende gar verstoßen?

Die Kosmokraten waren ein unfaßbares Rätsel, unter dem ich mir nichts vorstellen konnte. Das würde auch so bleiben. Wie wür-den sie reagieren, wenn ich nicht bei ihnen einträfe? Wenn Laire mit einem verlegenen Schulterzucken berichten würde, er habe mich aus unerklärlichen Gründen bei der Passage verloren?

Wahrscheinlich entsprachen alle meine Ge-danken und Vorstellungen nicht der Wirk-lichkeit. Wahrscheinlich stellte ich mir auto-matisch unter den Kosmokraten ähnliche In-telligenzen vor, wie es die Menschen waren. Für Anti-ES traf dieser Vergleich ganz offen-bar viel eher zu, wie ich sogleich erfahren sollte.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte ich, »wie ich nun zu den Kosmokraten gelangen kann!«

»Im Augenblick ist das natürlich unmög-lich, Arkonide, denn du bist in meiner Ge-walt. Die Kosmokraten werden nicht direkt auf die Namenlose Zone einwirken. Es wird also nur das geschehen, was ich veranlasse. Ich werde die Hohen Mächte wissen lassen, daß du in meinem Besitz bist. Und ich werde ihnen ein Geschäft unterbreiten, das sie gar nicht ablehnen können. Wenn das erfüllt ist, kannst du dich bei den Hohen Mächten aus-weinen, so lange du willst.«

»Mich würde interessieren, wie dieses Ge-schäft aussehen soll.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Wieder lachte Anti-ES laut auf. »Du bist meine Gei-sel. Mit dir werde ich noch während der ers-ten Relativ-Einheit meiner Gefangenschaft erreichen, daß ich die Namenlose Zone ver-lasse.«

*

Die gesamten Erkenntnisse, die ich gewon-

nen hatte, waren erschütternd. Das unheimli-che Wesen schwieg. Ich war allein mit mei-nen Gedanken.

Nur diffuses Licht erhellte matt den Boden unter meinen Füßen, graues und poröses Ge-stein mit einem Charakter ähnlich erstarrter

Vulkanlava. Es gab hier eine Atmosphäre, denn ich hatte keine Atemschwierigkeiten, obwohl ich keinen Schutzanzug besaß. Die Gravitation entsprach normalen Werten.

Die Absichten von Anti-ES standen damit eindeutig fest. Die Superintelligenz hatte kei-nen Grund gehabt, mir etwas zu verschwei-gen. Sie selbst sah ihre Lage klar, einmal ab-gesehen von der eigenen Bewertung und der von ES. Damit mußte ich mich abfinden, und es bedeutete schlicht und einfach, daß dieses Wesen mein Feind war. An einen Bekeh-rungsversuch war in Anbetracht der Umstän-de nicht zu denken. Wehren konnte ich mich wohl auch kaum, denn die Kräfteverhältnisse standen fest, und ich besaß keine Waffe.

Nur langsam verdaute ich den schwersten Schock. Es war schon schlimm, die Geisel dieses Bösen zu sein, aber noch mehr zählte für mich die Tatsache, daß ich nun gegen meinen Willen Perry Rhodan und die Menschheit im Stich lassen mußte. Der Weg zu den Kosmokraten war mir vorerst verbaut. Und wenn das stimmte, was Anti-ES mich hatte wissen lassen, dann würden sich die Kosmokraten auch nicht aus ihrem Daseins-raum in die Namenlose Zone begeben, um etwas für mich zu tun.

Damit war ich nicht nur ein Gefangener. Ich war von allen Dingen, die mir heilig und wichtig waren, total isoliert.

Ob ich überhaupt eine Chance hatte, mich gegen ein so mächtiges Wesen zu wehren, wie es Anti-ES darstellte, war eine andere Frage. Mein Verstand sagte nein, und der Logiksek-tor schwieg dazu. Es war durchaus normal, daß er sich nicht äußerte, wenn er keine Chance mehr sah.

Ich bewegte mich von der Stelle, setzte ei-nen Fuß vor den anderen, und versuchte da-bei, mehr zu erkennen. Der Horizont lag in Rufweite. Der Brocken Materie, auf dem ich gestrandet war, mochte nur wenige hundert Meter groß sein. Es gab keine Pflanzen oder Bebauungen irgendwelcher Art. Die vorhan-dene Schwerkraft widersprach der Größe der Masse unter meinen Füßen. So vermutete ich, daß die Gravitation künstlicher Natur war.

»Sieh dich nur um«, höhnte der Unsichtba-re. »Dann weißt du, wie es hier draußen aus-sieht, dann weißt du, daß jeder Fluchtversuch

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sinnlos ist. Wenn du genügend Eindrücke gesammelt hast, werde ich dich in ein noch sichereres Versteck bringen. Ich rechne zwar nicht damit, daß dir jemand zu Hilfe kommt, aber ich will natürlich jeden denkbaren Fehler vermeiden.«

Die Öde des Planetoiden bot nichts Erwäh-nenswertes. Nach einem Fußmarsch von eini-gen hundert Metern blieb ich stehen. Außer ein paar Höhleneingängen hatte ich nichts feststellen können. Das schwarze Firmament war sternenlos. Lebewesen gab es keine.

»Du hast nun genug gesehen«, meldete sich die Superintelligenz erneut. »Ich möchte, daß du dich nun ausschließlich im Innern des Pla-netoiden aufhältst. Du kannst einen beliebigen Eingang wählen. Der Planetoid ist weitgehend ausgehöhlt und mit Gängen und Kammern durchzogen. Du wirst ausreichend Nahrung finden, wenn du dich ein bißchen anstrengst, und stets genügend Licht. Schließlich muß ich dich erhalten, denn ein toter Atlan wäre mir nutzlos. Die Kosmokraten würden das Tauschobjekt nicht wollen.«

Wieder einmal hörte ich das hämische Ge-lächter.

»Wo bist du, Anti-ES?« fragte ich in die Dämmerung.

»Hier, Arkonide. Ich bin überall, unter dir, über dir und neben dir. Du kannst mich nicht wahrnehmen, denn du bist nichts weiter als ein körperlicher Wicht. Es ist mir ein Rätsel, warum die Hohen Mächte einen Narren an dir gefressen haben. Aber das soll mir gleichgül-tig sein. Du darfst nicht glauben, daß ich ein-mal von deiner Nähe verschwinde, wenn du mich nicht hörst. Ich warne dich, denn es gibt noch andere Sicherheitsvorkehrungen. Wenn du gegen meine Anweisungen verstößt und wieder an die Oberfläche des Planetoiden gehst oder sonst irgendwelche üblen Dinge ausheckst, werde ich dich nicht töten. Ich werde dich aber bestrafen, und diese Strafe wird so schlimm sein, daß du dir den Tod wünschst. Hast du mich verstanden?«

»Du bist mit deinem widerwärtigen Ge-schwätz kaum zu überhören, Anti-ES«, ent-gegnete ich laut. »Ich schätze, daß man auch an einem anderen Ort das Gequäke deiner verwerflichen Niedertracht vernimmt und dich demnächst in die Schranken weist.«

Mein unsichtbarer Feind reagierte darauf mit einem noch häßlicheren Lachen. Als die-ses abklang, ertönte wieder die Stimme, die tatsächlich aus allen Richtungen zugleich zu kommen schien.

»Narr! Was weißt du von den kosmischen Zusammenhängen? Was weißt du von den wirklichen Kräften und Mächten, die die Herrschaft ausüben? Nichts! Ich bin schon in den Augenblicken meiner Entstehung stärker und größer gewesen, als es sich die Hohen Mächte damals ausgerechnet hatten. Und heu-te bin ich noch stärker. Ich wachse und verän-dere mich, und niemand merkt es. Meine geis-tigen Fühler tasten sich schon aus der Namen-losen Zone hinaus. Sie haben dich vor deinem Kommen berührt, und auch das hat niemand bemerkt. Wer, so frage ich dich, soll mich in die Schranken weisen? Nichts und niemand, lautet die Antwort. Und jetzt verschwinde im Innern des Planetoiden, bevor ich die Geduld verliere und ein paar Osal’Oths auf deinen Verstand hetze.«

»Das hört sich so an«, entgegnete ich scheinbar ungerührt, obwohl ich meine Ge-fühle kaum noch kontrollieren konnte, »als ob dir nichts mehr einfällt. Nun gut. Dann warte einmal ab, was dem Arkoniden Atlan ein-fällt.«

Ich bekam keine Antwort mehr. Langsam schritt ich auf ein dunkles Tor zu,

das ich in dem zerklüfteten Gelände erblickte. Ich fühlte mich verdammt mies, aber gerade das weckte meinen Trotz.

»Superintelligenz hin, Superintelligenz her«, sagte ich leise zu mir selbst. »Mich kriegst du nicht so schnell klein.«

3.

Die rote Doppelsonne stand nun so nah,

daß ihre wärmenden Strahlen durch das große Sichtfenster in das Innere des Raumgleiters drangen. Benjamin Vouster überließ seiner Schwester die Steuerung und kümmerte sich nur um die Ortungsanzeigen.

»Ich kann nichts finden«, knurrte er nach einer Weile. »Es gibt einen großen Planeten in einer weiten Umlaufbahn um die Doppel-sonne, aber sonst nichts.«

»Da muß noch ein kleiner Himmelskörper

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sein«, antwortete Iray, ohne den Blick von den Kontrollen zu nehmen. »Ich habe ihn deutlich in dem Wachtraum gesehen, und du auch. Sein Durchmesser kann höchstens 400 Kilometer betragen.«

»Ich widerspreche dir nicht, Schwester. Nur bleiben die Anzeigen stumm.«

»Da es sich um ein besonderes Objekt han-deln muß«, vermutete die junge Frau, »müs-sen wir auch damit rechnen, daß es nicht ohne weiteres zu orten ist. Kannst du aus der Um-laufbahn des Riesen nicht bestimmen, wo noch ein kleinerer Körper sein könnte?«

»Theoretisch ja. Aber das würde Jahre dau-ern. Schließlich will ich ja auch einmal wie-der zur Erde zurück. Bitte ändere den Kurs. Wir wollen dieses System in einem großen Bogen umfliegen. Vielleicht liegt unsere Welt noch weiter draußen.«

Schweigend programmierte Iray den Auto-piloten mit dem neuen Kurs.

»Unsere Freunde und Bekannten halten uns sowieso für verrückt«, erklärte Benjamin. Zweifel schwangen in seiner dunklen Stimme mit. »Wir folgen einem verheißungsvollen Wachtraum, ohne zu wissen, was sich dahin-ter verbirgt. Vielleicht ist alles doch nur eine Utopie. Und wir machen uns lächerlich.«

»Du weißt, wie ich darüber denke«, wider-sprach Iray heftig. »Daß zwei Menschen zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten genau den gleichen Traum haben, ist absolut un-wahrscheinlich. Da muß etwas dran sein. Ich habe jede Phase der Mitteilung genau in der Erinnerung. Bis jetzt wurde jedes Detail bes-tätigt. Wir haben die rote Doppelsonne hier am südlichen Rand der Milchstraße entdeckt. Und den Riesenplaneten. Allein das bestätigt, daß es sich nicht um eine Wahnvorstellung oder einen Zufall handelt. Folglich werden wir auch unseren Planetoiden finden.«

Der Raumgleiter setzte seinen Flug mit halber Lichtgeschwindigkeit fort. Die beiden jungen Menschen schwiegen wieder. Ihre Sinne konzentrierten sich auf die Ortungsan-zeigen und die optische Beobachtung.

»Ein geheimnisvoller Planetoid, der alles Glück der Welt verspricht«, murmelte Ben-jamin wenig später. »Irgendwie glaube ich noch immer, daß daran etwas faul ist. Mein Verstand sagt mir, daß es so etwas nicht ge-

ben kann. Wir hätten vielleicht doch besser die offiziellen Stellen von Terra über unsere Träume informieren sollen.«

»Damit man uns auslacht?« Iray schüttelte den Kopf. »Oder damit man uns den Brocken vor der Nase wegschnappt und uns mit ein paar freundlichen Worten abspeist? Ich denke nicht daran.«

»Was stellst du dir denn vor, Schwester, was wir finden würden? Einen Berg voller Diamanten oder Gold oder Howalgonium?«

»Zweifler!« Ihr Zorn war nicht echt. »Aber um dir eine richtige Antwort zu geben, ich vermute eine ganz andere Art der Glückselig-keit, eine, die mehr auf geistiger Ebene zu suchen ist. So jedenfalls habe ich meinen Traum verstanden.«

Sie verstrickten sich wieder in die übliche Diskussion, die nun schon Monate andauerte und die auch nach ihrem heimlichen Start von der Erde nicht enden wollte. Darüber verga-ßen sie fast die Beobachtung der Ortungsan-zeigen. Die Bordpositronik machte die beiden auf ein neues Signal aufmerksam.

»Da ist er«, stellte Iray aufatmend fest. »Unser Glücksplanetoid.«

Benjamin vergrößerte das Signal. Unregel-mäßige Umrisse wurden erkennbar. Iray än-derte die Flugrichtung. Der Raumgleiter hielt nun genau auf das geortete Objekt zu.

»An die 300 Meter Durchmesser«, bemerk-te der Mann. »Das deckt sich mit den Aussa-gen des Wachtraums.«

»Dieser Brocken Materie wird unser zu-künftiges Schicksal bestimmen«, jubelte Iray in freudiger Erwartung. »Er wird uns von al-len Sorgen und Nöten befreien. Ich weiß es.«

»Ich hoffe, daß du dich nicht irrst, Schwes-ter. Ein Rest an Zweifel ist mir jedenfalls geblieben.«

Sie lachte und beschleunigte den Raumglei-ter. Wenige Minuten später war der Planetoid erreicht.

Sein Anblick war wenig verheißungsvoll. Äußerlich war der Brocken nichts weiter als ein unregelmäßiges und löchriges Stück Ma-terie ohne Besonderheiten. Benjamin nahm die Vermessung der Bahndaten vor, während seine Schwester die Raumanzüge auspackte.

»Merkwürdig«, stellte der Mann fest. »Ich hatte gedacht, unsere Traumwelt umkreist die

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Doppelsonne. Dem ist aber nicht so. Sie steu-ert einen Punkt an, der genau zwischen den beiden roten Sternen liegt.«

»Geschwindigkeit?« »Etwa 12.000 Kilometer pro Sekunde. Das

bedeutet, der Planetoid erreicht in 42 Jahren den fiktiven Punkt zwischen den beiden Son-nen.«

»Dann haben wir Zeit genug für eine Er-kundung.« Iray lachte befreit auf. »In 42 Jah-ren sind wir nicht mehr hier.«

Der heimliche Beobachter, der dieses Ge-spräch aufmerksam verfolgte, wußte, daß die Terranerin sich gewaltig irrte. Aber er schwieg.

*

Über fünfzig Meter waren sie bereits in das

Innere des Planetoiden eingedrungen, als Iray mit einem Ruck stehen blieb. Bis jetzt waren sie glatt und ohne Schwierigkeiten vorange-kommen. Besonderheiten hatten sie nicht ent-deckt.

»Wir sind Narren, Ben.« Die Frau deutete auf den Boden. »Hier herrscht eine normale Schwerkraft, und das ist uns deswegen nicht aufgefallen. Dabei ist das widersinnig, denn ein so kleiner Brocken Materie übt weniger als ein Zehntel Gravo aus. Etwas stimmt da nicht.«

»Wieso?« Der Mann spielte den Erstaun-ten. »Wir erwarten doch eine Wunderwelt. Warum soll sie nicht über eine Gravitation verfügen, die der unseren entspricht?«

»So gesehen, hast du recht. Dennoch be-deutet das, daß hier irgendwo künstlich eine Gravitation erzeugt wird.«

»Was nichts Besonderes für unsere techni-schen Kenntnisse darstellt. Schließlich schrei-ben wir das Jahr 3457.«

Benjamin Vouster setzte seinen Weg fort, ohne weiter auf seine verdutzte Schwester einzugehen. Seine schweren Handscheinwer-fer glitten über das tote Gestein, als erwarte er von dort eine Antwort auf seine unausgespro-chenen Fragen. Zögernd schloß sich ihm Iray wieder an.

»Keine Atmosphäre«, murmelte die Frau, »aber Schwerkraftverhältnisse, die denen der Erde entsprechen. Ich verstehe das nicht.«

»In meinem Traum habe ich hier Wunder-maschinen gesehen, die ich nicht verstehen konnte«, antwortete der Terraner. »Und die möchte ich jetzt finden. Schließlich bist auch du davon überzeugt, daß hier das große Glück auf uns wartet.«

Sie wählten willkürlich den rechten Stollen, als sich der Weg verzweigte.

»Das stimmt.« Jetzt war es Iray, der plötz-lich Zweifel kamen. »Wie sieht das große Glück aus? Die Verlockung ist da, auch jetzt noch. Aber eine klare Vorstellung habe ich nicht.«

Plötzlich lag ein dumpfes Rumoren in der Luft. Da keine Atmosphäre vorhanden war, wurden die Schallwellen nur über das Gestein übertragen und von dort über die Raumstiefel in die Körper der beiden Menschen.

»Was war das, Ben?« fragte Iray nervös. Der Mann blickte auf seine Instrumente, die

er am linken Unterarm befestigt hatte. Dann schüttelte er verwundert den Kopf.

»Ich empfange keine Signale mehr von un-serem Raumgleiter. Alle Systeme stehen auf null. Mir ist das ein Rätsel.«

Die beiden jungen Menschen starrten sich unsicher an.

»Ich habe ein verflixt dummes Gefühl in der Magengegend, Ben. Das Rumoren könn-ten die Ausläufer einer Explosion gewesen sein, die auf der Außenfläche des Planetoiden stattgefunden hat. Jemand hat unseren Raum-gleiter gesprengt.«

»Du bist verrückt. Warum sollte das je-mand tun? Wir sind schließlich ohne böse Absichten hierher gekommen. Und außerdem wartet die Glückseligkeit auf uns. Vielleicht brauchen wir ...«

Er brach plötzlich ab. »Warte hier, Schwester! Ich sehe nach«,

rief er und startete das Antriebssystem des Raumanzugs. Iray konnte ihm nur noch zuru-fen, vorsichtig zu sein. Dann war sie allein.

Sie hockte sich auf einen Felsbrocken. Ihre Gedanken gingen durcheinander. Einerseits war die klare Verheißung aus dem Traum, die sie an diesen einsamen Ort gelockt hatte. An-dererseits entsprach nicht alles der vorgesehe-nen Wirklichkeit. Dieser Planetoid strahlte plötzlich etwas Bedrohliches aus.

»Du wirst dich noch wundern«, klang es

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aus dem Helmempfänger. War das Ben? Sei-ne Stimme war so merkwürdig verzerrt.

Sie drückte die Sprechtaste und rief nach ihrem Bruder. Keine Antwort. Panik kam in ihr auf. Sie startete nun ebenfalls den Tornis-terantrieb. In ihrer Aufregung beschleunigte sie aber so stark, daß sie gegen eine Felswand prallte. Ihr Kopf schlug gegen das Helminne-re. Sie spürte noch einen Schmerz, dann wur-de sie bewußtlos.

*

Das Erwachen war von einer merkwürdigen

Leichtigkeit begleitet. Sie schwebte in der Luft. Der Raumanzug war nicht mehr vorhan-den. Sie trug nur noch die übliche Kombinati-on.

