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MOSKAUER DEUTSCHE ZEITUNG Nr. 14 (501) AUGUST 2019 06 ZEITGESCHEHEN Russische „Regulierungsguillotine“ D erzeit wird häufig über den Gesetzentwurf „Über die staat- liche Regulierung (Aufsicht) und die kommunale Kontrolle in der Russischen Föderation“ (Gesetzentwurf ) öffentlich diskutiert. Der Gesetzentwurf soll die Kontrolle der russischen Wirt- schaft (auch ausländischer Unterneh- men) durch die zuständigen staatlichen Behörden grundsätzlich reformieren. Der Gesetzentwurf wurde im Rahmen des Konzeptes der sogenannten „Regu- lierungsguillotine“ erarbeitet, deren Hauptanliegen es ist, den Verwaltungs- aufwand für die Wirtschaft zu reduzieren und die Arbeit von Kontrollbehörden effizienter zu gestalten. Der entspre- chende Gesetzentwurf soll am 1. Januar 2021 in Kraft treten. In der Russischen Föderation gelten der- zeit mehr als 9000 aufsichtsrechtliche Gesetze, die die Anforderungen an die Wirtschaft bei Prüfungen regeln. Viele von ihnen wurden noch in der Sowjet- zeit erlassen. Das Konzept der „Regulie- rungsguillotine“ sieht die umfassende Analyse und die Reform der geltenden Vorschriften vor. Dabei sollen alle Betroffenen beteiligt sein, einschließlich Vertretern der Unternehmerverbände. die dafür sorgen sollen, dass ineffiziente und übertriebende Anforderungen ver- mieden werden. In der Russischen Föderation gelten derzeit mehr als 9000 aufsichtsrechtliche Gesetze, die die Anforderungen an die Wirtschaft bei Prüfungen regeln. Viele von ihnen wurden noch in der Sowjet- zeit erlassen. Das Konzept der „Regulie- rungsguillotine“ sieht die umfassende Analyse und die Reform der geltenden Vorschriften vor. Dabei sollen alle Betroffenen beteiligt sein, einschließlich Vertretern der Unternehmerverbände, die dafür sorgen sollen, dass ineffiziente und übertriebende Anforderungen ver- mieden werden. Die Änderungen betreffen vor allem die am meisten überregulierten Bereiche wie Verkehr, Umwelt, Industriesicherheit, Veterinärmedizin und die gesundheitli- che und epidemiologische Aufsicht. Für die Klassifizierung der Vorschriften ist ein neuer Ansatz vorgesehen. Die Anforderungen der entsprechenden Staatsbehörden, die die Kontrolle über die Wirtschaft ausüben (Brandschutzauf- sicht des Katastrophenschutzministeri- ums, Aufsicht über die Einhaltung der Arbeitsgesetzgebung, sanitäre Aufsicht und Verbraucherschutz, Industrie- und Bauaufsicht usw.), werden nach Bran- chen klassifiziert und die Prüfungen werden aufgrund einheitlicher Vorschrif- ten erfolgen. Es wird erwartet, dass das neue Verfahren die Geschäftsführung einfacher gestalten wird und letztend- lich zu einer steigenden Anzahl mittel- ständischer und kleiner Unternehmen führt sowie Investitionsklima im Land verbessert. Außerdem besteht eines der Ziele des Gesetzentwurfs darin, die Bemühun- gen der Kontrollbehörden darauf zu konzentrieren, die Risiken für gesetzlich geschützte Werte wie das Leben und die Gesundheit der Bürger, die Umwelt, das Kulturerbe und die Staatssicherheit zu minimieren. Die Kontrollbehörden sollen sich nicht primär mit Strafmass- nahmen befassen, sondern vor allem gegen Verstöße vorbeugen oder diese schnell korrigieren. Der Gesetzentwurf sieht eine Reihe von Vorbeugungsmass- nahmen sowie ein System für die Beur- teilung der Leistungsfähigkeit und der Effizienz der Tätigkeit von Kontrollbehör- den vor. Das neue System soll auf einer Einschaltung der Korrelation zwischen der Risikominimierung und der dafür erforderlichen Arbeits-, Material- und Finanzressourcen aufgebaut werden. Die zu kontrollierenden Objekte (Geschäftstätigkeiten der Wirtschafts- betriebe, ihre Produkte und Dienstleis- tungen sowie Betriebsmittel, Gebäude, Einrichtungen usw.) sollen je nach Risi- kofaktoren einer von sechs Kategorien zugeordnet werden. Für jede Kategorie wird unter anderem die Häufigkeit der Prüfungen festgelegt. Übrigens sieht der Gesetzesentwurf auch vor, dass die Prüfung und ihre Beurteilung durch nichtstaatliche Organisationen erfolgen kann. Die zu kontrollierenden Personen können von Prüfungen befreit werden, sofern sie entsprechende Versicherungen abschließen und die Prüfungen durch freiwillige Fernkontrollen unter Verwen- dung digitaler Informationssysteme ersetzen. Was das neue Gesetz dagegen nicht regeln wird, sind Ermittlungsver- fahren, Verfahren bei Ordnungswid- rigkeiten, der Vollzug strafrechtlicher Maßnahmen, die Aufsicht der Ver- kehrssicherheit, die Steuer-, Währungs- und Zollkontrolle, die Verhandlung kartellrechtlicher Fälle oder Fälle der Werbegesetzgebung und die Kontrolle öffentlicher Ausschreibungen. Elena Balashova, LL.M. Geschäftsführende Partnerin der Anwaltskanzlei Balashova Legal Consultants www.balashova-legal.com Elena Balashova Geistesblitz auf der Insel Eine ethnokulturelle Sommerschule für Russlanddeutsche auf Sylt Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschwanden nach und nach deutsche Minderheitenschulen in Russland. Im Juli wurde auf der Nordseeinsel Sylt ein Modell erprobt, wie Russlanddeutsche wieder ihre Literatur, Geschichte und Kultur in ihrer Muttersprache erlernen können. Von Anastassija Buschujewa Wind fast wie in St. Petersburg, Sonne und der Duft der allgegen- wärtigen Hagebutte. 