Der Raum war taghell. Das Licht kam von allen Seiten und scheinbar direkt aus den Felswänden. Sie drehte sich in der Luft, wo-bei sie heftig mit den Armen ruderte. So er-blickte sie Ben, der wenige Meter von ihr entfernt in der gleichen Lage war. Ansonsten war der Raum leer.

»Ben!« rief sie, und am Klang der eigenen Stimme erkannte sie, daß hier normale Luft-verhältnisse herrschten. »Was ist geschehen? Wo sind wir?«

Ihr Bruder glitt langsam auf sie zu, bis er sie zu fassen bekam.

»Ich fürchte«, sagte er dumpf, »wir sind in eine Falle gerannt. Unser Raumgleiter wurde tatsächlich gesprengt. Dann wollte ich zu dir starten, aber mein Flugaggregat spielte ver-rückt. Es machte sich selbständig und entführ-te mich in diesen Raum. Irgendwo muß hier ein Eingang sein. Gesehen habe ich nieman-den, aber irgendwie wurde ich betäubt. Ich kam auch gerade erst jetzt wieder zur Besin-nung. Mehr weiß ich nicht.«

»Merkst du nichts, Ben?« In seinen Augen lag Staunen, und er schüt-

telte langsam den Kopf. »Der Glaube an die glückliche Verheißung

ist verschwunden. Ich sehe alles wieder ver-dammt nüchtern.« Irays Worte klangen hohl in dem sterilen Raum wieder. »Geht es dir nicht auch so?«

»Doch, doch. Meine Gedanken sind schon einen Schritt weiter. Was sollen wir hier?«

»Als ich vorhin allein war, hörte ich eine fremde Stimme in dem Funkempfänger. Zu-erst dachte ich, du wärst das. Nun bin ich mir aber sicher, daß es jemand anders war.«

»Was sagte die Stimme?« »Du wirst dich noch wundern.« »Das habe ich ebenfalls gehört. Ich dachte,

du würdest das sagen. Ich möchte wissen, was ...«

Er brach ab und begann mit den Armen zu rudern, denn plötzlich setzte die Schwerkraft wieder ein. Sekunden später stürzten sie zu Boden.

Von irgendwoher erklang eine Stimme. Sie hörte sich künstlich und etwas verzerrt an, war aber klar zu verstehen.

»Benjamin und Iray Vouster! Macht euch bereit, denn der Entscheidungstest wird in wenigen Augenblicken beginnen.«

»Heh, Mann!« brüllte Ben. »Wer bist du? Was willst du von uns?«

»Ihr habt nicht das Recht, Fragen zu stel-len«, lautete die ungerührte Antwort des Un-bekannten. »Das erforderliche Minimum an Informationen wird euch zu Beginn des Tes-tes zur Kenntnis gebracht werden.«

Die Geschwister faßten sich an den Hän-den, aber im selben Moment zuckte eine E-nergiewand zwischen ihnen auf und schleu-derte sie auseinander. Das flimmernde Feld trennte den Raum in zwei Teile.

»Ben!« schrie Iray. »Hörst du mich?« Sie sah, wie sich seine Lippen bewegten,

aber kein Laut drang an ihre Ohren. »Ihre Steuereinheit überträgt jetzt die erfor-

derlichen Informationen«, tönte die verzerrte Stimme wieder auf. Iray nahm an, daß sie einem robotischen System gehörte. »Einer von euch beiden ist dazu ausersehen, mit sei-ner Zellsubstanz ein neues Wesen zu bilden, das vielleicht in der Zukunft und an einem anderen Ort benötigt wird. Der Glückliche, der diese Aufgabe für den großen Herrn erfül-len darf, wird durch eine Prüfung ermittelt. Der Verlierer findet ebenfalls den Tod, aller-dings nur, weil er dann überflüssig ist.«

»Wahnsinn!« brüllte die Frau aus Leibes-kräften. »Ich mache da nicht mit!«

Sie bekam keine Antwort. So richtete sie ihr Augenmerk auf ihren Bruder. Dessen Teil-raum füllte sich mit einer Substanz, die ein

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Gemisch aus Gasen und Flüssigkeiten zu sein schien. Benjamin Vouster ruderte mit Armen und Beinen, aber er versank in dem Gebräu. Iray trommelte mit den Fäusten auf die Ener-giewand, aber sie bewirkte damit nichts.

Sie mußte mitansehen, wie sich der Körper ihres Bruders langsam auflöste. Die Gase und die Flüssigkeiten wurden wieder abgepumpt. Auf dem Boden blieb eine amorphe Masse zurück, die sich kriechend bewegte und ein-zelne Pseudopodien erzeugte. Einmal bildete sich kurz eine fünffingrige Hand, dann rollte sich das Plasma zu einem Klumpen zusam-men.

Iray schlug die Hände vor das Gesicht. »Die Steuereinheit registriert das Ergebnis.

Testperson A hat sich als geeignet erwiesen. Eine Fortführung der Überprüfung ist damit überflüssig. Das Untersystem K wird beauf-tragt, die zweite Testperson zu entfernen. Un-tersystem F hat dafür zu sorgen, daß das ge-wonnene Zellplasma ausgebildet wird, so daß es mit Erreichen des Schnittpunkts zwischen den beiden Sonnen bedingt funktionsfähig ist. Mit dem Überwechseln in die Namenlose Zone wird Anti-Homunk dann vollständig aktiviert. Die weitere Ausbildung übernimmt dann der Herr.«

Iray taumelte benommen durch den Raum. Die Worte hatte sie gehört, aber ihren Sinn nicht verstanden. Unsichtbare Hände griffen nach ihr und zerrten sie fort.

Kahle Felswände flogen an ihr vorbei. Sie bekam plötzlich Atemschwierigkeiten und merkte, daß die Luft immer dünner wurde.

Sie bringen mich nach draußen, erkannte sie. Ins Vakuum. Das wird mein Tod sein.

Es gab kein Mittel, sich gegen die Gravo-felder zu wehren. Ihr Atem ging keuchend. In ihrem Gehirn breitete sich ein starker Druck aus, der sich immer mehr auf ihr Bewußtsein legte. Schließlich sehnte sie die Ohnmacht und den Tod sogar herbei.

Das unsichtbare Gravofeld stieß sie mit ei-nem starken Impuls von dem Planetoiden ab. Sie wunderte sich, daß sie noch lebte und so-gar atmen konnte. Ohne Schutzanzug hing sie im leeren Raum und trieb immer weiter von dem unheimlichen Gesteinsbrocken fort. Die rote Doppelsonne stand in der Ferne, und Iray empfand die beiden strahlenden Punkte als

die giftigen Augen einer gewalttätigen Bestie. Beruhige dich, wisperte eine Stimme in ihr.

Ich schütze dich. Du wirst nicht sterben, aber ich kann dich nicht zur Erde zurückbringen. Diese Aktion meines Gegenspielers darf nicht bekannt werden. Es würde alles noch kompli-zierter machen, denn der entscheidende Kampf zwischen ihm und mir steht unmittel-bar bevor.

»Nicht zur Erde?« flüsterte Iray benom-men. »Ich will gar nicht zur Erde. Ich will das rächen, was sie meinem Bruder angetan ha-ben.«

Dein Bruder wird viele Jahre gar nicht e-xistieren. Und an den wahren Verursacher dieses Verbrechens kommst du allein nicht heran.

»Das heißt, ich habe keine Chance, unbe-kannter Helfer.«

Vielleicht hast du eine in hundert oder zweihundert oder dreihundert Jahren. Willst du eine so lange Zeitspanne warten?

»Um Bens Tod zu rächen, warte ich bis an das Ende aller Zeiten.«

Ich sehe, daß dies dein wirklicher Wille ist. Du sollst deine Chance haben. Aber rechne nicht damit, daß sich unsere Wege noch ein-mal kreuzen. Du wirst in einer anderen Zeit und an einem anderen Ort erwachen. Dann kannst du versuchen, das schändliche Verbre-chen zu rächen. Vielleicht wird dir jemand helfen. Vielleicht triffst du deinen Feind aber auch nie.

»Woran werde ich ihn erkennen?« Dein Gefühl wird es dir sagen, Iray. Es ist

leicht, das Böse an sich zu identifizieren, wenn man damit einmal konfrontiert wurde. Und nun schlafe und vergiß alles, bis deine Stunde gekommen ist. Ich werde dir geben, was in meiner Macht steht und was mit den Regeln der Hohen Mächte vereinbar ist. Die letzten Entscheidungen werden jedoch immer bei dir liegen.

»Wer bist du? Wer ist mein Feind?« Eine unendliche Müdigkeit griff nach der

Frau. Aber sie spürte auch Wärme und Ge-borgenheit.

Das Böse hat viele Namen. »Nenne mir einen, damit ich es erkenne.«

Sie stieß die Worte mit letzter Kraft aus, wäh-rend die Umgebung bereits versank. Der Pla-

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netoid mit dem verwandelten Körper ihres Bruders und die rote Doppelsonne waren längst verschwunden.

Viele Namen, sagte der unbekannte Helfer. Einer davon lautet Anti-ES. Verlaß dich auf dein Gefühl, Iray!

4.

Die Gänge im Innern des Planetoiden

machten teilweise den Eindruck auf mich, als habe jemand die Stollen begradigt und die Wände geglättet. An anderen Stellen jedoch sah alles unberührt aus. Überall herrschte eine schwache Helligkeit, deren Herkunft ich nicht ergründen konnte. Die Schwerkraftverhältnis-se waren eindeutig überall in der gleichen Richtung. Es gab also ein echtes »Unten«, das nur künstlichen Ursprungs sein konnte.

Ich strebte rein gefühlsmäßig dem ver-meintlichen Zentrum entgegen, weil ich hier mehr zu erfahren hoffte. Über sauber angeleg-te Treppen drang ich immer tiefer in das Inne-re des teilweise ausgehöhlten Planetoiden vor. Dabei entdeckte ich mehrere seitliche Kam-mern unterschiedlicher Größe. Sie waren je-doch alle leer und schienen auch noch nie benutzt worden zu sein.

Ich stutzte erst, als ich in meiner Nähe deut-liche Geräusche hörte. Es war ein Klopfen und Stampfen, das an meine Ohren drang. Vorsichtig ging ich weiter. Der Stollen mün-dete in eine Halle, in der verschiedene Ma-schinen standen. Ich erkannte robotische Au-tomaten, wie sie zur Nahrungsherstellung und -verarbeitung benutzt wurden. Es waren ein-deutig Typen von Maschinen, wie ich sie von Arkon oder Terra her kannte. Das Klopfen kam aus einem Gerät, das in schneller Folge Konzentratwürfel ausstieß. Die kleinen Pakete fielen in einen Korb, und als dieser gefüllt war, beendete der Roboter seine Tätigkeit.

Für dein leibliches Wohl ist also gesorgt, stellte der Extrasinn fest. Dir wäre es wohl lieber, wenn du eine Maschine gefunden hät-test, die Thermogeschütze baut.

Ich ging die Wand mit den Robotern ab und fand sogar Hinweise auf verschiedene Flüs-sigkeiten, die ich hier tasten konnte. Ich wähl-te »Kaffee«, und erhielt einen Becher mit ei-ner braunen Brühe. Sie schmeckte nicht übel,

war aber eindeutig synthetischen Ursprungs. Woher hätte Anti-ES in dieser Öde auch fri-sche Naturalien nehmen sollen!

Man legt Wert darauf, daß du bei bester Gesundheit und körperlicher Verfassung bleibst, teilte mir der Logiksektor mit. Du bist etwas wert. Darin liegt deine Chance. Wenn es hart auf hart gehen sollte, wird Anti-ES dich sogar schützen. Das ist sicher.

»Wovor sollte es mich schützen?« fragte ich halblaut zurück. »Vor dem Zugriff der Kosmokraten?«

Zu meiner Überraschung antwortete eine andere Stimme. Sie klang monoton und besaß keinerlei Modulation.

»Es gibt überall Gefahren.« In einem der vielen Eingänge zu der Ver-

sorgungsstelle stand ein Wesen, in dem ich im ersten Augenblick einen Menschen zu erken-nen glaubte. Dann hatte ich das Gefühl, daß mein Blick sich trübte, denn die Umrisse der Figur schienen zu verschwimmen.

»Bist du ein Mensch?« fragte mich die Ges-talt etwas holprig.

»Soll das heißen, daß du nicht weißt, wer ich bin?« stellte ich die Gegenfrage.

»Anti-ES sagte, dein Name wäre Atlan. Ich glaube, ich habe diesen Namen schon einmal gehört.«

»Wo und wann hast du ihn gehört?« Ich beschloß, sofort nachzuhaken und die Initiati-ve an mich zu reißen. Noch ahnte ich nicht, welcher Figur ich da gegenüberstand.

»Ich weiß nicht genau.« Die verschwom-mene Gestalt schwankte leicht. »Du mußt nämlich wissen, ich bin noch nicht fertig.«

»Fertig? Womit?« »Mit mir. Aber wenn ich fertig bin, werde

ich mich an nichts mehr von früher erinnern.« »Dann solltest du mich schnell alles wissen

lassen, bevor du es vergißt. Du bist wohl auch ein Gefangener von Anti-ES, oder?«

»Nein! Nein!« Seine lappigen Arme fuch-telten wild durch die Luft. »Ich bin sein wich-tigster Helfer. Oder besser gesagt, ich soll es werden.«

»Wie ist dein Name?« Auf der glatten und haarlosen Stirn bildeten

sich steile Falten. Ich gewann den Eindruck, daß die merkwürdige Gestalt angestrengt nachdachte.

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»Vouler oder Voust«, murmelte er dann.

»Aber das zählt nicht mehr. Der Herr nennt mich Anti-Homunk.«

Ich hatte mir das nach den letzten Äuße-rungen fast gedacht. Von ES, dem Geisteswe-sen des ehemaligen Kunstplaneten Wanderer, wußte ich, daß dieses selbst nie in seiner wirklichen Form in Erscheinung trat. Ich wußte nicht einmal, ob ES überhaupt etwas besaß, das sich als »wirkliche Form«, be-schreiben ließ. So benutzte ES bisweilen ei-nen Kunstmenschen, den es Homunk nannte. Bei dem damaligen Agieren seines Gegen-spielers Anti-ES war indirekt auch ein Anti-Homunk in Erscheinung getreten. Ein ähnli-ches Wesen mußte diese unfertige Gestalt sein, wahrscheinlich eine Neuschöpfung die-ser negativen Superintelligenz.

Die erwähnten Namen deuten darauf hin, teilte mir der Logiksektor mit, daß dieser An-ti-Homunk früher ein anderes Wesen war.

»Fallen dir keine anderen Namen aus der Vergangenheit ein?« fragte ich.

»Doch.« Wieder überlegte Anti-Homunk. »Iray Vouster. Sie war meine Schwester.«

»Iray Vouster?« Ich vergaß nie einen Na-men, den ich einmal gehört hatte. Und diesen Namen kannte ich, auch wenn er keinerlei Bedeutung für mich besaß.

Bis heute besaß, korrigierte mich der Extra-sinn.

Das war richtig. Der Name Iray Vouster war zusammen mit dem von Benjamin Vouster im Zug der turbulenten Ereignisse auf der Erde aufgetaucht, als Perry Rhodans Gehirn verschollen war und ein falscher Rho-dan, ein Werkzeug von Anti-ES, versucht hatte, die Geschicke der Menschheit negativ zu beeinflussen. Die beiden Vouster-Geschwister waren auf einer Vermißtenmel-dung aufgetaucht. Allerdings hatten wir da-mals keinen aktuellen Bezug zu den wirklich wichtigen Ereignissen um das kosmische Schachspiel zwischen ES und Anti-ES her-stellen können.

Nun konnte ich annehmen, daß Anti-ES uns damals geschickt getäuscht hatte. Das halbfer-tige Wesen vor mir war zweifellos einmal Benjamin Vouster gewesen. Seine Erinnerung war getrübt. Sein Körper war stark verändert. Anti-ES mußte damals irgend etwas eingelei-

tet haben, um die Körpersubstanz Vousters zu konservieren, denn zwischen diesen Ereignis-sen und jetzt lagen schließlich rund 130 Jahre. Benjamin und Iray Vouster waren damals meines Wissens nicht wieder aufgetaucht.

Du siehst, daß Anti-ES seine Fäden schon viel früher und viel weiter gesponnen hat. Es hat eine Art Vorsorge getroffen, die es in dem Fall verwenden wollte, der nun eingetreten ist. Es wurde verbannt in die Namenlose Zo-ne. Der umgeformte Teil eines Menschen, den es damals wohl entführt hatte, begegnet dir hier als halbfertiger Anti-Homunk.

»Versuch dich zu erinnern, Benjamin Vouster«, drängte ich. »Wir sind uns zwar nie begegnet, aber ich weiß, daß du ursprünglich ein normaler Mensch warst.«

»Bist du ein Mensch?« wollte er erneut wissen. Der Einfachheit halber sagte ich ja, obwohl das nicht ganz exakt war, denn zwi-schen Arkoniden und Terranern gab es auch biologische Unterschiede. Letztlich gingen beide aber auf ein gemeinsames Vorfahren-volk zurück.

»Dann weiß ich endlich«, sagte Anti-Homunk aufatmend, »wie ich aussehen muß. Wäre es notwendig, mich genau an dein Vor-bild zu halten?«

Ich verstand nicht genau, was diese Frage bedeuten sollte.

Er ist unfertig, warf der Logiksektor schnell ein. Er schien zu befürchten, daß ich eine un-kluge oder falsche Antwort geben könnte. Er versucht, eine passende äußere Form zu fin-den. Jetzt sucht er nach einer Schablone.

Ich legte keinen Wert darauf, einen Helfer von Anti-ES zu sehen, der mir äußerlich voll-kommen glich. So gab ich ihm zur Antwort, daß er für seine angestrebte Vervollkomm-nung eine andere Haarfarbe, einen anderen Gesichtsausdruck und eine andere Körper-form wählen sollte. Er war damit zufrieden, ja fast sogar glücklich.

»Wir sehen uns wieder, Atlan«, beeilte er sich zu sagen. »Zuerst muß ich an mir arbei-ten.« Seine Gesichtszüge veränderten sich bereits. Backenknochen traten hervor, und auf dem kahlen Schädel bildeten sich schwarze Haarstoppeln. »Dann wirst du auch erfahren, welche wunderbare Aufgabe ich habe.«

Er wandte sich zum Gehen.

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ATLAN 106 – Die Abenteuer der SOL

»Warte, Benjamin Vouster!« rief ich ihm

nach. »Was soll ich deiner Schwester Iray sagen, wenn ich ihr begegne?«

Er drehte sich halb um und verrenkte dabei seinen Oberkörper, als sei dieser aus Gummi.

»Iray? Wer ist Iray? Und wer ist Benjamin Vouster? Ich habe diese Namen noch nie ge-hört.«

Dann verschwand er im Dämmerlicht des Ausgangsstollens.

Mit seiner Vervollkommnung verschwindet seine Erinnerung, stellte der Logiksektor fest.

Oder Anti-ES hat dazwischengepfuscht, dachte ich zurück.

*

Es vergingen etwa drei Tage, in denen sich

nichts Bemerkenswertes ereignete. Ich durch-streifte den Planetoiden, fand verschiedene Zonen, in die ich nicht eindringen konnte, aber keine Spur von Anti-Homunk. Von Zeit zu Zeit kehrte ich in die Versorgungshalle zurück, um Nahrung zu mir zu nehmen. Dort fand ich auch einen Platz, an dem ich schlafen oder ruhen konnte.

An die Außenseite des Planetoiden wagte ich mich noch nicht. Auch erwartete ich dort nichts, was mir aus meiner mißlichen Lage helfen würde. Anti-ES meldete sich nicht mehr. Ich vermutete, daß die Superintelligenz, über deren Möglichkeiten ich ja fast nichts wußte, anderweitig beschäftigt war.

Inzwischen kannte ich mich in Innern des Planetoiden recht gut aus. Als ich aber einige Male an Orte zurückkehrte, an denen ich be-reits gewesen war, stellte ich fest, daß Verän-derungen vorgenommen worden waren. Neue Querverbindungen zwischen den einzelnen Hohlräumen waren gebildet worden, andere waren verschwunden. Zuerst glaubte ich mich zu täuschen, aber als der Extrasinn mich an die fehlerfreie Erinnerung meines fotografi-schen Gedächtnisses erinnerte, wußte ich endgültig, daß hier jemand wirkte.

Zu hören oder zu sehen hatte ich von diesen Aktivitäten nichts bekommen. Entweder war es dieser unfertige Anti-Homunk gewesen, oder Anti-ES beeinflußte die Materie von sich aus.

Du kannst auch nicht ausschließen, mahnte

der Logiksektor, daß hier noch andere Helfer der Superintelligenz tätig sind, die du nur noch nicht bemerkt hast.

Das stimmte, obwohl ich keine mobilen Roboter hatte entdecken können. Daß Anti-ES nicht ohne solche Helfer war, stand ja fest, denn die Versorgungsanlage war rein roboti-scher Natur.

Etwas stimmte mich nachdenklich, denn es paßte nicht in meine bisherigen Vorstellun-gen. Anti-ES war verbannt worden, das war klar. Diese Verbannung erlaubte ihm jedoch eine ganze Menge Freiheiten, und das war unlogisch. Auch gab es hier, an dem Ort, an dem Anti-ES war, keine direkten Überwa-chungsmechanismen.

Du gehst von völlig falschen Voraussetzun-gen aus. Die Verbannung in die Namenlose Zone muß auch einen Sinn haben, der über das normale Maß einer Bestrafung hinaus-geht. Anti-ES hat gegen bestimmte Gesetze verstoßen. Seine Existenz wurde jedoch nicht entfernt, obwohl es eindeutig auf der Seite der negativen Mächte des Universums steht. Die Kosmokraten werden schon wissen, was sie wollen. Da die Verbannung auf zehn soge-nannte Relativ-Einheiten begrenzt ist, mußt du dich doch fragen, was danach mit Anti-ES geschehen soll. Du nimmst doch nicht an, daß es dann wieder mit all seiner Schlechtigkeit auf die Menschheit oder andere Völker losge-lassen wird?

So hatte ich dieses Problem noch gar nicht betrachtet. Das lag vor allem daran, daß ich gar nicht wußte, wie lang eine Relativ-Einheit dauerte.

Narr! Eine Relativ-Einheit heißt so, weil ih-re Länge nicht fixiert ist. Die Logik besagt, daß die zeitliche Länge erst später festgelegt wird.

»Durch wen oder was?« Wahrscheinlich durch den Gefangenen

selbst. Ich stelle mir das wie eine Art Bewäh-rung vor, die in zehn Phasen zu verlaufen hat.

»Wenn Anti-ES weiter so gegen den Willen der Kosmokraten handelt«, stellte ich fest, »dann wird schon die erste und noch nicht beendete Einheit unendlich lang dauern.«

So könnte es sein. Du darfst jedoch nicht glauben, daß meine zwar logischen, aber dennoch sehr einfachen Bilder vom Handeln

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ATLAN 106 – Die Abenteuer der SOL

der Kosmokraten auch nur annähernd deren tatsächlichen Absichten entsprechen. Ich gehe davon aus, daß wir immer nur Teilauswirkun-gen der Maßnahmen der Hohen Mächte zu spüren bekommen.

»Die Kernfrage ist doch, was sie tun, wenn sie erfahren, daß ich von dem Verbannten entführt wurde.«

Richtig. Und die Antwort kennst du auch. »Wie bitte?« Ich war wirklich über die Be-

hauptung des Logiksektors überrascht. Du unterliegst dem gleichen Irrtum wie An-

ti-ES. Du hoffst, daß die Kosmokraten etwas zu deiner Befreiung tun werden. Anti-ES ist der Überzeugung, daß sie es tun werden, und es rechnet fest damit, dadurch seine vorzeitige Aufhebung der Verbannung zu erzielen. Du bist nun fast vier Tage hier. Was ist gesche-hen? Nichts. Und es wird auch nichts gesche-hen.

»Woher willst du das wissen?« Ich weiß es, weil es logisch ist. Wenn die

Kosmokraten an deiner sofortigen Befreiung interessiert wären, hätten sie diese längst veranlassen können. Wesen, die so unbegreif-lich für uns sind wie sie, benötigen dafür kei-ne hundert Stunden. Also richten sich die In-teressen der Hohen Mächte auf etwas ande-res.

»Ich stimme dir nicht zu. Anti-ES hat uns wissen lassen, daß die Kosmokraten nicht direkt auf die Namenlose Zone einwirken. Daher ist die große Zeit verstrichen.«

Sie könnten dich auch durch ein indirektes Einwirken von hier wegholen. Denke an Laire oder Samkar, die letztlich nichts weiter als handelnde Helfer der Kosmokraten sind. Ich sage dir, Atlan, du schätzt die Verhältnisse falsch ein. Du siehst sie zu sehr auf den Be-reich begrenzt, mit dem du dich vor dem Gang durch die Materiequelle befassen muß-test. Du weißt, daß Laire eine lange und eben-falls unbestimmte Zeit des Aufenthalts jenseits der Materiequelle vorhergesagt hat. Das deckt sich mit der von mir gefolgerten Unbe-stimmtheit der Länge einer Verbannungs-Einheit von Anti-ES.

Die Mitteilungen des Extrasinns stimmten mich nachdenklich. Das hörte sich fast so an, als sei meine Entführung gar am Ende von den Kosmokraten einkalkuliert worden, um

Anti-ES eine Chance zur Bewährung zu er-öffnen. Wenn das auch nur annähernd stimm-te, dann war jedes Warten auf Hilfe von jen-seits der Materiequelle eine sinnlose Hoff-nung.

Ich ging, im Gegensatz zu den Folgerungen des Extrasinns, eher davon aus, daß die Kos-mokraten sich auf einen so billigen Erpres-sungsversuch, wie ihn Anti-ES starten wollte, gar nicht einlassen würden. Das konnte eben-so der Grund für ihre Passivität sein.

Es gab viele denkbare Möglichkeiten. Viel-leicht hatten sie mich einfach abgeschrieben und schon längst einen neuen Mann ausge-sucht, der mit Laire zu ihnen kommen sollte. Meine Grübeleien wurden beendet, als am anderen Ende des Stollens eine Gestalt auf-tauchte.

Ich erkannte sofort, daß es Anti-Homunk war, obwohl sich dieser sehr verändert hatte. Er trug nun eine schlichte Kombination von dunkelblauer Farbe, die die haarlosen Arme unbedeckt ließ. Auf seinem Kopf hatten sich dunkelbraune Haare gebildet, die allerdings wirr nach allen Seiten standen. Die Gesichts-züge waren immer noch glatt und wirkten zu künstlich, vor allem, weil keine Augenbrauen oder Falten erkennbar waren. Mit staksigen Schritten eilte die Gestalt auf mich zu.

»Hallo, Atlan!« Der Versuch eines Lä-chelns scheiterte. Es war eher eine dümmliche Grimasse, die er schnitt. »Wie gefalle ich dir?«

»Überhaupt nicht«, antwortete ich, ohne zu zögern.

»Oh!« Er amüsierte sich. »Der Herr ist mit mir sehr zufrieden.«

»Der Herr! Der Herr!« äffte ich ihn nach. »Wo steckt diese niederträchtige Kreatur denn?«

»So solltest du nicht von Anti-ES reden. Es könnte ärgerlich werden und dich bestrafen. Die Halb-Osal’Oths warten nur darauf, ein Opfer zu bekommen.«

»Was sind Halb-Osal’Oths, Benjamin Vouster?«

»Du sollst mich nicht mit diesem Namen nennen.« Er drohte mir mit beiden Fäusten, und ich sah, daß an seinen Händen die Fin-gernägel fehlten. »Und was die Halb-Osal’Oths betrifft, so sei froh, daß du sie nicht

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kennst. Sie würden deine Psyche zerstören.«

»Wenn das so ist«, entgegnete ich provo-zierend, »wäre es wohl besser, sie auf Anti-ES anzusetzen. Dein Herr scheint eine Verän-derung seiner kranken Psyche dringend nötig zu haben.«

»Ein dummer Scherz von dir.« Anti-Homunk lachte gekünstelt. Irgendwie tat mir dieses Wesen leid, auch wenn ich sein Schicksal nur ungenau kannte. Es bestand jedoch kein Zweifel für mich darüber, daß dieses Kunstwesen aus der Körpersubstanz des ehemaligen Terraners Benjamin Vouster entstanden war. Anti-ES hatte sein Zellplasma transformiert, um es für längere Zeit haltbar zu machen und zu gegebener Zeit zu einem ihm treu ergebenen Diener zu formen.

»Ich glaube nicht, daß du beurteilen kannst, was dumm ist und was nicht, Benjamin.« Ich blieb bei meinem Kurs, um durch ständige Provokation mehr zu erfahren oder doch et-was zu erreichen, was mir aus meiner Lage helfen würde.

»Genug geredet, Atlan! Geh mir aus dem Weg! Ich habe etwas zu tun.«

»Was gibt es für ein unfertiges Produkt wie dich schon zu tun?« Ich lachte laut und baute mich dicht vor Anti-Homunk auf.

»Unfertig? Du magst nicht ganz unrecht haben. Ich weiß aber, daß ich stark sein wer-de. So stark, daß ich dich zwischen zwei Fin-gern zerquetschen kann. Hah!«

Er riß bei dem drohend gemeinten Schrei seinen Mund auf, und ich sah, daß er keine Zähne besaß.

»Wir wollen einmal sehen, wer hier wen zerquetscht.« Ich packte ihn an den Oberar-men und zog ihn dicht zu mir heran. Dann stieß ich ihn ab und schleuderte ihn gegen die nächste Wand.

Grinsend kam Anti-Homunk wieder auf die Beine.

»So erreichst du nichts, Atlan«, meinte er überheblich. »Ich kann weder Schmerzen empfinden noch kannst du mir einen körperli-chen Schaden zufügen.«

Er schob sich blitzschnell an mir vorbei. Ich hielt ihn erneut fest, diesmal jedoch etwas sanfter.

»Wohin willst du?« Er starrte mich einen Moment mit seinen

ausdruckslosen Augen an. »Komm mit! Ich werde dir zeigen, was nun

geschieht«, erklärte er und schüttelte meinen Griff ab.

Ich folgte ihm schweigend durch das Ge-wirr aus Felsgängen. Unser Weg führte uns immer weiter abwärts in die Tiefe des Plane-toiden. Schließlich gelangten wir in einen Bereich, der mir unbekannt war. Vor einer blanken Felswand hielt Anti-Homunk an. Er zog ein kleines Gerät aus seiner Kombination und betätigte eine Taste. Ich erfaßte jede sei-ner Bewegungen und speicherte sie in mei-nem Gedächtnis ab. Auch der kleinste Hin-weis konnte für mich vielleicht noch nützlich sein.

Die glatte Felswand wurde durchsichtig. Dahinter wurde eine Kammer sichtbar, deren Wände nicht aus Gestein bestanden. Das war Metall. In dem Raum stand etwas, das viel-leicht ein Raumgefährt war. Es handelte sich um eine Kugel von etwa zehn Metern Durch-messer. Das obere Drittel war transparent. Dahinter erkannte ich Steuereinrichtungen und ein paar kleine Monitoren. Das Unterteil jedoch war aus einer metallähnlichen Sub-stanz. Die Kugel stand auf einem Gerüst, so daß sie nicht umkippen konnte.

»Die ÜBERZONE«, erklärte Anti-Homunk bereitwillig. »Mit ihr werde ich in Kürze star-ten. Sie arbeitet nach dem Prinzip der Gedan-kensteuerung und bewegt sich durch den O-damon-Dimensions-Korrektor.«

»Was ist ein Odamon-Dimensions-Korrektor?« fragte ich mit gespieltem Interes-se.

»Das weiß ich nicht«, gab Anti-Homunk zu.

»Auch gut. Wenn du damit startest, werde ich dich los sein. Das ist wenigstens ein er-freulicher Aspekt an der Sache.«

Mein Gegenüber lachte blöd. »Wenn du wüßtest, welches meine Mission

ist, würdest du dich noch mehr freuen.« »Vermutlich willst du dich darüber aber

ausschweigen.« »Durchaus nicht, Atlan. Anti-ES hat be-

schlossen, mich damit als Unterhändler zu den Kosmokraten zu schicken. Da sich diese nicht melden, muß es die Initiative ergreifen. Ich bin beauftragt, mit den Hohen Mächten

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über deine Freigabe zu verhandeln. Der Herr ist sich sicher, daß dies gelingen wird, denn der Preis, den er für dich verlangt, ist gering. Die Aufhebung seiner Verbannung.«

Ich antwortete nichts, zumal mir zur glei-chen Zeit der Extrasinn mitteilte, daß dieser Plan nie und nimmer funktionieren würde.

»Damit ist alles gesagt, Atlan«, fuhr Anti-Homunk fort. »Nun verschwinde in die obere Region, denn der Start steht in Kürze bevor.«

Ich tat, als ob ich einverstanden sei und als ob ich dies alles sehr begrüßte. So ergriff ich die Hand des Kunstwesens und drückte sie mit gespielter Herzlichkeit. Mit der anderen Hand klopfte ich ihm die Schultern und die Brust, bis Anti-Homunk mich abdrängte.

»Viel Erfolg!« rief ich ihm zu. »Und kehre bald zurück, damit ich diesen ungastlichen Ort schnell verlassen kann.«

Er winkte mir noch etwas verdutzt zu, wäh-rend ich durch den Stollen davoneilte.

In meiner linken Hand hielt ich Anti-Homunks kleines Steuergerät, das ich ihm bei der überschwenglichen Verabschiedung un-bemerkt aus der Brusttasche entwendet hatte.

5.

Kaum war die Sicht zwischen ihm und mir

versperrt, da spurtete ich los. Die Umgebung hatte ich mir auf dem Hinweg genau einge-prägt. Ich rannte zwei Etagen höher und nahm dann einen waagrechten Weg. Bei der nächs-ten Möglichkeit orientierte ich mich wieder nach unten. Etwa 20 Meter seitlich der Stelle, wo ich Anti-Homunk verlassen hatte, stieg ich in einem schmalen Schacht abwärts.

Mein Gefühl sagte mir wenig später, daß ich jetzt wieder auf Höhe des Niveaus war, wo die transparente Wand lag. Behutsam pirschte ich mich an diesen Ort zurück. Ich mußte zwei Umwege in Kauf nehmen, weil es keinen geraden Weg gab, aber ich gelangte nun von der anderen Seite an mein Ziel.

Vorsichtig lugte ich um die letzte Ecke. Zuerst erblickte ich schräg von der Seite die durchsichtige Wand. Ich hielt den Atem an und beugte mich ein Stück weiter vor.

Nun sah ich auch meinen Widersacher. Er suchte wie ein Verrückter in den Taschen seiner blauen Kombination, und es war für

mich nicht schwer zu erraten, wonach er such-te. Schließlich schien ihm die Erleuchtung zu kommen. Er blickte auf und rannte los, wobei er genau den Weg nahm, auf dem ich ihn ver-lassen hatte.

Kaum war er hinter der nächsten Biegung verschwunden, da zog ich das kleine Käst-chen heraus und betrachtete es genauer. Es besaß nur vier Sensortasten, zwei in einem Blauton und zwei in einem Gelbton. Dabei waren die Felder einer Farbe unterschiedlich hell. Ich verließ mich auf mein Glück und meinen Verstand.

Als ich die dunkle blaue Taste betätigte, verwandelte sich die durchsichtige Wand wieder in graues Gestein. Nun drückte ich das helle gelbe Feld. Wie ich es erwartet hatte, so geschah es. In der Wand bildete sich anstelle des Durchblicks eine richtige Öffnung. Mit wenigen Schritten eilte ich in den Raum und berührte nun wieder den hellblauen Sensor. Der Durchlaß verschloß sich, und statt dessen war die Wand wieder transparent.

Der Eingang zu dem kugelförmigen Boot lag auf der abgewandten Seite. Er war offen, und so kletterte ich hinein.

»Ich begrüße dich, Anti-Homunk«, sagte die ÜBERZONE. »Ich erwarte deine gedank-lichen Befehle zum Start.«

Hoppla! meldete sich der Extrasinn. Er war wohl nicht weniger überrascht als ich.

»Warte noch, ÜBERZONE«, antwortete ich halblaut. Gesprochene Gedanken waren immer noch die deutlichsten.

»Wie du es befiehlst, Anti-Homunk.« Am liebsten hätte ich laut gelacht. Konzentriere dich lieber auf die Gefahr.

Anti-ES wird nicht schlafen. Und Anti-Homunk wird sicher bald wieder hier auftau-chen.

Ich konnte nur hoffen, daß die Einrichtun-gen der ÜBERZONE diese Gedanken nicht hörten, denn dann wäre mein gewagtes Spiel schnell gescheitert gewesen.

Anti-Homunk soll ruhig kommen, wandte ich mich lautlos an den Logiksektor. Ich hoffe sogar, daß er kommt. Er wird sein blaues Wunder erleben.

Deine künstliche Selbstsicherheit kann dir nur schaden.

Quatsch! dachte ich zurück und kletterte

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aus der ÜBERZONE. Hier draußen war die Gefahr, daß die Einrichtungen des Raumboots meine Gedanken durchschauten, bestimmt geringer.

Ich stellte mich so hinter das Kugelschiff, daß man mich von außerhalb des Raumes nicht entdecken konnte. Lange brauchte ich nicht zu warten. Mit einem ratlosen Gesicht tauchte Anti-Homunk draußen wieder auf. Seine Blicke waren zuerst zu Boden gerichtet. Wahrscheinlich hoffte er, dort das verlorene Sensorgerät zu finden.

Dann blickte er durch die transparente Wand und tastete diese mit seinen Händen ab. Als er fest dagegendrückte, berührte ich den Öffnungsmechanismus. Der überraschte Anti-Homunk fiel vornüber zu mir herein.

Nun handelte ich wie ein Blitz. Ich verschloß den Eingang wieder und

sprang gleichzeitig in das Raumboot. »ÜBERZONE«, befahl ich. »Schott zu!

Ausgang auf! Sofort starten!« Noch während das Schiff den Empfang der

Anweisungen bestätigte, handelte es. Hinter mir flog krachend das Eingangsschott in die Verriegelung. Draußen schob sich eine Wand zur Seite. Das Pfeifen der entweichenden Luft drang leise in das Innere des Schiffes. Auf Anti-Homunk, der nun in Sekundenschnelle in ein Vakuum geriet, nahm ich keine Rück-sicht.