30 Jugendliche aus Russland verbrachten diesen Juli zwei Wochen auf Sylt. Als Teilneh- mer des ethnokulturellen Seminars kamen sie hierher, um sich inten- siv mit der Kultur und Geschichte der Russlanddeutschen zu befassen. Von morgens bis spät abends tau- chen sie in die Tiefen der deutschen Sprache ein, in historischer wie kul- tureller Hinsicht. In den Pausen zwischen den Lektionen ist Zeit für allerlei Belustigung. Die blonde Lena Schmidt sagt, dass sie in den letzten Wochen viele Menschen getroffen hat, die ihr nahestehen und mit denen sie viel Spaß hat, sie könne hier einfach sie selbst sein. „Außerdem habe ich hier bemerkt, dass wir nicht die letz- ten Deutschen in Russland sind, die noch Dialekt sprechen“, erzählt sie, „es gibt tatsächlich viele Leute wie uns.“ Lena kam aus dem Dorf Pod- sosnowo im Deutschen National- kreis Halbstadt in der Region Altai auf die Insel. Die Sommerschule auf Sylt ist der Höhepunkt eines Programms, das der Unterstützung von Schu- len mit deutschen Minderheiten dient. Bis in die 1990er Jahre waren Minderheitenschulen die Norm, dann verschwanden sie nach und nach. Aber die Idee ist so einfach und genial, dass es zu voreilig wäre, sie in Vergessenheit geraten zu las- sen. Besonders weil man von den deutschen Minderheiten aus Däne- mark, Rumänien und Ungarn sowie den Südtirolern lernen kann. Mit deren Erfahrungen vertraut, star- tete der Internationale Verband der deutschen Kultur (IVDK) 2018 ein ähnliches, dreijähriges Testpro- jekt. An den Versuchen nahmen elf Bildungseinrichtungen teil. Deren Schüler trafen sich nun zum zwei- ten Mal, um mehr über sich selbst zu erfahren und die Geschichte der Russlanddeutschen und ihrer Fami- lie zu erkunden. Letztes Jahr in Sotschi, jetzt auf Sylt. Olga Martens, erste stellver- tretende Vorsitzende des IVDK, spricht über das Ziel des Projekts: „In Ermangelung eigener deutscher Schulen müssen wir zumindest in einigen Schulen, in denen es eine kritische Masse russlanddeutscher Schüler gibt, eine ethnokulturelle Komponente bereitstellen.“ In den teilnehmenden Schulen sollen im Herbst Wahlfächer angeboten wer- den: Geschichte, Kunst, Literatur und Musik der Russlanddeutschen, und das ist erst der Anfang. Doch werden die Lehrer unter den Bedingungen des russischen Schul- systems den Unterricht spannend gestalten? Es ist schwierig, über die formale Ebene hinaus das tiefere Wesen einer Sprache zu vermitteln, gerade im Kontext einer allgemein- bildenden Schule. Das russische Bildungssystem funktioniert oft so, dass die Kinder in die Schule kom- men, als kämen sie für eine Spritze zum Arzt: kurz und schmerzlos. Und es gibt noch andere Schwie- rigkeiten, zum Beispiel bei den Familien. Viele ziehen heute das Englische dem Deutschen vor. Der Erfolg der Minderheitenschu- len hängt also in hohem Maße von den Menschen vor Ort ab. Jede Schule sollte einen eigenen Ansatz für die Umsetzung der ethnokultu- rellen Komponente verfolgen. Ohne Seele und Einfallsreichtum wird das Konzept zwischen den anderen Wahlfächern untergehen. Für den Erfolg braucht es also bedeutende Anstrengungen. Wie auch immer, das Projekt befindet sich derzeit in der Test- phase. Es wird täglich fortentwickelt und aufgrund des Feedbacks der Lehrer und Schüler erhält es seinen Feinschliff. Aus diesem Feedback entstand zum Beispiel die Idee, die Verantwortung für den Lernprozess auf die Schüler zu übertragen. „Kin- der müssen einen eigenen Antrieb haben. Und dann ist es unsere Auf- gabe, ihnen nur dabei zu helfen, ihre Idee zu formulieren und ihnen zu sagen, was sie weiter damit machen können,“ erklärt Projektleiter Denis Tsykalov. Auf der Insel entwickeln und präsentieren sie bereits konkre- te Ideen, die später zu Hause umge- setzt werden. Nastja Miroschnitschenko aus dem Dorf Zwetnopolje im Deut- schen Nationalkreis Asowo berich- tet, sie fühle sich durch die ver- gangenen zwei Wochen nicht „deutscher“ als zuvor. Sie wurde in Russland geboren und wird immer dort bleiben. „In der Familie reden wir wenig über unsere deutschen Wurzeln“, teilt sie mit, „ich gehe davon aus, dass es eine tragische Situation gab, und für meinen Papa ist dies kein einfaches Thema. Aber jetzt bin ich bereit, Fragen zu stel- len. Egal wie schwer es ist, ich muss es wissen.“ Eintauchen in die russlanddeutsche Kultur: Jugendliche bereiten eine Museumsausstellung vor. Anastassija Buschujewa (2) Für Spiel und Spaß war natürlich auch genug Zeit auf Sylt.