Die ÜBERZONE verließ den Planetoiden in schnellem Flug. Ich warf noch einen Blick zurück und sah, wie sich Anti-Homunk trotz der fehlenden Atmosphäre langsam erhob.

»Wohin?« fragte die ÜBERZONE. »Immer geradeaus«, antwortete ich.

»Schnurgeradeaus. Und wenn es dir nichts ausmacht, dann möglichst schnell.«

»Flugstufe vier?« wollte das Boot wissen. »Das ist die höchste Überlichtstufe.«

»Flugstufe vier«, antwortete ich. Innerhalb einer Sekunde war der Planetoid

von Anti-ES meinen Blicken entschwunden. Ich triumphierte, obwohl ich keine Vorstel-lung davon hatte, was nun weiter geschehen sollte. Mir kam es erst einmal darauf an, eine möglichst große Distanz zwischen meinen Entführer und mich zu bringen.

Die Namenlose Zone bot keinerlei Orientie-rungspunkte. Auch als ich die ÜBERZONE

anwies, für kurze Zeit in einen Unterlichtflug zu gehen, konnte ich nichts feststellen. Die gesamte Umgebung war ein einziges schwar-zes Meer.

»ÜBERZONE«, sagte ich halblaut. »Wo ist die nächste Materiequelle?«

»Der Begriff Materiequelle ist mir unbe-kannt, Anti-Homunk.«

»Dann sage mir, wo der nächste Übergang in das Normaluniversum liegt.«

»Normaluniversum? Unbekannt.« Durch weitere Fragen merkte ich bald, daß

die Intelligenz dieses Schiffes sich nur darauf beschränkte, gedankliche Steueranweisungen auszuführen. Darüberhinaus besaß es etwas, das es als »Umgebungstaster«, bezeichnete und das auf einem Monitor Reflexe aufzeigen sollte. Der Monitor blieb jedoch dunkel.

»Wir fliegen geradeaus weiter, ÜBERZO-NE. Besonderheiten sind mir sofort mitzutei-len! Ich muß zu den Kosmokraten.«

»Die Fluganweisungen werden ausge-führt«, entgegnete das Kugelschiff. »Der Beg-riff Kosmokraten ist mir unbekannt.«

Ich nahm in der einzigen Sitzgelegenheit Platz und behielt den Monitor so im Auge. Mein Blick war jedoch die meiste Zeit hin-ausgerichtet in die endlose Dunkelheit.

Dein Triumph hat einen Dämpfer bekom-men, nicht wahr? höhnte der Extrasinn.

»Sei still«, knurrte ich.

* Ich besaß nicht einmal eine Uhr, und an

Bord der ÜBERZONE gab es nichts, womit ich die Zeit hätte bestimmen können. So muß-te ich mich auf mein Gefühl verlassen.

Ereignislose Stunden vergingen. Ich mußte schon Lichtjahre zurückgelegt haben, ohne daß sich in der beobachteten Umgebung et-was änderte. Über die Größenverhältnisse der Namenlosen Zone besaß ich auch keine Vor-stellung. Aber irgend etwas anderes mußte es hier doch geben, sagte ich mir. Wenn der rich-tige Anti-Homunk mit der ÜBERZONE ge-startet wäre, so hätte er doch auch etwas fin-den müssen. Oder wußte dieser Kunstmensch am Ende gar, wohin er sich hätte wenden müssen?

Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß die Ü-

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BERZONE sich zu schütteln begann. Als ich mich umblickte, konnte ich jedoch nichts Be-sonderes feststellen. Wenig später hingegen veränderte sich der überall vorhandene schwarze Hintergrund. Er wurde eine winzige Nuance heller. Das Zittern der Raumkugel hielt weiter an. Es war nun so deutlich zu spü-ren, daß ein Irrtum ausgeschlossen war.

»ÜBERZONE«, fragte ich. »Was geht da vor?«

Es dauerte merkwürdig lange, bis das Schiff antwortete.

»Wir verzögern«, erklärte es schließlich unsicher.

»Was hat das zu bedeuten? Ich habe keine derartige Anweisung gegeben.«

»Das trifft zu, Anti-Homunk. Die Verzöge-rung geschieht auch nicht durch mich. Es handelt sich um eine äußerliche Einwirkung.«

Nun war ich endgültig hellwach. »Welcherart ist diese äußerliche Einwir-

kung?« Ich machte mir keine großen Hoff-nungen, von der ÜBERZONE eine brauchba-re Antwort zu bekommen.

»Vielleicht handelt es sich um die gesuchte Materiequelle«, meinte das Schiff. »Aller-dings meint Anti-ES, daß dies unwahrschein-lich ist, denn die gesuchte Materiequelle sei nicht aktiviert.«

Diese Antwort war ein kleiner Schock, den ich nur mühsam verbergen konnte. Sie bedeu-tete praktisch, daß die ÜBERZONE in ir-gendeiner Art Kontakt mit Anti-ES stand, denn wenige Stunden zuvor hatte das Kugel-schiff behauptet, den Begriff Materiequelle nicht zu kennen.

Vorsicht! warnte auch mein Extrasinn. Ich beschloß, mich langsam und behutsam

an das neue Problem heranzutasten. »Liegen irgendwelche Anweisungen von

Anti-ES vor?« »Natürlich nicht.« Das Schiff wirkte über-

rascht. »Die Anweisungen sollen doch von dir kommen, Anti-Homunk.«

Ich verstand diese merkwürdigen Zusam-menhänge nicht.

Das liegt daran, daß du keine präzise Vor-stellung von der Art der Verbannung von An-ti-ES besitzt, belehrte mich der Logiksektor. Geh davon aus, daß es eine Art stillen Beob-achter spielt.

Selbst wenn das annähernd richtig war, sag-te ich mir, so war es unerklärlich, daß Anti-ES nicht bemerkt hatte, daß ich an der Stelle von Anti-Homunk mit der ÜBERZONE ge-startet war. In irgendeiner Beziehung schien die Superintelligenz regelrecht blind zu sein. Auch mußte ich damit rechnen, daß sie längst den richtigen Anti-Homunk bemerkt haben mußte, der den Vakuumanschlag offensicht-lich überlebt hatte. Oder dieser hatte sich mit seinem Herrn in Verbindung setzen können.

Es gibt keine Anzeichen dafür, daß es so ist, lautete die Information des Logiksektors. Nut-ze also deine Zeit.

Ich starrte durch die transparente Kuppel hinaus in das Dunkel der Namenlosen Zone. Verschwommene Strukturen schälten sich allmählich heraus. Noch waren die Hellig-keitsunterschiede zum Hintergrund zu gering. Ich vermeinte aber, gewaltige Bänder zu er-kennen.

»Wir machen keine Fahrt mehr«, meldete sich die ÜBERZONE. »Der Odamon-Dimensions-Korrektor wurde neutralisiert. Ich könnte auf den Gravtrieb umschalten und es damit versuchen. Wenn du das wünschst.«

»Umschalten und in Richtung des Objekts fliegen, in dem die Materiequelle vermutet wird«, entgegnete ich. Ein schwacher Hoff-nungsschimmer kam in mir auf. Vielleicht würde ich es doch noch schaffen, zu den Kosmokraten zu gelangen. Und das aus eige-ner Kraft!

»Wir bewegen uns mit Unterlichtge-schwindigkeit«, meldete die ÜBERZONE.

Die seltsamen Strukturen wurden nun deut-licher. Auch kamen sie schnell näher. Das filigranartige Gebilde erstreckte sich nach allen Seiten. Irgendwo in der Ferne dieser Unwirklichkeit verschmolzen die Balken und Strähnen wieder mit dem ewigen Schwarz der Namenlosen Zone. Noch besaß ich keine Vor-stellung davon, was dort draußen war. Ich erhob mich aus dem Sessel und preßte mein Gesicht gegen die transparente Kuppel. Mehr konnte ich aber auch nicht erkennen.

Der langsame Flug ging weiter. Allmählich schob sich das kleine Schiff in ein endloses Gewirr aus immer heller strahlenden Fäden und Strängen. Der Vergleich mit einem drei-dimensionalen Spinnennetz drängte sich mir

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auf.

»Weiche den hellen Strukturen aus«, wies ich die ÜBERZONE an, die den Befehl sofort quittierte.

»Allerdings wird dies nur in begrenztem Umfang möglich sein«, fuhr das Kugelschiff dann fort. »Eine neue Kraft wirkt auf uns und zieht uns in eine andere Richtung.«

»Was sagt unser Herr dazu?« »Nichts, Anti-Homunk. Die Periode des

Kontrollkontakts ist längst vorüber. Das soll-test du doch wissen.«

So war das also! Anti-ES stellte von Zeit zu Zeit eine Verbindung zu dem Schiff her, und ich hätte das wissen müssen.

Versuche zu erfahren, drängte der Logik-sektor, wann der nächste Kontrollkontakt sein wird. Aber stelle eine unverfängliche Frage!

»ÜBERZONE«, sagte ich mit gespielter Verwirrung. »Die Eindrücke machen mir zu schaffen. Wann kann ich denn mit einer neuen Information von unserem Herrn rechnen?«

»Das weiß ich so wenig wie du«, kam es schroff zurück. »Achtung! Ortung!«

Ich warf einen Blick auf den Monitor. Das Gespinst gab hier ein bereits deutliches Echo ab. An einer Stelle, an der viele der dunkel-blauen Bänder zusammenliefen, war ein grö-ßeres Gebilde zu erkennen. Es schimmerte bei der direkten Beobachtung kaum heller als der schwarze Hintergrund, aber auf der Ortungs-anzeige bildete sich ein besonders starkes Signal. Es handelte sich um einen kugelför-migen Körper, der mit vielen Auswüchsen besetzt war.

Eine Raumstation, vermutete der Extrasinn, von der aus energetische Bahnen gleich ei-nem Netz gesponnen werden. Der Zweck ist jedoch unklar.

»Gravtrieb ist neutralisiert«, meldete die ÜBERZONE. »Wir treiben aber weiter auf das deutliche Echo zu. Soll ich einen Flucht-versuch durchführen?«

»Nein«, antwortete ich schnell. »Ich möch-te aber wissen, wie dieser Fluchtversuch aus-sehen soll.«

»Anti-ES hat mich nicht umsonst gewarnt«, nörgelte die ÜBERZONE überheblich. »Du bist tatsächlich noch sehr unfertig. Der Herr hätte besser daran getan, noch ein paar Tage für deine Konditionierung aufzuwenden, denn

du scheinst vieles vergessen zu haben. Da die ÜBERZONE ein Teil der Materie des Herrn ist, ist auch jederzeit eine Rückkehr zu ihm möglich. Du brauchst es nur zu wollen, dann führe ich die Flucht aus.«

Ich hatte wieder etwas Wichtiges in Erfah-rung gebracht, aber so erfreulich wie das war, so unerfreulich war der Inhalt dieser Informa-tion. Ich wollte ja weg von Anti-ES! Und nie wieder in seine Nähe. Wenn dieses merkwür-dige Raumboot über eine solche Möglichkeit verfügte, konnte es selbst oder auf Geheiß von Anti-ES diese jederzeit aktivieren. Dann würde ich sehr schnell wieder in meine alte Gefangenschaft geraten.

Es wäre angebracht, meinte der Extrasinn folgerichtig, wenn du bei der erstbesten Gele-genheit von Bord gehst.

Richtig war das schon, aber die Frage war, wohin. Bis jetzt hatte ich in der Namenlosen Zone keinen einzigen Stern oder Planeten entdecken können.

Unser Kurs zeigte weiter auf den Knoten in dem Gespinst. Allmählich bekam ich eine ungefähre Vorstellung von der Größe des Ge-bildes, obwohl eine exakte Schätzung bei den merkwürdigen Lichtverhältnissen und der fehlenden Vergleichsmöglichkeit unmöglich war. Ich schätzte den eigentlichen Kern auf einen Durchmesser von mindestens zehn Ki-lometern.

Wir passierten eine der blauen Bahnen, die sich hier immer dichter kreuz und quer durch das Nichts schoben, in unmittelbarer Nähe. Die Dicke des kreisrunden »Fadens« betrug etwa 50 Meter. Zweifellos handelte es sich um reine Energie, denn es herrschte eine ge-ringe Durchsichtigkeit vor, und im Innern bewegte sich etwas wie träg fließende Flüs-sigkeiten.

Mein Traum von der Materiequelle war schnell wieder zerronnen. Auch wenn ich nicht wußte, wie eine Materiequelle wirklich aussah, das hier war keine.

Ich konzentrierte meine Beobachtungen ganz auf den Knoten, den die ÜBERZONE noch immer unfreiwillig ansteuerte. Je näher ich herankam, desto deutlicher schälten sich Einzelheiten heraus. Die Oberfläche war runz-lig und uneben. Zweifel über den Verdacht, eine Raumstation vor mir zu haben, kamen

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auf. Das Ding erinnerte mich eher an ein ü-berdimensionales Lebewesen.

Wenig später entdeckte ich tatsächlich ge-ringe Bewegungen in den Auswüchsen und ein schwaches Pulsieren der Oberfläche.

Die Spinne in einem überdimensionalen Energienetz. Der Vergleich des Extrasinns traf den Nagel auf den Kopf.

Auch die Robotintelligenz der ÜBERZO-NE schien etwas Ähnliches zu vermuten.

»Ich befürchte«, erklärte das Schiff, »daß dies eine Falle ist. Ich rate dringend dazu, sofort zu fliehen.«

»Dafür ist immer noch Zeit«, entschied ich. »Wir wollen sehen, ob wir hier etwas über die Materiequellen und die Kosmokraten erfah-ren. Schließlich hat der Herr mich mit einem Auftrag losgeschickt, und den möchte ich ausführen.«

»Wie du meinst, Anti-Homunk«, antworte-te die ÜBERZONE gekränkt.

Das Ding dort draußen wurde immer riesi-ger. Damit erkannte ich die schwachen Ei-genbewegungen auch immer besser. Große Öffnungen entstanden, in denen es grell schimmerte. Einige schlossen sich wieder, und andere verschmolzen zu einem gewalti-gen Loch, das mich an ein gefräßiges Maul erinnerte.

Jetzt rate auch ich dir zur Umkehr, beeilte sich der Extrasinn. Sei nicht so stur!

So bedrohlich der Anblick auch war, ich wollte um alles in der Welt nicht zurück zu Anti-ES. Meine Neugier überwog jeden Ge-danken an Flucht und jede Überlegung zu einem vorsichtigen Handeln. Ich wollte end-lich wissen, was hier in der Namenlosen Zone existierte. Dazu kam ein unbestimmtes Ge-fühl, das besagte, daß mir keine wirkliche Gefahr drohte, auch wenn es nach den Äußer-lichkeiten diesen Anschein hatte.

»Fremde Gedanken«, teilte die ÜBERZO-NE mit.

»Inhalt?« »Nicht identifizierbar, Anti-Homunk. Noch

ist es Zeit für eine Umkehr. Gleich ist es zu spät.«

»Stelle die Gedanken auf dem Monitor dar«, ordnete ich an.

In den wirren Mustern auf dem Bildschirm erkannte ich etwas, das ich als freudig geöff-

nete Arme deutete. Keine vielversprechenden Aussichten, du

Narr! schimpfte der Logiksektor. Selbst die dumme Bordintelligenz der ÜBERZONE ist dir überlegen. Kehr endlich um!

Noch trennten uns vielleicht fünfzig oder hundert Meter von der großen Öffnung. Mein Entschluß stand fest, auch wenn es wie reiner Wahnsinn schien.

Ganz langsam und behutsam klang ein lei-ses Lachen in meinem Kopf auf. Es war das ungleichmäßige Lachen eines Kindes. Dazwi-schen vernahm ich glucksende Laute, bei de-nen sich die Ränder der großen Öffnung be-wegten.

»Komm nur, Fremder«, sagte eine Stimme, die von einer fünfjährigen Terranerin hätte stammen können. »Der Zweig Ahratonn be-grüßt dich ganz herzlich. Es grenzt an ein Wunder, daß du gerade bei mir erschienen bist.«

6.

Das Maul verschlang die ÜBERZONE mit

atemberaubender Geschwindigkeit. Glitzern-de Wände flogen draußen vorbei. Alles ging so schnell, daß die Lichtpunkte zu wirren Streifen verzerrt wurden. Ich konnte nicht erkennen, ob das organische Masse, Felsge-stein oder Metall war. Abzweigungen und Hohlräume tauchten auf und verschwanden wieder. Die Szene war beängstigend und ge-spenstisch.

Die ÜBERZONE schwieg, und auch der Extrasinn enthielt sich jeden Kommentars. Immer tiefer ging es in den Körper hinein. Für Sekundenbruchteile sah ich Schatten und Lichter vorbeihuschen, die über eine eigene Bewegung quer zu der des Raumboots besa-ßen. Waren das Lebewesen oder Roboter? Ich vermochte es nicht zu entscheiden.

Der oder das Unbekannte, das sich Zweig Ahratonn genannt hatte, meldete sich zu-nächst nicht mehr. Ich spürte aber die perma-nente Gegenwart einer mentalen Kraft. Ihre Gedanken konnte ich nicht entschlüsseln.

Endlich wurde die rasende Fahrt langsamer. Die Schatten verschwanden, und ich fand mich in einer riesigen Halbkugel wieder. Die ÜBERZONE sank in der Mitte der Grundflä-

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ATLAN 106 – Die Abenteuer der SOL

che zu Boden. Der Untergrund schwankte leicht. Es dauerte mehrere Sekunden, bis sich die Lage der ÜBERZONE stabilisiert hatte.

Der Magen des Ungeheuers, sagte der Ext-rasinn sarkastisch.

Guten Appetit, dachte ich zurück. Dann wandte ich mich an das Schiff.

»Öffne den Ausstieg, ÜBERZONE!« Wortlos wurde meine Anweisung ausge-

führt. Ich kletterte ins Freie. Der Raum war schätzungsweise 500 Meter

hoch, und sein Bodendurchmesser war dop-pelt so groß. Die Innenwände waren unregel-mäßig, also nicht glatt. Sie besaßen tatsäch-lich eine gewisse Ähnlichkeit mit den Häuten eines überdimensionalen Magens. Die Hellig-keit kam aus einer Unzahl von porenartigen Gebilden. Ferner entdeckte ich etwa ein Dut-zend Ausgänge. Durch einen davon mußte ich hereingekommen sein.

Die Luft roch etwas stickig, aber sie war gut atembar. Auch die Gravitation stimmte einigermaßen. Ich setzte vorsichtig ein paar Schritte voreinander und beobachtete dabei, daß ich mit meinen Stiefeln deutliche Aus-beulungen in dem Boden erzeugte, die sich beim Weitergehen jedoch schnell wieder glät-teten. Das war organische Substanz. Daran bestand nun kein Zweifel mehr.

»Zweig Ahratonn!« rief ich laut. »Hörst du mich?«

Das Echo meiner Stimme prallte auf mich nieder wie ein tosender Sturzbach.

»Du brüllst wie Eppletonn«, antwortete die kindliche Stimme. Sie schien von allen Seiten zu kommen und direkt in meinem Kopf hör-bar zu werden. »Das finde ich nicht gut.«

»Entschuldigung«, sagte ich gedämpft. »Schon gut, A... Anti-Homunk.« Und eine

Sekunde später fügte sie hinzu: »So muß ich dich wohl vorerst nennen, oder?«

Ich war etwas ratlos und beschloß, nicht auf dieses Problem einzugehen. Es kam jetzt dar-auf an zu klären, wo ich mich befand.

»Ich sehe dich nicht, Zweig Ahratonn«, entgegnete ich daher. »Wo bist du?«

»Bei mir. Und sag nicht immer Zweig zu mir. Es genügt, wenn Eppletonn das betont. Ich heiße einfach Ahratonn.«

»In Ordnung, Ahratonn. Wo bin ich?« »Du bist noch unwissender als ich.« Ahra-

tonn kicherte. »Aber du wirst mir sicher nicht freiwillig sagen, was du hier willst, oder?«

»Ich dachte, du könntest meine Gedanken lesen.«

Wieder erklang das amüsierte Gekicher, das jedoch keine überheblichen Beiklänge besaß. Es war eher so, daß Ahratonn sich freute.

»Ein alter Grenzwächter kann auch nur die Gedanken lesen, die ein Flüchtling freiwillig preisgibt Wußtest du das nicht?«

Ich versuchte, mir aus dem Gehörten ein erstes Bild zu machen. Ahratonn war wohl ein Wesen, das Wesen, in dessen Innerem ich jetzt war. Dann gab es da noch irgendwo ein anderes Wesen namens Eppletonn. Das Wort Grenzwächter stimmte mich nachdenklich. Befand ich mich an der Grenze der Namenlo-sen Zone?

»Ich wußte das nicht. Ich weiß auch nicht, was ein Grenzwächter ist oder welche Funkti-on er ausübt. Ich nehme aber an, daß du ein Grenzwächter bist.«

»Ich bin nur der Zweig Eppletonns oder genauer gesagt, einer seiner Zweige. Daher darf ich mich noch nicht als vollwertigen Grenzwächter bezeichnen. Mein Energienetz ist noch zu dünn. Freilich war es stark genug, um dich einzufangen. Wohin willst du?«

»Das ist eine lange Geschichte, Ahratonn. Ich suche eine Materiequelle, durch die ich zu den Kosmokraten, die man auch die Hohen Mächte nennt, gelangen kann.«

»Du mußt ein Verrückter sein«, antwortete Ahratonn betrübt. »Natürlich, so muß es sein. Du kommst aus der Sektion der Verbannten und willst zu den Hohen Mächten! Wenn Eppletonn das hört, sprengt er sich und diesen ganzen Abschnitt in die Luft. Du weißt, wel-ches Schicksal dem blüht, der der Verban-nung entfliehen will. Er muß an seinen Ort zurück, und dort beginnt seine laufende Rela-tiv-Einheit erneut. So hat Eppletonn es mich gelehrt.«

»Ich bin kein Verbannter«, stieß ich erregt hervor, denn ich merkte, daß das seltsame Gespräch in eine völlig falsche Richtung lief. »Ich wurde von einem Verbannten vor dem Erreichen der bewußten Materiequelle abge-fangen und in die Namenlose Zone entführt. Nun ist es mir gelungen, dieses kleine Raum-

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schiff in meine Gewalt zu bringen und dem zu entfliehen, der mich als Geisel gegenüber den Hohen Mächten benutzen will.«

Wenn die ÜBERZONE das gehört hat, nör-gelte der Logiksektor, dann weiß auch Anti-ES sehr bald, daß nicht Anti-Homunk unter-wegs ist.

Mir war das egal, denn ganz offensichtlich war ich vom Regen in die Traufe gekommen.

Ahratonns Lachen klang nun schon viel un-zufriedener.

»Eppletonn war ein guter Stamm. Ich habe wirklich viel von ihm gelernt. Ich will ein braver Zweig sein. Eppletonn hat immer ge-sagt, daß die Flüchtigen mit den unmöglichs-ten Geschichten versuchen würden, einen Grenzwächter zu überreden. Und du versuchst das tatsächlich. Eppletonn hat das gewußt, obwohl er in seinem ganzen Dasein nie etwas eingefangen hat. Aber er hat es gewußt.«

»Ich habe nur die Wahrheit gesagt, Ahra-tonn«, versuchte ich es noch einmal.

»Schweig, Atlan!« herrschte mich die kind-liche Stimme an. »Die Bonosos werden sich mit dir befassen, während ich mich mit Epple-tonn in Verbindung setze.«

Auf weitere Fragen und Bemerkungen be-kam ich keine Antwort mehr.

Ich gebe dir einen Rat, sagte der Extrasinn. Begib dich in den Schutz der ÜBERZONE.

Als ich mich umdrehte, um auf das Luk zu-zugehen, öffnete sich der Boden unter meinen Füßen, und ich fiel in eine nicht enden wol-lende Tiefe und Dunkelheit.

*

Die Aufprall war federnd und teigig. Die

Fläche, gegen die ich knallte, warf mich zu-rück in die Höhe, wo ich meinen Körper in der Luft drehte, so daß ich diesmal auf den Beinen landete und sofort festen Halt fand.

Die Luft war warm und schwül. Gedärme oder ein Nebenmagen, hetzte der

Extrasinn. Er schien sich völlig gegen mich gestellt zu haben.

Ich stieß einen kurzen Laut aus. Da ich kein Echo vernahm, mußte es sich um einen sehr kleinen Raum handeln.

Das ist kein Raum, du Narr! Das ist ein Teil der Eingeweide Ahratonns!

Die Dunkelheit war bedrückend. Die Stille ebenfalls. Aber das sollte nicht lange so blei-ben. Ein Geräusch erklang, als ob sich mehre-re Wasserhähne gleichzeitig geöffnet hätten. Keine Sekunde später wurde ich von einer unangenehm riechenden Flüssigkeit über-schüttet. Der Geruch war mir unbekannt. We-nig später stand ich bis zu den Knien in der Brühe. Nun endlich brach der Strom ab.

Etwa ein Dutzend winziger Lichtpunkte lösten sich aus dem Dunkel und kamen auf mich zugeschossen. Ehe ich mich’s versah, klebten sie an meinem Körper, auf der Kom-bination und einige auch auf meinen unbe-deckten Unterarmen. Ich versuchte, sie weg-zuwischen, und fühlte dabei kleine, wurmähn-liche Körper.

»Säurefest«, sagte eine leise Stimme in meiner Nähe.

So ein Unsinn, dachte ich. Wenn das eine Säure gewesen wäre, wäre von mir nichts übriggeblieben.

Es ist wirklich ein Jammer, klagte der Ext-rasinn mit gespielter Ironie, daß du für deinen Leichtsinn und deine Sturheit nicht bestraft worden bist.

»Was nicht ist, kann noch werden«, ent-gegnete ich mit dem gleichen Zynismus.

Ein lautes Gluckern wurde hörbar. Die Flüssigkeit verschwand schnell im Boden.

Zu den leuchtenden Würmchen gesellten sich viele hundert weitere. Sie kamen aus al-len Richtungen. Diesmal blieben sie jedoch in einigen Metern Abstand von meinem Körper. Es mußten mehrere tausend von ihnen sein. Ihre vielen winzigen Lichtpunkte erhellten nun den Raum. Dieser glich in seiner Grund-form dem schon mir bekannten, wo jetzt noch die ÜBERZONE stand – oder nicht. Er besaß jedoch keine Ausgänge, und an der Decke waren mehrere mannsgroße Löcher zu erken-nen.

Die Würmchen – ich zweifelte nicht daran, daß dies die von Ahratonn erwähnten Bono-sos waren – schwebten um mich herum. Sie besaßen keine Flügel, also hielten sie sich durch einen anderen Mechanismus in der Hö-he. Die Tierchen waren so groß wie mein kleiner Finger, hatten vorn ein Köpfchen und am hinteren Ende das Leuchtorgan.

»Glühwürmchen«, sagte ich zu mir selbst.

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Unsinn. Das sind die Bakterien des Ver-

dauungstrakts dieses Wesens, behauptete der Logiksektor.

»Du solltest mir lieber vernünftige Ratsch-läge geben oder schweigen«, antwortete ich ungehalten.

Ich muß dich auf alle denkbaren Gefahren aufmerksam machen.

Da es keinen Sinn hatte, mich mit meinem zweiten Ich zu streiten, wandte ich mich der leuchtenden Wolke der Bonosos zu.

»Wer von euch hat festgestellt, daß ich säu-refest bin?«

Die Winzlinge schienen mich tatsächlich zu verstehen, denn sie schwirrten sofort wild durcheinander, als meine Worte erklangen.

Oder sie empfangen deine Gedanken. Ahra-tonn konnte das ja auch.

Ich machte mit beiden Händen eine Geste der Friedfertigkeit, worauf sich einer der leuchtenden Bonosos aus dem Pulk löste und sich auf meiner ausgestreckten Hand nieder-ließ.

»Hallo«, sagte ich. Gleich beißt er dich, meinte der Logiksek-

tor. Ich schenkte ihm keine Beachtung. »Hallo«, antwortete das kleine Wesen. »Du

bist Atlan, sagt Ahratonn.« »Das stimmt«, gab ich zu. »Und wie ist

dein Name?« »Ich habe keinen Namen, ich bin nur ein

Bonoso.« »Gut. Ich werde dich Eins nennen.« Mir

fiel im Augenblick nichts Besseres ein. »Eins?« Der kleine Kopf auf dem Wurm-

körper bewegte sich hin und her. »Dann sage lieber Janf zu mir.«

»In Ordnung, Janf. Was kann ich für dich tun?«

»Wir haben die Aufgabe«, erklärte Janf, »in Erfahrung zu bringen, was du hier wirklich willst. Wir können die Wahrheit aus dir her-auspressen.«

»Ich beabsichtige nicht, etwas zu ver-schweigen«, erklärte ich ehrlich.

»Das hast du Ahratonn auch gesagt, aber du hast dich nicht an deine Worte gehalten.«

»Das war ein Mißverständnis, Janf«, lenkte ich weiter ein. »Ich weiß nichts über Ahra-tonn und diesen Ort. Da kann es zu Miß-verständnissen kommen.«

»Wir wollen dir das zunächst glauben, At-lan. Was willst du wissen?«

Kein Wort von der Materiequelle und den Hohen Mächten! warnte mich der Extrasinn, und diesmal hörte ich auf ihn.

»Wer ist Ahratonn? Wo bin ich? Wer seid ihr?« sprudelte ich heraus. »Was ist ein Grenzwächter? Welche Aufgabe hat er?«

Die Bonosos flüsterten alle durcheinander. Da sie dabei eine Sprache benutzten, die mir gänzlich unbekannt war, verstand ich sowieso nichts. Erst eine Weile später kehrte wieder Ruhe ein, und Janf konnte antworten.

»Ahratonn sagte uns, du seist der Vorbote eines Verbannten, der die hiesigen Verhält-nisse kennen muß. Wie ist es dann möglich, daß du nichts davon weißt?«

Ich stellte zunächst bedauernd fest, daß der Winzling keine meiner Fragen beantwortet hatte, machte aber weiter gute Miene zu die-sem bösen Spiel.

»Ich habe es Ahratonn schon erklärt, und er hat es selbst auch gemerkt. Ich bin dieser Bote nicht. Ich bin einer, der von dem Verbannten, der Anti-ES genannt wird, als Gefangener oder als Geisel gehalten wurde. Ich konnte den erwähnten Vorboten Anti-Homunk aus-schalten und an seiner Stelle diesen Ort errei-chen.«

»Das klingt völlig unglaublich«, behauptete Janf. »Kein Wesen könnte das. Im übrigen ist es unsinnig, diesen Ort aufzusuchen.«

Ich stöhnte auf, denn diese Unterhaltung war mehr als mühsam.

Reiß dich zusammen, drängte der Extrasinn. »Ich wußte ja nicht, wohin ich mich wen-

den sollte, Janf«, sagte ich daher. »Also flog ich aufs Geratewohl los und kam hierher.«

»Wir werden später feststellen, in welchen Punkten du die Wahrheit sagst.« In den Wor-ten des Bonosos lag eine spürbare Drohung. »Nun aber zu deinen Fragen. Ich werde sie dir beantworten. Vielleicht siehst du dann ein, wie unsinnig deine Antworten und dein Han-deln oder beides sind. Danach kannst du dir überlegen, ob du uns weiter belügen willst.«

Der Winzling hob von meiner Hand ab und schwebte ein paar Zentimeter in die Höhe.

»Ahratonn ist der Zweig eines alten Grenzwächters namens Eppletonn. Du befin-dest dich hier in Ahratonn, denn er hat mit

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den Kräften seines Energienetzes dein Schiff in seinen Körper gezogen. Wir sind die Bono-sos, Helfer für alles im Innern des Körpers von Ahratonn.«

»Weiter«, drängte ich, als Janf schwieg. »Was ist ein Grenzwächter? Was ist die Na-menlose Zone? Was ist jenseits von ihr?«

»Die Grenzwächter bestehen aus Stämmen und Zweigen. Letztere sind Ableger des Mut-terkörpers, die später einmal selbst Stämme werden. Die Namenlose Zone ist in bestimmte Räume und Regionen unterteilt. Niemand darf seine Zone ohne die Genehmigung der Grenzwächter verlassen. Es kommt allerdings nur sehr selten vor, daß jemand überhaupt versucht, einen Grenzwächter zu übertölpeln. Damit die Absicherungen undurchdringbar sind, bauen die Grenzwächter umfassende Energienetze, in denen sich jedes Objekt ver-fangen muß. Unseres Wissens sehen nicht alle Abschnitte der Namenlosen Zone so aus, aber gewiß ist das nicht.«

»Was ist die Namenlose Zone, Janf? Wo befinde ich mich hier? Du mußt wissen, daß ich nicht der Namenlosen Zone entstamme.«

»Eine interessante Behauptung, Atlan. Da die Namenlose Zone aber alles ist, was es gibt, von den Hohen Mächten einmal abgese-hen, kannst du nur von hier stammen.«

Ein begrenztes Weltbild, klärte mich der Logiksektor auf. Das war überflüssig, denn aus den Worten des Bonosos hatte ich das auch erkannt. Es ist unsinnig, weitere Fragen in dieser Richtung zu stellen.

»Vielleicht habe ich durch einen unbekann-ten Einfluß vergessen, woher ich stamme«, lenkte ich erneut ein. »Ich hätte nun noch gern gewußt, was es außer den Grenzwächtern in der Namenlosen Zone noch an Leben gibt.«

»Es gibt andere Lebensformen. Die neutra-len Wesen sind wohl die häufigsten. Sie erfül-len Aufgaben wie die Grenzwächter, dienen also der Erhaltung des Ganzen. Welcherart ihre Aufgaben sind, wissen wir nicht, denn es ist ohne Bedeutung. Auch kennen wir ihre Namen nicht. Da du aus dem Raum der Ver-bannten kommst, kennst du sicher die Zäh-ler.«

»Ich habe noch nie davon gehört«, antwor-tete ich.

»Vielleicht, Atlan. Wir werden in Erfah-

rung bringen, ob du wirklich alles oder fast alles vergessen hast. Dann können wir dich überführen.«

»Überführen?« »Natürlich. Du wirst an den Ort deines Ur-

sprungs zurückkehren müssen. So verlangen es die Regeln der Hohen Mächte.«

»Das wäre mein Tod.« »Falsch! Dein Tod wäre es, wenn du die

Schwelle überschreiten würdest, die die Grenzwächter selbstlos und ewig hüten.«

Es war wirklich zum Verzweifeln. Die gan-ze Fremdartigkeit dieser Denkweise machte mir zu schaffen. Da der Logiksektor schwieg, schien es ihm nicht anders zu ergehen.

»Mit dem Gedanken, ich könnte von einem Ort außerhalb der Namenlosen Zone kom-men, beschäftigst du dich wohl gar nicht mehr, Janf?«

»Nein, warum sollte ich das tun?« entgeg-nete der Bonoso.

Es hat keinen Sinn, stellte auch der Extra-sinn fest.

»Ihr oder Ahratonn oder Eppletonn oder ir-gendein anderer Grenzwächter muß doch in der Lage sein festzustellen, daß ich die Wahr-heit sage«, begehrte ich auf. »Ich muß zu der Materiequelle finden, die mich zu den Kos-mokraten oder den Hohen Mächten führt. Ist das so schwer zu verstehen?«

»Deine Behauptung ist völlig abwegig und absurd. Aber die Wahrheit können wir fest-stellen. Ahratonn wartet schon darauf. Er hat bereits eine Wurzel zu seinem Stamm Epple-tonn geschlagen, der sicher auch wissen will, welch merkwürdiges Objekt uns in das Netz gegangen ist.«

Meine letzte Hoffnung, durch einen Wahr-heitsbeweis den Dingen noch eine positive Wende geben zu können, wurde schnell zer-schlagen. Die Bonosos stürzten sich auf ein unhörbares Kommando auf mich. Im Nu war ich von den Winzlingen umringt. Meinen Kopf ließen sie frei.

Als sie wieder von mir abließen, war ich splitternackt. Meine Kombination und die Stiefel waren verschwunden.

Ein schriller Schrei aus vielen tausend win-zigen Kehlen lag plötzlich in der Luft. Die Bonosos versammelten sich vor meinem Zel-laktivator und bildeten dort eine Traube, die

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sich dann blitzschnell in alle Richtungen zer-streute.

7.

Ich hatte kaum Zeit, über diesen merkwür-

digen Vorgang nachzudenken, denn schlagar-tig setzte die Gravitation aus, und ein gewal-tiger Luftstrom erfaßte mich. Ich wurde dort-hin gerissen, wo bis vor wenigen Augenbli-cken noch oben gewesen war. Eins der dunk-len Löcher nahm mich auf.

An glatten und feuchten Wänden, die über meine nackte Haut scharrten, raste ich erneut durch die Dunkelheit im Innern von Ahra-tonn. Ich wurde hin und her gebeutelt und verlor dabei die letzte Spur meines Orientie-rungsvermögens. Die Luft schrillte in allen Tönen des Hörbereichs. Durch Zufall bekam ich etwas Festes zu fassen, eine Stange oder einen Steg. Obwohl ich nichts erkennen konn-te, hielt ich mich daran fest.

»Atlan«, hörte ich Ahratonns kindliche Stimme. »Ich weiß, daß du meine Worte ver-nehmen kannst. Laß los, damit ich dich un-versehrt in den großen Magen holen kann. Von dort wirst du zu Eppletonn transportiert werden, der an dir sehr interessiert ist.«

Der weiterhin anhaltende Luftstrom zerrte an meinem nackten Körper.

»Ahratonn«, schrie ich heraus. »Ich weiß, daß du mich auch hören kannst. Haben die Bonosos dir berichtet, daß ich nur die Wahr-heit gesagt habe.«

»Oh!« Der Grenzwächter wirkte erstaunt. »Du versuchst, mich schon wieder zu belü-gen. Das wird dir nichts helfen, denn Epple-tonn verfügt über bessere Möglichkeiten als ich. Der Stamm ist reifer und erfahrener.«

»Wieso lüge ich, Ahratonn?« brüllte ich durch das Tosen. Mein Geschrei war nur ein Ausdruck meiner Wut, denn ich war mir si-cher, daß Ahratonn meine Gedanken auf an-dere Weise empfing.