Geistesblitz auf der Insel - irp-cdn.multiscreensite.com€¦ · Geistesblitz auf der Insel Eine ethnokulturelle Sommerschule für Russlanddeutsche auf Sylt Nach dem Zusammenbruch

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MOSKAUER DEUTSCHE ZEITUNG

Nr. 14 (501) AUGUST 201906 Z E I T G E S C H E H E N

Russische „Regulierungsguillotine“

Derzeit wird häufig über den Gesetzentwurf „Über die staat-liche Regulierung (Aufsicht)

und die kommunale Kontrolle in der Russischen Föderation“ (Gesetzentwurf ) öffentlich diskutiert. Der Gesetzentwurf soll die Kontrolle der russischen Wirt-schaft (auch ausländischer Unterneh-men) durch die zuständigen staatlichen Behörden grundsätzlich reformieren. Der Gesetzentwurf wurde im Rahmen des Konzeptes der sogenannten „Regu-lierungsguillotine“ erarbeitet, deren Hauptanliegen es ist, den Verwaltungs-aufwand für die Wirtschaft zu reduzieren

und die Arbeit von Kontrollbehörden effizienter zu gestalten. Der entspre-chende Gesetzentwurf soll am 1. Januar 2021 in Kraft treten. In der Russischen Föderation gelten der-zeit mehr als 9000 aufsichtsrechtliche Gesetze, die die Anforderungen an die Wirtschaft bei Prüfungen regeln. Viele von ihnen wurden noch in der Sowjet-zeit erlassen. Das Konzept der „Regulie-rungsguillotine“ sieht die umfassende Analyse und die Reform der geltenden Vorschriften vor. Dabei sollen alle Betroffenen beteiligt sein, einschließlich Vertretern der Unternehmerverbände. die dafür sorgen sollen, dass ineffiziente und übertriebende Anforderungen ver-mieden werden. In der Russischen Föderation gelten derzeit mehr als 9000 aufsichtsrechtliche Gesetze, die die Anforderungen an die Wirtschaft bei Prüfungen regeln. Viele von ihnen wurden noch in der Sowjet-zeit erlassen. Das Konzept der „Regulie-rungsguillotine“ sieht die umfassende Analyse und die Reform der geltenden Vorschriften vor. Dabei sollen alle Betroffenen beteiligt sein, einschließlich