»Du hast die Bonosos mit einem geistigen Schock gelähmt. Wie du das gemacht hast, wird Eppletonn herausfinden. Und da behaup-test du, du hättest die Wahrheit gesagt?«

Ich weiß, daß es für dich zum Verzweifeln ist, bemerkte der Extrasinn. Ich vermeinte, so etwas wie Mitgefühl zu spüren, aber das war

natürlich Unsinn. Es hat keinen Sinn, mit dei-nen Erfahrungen und Verhaltensweisen hier etwas erreichen zu wollen. Hier ist alles zu anders. Wenn du die Bonosos wirklich ge-schockt haben solltest, so kann es nur der Zellaktivator gewesen sein, der dich vor ei-nem unbekannten Einfluß geschützt hat. Ver-suche, bei diesem Eppletonn mehr zu errei-chen.

»Es wird sich alles aufklären, Ahratonn«, sagte ich daher zu dem jungen Grenzwächter. »Ich lasse mich jetzt treiben und hoffe darauf, daß Eppletonn mich versteht. Allerdings läge mir viel daran, meine Bekleidung zurückzuer-halten.«

»Wenn du die Ader freigibst, bekommst du deine Kleidung. Und ich lüge nie!«

Ich ließ los, und der Luftstrom trieb mich weiter durch die Innereien dieses merkwürdi-gen Wesens. Endlich tauchte ein Lichtschim-mer vor mir auf. Mit einem letzten Ruck wur-de ich auf eine weiche Fläche geschleudert. Wenige Meter von mir entfernt stand die Ü-BERZONE. Das Kugelschiff war unversehrt.

Drei seltsame Gestalten schwebten auf mich zu. Sie waren kugelförmig und etwas dicker als ein Meter. Ihre Körper bestanden aus einem faustgroßen Mittelstück, von dem strahlenförmig eine Unzahl von dünnen Fäden ausging, die sich leicht bewegten. Ich wurde unwillkürlich an reife Pusteblumen erinnert, wie ich sie von der Erde kannte, nur besaßen diese Dinger keinen Stengel und waren viel größer.

Die drei Schwebenden ließen sich vor mir auf dem Boden nieder. Der erste tastete sich mit seinen Fäden in die Masse Ahratonns und fischte aus der zähen organischen Materie einen Brocken heraus. Diesen reichte er an den zweiten weiter, der mit einer Irrsinnsge-schwindigkeit begann, daraus einen Faden zu drehen. Das dritte Wesen nahm diesen auf und verwebte ihn zu einem Stück braunen Tuchs, das schnell größer wurde.

In schätzungsweise zwei Minuten lag eine komplette Garnitur Unterwäsche vor mir und dazu ein Paar dicke Socken. Dann folgte die eigentliche Kombination. Und zum guten En-de wurden auf eine ähnliche Weise meine Stiefel erzeugt.

Ich zog die Sachen über und wunderte mich

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nicht einmal, daß sie haargenau paßten. Die drei Pusteblumen zogen wieder ab.

»Du hast nun deine Bekleidung erhalten«, meldete sich Ahratonn. »Ich möchte, daß du dein Schiff besteigst. Dann wirst du zu Epple-tonn befördert werden.«

Eine Erwiderung schien mir nicht ange-bracht. Ich hätte wahrscheinlich nur wieder neue Verwirrung gestiftet. So kletterte ich die Stufen zu dem Schott hoch und begab mich in den Innenraum des kleinen Kugelschiffs.

»Hallo, ÜBERZONE«, sagte ich zur Be-grüßung etwas matt. Die Torturen in den In-nereien des Grenzwächters hatten mich mit-genommen.

»Hallo, Atlan«, antwortete das Schiff. Ich brauchte einen Moment, um zu begrei-

fen, wie ich angeredet worden war. Dann erst durchzuckte mich der Schreck. Die ÜBER-ZONE hielt mich nicht mehr für Anti-Homunk!

»Du weißt jetzt also, wer ich bin«, stellte ich fest.

»Ja. Ein unverzeihlicher Fehler des wirkli-chen Anti-Homunk. Ich wußte es, daß er zu unfertig war. Aber der Herr hatte darauf be-standen, daß er sich sofort auf den Weg mach-te. Schlimm ist dieser Fehler nicht, denn wir werden bei der erstbesten Gelegenheit zu An-ti-ES heimkehren.«

»Das verbiete ich dir. Mein Auftrag ist von höherer Bedeutung. Das weißt du.«

Ich erfuhr sogleich, daß mein Bluff nichts nutzte.

»Du hast mir nichts zu verbieten und nichts mehr zu gebieten. Die Rückkehrschaltung ist bereits aktiviert. Ich habe das veranlaßt, ohne auf einen Befehl von Anti-ES zu warten. Al-lerdings muß ich einräumen, daß die Funktion durch äußere Einflüsse behindert oder blo-ckiert wird.«

Ahratonn, dachte ich. Erstmals wirkten sich die Merkwürdigkeiten des Grenzwächters für mich positiv aus.

»Wenn der angekündigte Transfer zu dem Grenzwächterstamm Eppletonn erfolgt«, fuhr die ÜBERZONE fort, »wird das System au-ßerhalb dieses Leibes aktiv. Dann ist dein übles Spiel vorbei, Atlan.«

»Wir werden es ja sehen«, antwortete ich, ohne wirklich von meinen Worten überzeugt

zu sein. Die ÜBERZONE hob ab. Aus den Kon-

trollanzeigen konnte ich entnehmen, daß dies nicht durch den Willen des Schiffes geschah. Ahratonn meldete sich nicht mehr.

Wir verließen die große Halle durch einen breiten Schlauch. Dieser war strahlend hell und damit anders, als die Hinwege es gewe-sen waren. Das Leuchten nahm zu, je weiter wir getrieben wurden. Es nahm einen fahlen Blauschimmer an. Das Schiff wurde geschüt-telt. Auf den Ortungsanzeigen bildeten sich wirre Reflexe unbekannter Energien ab.

»Gleich sind wir draußen«, teilte mir die ÜBERZONE ungerührt mit. »Dann geht es auf dem schnellsten Weg zurück. Der Herr wird sich sicher schon etwas für deine Bestra-fung ausgedacht haben.«

»Er wird dich bestrafen, liebe ÜBERZO-NE«, höhnte ich. »Du bist es, der versagt hat. Noch hast du Zeit, dich für mich zu entschei-den. Wir entfliehen deinem üblen Meister und schlagen uns auf die Seite der positiven Mächte. Was hältst du davon?«

»Du bist ein Narr«, entgegnete das Schiff abweisend. Danach schwieg es und reagierte auf keins meiner Worte mehr.

Eine Weile später fiel mir auf, daß wir längst die Außenhülle von Ahratonn hätten erreicht haben müssen. Noch immer glitt die ÜBERZONE jedoch durch den leuchtenden Schlauch des Grenzwächters.

Irrtum! Der Logiksektor hatte schnell die richtigen Schlußfolgerungen gezogen. Auch das Schiff geht von falschen Voraussetzungen aus. Ahratonn denkt nicht daran, es in den freien Raum zu entlassen. Wir befinden uns im Innern eines Energiestrangs, wie wir sie beim Anflug auf Ahratonn beobachtet hatten. Ich zweifle nicht daran, daß wir auf diesem Weg zu Eppletonn gelangen werden.

Ich blickte durch die Sichtkuppel zurück. Der Extrasinn hatte wieder einmal recht be-halten. Durch den hellblauen Schlauch hin-durch erkannte ich das mächtige Gebilde von Ahratonn, das wir schnell hinter uns ließen.

Eine Veranlassung, der ÜBERZONE die neuen Erkenntnisse mitzuteilen, sah ich nicht. Das Schiff schwieg weiterhin, und so blieb es für mich unklar, was es machte und dachte.

Der Flug durch die Energieröhre dauerte

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über eine Stunde. Dann wuchs vor uns der noch mächtigere Leib eines anderen Grenz-wächters aus der Dunkelheit in die Höhe. Es gab keinen Zweifel. Das mußte der Stamm Eppletonn sein. Die Dichte der energetischen Stränge war hier so hoch, daß freie Stellen kaum noch zu erkennen waren.

Ich versuchte noch einmal, die Intelligenz der ÜBERZONE zu beeinflussen und für mich zu gewinnen, aber das Schiff schwieg weiter beharrlich. So stürzte ich mit gemisch-ten Gefühlen in den runzligen Leib des alten Grenzwächters Eppletonn. Die ÜBERZONE wurde wieder gebeutelt, und ich hatte Mühe, nicht aus dem Sitz zu fliegen.

Die Überlegenheit Eppletonns wurde mir schnell bewußt. Er sprach nicht zu mir oder dem Schiff. Er handelte nur.

Plötzlich war ich außerhalb der ÜBERZO-NE. Ein kurzer, aber harmloser Entzerrungs-schmerz war zu spüren.

Indirekte Teleportation, kommentierte das Extrahirn.

Ich bewegte mich in Sekundenbruchteilen durch verschiedene Räume, wobei ich mich stets versetzt fühlte. Dabei hatte ich keine Zeit, um Einzelheiten zu registrieren. Hell und Dunkel wechselten mit atemberaubender Geschwindigkeit. Auch die Richtung dieser sprungweisen Teleportation änderte sich mehrmals.

Dann prallte ich gegen eine gummiartige Wand und fiel hinterrücks zu Boden. Kräftige Arme packten mich und stellten mich wieder auf die Beine.

»Ein Neuer! Sieh da!« donnerte eine über-laute Stimme hinter mir.

Diese Sprache kannte ich, auch wenn sie nicht meine eigene war. Ich fuhr herum.

Vor mir stand die mächtige Gestalt eines Haluters.

*

Die Haluter waren heute Freunde der

Menschheit. Einst hatten sie weite Teile der Milchstraße beherrscht, aber das war lange her. Die hochintelligenten Lebewesen des Planeten Halut, über 50.000 Lichtjahre von der Erde entfernt, waren durchschnittlich 3,50 Meter groß und 2,50 Meter breit. Sie besaßen

zwei kurze Säulenbeine und vier Arme. Sie galten als die besten Kämpfer der Milchstra-ße. Ihr bedeutendster Vertreter war Icho To-lot, ein langjähriger Freund von Perry Rhodan und mir.

Daß ich hier im Innern eines Grenzwäch-ters der Namenlosen Zone einen Vertreter dieses Volkes treffen würde, war unwahr-scheinlicher als auf dem Gipfel des Mount Everest eine Orchidee blühen zu sehen.

»Ich heiße Beyl Transot«, dröhnte der Ha-luter. Ich spürte, daß das freundlich gemeint war.

»Mein Name ist Atlan«, entgegnete ich und hoffte auf eine Reaktion. Auch wenn ich nur wenige Haluter in meinem Leben gesehen und erlebt hatte, so gab es doch kaum einen Zweifel daran, daß man auf Halut meinen Namen kannte. »Sie sind ein Haluter.«

»Bin ich das?« lautete zu meinem Erstau-nen die Gegenfrage. »Vielleicht bin ich nur zu einem gemacht worden. Was ist ein Haluter?«

Ich sah neue Verständigungsschwierigkei-ten auf mich zukommen.

»Sie müssen doch wissen, wer Sie sind«, behauptete ich und wählte dabei die höfliche Form der Anrede, die bei den Halutern üblich war.

»Wahrscheinlich, nicht, Atlan. Du kannst mich duzen. Wir machen das hier alle, soweit wir uns überhaupt verständigen können. Nach meinen bisherigen Recherchen ist mein Wis-sen verändert worden. Viele Teile wurden wahrscheinlich gänzlich gelöscht. Ich muß das Opfer irgendeiner Intrige geworden sein. Manchmal habe ich dumpfe Erinnerungen, aber ich kann die Wahrheit nicht von den Träumen unterscheiden. Du behauptest also, ich sei ein Haluter. Was ist ein Haluter?«

Ich erklärte ihm in wenigen Worten, was ich über dieses Volk wußte, und erwähnte dabei die Namen einiger prominenter Vertre-ter, darunter auch Icho Tolot. Aus den Bli-cken, die mir Beyl Transot zuwarf, erkannte ich schon, daß er mir zwar inhaltlich folgen konnte, ansonsten aber keinen Bezug zwi-schen seinem Wissen und meinen Aussagen herzustellen in der Lage war. Auch als ich ihm von der Milchstraße, den Terranern und Perry Rhodan berichtete, wirkte er verlegen.

»Deine Aussagen, Atlan«, sagte er dann

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wenig erfreut, »bestätigen meinen zwingen-den Verdacht. Man hat meine Erinnerung gelöscht. Ich habe manchmal den Traum, mit meinem Raumschiff zwischen Sternen zu fliegen. Dann gerate ich in ein Loch, und alles verschwindet.«

Er schilderte mir das Aussehen dieses Raumschiffs und das der Sterne und Planeten. Ich vergaß darüber fast meine eigenen unlös-baren Probleme, aber ich erkannte, daß Beyl Transot ein echter Haluter war, der durch ein undurchschaubares Schicksal in die Namenlo-se Zone verschlagen worden war. Meine Antworten konnten ihn nicht trösten, und auch für mich bedeutete es keinen Trost zu wissen, daß ich nicht das einzige intelligente Lebewesen war, das in dieser Unwirklichkeit existieren mußte. Immerhin besaß ich meine volle Erinnerung an meine Herkunft.

»Wir sollten uns um die wirklichen Prob-leme kümmern, Beyl«, bat ich den Koloß. »Warum bist du hier? Was hast du hier er-lebt?«

»Darüber weiß ich einiges. Ich wurde ir-gendwann von einem Unsichtbaren aufge-fischt, der sich Janv-Jount nannte. Er sprach telepathisch mit mir und bot sich an, für mich den Ersten Zähler zu spielen, der zugleich der Letzte Zähler sein sollte. Was das bedeutet, hat er mir nicht verraten. Er deutete nur an, daß er diese Aufgabe nebenbei erledigen wol-le. Er gab mir eine Energiekugel, mit der ich zu ihm gelangen sollte. Dann würde er mir weiterhelfen, wenn ich meine Relativ-Einheit überstanden hätte. Mit diesen seltsamen Be-merkungen riß der Kontakt ab. Die Energie-kugel transportierte mich, bis ich in die Fänge Eppletonns geriet. Das ist der sogenannte Grenzwächter, in dem wir nun stecken. Ich trug ihm mein Anliegen vor, und Eppletonn ließ mich durch einen seiner Inneren Helfer wissen, daß er zu gegebener Zeit über mein Gesuch auf Fortsetzung des Fluges entschei-den würde. Das ist aber schon sehr lange her. Seitdem friste ich mit ein paar anderen hier ein trauriges Dasein.«

Ich machte mir meine Gedanken über die-sen Bericht, aber eine klare Antwort konnte ich Beyl nicht geben. Dafür wußte ich selbst zu wenig.

»Wo sind die anderen Gefangenen?« fragte

ich daher. »Komm mit!« Er drehte sich um und stapf-

te voraus in den dunklen Teil des Raumes. Dort rief er mehrere Worte, die ich nicht

verstehen konnte. Ein buntes Sammelsurium an Gestalten tauchte in dem matten Licht-schein auf. Ich zählte siebzehn Figuren, alles Lebewesen, aber kein Typ davon war mir bekannt. Die Wahrscheinlichkeit, daß Beyl Transot und ich die einzigen Gefangenen aus der Milchstraße waren, war groß.

»Das ist Duusnorz.« Transot zeigte auf ei-nen kopfgroßen Wassertropfen, der frei-schwebend auf mich zu kam. »Er ist das intel-ligenteste Wesen hier und das, das wohl seit einer Ewigkeit hier ist. Er erinnert sich daran, aus einer Galaxis namens Bars zu stammen. Kannst du mit diesem Namen etwas anfan-gen?«

Ich schüttelte den Kopf. Ahratonn hat gelogen, meldete sich der

Extrasinn. Er hat mehrfach behauptet, Epple-tonn habe nie ein Wesen gefangen.

»Vielleicht weiß er nichts davon«, entgeg-nete ich halblaut. »Oder das hier ist nicht Eppletonn.«

Deine erste Vermutung ist wohl richtig. Die zweite nicht.

»Was sagst du?« fragte mich der Haluter. »Nichts von Bedeutung. Ich sprach mit

mir.« Dann erzählte ich ihm und seinen Mitge-

fangenen von meinem Schicksal. Ich hatte aufmerksame Zuhörer, aber ich wurde das verdammte Gefühl nicht los, daß sie in mir nur ein Objekt sahen, um ihre Langeweile zu vertreiben. Helfen konnte mir keiner, und was ich über Anti-ES, die Materiequelle und die Kosmokraten erwähnte, erzeugte nicht das geringste Echo.

Duusnorz, der überdimensionale Wasser-tropfen, antwortete für die anderen. Er sprach mit einer holprigen Stimme auf halutisch.

»Du bist nichts anderes als wir. Jeder hat sein Schicksal, und keins davon ist mit dem eines anderen vergleichbar. Das mag für dich enttäuschend sein, aber vor dir ist es uns auch so ergangen.«

Ich hatte fast mit einer solchen Reaktion gerechnet. Eine Frage brannte mir auf den Lippen.

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»Hat denn nie einer Eppletonn verlassen

können?« »Ich erinnere mich an zwei.« Der Wasser-

tropfen schwankte leicht, als könnte er jeden Moment zerplatzen. »Der eine hieß Kik. Er durfte sich abholen lassen. Er war eine dum-me Kreatur mit fünf sehr langen Extremitäten. Wie er abgeholt wurde, weiß ich nicht. Er war auf einmal verschwunden. Es ging so schnell, daß ich nicht einmal in der Lage war, ihm das ... ist eine andere Sache. Der andere hieß Whyburin. Er hatte die Form eines Kalack-ters. Er befreite sich mit Gewalt.«

Ich kannte niemanden, der Kik oder Why-burin hieß, und ich wußte auch nicht, was ein Kalackter war. So schenkte ich diesen Erläu-terungen keine Bedeutung.

»Was macht Eppletonn sonst mit seinen In-haftierten?« fragte ich weiter.

»Er untersucht sie und ihre Glaubwürdig-keit. Man merkt das erst später. Zu einem Entschluß scheint er jedoch nur höchst selten zu kommen, sonst wären wir nicht mehr hier.«

Schlechte Aussichten, kommentierte der Extrasinn.

»Du meinst also, er untersucht mich be-reits?« Ich verband eine wirkliche Hoffnung mit dieser Frage, denn ich hatte ja nichts zu verbergen.

»Zweifellos«, behauptete Duusnorz. »Der Grenzwächter ist mächtig und fähig. Nur sei-nen Gedankengängen vermag niemand zu folgen. Wenn er überhaupt reagiert, dann meistens so, wie man es nicht erwartet.«

Verdammt schlechte Aussichten, erklärte der Extrasinn noch einmal. Manchmal wün-sche ich mir, ich könnte Gefühle entwickeln. Dann hätte ich Mitleid mit dir.

Ich dachte nicht daran aufzugeben. Je ver-worrener die Sache wurde, desto stärker war mein Wille, die Dinge zu verändern oder in den Griff zu bekommen.

»Jetzt weißt du in etwa, wie es hier aus-sieht«, sagte Beyl Transot. »Wir haben die Hoffnung nicht aufgegeben, aber du kannst erkennen, was dich erwartet. Willst du uns helfen?«

»Ich? Helfen?« Mein Erstaunen war groß. Was erwarteten diese Wesen von mir? Aber nach einer Pause fügte ich hinzu: »Wenn ich

kann, dann gern. Aber ich sehe keinen Weg.« »Eine sehr gute Antwort, Atlan.« Duusnorz

wedelte mit seinem spitzen Tropfenende. »Wir sehen auch keine Chance. Und darauf haben wir unseren Plan aufgebaut. Dem nächsten von uns, dem es gelingt, diesen Ort zu verlassen, geben wir etwas mit. Und er läßt etwas hier. Wir alle haben uns geschworen, daß es so geschehen soll, denn es ist unsere einzige Chance. Wir möchten dich bitten, dich uns in diesem Punkt anzuschließen.«

»Ich bin zu allem bereit, was der Gerech-tigkeit und Freiheit dient«, erklärte ich fast feierlich. »Wie lautet euer Plan?«

»Leiste erst einen Eid auf etwas, das dir wert und heilig ist, etwas, für das du dich bis an das Ende deiner Kräfte und deines Lebens einsetzen würdest. Ich merke, ob du ehrlich bist.«

Ich hob meine rechte Hand und reckte sie Duusnorz entgegen.

»Ich schwöre bei meiner Liebe zur Menschheit, daß ich alles tun werde, um euch aus dieser unwürdigen Gefangenschaft zu befreien.«

Eine lange Pause des Schweigens folgte. Ich blickte stumm von einem der Fremdwesen zu dem anderen. Und ihre Augen durchdran-gen mich wie feurige Zungen, die eine tiefe Sehnsucht ausdrückten. Eine Verbundenheit mit diesen Kreaturen entstand, die ich nicht in Worte fassen konnte. Die innere Bindung war vorhanden, bevor Duusnorz antwortete:

»Ich empfinde den Ernst und den Willen deiner Worte, Atlan. Du bist jetzt einer von uns, obwohl ich mir unter dem Begriff Menschheit nichts vorstellen kann.«

8.

Sie hieß Paulau, und was das Besondere an

ihr war, erfuhr ich erst, als sie mich in ihren Körper eingehüllt hatte. Dieser Leib fühlte sich wie Watte an, aber er war von einem ek-ligen grellen Grün.

Paulau kam einfach auf mich zu, breitete ihre Körperlappen wie Schwingen aus und umschloß mich damit. Ich konnte weiter at-men, weiter denken. Ihre Gedanken strahlten warm in mich und weckten Vertrauen. Es war ein verdammt gutes Gefühl, Verbündete zu

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treffen. Sie ließ mir Zeit, die ersten Eindrücke zu verarbeiten. Dann fragte sie mit höflicher und weicher Stimme:

»Hast du mich empfunden, Atlan?« Sie benutzte Gedanken, keine Sprache. Es

war, als ob ich in eine Traumwelt stürzte, in der ich nur zu gern die rauhe und unverständ-liche Wirklichkeit vergessen hätte, die Ent-führung durch Anti-ES, den Aufenthalt auf dem löchrigen Planetoiden, Anti-Homunk und die ÜBERZONE, die mich identifiziert hatte.

»Sprich!« Dieses eine Wort aus meinem Mund genügte.

»Ich bin Paulau, das einzige Wesen hier, das seine Gedanken vor Eppletonn wirklich abschirmen kann. Ich spüre seine unsichere Schnüffelei, die mich, um mich mit deinen Gedanken auszudrücken, an die Neugier eines Tattergreises erinnert. Er weiß aber nicht, daß es so ist. Das ist der erste Trumpf der verbün-deten Gefangenen. Wir alle hier sind stark genug, außerhalb meiner Gedankenschlucht noch einmal bewußt an das zu denken, was ich mitteile. Bist du auch so stark?«

»Ja!« Wieder genügte ein Wort. »Dann sollst du von unserem zweiten

Trumpf erfahren, den wir so sorgfältig hüten, wie ich dich berühre. Du willst dein Verspre-chen einlösen, uns in unsere wahre Gegenwart zu führen, jeden in die seine?«

Bevor ich antworten konnte, fuhr Paulau fort: »Ich spüre deine Zustimmung. Und es ist eine Zustimmung, die stark klingt. Sie ist stark, weil du mit ihr die Zweifel verbindest, dein Versprechen in die Wirklichkeit umzu-setzen. Du wägst ab. Das ist gut, wenn man vor der Entscheidung steht, wie man handeln soll. Du mußt dir aber darüber im klaren sein, daß wir alle derartige Entscheidungen nicht mehr treffen können. Uns dirigiert nur noch die tiefste Verzweiflung. Wir haben keine Alternativen mehr. Vielleicht entschuldigt das unsere Denk- und Handlungsweise. Wir ha-ben kein Wie mehr. Wir haben nicht einmal mehr ein Entweder-Oder. Wir haben nur uns und die Hoffnung. Und dich.«

»Ich bin einer von euch, Paulau. Komm zur Sache!«

»Kannst du kämpfen? Kannst du notfalls töten?« fragte das Wesen, das nur aus grünen Lappen bestand, die mich umschlossen.

»Ich kann. Aber ich tue es nur, wenn ich gegen das Negative angehe, wenn ich dem Positiven nicht schade, dessen Fortbestand schütze, die Rechte der ...«

»Was ist positiv? Was ist negativ?« »Ich brauche mehr Relativ-Einheiten«,

antwortete ich, »als mir die Namenlose Zone oder eine ihrer Merkwürdigkeiten je geben wird oder mehr, als ich überhaupt haben möchte, um dir das zu erklären. Ich weiß, daß ich auf der positiven Seite bin und dort immer bleiben werde. Genügt das?«

»Es klingt überzeugend und stark. Und es drückt dein wahres Gefühl für andere Kreatu-ren aus. Bist du wirklich so?«

Er ist es, antwortete mein Extrasinn. »Oh«, sagte Paulau. »Du bist auch zwei.

Wie Beyl. Aber bei dem kann nur einer spre-chen.«

*

»Wir sind im Besitz einer Waffe, die aller

Wahrscheinlichkeit tödlich ist. Und töten, Atlan, ist eine sehr fragwürdige Angelegen-heit. Der Kampf muß sein, aber man muß die Mittel abwägen. Die Waffe reagiert auf ihren Besitzer. Sie stammt von Uk’Hyl, der auch einmal hier war, aber sein Leben auf natürli-che Weise beenden mußte. Daher wissen wir nicht viel über diese Waffe. Aber etwas wis-sen wir. Sie funktioniert nur einmal. Ihre Wirkung ist total und nach dem Wunsch des Besitzers. Uk’Hyl sagte mir, es gäbe nur zwei davon. Eine besaß er, aber auch ihn verschlug es in die Namenlose Zone. Er fand keine Möglichkeit, sie zu verwenden, denn das Paz-Tay ergreift nur einen Raum, der nach deinem Vorstellungsvermögen eine Raumkugel von zwei Metern Durchmesser umschließt. Inner-halb dieser Zone kann das Paz-Tay aber alles. Solltest du der erste von uns sein, der Epple-tonn verlassen kann, so sollst du Uk’Hyls Paz-Tay bekommen. Dafür gibst du uns dein Versprechen, uns zu befreien – bei deiner Liebe zur Menschheit.«

So kommen deine Barbaren zumindest zu einer gewissen Ehre, stellte der Logiksektor ohne Hohn fest. Ich hoffe, sie haben das ver-dient.

»Ich hoffe«, entgegnete Paulau mit einer

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überwältigenden Ruhe und Friedlichkeit, »daß es einem von uns gelingt, das Paz-Tay zum Nutzen aller zu verwenden.«

»Du kennst meine Zweifel«, dachte ich laut. »Du kennst deine verzweifelte Lage und die der anderen und meine. Wenn du mein Leben kennen würdest, würdest du wissen, daß ich jede Chance beim Schopf fasse, um der Gerechtigkeit, dem Positiven, dem Frie-den zu helfen. Ich will mich nicht meiner Ta-ten rühmen, denn das, was ich bislang erreicht habe, wird von meinen Feinden als schlecht betrachtet. Das ist natürlich, und es soll mich nicht beirren. Doch mit philosophischen Un-terhaltungen erreiche ich nur einen Teil. Da-her muß ich dich bitten, Paulau, mir zu sagen, wie das Paz-Tay aussieht und wie ich es ge-gebenenfalls verwenden könnte. Die Praxis ist mir im Augenblick sehr viel wichtiger.«

»Eine akzeptable Antwort, Atlan.« In der Enge der grünen Lappen bildete sich

ein kleiner Hohlraum. »Das ist das Paz-Tay.« Das fremde weibli-

che Wesen flüsterte, als hätte es Furcht, der Grenzwächter könnte es doch belauschen. »Ich bewahre es in mir auf. Nur so kann ich es vor Eppletonn schützen.«

Ich sah den winzigen Körper. Er sah aus wie ein Sandkorn, unregelmäßig geformt, höchstens zwei Millimeter im größten Durchmesser.

»Zweifel!« sagte ich. »Das haben auch andere gesagt, aber be-

weisen kann das nichts. Spielt die Größe eines Objekts für die Wirklichkeit eine Rolle?«

Ich sah meinen Irrtum schnell ein und schwieg.

»Atlan!« Paulaus Tonfall hatte sich sehr verändert. Der Hoffnung, die sie in ihre Worte gelegt hatte, war nun eine große Sorge ge-folgt. »Duusnorz läßt mich wissen, daß Eppletonn nach dir sucht. Ich muß dich aus meinem Schirm entlassen. Vergiß deinen Eid nicht, Freund! Vergiß mich! Es ist unsere Chance, nicht an mich zu denken. Sonst wäre die letzte Möglichkeit für immer vertan.«

Die Hautlappen öffneten sich. Ich war wie-der im Freien. Doch was war hier frei? Ex-tremitäten packten mich und zerrten mich von Paulau fort.

Logisch, erklärte der Logiksektor. Wenn du

in ihrer Nähe auftauchst, ist alles verpfuscht. Ich folgte bereitwillig den lenkenden Ar-

men, während Paulau irgendwo in der Dun-kelheit untertauchte. Beyl Transot blieb an meiner Seite, während ich über den wabbeln-den Boden voranlief.

»Genug.« Der Haluter hielt mich auf. »Hier ist eine gestörte Zone, in der Eppletonn im-mer langsam reagierte. Wenn er dich hier ent-deckt, ist nichts zu befürchten.«

Ich wollte an Paulau denken, dieses fremd-artige Wesen aus grünen Lappen und Tü-chern, das mehr Weiblichkeit und Herzlich-keit ausstrahlte als manche Arkonidin oder Terranerin. Ich wollte mich an ihre Worte erinnern. Und ich wollte ihr für ihr Vertrauen danken.

Aber nichts davon war möglich. Der Extrasinn legte sich mit seinem Wust

aus Gedanken, Gemecker und Befehlen (ja, er versuchte, mir etwas zu befehlen) auf mein Bewußtsein, daß ich wie benebelt war. Erst Sekunden oder Minuten später erkannte ich ohne ein Wort von seiner Seite, was er beab-sichtigte.

Ich durfte nicht an Paulau denken! Jeder Bruchteil einer Überlegung konnte diesen armen Kreaturen den letzten Hoffnungs-schimmer nehmen.

Als Notlösung in dieser ungewohnten Situ-ation wollte ich Dinge denken, deren Abwe-gigkeit selbst den abgebrühtesten Redakteur der TERRAVISION zur Verzweiflung ge-bracht hätte. Aber ich kam nicht mehr dazu. Ein anderer nahm mir dieses Problem ab.

Eppletonn! Und der alte Grenzwächter rea-gierte so, wie es meine neuen Freunde gesagt hatten. Unberechenbar und unerwartet.

»Atlan!« Seine Stimme war kaum von ei-nem Donnergrollen zu unterscheiden. Dage-gen hörten sich Beyl Transots Worte wie ein lauer Frühlingswind an. Und der war immer-hin ein Haluter. »Du bist konditioniert. Zwei-fach. Entscheide selbst, welchen Weg du ge-hen willst. Du konntest gegen die Bonosos bestehen. Warum? Es ist nicht gut, einen treu-en und alten Stamm vor Entscheidungen zu stellen, die er ...

Warte! Ahratonn teilt mir soeben mit, daß seine Bonosos wieder erwacht sind. Sie haben den Impulsschock überwunden. Atlan«, seine

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Stimme wurde noch tiefer, »ich weiß nicht, wer oder was du bist, aber dir haftet etwas an, etwas, das vielleicht noch stärker werden könnte. Ich bin alt. Ich kann es nicht beurtei-len. So etwas habe ich noch nie gesagt. Ich werde meine Aufgabe weiter erfüllen und Gerechtigkeit walten lassen. Du aber mußt von hier verschwinden, denn du überforderst mich mit deiner grausigen Wahrheit. Ich wer-de nichts sagen, nichts mitteilen. Wenn man alt ist, soll man die Verantwortung abgeben.«

Ich hatte mir unter den unerwarteten Reak-tionen Eppletonns wahrlich etwas anderes vorgestellt.

»Ein anderer muß die Entscheidung treffen. Einer meiner Zweige. Du kennst sie nicht, du weißt nicht, welche Zweige ich in der Unend-lichkeit meines Daseins erschaffen habe.«

»Ich kenne Ahratonn«, schrie ich einfach hinaus.

»Richtig. Ahratonn. Mein jüngster Zweig. Er hat noch nie etwas gefangen gehabt. Ich habe ihm den Trost mitgegeben, daß sein Stamm auch nie etwas gefangen hat. Wir le-ben alle von Lügen, und eines Gedankens werden uns die Hohen Mächte dafür bestra-fen. Ahratonn sagt, seine Bonosos haben dei-ne Wahrheit erkannt. Sie sind nur vor dem zurückgeschreckt, was mich nun veranlaßt, dich wieder in das Netz zu schleudern und dir den Zugang zu mir für immer zu versperren.«

Ich sah, daß Eppletonn mich entlassen wür-de. Ich wollte ihm ins Gesicht schreien, daß ich wiederkommen würde, um Beyl Transot, Paulau, Duusnorz und die anderen aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, aber ich wußte nicht, wo das Gesicht Eppletonns war. Au-ßerdem blockierte der Extrasinn jede Reakti-on dieser Art. Er hatte recht damit!

Die Namenlose Zone mit ihren Unverständ-lichkeiten. Noch während ich versuchte, mich auf diese hautnah wichtigen Dinge zu kon-zentrieren, geschahen die Veränderungen. Ich entglitt Beyl Transots vier Armen, die mich umklammern wollten. Im dunklen Hinter-grund erblickte ich Paulau. Sie wedelte mit einem Dutzend ihrer wohltuenden Hautlap-pen. Und Kärkär, den ich am ehesten mit ei-nem terranischen Zwergpudel vergleichen konnte, flüsterte mir zu:

»Wir sind alle etwas Besonderes. Und des-

wegen sind wir nichts Besonderes, denn das Universum braucht nichts Besonderes. Es braucht alle.«

Die weiteren Geschehnisse konnte ich nicht mehr beeinflussen. Der Weg war der, den ich schon kannte: Zickzack durch unbekannte Räume, wechselnde Richtungen, schwanken-de Lichter, zögernde Gravitationen, verlorene Zeiten ...

Ein Trost, dachte ich, daß alles einmal ein Ende nimmt. Und dieses Ende war zweifel-haft. Ich stand plötzlich wieder vor der Ü-BERZONE. Es war alles noch im Innern von Eppletonn. Ein Widerstreit entbrannte in mir. Daß ich die ÜBERZONE sah, freute mich. Es bereitete mir aber auch Sorgen, denn ich kannte die Absichten dieses Produkts von Anti-ES.

Daß ich sehr schnell wieder Eppletonn ent-kommen können würde, bedeutete Freude. Es bereitete mir aber auch Sorgen, denn ich muß-te meine neuen Freunde wortlos verlassen. Mein Versprechen und ihr Hilfsangebot wur-den in Sekunden sinnlos.

Wirklich? Narr! sagte der Extrasinn leise, aber sehr bestimmt.

Ich wußte nicht, woran ich war. »Einsteigen! Abfliegen!« Das war Eppletonn. Der alte Grenzwächter

klang hart und unnachgiebig. Meine Fragen und Zweifel über die Existenzformen der Namenlosen Zone wurden dadurch noch ver-stärkt. »Grüße Ahratonn und sage ihm, aus Zweigen können Äste werden. Und aus Ästen werden Stämme!«

Ich stieg nicht ein, denn das, was ich von der ÜBERZONE zu erwarten hatte, versprach nichts Gutes.

»Bitte steig ein«, sagte Eppletonn. Ich muß-te gehen, denn seine Worte waren voller Zweifel. Gab es auch die Weisheit des Alters in der Namenlosen Zone?

*

Das Luk der ÜBERZONE schloß sich. Ich überdachte die jüngsten Ereignisse und

Erfahrungen, aber ich dachte nicht mehr an Paulau.

Kärkär! Eine Figur, die mir sehr unwichtig erschie-

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nen war, war plötzlich neben mir. Der Zwerg-pudel. Ich hatte nicht einmal eine Minute Zeit gehabt, mich ihm zu widmen. Aber jetzt war er da.

»Das Universum braucht alle«, sagte er. Seine Worte standen in einem so idiotischen Widerspruch zu seinem tierhaften Aussehen. »Es braucht mich nicht weniger als dich, At-lan. Es kommt nur auf den Zeitpunkt an. Und im Augenblick sieht es so aus, als ob es dich mehr braucht als mich.«

Der kleine Bursche stand in der sich schlie-ßenden Schottür der ÜBERZONE. Sein Ge-biß öffnete sich. Auf seiner dunkelblauen Zunge lag ein Staubkorn, das Paz-Tay!

»Nimm!« sagte Kärkär, ohne seinen Mund zu bewegen.

Mit zwei Fingern nahm ich vorsichtig das winzige Bröckchen an mich. Ich klemmte es unter meinen linken Daumennagel und ver-gewisserte mich, daß es nicht herausrutschen konnte.

»Berkek ens driag. Una kem monat«, sagte Kärkär. Ich verstand seine letzten Worte nicht, aber ich verstand, was sie bedeuteten.

Lebe wohl. Ich habe getan, was ich konnte. Das Schott der ÜBERZONE zertrennte sei-

nen Leib. Ich bog mich unter inneren Schmerzen, aber gegen meine Hilflosigkeit gab es nur eins. Mein Versprechen für die Gefangenen Eppletonns.

Du brauchst Versprechen und Hilfe! er-mahnte mich der Extrasinn.

Ich vergaß seine Worte bewußt, denn sie gingen an der Wirklichkeit vorbei. Wie hatte Kärkär gesagt? Das Universum braucht uns alle. Ich wußte nicht, wie und was das Uni-versum ist. Vielleicht hatte Kärkär es in dem Moment gewußt, als ihn das Schott zer-quetschte.

Der leichte Druck unter meinem linken Daumennagel war eine kleine Hoffnung. Selbst wenn es mir dadurch nur gelingen würde, die Voraussetzungen für eine Befrei-ung von Paulau, Beyl, Duusnorz oder der an-deren zu schaffen, wäre das ein Erfolg.

Konzentriere dich auf die neuen Gefahren! warnte der Extrasinn.

Eine Desintegratoreinheit der ÜBERZONE entfernte die Reste des Kopfes von Kärkär. Mir war schwindlig. Dann ging ein brutaler

Ruck durch das Kugelschiff. Mich schleuder-te es in den Sessel, und ich schloß die Augen.

Als ich gleich darauf meine Augen wieder öffnete, sah ich, wie die Innenwände des alten Monstrums Eppletonn an der ÜBERZONE und mir vorbeirasten.

Ich saß wieder in dem Instrument von Anti-ES, meinem Entführer. Die ÜBERZONE rea-gierte auf kein Wort. Eppletonn hatte gesagt, er würde Ahratonn die Entscheidung überlas-sen. Mein Ziel, die Kosmokraten, war nicht nur in weiter Ferne, es war nur noch ein Ge-danke. Die Namenlose Zone war für mich so unverständlich wie eine Materiequelle. Die Wesen hier teils so, teils so ...

Ich war hundemüde. Aber ich wußte, daß ich nie aufgeben würde.

Nie!

9. Der Flug zurück zu Ahratonn verlief in der

bekannten Form, nämlich durch eine Ge-spinstader des energetischen Netzes der Grenzwächter. Da das einige Zeit dauerte, konnte ich in aller Ruhe die regenerierenden Impulse des Zellschwingungsaktivators auf-nehmen, meine körperliche Niedergeschla-genheit überwinden und wieder zu mir finden.

Innerlich belächelte ich die ÜBERZONE, die weiter hartnäckig schwieg. Ihr Programm verlangte die Rückkehr zu dem Asteroiden oder Planetoiden von Anti-ES. Ein Instrument einer Negativmacht, so sagte ich mir. Da es nun wußte, daß ich den unfertigen Anti-Homunk überlistet hatte, war das Schiff au-tomatisch auch mein Gegner.

Wie sah es um Ahratonn aus? Nach den Worten seines Stammes hatte er wohl von seinen Bonosos erfahren, daß ich nicht gelo-gen hatte. Oder täuschte ich mich da?

Die Gefangenen von Eppletonn hatten mich wissen lassen, daß der Grenzwächter stets ganz anders reagierte, als man dachte. Galt das nun auch für Ahratonn? Ich wußte es nicht. Mein Gefühl sagte mir aber, daß Epple-tonn Ahratonn ganz bewußt eine Entschei-dung aufoktroyiert hatte, damit dieser »er-wachsen« wurde.

Ahratonn reagierte mit Sicherheit nicht so, wie sein Stamm das gehofft oder gedacht hat-

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te. Darin irren sich Stämme, Eltern, Erzieher, Lehrer immer, dachte ich.

Ahratonn fand kein Wort der Begrüßung. Er sagte nichts. Er strahlte einen Gedanken ab, der UNBEQUEM hieß. Ich spürte diesen Gedanken und wußte, hier ist ein junges Ge-schöpf überfordert.

Er wird so reagieren, wie du es nicht willst. Der Extrasinn wirkte etwas lahm bei diesen Worten. Er kommt mit dem Problem nicht klar, weil seine Bonosos ihm die Wahrheit gesagt haben, die er nicht verträgt.

Der Extrasinn sollte recht behalten. Die Energieröhre, in der die ÜBERZONE

flog, platzte. Von einem Gedanken zum ande-ren war das Vasallenschiff der Superintelli-genz Anti-ES wieder frei.

»Endlich!« schrie das Schiff. »Endlich! Du wirst bestraft werden. Nicht ich.«

Ruckartig verschwanden auf dem Monitor die Echos des Energienetzes. Ich erkannte, daß Ahratonn mich nicht wollte.

Nicht gut, dachte ich. Anti-ES, ich muß zu dir zurück. Aber ich kämpfe weiter.

An Paulau und den leichten Druck unter dem Nagel meines linken Daumens dachte ich auch. Aber ganz heimlich. Und laut an Duus-norz, Beyl Transot und Kärkär.

*

Die Umgebung war die gleiche, nur Anti-

Homunk hatte sich verändert. Er stand selbstgefällig grinsend vor mir, als

ich aus der ÜBERZONE stieg. Seine Arme machten eine einladende Geste. Ich musterte ihn und erkannte, daß er nun fertig war. Er besaß richtige Fingernägel, Zähne und deutli-che Augenbrauen. Die ganze Gestalt wirkte selbstsicher und reif.

»Du siehst, Atlan«, erklärte er zufrieden, »daß dein hinterhältiger Plan nicht aufgegan-gen ist. Ich gebe zu, daß du mich einmal ü-berwinden konntest. Jetzt kann das jedoch nicht mehr geschehen. Ich bin fertig.«

Er ließ seine kräftigen Oberarmmuskeln spielen.

»Damit kannst du mir nicht imponieren, du nachgemachte Wachsfigur«, entgegnete ich kühl. »Auf die Dauer werden die Werkzeuge des Bösen immer verlieren. Daran kannst du

und auch sonst niemand etwas ändern.« »Deine großen Worte werden dir bald ver-

gehen«, lachte Anti-Homunk. »Du weißt, was dich erwartet. Anti-ES hat es dich wissen las-sen. Ungehorsam wird empfindlich bestraft.«

»Du warst ungehorsam, und du hast ver-sagt. Ich denke, Anti-ES wird dich bestrafen.«

»Das Gegenteil ist der Fall. Der Herr hat mir den letzten Schliff gegeben. Nach deiner Bestrafung werde ich mit der ÜBERZONE aufbrechen, um den Hohen Mächten das Ul-timatum zu überbringen. Deine Freigabe ge-gen die des Herrn. Andernfalls wirst du getö-tet werden.«

»Die Kosmokraten werden sich nie auf die-ses hinterhältige Spiel einlassen. Das weiß ich inzwischen. Auch wirst du nie zu ihnen ge-langen können, den Anti-ES und du, ihr wißt nichts über die wahre Struktur der Namenlo-sen Zone.«

»Die ÜBERZONE hat ihren Bericht bereits abgegeben«, meinte der Helfer der Superintel-ligenz lässig. »Die Neuigkeiten sind interes-sant, aber sie stellen kein Hindernis für die Durchführung meines Auftrags dar. Doch nun haben wir genug geredet. Die Halb-Osal’Oths warten schon auf dich. Es wird den kleinen Tierchen ein Vergnügen sein, deine Psyche zu zerstören, so daß du nie wieder auf den Ge-danken kommen wirst, fliehen zu wollen. Es bedeutet keinen wesentlichen Unterschied, in welcher geistigen Verfassung dich die Hohen Mächte empfangen werden. Wahrscheinlich werden sie in ihrer Selbstherrlichkeit nicht einmal feststellen können, daß sie einen Voll-idioten eingetauscht haben.«

Der Extrasinn signalisierte höchste Gefahr. Ich überdachte das Gehörte noch. Den Plane-toiden konnte ich nicht verlassen. Das stand fest. Also mußte ich mich hier wehren.

»Anti-ES!« rief ich laut. »Hörst du mich?« Der Kunstmensch lachte breit. »Dein Ge-

winsel hilft dir nichts. Der Herr kümmert sich derzeit um andere Dinge.«

»Du meinst«, entgegnete ich, »er befindet sich wieder in der tiefsten Phase seiner Ver-bannung, in der er sich nicht rühren kann?«

Anti-Homunks Augen funkelten böse. Eine Antwort gab er mir nicht. Er zog ein kleines Kästchen aus seiner Kombination, das dem ähnelte, das ich ihm abgenommen hatte. Seine

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Finger berührten zwei Tasten.

Im selben Augenblick spürte ich, wie sich ein unsichtbares Fesselfeld um meinen Körper legte. Der Druck war schwach, aber ich wuß-te, daß ich ihm nicht würde widerstehen kön-nen.

Mit einem Röcheln und mit verdrehten Au-gen ließ ich mich zu Boden fallen. Dabei preßte ich Speichel aus dem Mund und ver-renkte meinen Körper in wilden Zuckungen. Durch die kaum geöffneten Augen beobachte-te ich, wie Anti-Homunk überrascht auf das kleine Steuergerät blickte und dann wieder auf mich. Er drückte eine weitere Taste.

Das Energiefeld verschwand, aber ich krümmte mich weiter unter Schmerzen, bis ich reglos liegen blieb. Anti-Homunk stieß einen Fluch aus. Mit wenigen Schritten war er neben mir. Er bückte sich und drehte mich auf den Rücken.

Meine angewinkelten Beine schnellten nach oben und trafen ihn voll in die Magen-grube. Ich legte alle Kraft in diese Bewegung, denn mir war klar, daß dieses Wesen keinen Magen, dafür aber nur schwer einschätzbare Kräfte besaß.

Anti-Homunk torkelte zurück und prallte gegen die nächste Felswand. Das Steuerkäst-chen entglitt ihm und fiel zu Boden. Bevor er sich wieder gefangen hatte, war ich auf den Beinen. Mit einem schnellen Griff packte ich das Gerät und drückte wahllos zwei Tasten.

Nichts geschah. »Es wirkt nur in meinen Händen«, erklärte

der Kunstmensch mit überlegener Stimme. »Du hast keine weitere Chance, Atlan.«

»Das werden wir ja sehen«, knurrte ich und schleuderte das Gerät in eine dunkle, schmale Spalte in einer Felswand. Dann spurtete ich los.

Hinter mir hörte ich die Schritte von Anti-Homunk. So leicht würde ich es ihm nicht machen. Und der angedrohten Behandlung durch die sogenannten Halb-Osal’Oths wollte ich mich auch nicht unterziehen.

Ein dunkler Stollen des Planetoiden nahm mich auf. Ich wechselte an jeder Abzweigung unregelmäßig die Richtung, orientierte mich aber insgesamt nach oben. Entweder war An-ti-Homunk doch noch unfertig, oder ich hatte einfach Glück. Als ich mich hinter einer Bie-

gung umdrehte und lauschte, hörte ich nichts mehr. Ich hatte meinen Gegner abgehängt.

Sei dir nicht zu sicher, warnte der Extra-sinn.

Durch einen Schacht kletterte ich weiter nach oben. Dabei gelangte ich an einen Ort, der mir aus der Erinnerung bekannt war. An dieser Gabelung führten zwei Wege nach o-ben und zwei in die Innenzonen des löchrigen Planetoiden. Ich löste zwei Felsbrocken aus dem Boden und ließ sie in die beiden abwärts führenden Stollen rollen. Dann setzte ich meinen Weg nach oben fort.

Außen auf dem Planetoiden erblickte ich wieder die eisige Schwärze der Namenlosen Zone. Nirgends funkelte ein Stern. Die künst-liche Atmosphäre kam mir kühler vor als ge-wohnt.

Ich suchte mir eine Deckung in der Nähe des Ausgangs und legte mir mehrere faust-große Steine zurecht. Irgendwann würde An-ti-Homunk hier auftauchen.

»Er ist schon da. Und er wird meinen Plan durchführen!«

Die Stimme kam von allen Seiten zugleich. Es war Anti-ES.

Im selben Augenblick stand auch Anti-Homunk neben mir. Ich vermochte nicht fest-zustellen, wie er plötzlich hier erschienen war.

Er winkte mit einer Hand. Die Umgebung um mich herum verschwand. Es war eine Art Teleportation oder räumliche Versetzung. Der Ort, an dem ich wieder auftauchte, war zwei-fellos im Innern des Planetoiden. Es war ein relativ kleiner und unregelmäßig geformter Raum. Durch faust- und kopfgroße Öffnun-gen drang schwaches Licht in dieses Gefäng-nis von etwa sechs mal sechs Metern. Einen wirklichen Ausgang, durch den mein Körper gepaßt hätte, gab es nicht.

Unmittelbar nach dem Ortswechsel er-schien auch Anti-Homunk hier. Ich wollte mich auf ihn stürzen, aber ich prallte gegen ein unsichtbares Hindernis. Der Kunstmensch lachte gehässig auf.

»Ausgespielt, Atlan. Diesmal ist es endgül-tig.«

Er zog einen flaschenförmigen Behälter hervor und öffnete den Deckel. Eine endlose Schlange von kleinen, nur wenige Millimeter großen Würmchen quoll daraus hervor. Im

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Freien vergrößerten sich die beinlosen, blas-sen Tierchen auf einige Zentimeter. Zielstre-big krochen sie über den Boden auf mich zu. Dort unten mußte es einen winzigen Durchlaß in dem Energiefeld geben.

»Die Halb-Osal’Oths werden deinen Geist für immer zerstören, Atlan«, jubelte Anti-Homunk. Er trat bis an das Sperrfeld heran, um genau zu beobachten, was nun geschah.

Ich konnte nur ahnen, welche Gefahr da auf mich zukam. Zunächst versuchte ich, die blassen Würmer mit Fußtritten von mir zu schieben oder zu zertreten. Beides war un-möglich. Die Halb-Osal’Oths blieben wie eine klebrige Masse an mir haften. Und wenn ich auf sie trat, waren sie härter als Granit.

Sie krochen in meine Stiefel und im Innern der Kombination beharrlich in die Höhe. Als ich mit den Händen nach ihnen packte, hafte-ten sie auch dort fest. Bereits jetzt spürte ich eine unheimliche Wirkung. Mein Wille be-gann zu erlahmen. Es war, als ob ich hypnoti-siert werden würde.

»Wenn sie an deinem Kopf sind, ist es aus.« Anti-Homunks Augen funkelten wild.

Tu etwas! drängte der Extrasinn. Diese Biester saugen auch mich an und rauben mir jegliches Denkvermögen.

Ich war bereits so verwirrt, daß ich zu kei-ner klaren Reaktion mehr fähig war. Tau-melnd prallte ich gegen das unsichtbare Hin-dernis.

Weiter nach rechts! verlangte der Extra-sinn.

»Was?« schrie ich unter unsäglichen Schmerzen. Mein Gehirn war schon wie be-täubt. Ich vermeinte Tausende von glühenden Bahnen zu spüren, die sich quer durch meinen Kopf zogen. Mit aller Willenskraft kämpfte ich dagegen an. Meine Hände fuhren wild durch die Luft, aber alle Versuche, die winzi-gen Peiniger abzustreifen, schlugen fehl.

Ich stolperte über eine Unebenheit auf dem Boden. Die Kraft, mich noch einmal zu erhe-ben, fehlte mir. Ich bemerkte kaum, daß Anti-Homunk auf der anderen Seite der Energie-wand zu mir herantrat. Er bückte sich ganz nah zu mir herab.

»So ergeht es jedem«, feixte er, »der sich gegen die Befehle von Anti-ES stellt. Noch ein paar Sekunden, und dann ist dein Geist

leer und dein Wille für immer gebrochen. Hörst du mich überhaupt noch?«

Ich war unfähig zu antworten. Jetzt, sagte der Logiksektor. Er ist in dem

Zwei-Meter-Kreis. Jetzt mußt du es tun. Das Paz-Tay!

»Es war für einen anderen Zweck gedacht«, hauchte ich. »Ich habe einen Schwur geleis-tet.«

Den du nie erfüllen kannst, wenn deine Psyche zerstört ist. Tu es! Es kann jeden Au-genblick zu spät sein. Es war der Wille der Gefangenen von Eppletonn.

Als ich die ersten klebrigen Halb-Osal’Oths an meinem Hals spürte, konzentrierte ich mich auf einen letzten Gedanken.

Paz-Tay! Vernichte alles in diesem Raum, aber schone mich!

Um mich herum loderten gewaltige Flam-men in die Höhe.

*

Langsam lichtete sich das undurchdringli-

che Gewirr aus Feuer und Rauch. Die Halb-Osal’Oths waren verschwunden. Ich machte zwei Schritte nach vorn und spürte auch die Energiewand nicht mehr. Zu meinen Füßen sammelte sich in einer Bodenmulde eine braune Masse, die mich an versengtes Zell-plasma erinnerte. Das mußte Anti-Homunk gewesen sein, der im Augenblick der Aktivie-rung des Paz-Tays voll von dessen unbekann-ter Wirkung getroffen worden war. Das Zeug kroch über den Boden, als sei noch Leben in ihm.

Vielleicht hatte es Anti-Homunk nicht voll erwischt. Oder aber er war wirklich aus einer Substanz, gegen die selbst die Wunderwaffe Paz-Tay nicht zu einem vollen Erfolg kom-men konnte.

Von den blassen Würmern fand ich keine Spur. Sie hatten sich unter den unwirklichen Flammen vollständig aufgelöst. Diese Gefahr war gebannt.

Ich richtete einen Gedanken des Dankes an meinen Extrasinn, der in den entscheidenden Sekunden die Übersicht bewahrt hatte.

Noch bist du ein Gefangener von Anti-ES, antwortete er.

Die Impulse meines Zellaktivators sorgten

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dafür, daß ich schnell wieder Herr über mei-nen Körper war. Ich blickte mich um und fuhr zurück, als durch eine kleine Öffnung in einer Wand etwas auf mich zukam. Der lange Me-tallarm schwenkte durch den Raum und taste-te sich dann auf die Stelle des Bodens zu, wo sich die Reste von Anti-Homunk gesammelt hatten. Eine Saugvorrichtung trat in Kraft und entfernte die braune Masse.

Dann verschwand der Metallarm wieder. »Nicht schlecht, Arkonide.« Anti-ES mel-

dete sich wieder. »Ich habe dich unterschätzt. Nun erkenne ich aus deinen Gedanken, daß dir Unbekannte diese seltsame Waffe überlas-sen haben. Du hast sie verspielt, so wie ich die Halb-Osal’Oths verspielt habe. Damit hast du dein Gehirn zwar gerettet, aber es nützt dir nichts. Ich werde aus dem Plasma Anti-Homunk neu entstehen lassen. Ich brauche ihn, um den Kosmokraten meine Botschaft zu bringen. Für dich hat sich also nichts geän-dert. Du hast nur deine Gefangenschaft etwas verlängert. Vorerst bleibst du in dieser Höhle. Für deine Ernährung werden die Robotsyste-me sorgen.«

»Du redest zuviel, Anti-ES«, antwortete ich ungerührt, obwohl mir meine Lage sehr be-wußt war. »Wenn du einmal nur denken wür-dest, würdest du erkennen, daß du einem ge-waltigen Irrtum unterliegst.«

Ich bekam zunächst keine Antwort. Ich schirmte meine Gedanken gegen die Superin-telligenz ab, so gut es ging. Mir war klar, daß

ich Anti-ES niemals von seinem Wahnsinns-plan abbringen konnte, aber es juckte mir in den Fingern, diese böse Macht zu reizen, bis sie sich wieder eine Blöße gab. Dann würde es mir gelingen, ihr zu entkommen.

Immerhin bewiesen die Worte von Anti-ES, daß die Hohen Mächte auf meine Entfüh-rung nicht reagiert hatten.

Und sie werden nicht reagieren, ließ mich der Extrasinn wissen. Darauf kannst du dich verlassen.

»Ich kann mich nicht irren, Arkonide«, vernahm ich wenig später. Ich vermeinte eine leichte Unsicherheit aus den mentalen Worten zu hören.

»Es ist mir egal, Anti-ES, was du denkst. Die Hohen Mächte haben sich nicht gemeldet. Und sie werden sich nicht melden. Deine Gei-selnahme war die Tat eines Wahnsinnigen. Dein hinterhältiger Plan ist schon jetzt ge-scheitert. Und außerdem hast du übersehen, daß du dir mit deinem Gefangenen, dessen Leben du in deinem Interesse schonen mußt, einen gefährlichen Gegner in dein Nest geholt hast. Ich weiß, daß ich diesen Kampf ohne die Kosmokraten bestehen muß. Ich werde allein kämpfen, aber ich werde Freunde finden. Und ich werde kämpfen, bis du deine gerechte Strafe erhalten hast.«

Ich hockte mich auf einen Felsbrocken und wartete, aber ich bekam keine Antwort mehr.

ENDE

Weiter geht es in Band 107 der Abenteuer der SOL mit:

Leitgeist von Hubert Haensel

Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2008, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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