Vertretern der Unternehmerverbände, die dafür sorgen sollen, dass ineffiziente und übertriebende Anforderungen ver-mieden werden. Die Änderungen betreffen vor allem die am meisten überregulierten Bereiche wie Verkehr, Umwelt, Industriesicherheit, Veterinärmedizin und die gesundheitli-che und epidemiologische Aufsicht. Für die Klassifizierung der Vorschriften ist ein neuer Ansatz vorgesehen. Die Anforderungen der entsprechenden Staatsbehörden, die die Kontrolle über die Wirtschaft ausüben (Brandschutzauf-sicht des Katastrophenschutzministeri-ums, Aufsicht über die Einhaltung der Arbeitsgesetzgebung, sanitäre Aufsicht und Verbraucherschutz, Industrie- und Bauaufsicht usw.), werden nach Bran-chen klassifiziert und die Prüfungen werden aufgrund einheitlicher Vorschrif-ten erfolgen. Es wird erwartet, dass das neue Verfahren die Geschäftsführung einfacher gestalten wird und letztend-lich zu einer steigenden Anzahl mittel-ständischer und kleiner Unternehmen führt sowie Investitionsklima im Land verbessert.

Außerdem besteht eines der Ziele des Gesetzentwurfs darin, die Bemühun-gen der Kontrollbehörden darauf zu konzentrieren, die Risiken für gesetzlich geschützte Werte wie das Leben und die Gesundheit der Bürger, die Umwelt, das Kulturerbe und die Staatssicherheit zu minimieren. Die Kontrollbehörden sollen sich nicht primär mit Strafmass-nahmen befassen, sondern vor allem gegen Verstöße vorbeugen oder diese schnell korrigieren. Der Gesetzentwurf sieht eine Reihe von Vorbeugungsmass-nahmen sowie ein System für die Beur-teilung der Leistungsfähigkeit und der Effizienz der Tätigkeit von Kontrollbehör-den vor. Das neue System soll auf einer Einschaltung der Korrelation zwischen der Risikominimierung und der dafür erforderlichen Arbeits-, Material- und Finanzressourcen aufgebaut werden. Die zu kontrollierenden Objekte (Geschäftstätigkeiten der Wirtschafts-betriebe, ihre Produkte und Dienstleis-tungen sowie Betriebsmittel, Gebäude, Einrichtungen usw.) sollen je nach Risi-kofaktoren einer von sechs Kategorien zugeordnet werden. Für jede Kategorie

wird unter anderem die Häufigkeit der Prüfungen festgelegt. Übrigens sieht der Gesetzesentwurf auch vor, dass die Prüfung und ihre Beurteilung durch nichtstaatliche Organisationen erfolgen kann. Die zu kontrollierenden Personen können von Prüfungen befreit werden, sofern sie entsprechende Versicherungen abschließen und die Prüfungen durch freiwillige Fernkontrollen unter Verwen-dung digitaler Informationssysteme ersetzen. Was das neue Gesetz dagegen nicht regeln wird, sind Ermittlungsver-fahren, Verfahren bei Ordnungswid-rigkeiten, der Vollzug strafrechtlicher Maßnahmen, die Aufsicht der Ver-kehrssicherheit, die Steuer-, Währungs- und Zollkontrolle, die Verhandlung kartellrechtlicher Fälle oder Fälle der Werbegesetzgebung und die Kontrolle öffentlicher Ausschreibungen.

Elena Balashova, LL.M.Geschäftsführende Partnerin der Anwaltskanzlei Balashova Legal Consultantswww.balashova-legal.com

Elena Balashova

Geistesblitz auf der InselEine ethnokulturelle Sommerschule für Russlanddeutsche auf Sylt

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschwanden nach und

nach deutsche Minderheitenschulen in Russland. Im Juli wurde auf der

Nordseeinsel Sylt ein Modell erprobt, wie Russlanddeutsche wieder ihre

Literatur, Geschichte und Kultur in ihrer Muttersprache erlernen können.

Von Anastassija Buschujewa

Wind fast wie in St. Petersburg, Sonne und der Duft der allgegen-wärtigen Hagebutte. 30 Jugendliche aus Russland verbrachten diesen Juli zwei Wochen auf Sylt. Als Teilneh-mer des ethnokulturellen Seminars kamen sie hierher, um sich inten-siv mit der Kultur und Geschichte der Russlanddeutschen zu befassen. Von morgens bis spät abends tau-chen sie in die Tiefen der deutschen Sprache ein, in historischer wie kul-tureller Hinsicht. In den Pausen zwischen den Lektionen ist Zeit für allerlei Belustigung.

Die blonde Lena Schmidt sagt, dass sie in den letzten Wochen viele Menschen getroffen hat, die ihr nahestehen und mit denen sie viel Spaß hat, sie könne hier einfach

sie selbst sein. „Außerdem habe ich hier bemerkt, dass wir nicht die letz-ten Deutschen in Russland sind, die noch Dialekt sprechen“, erzählt sie, „es gibt tatsächlich viele Leute wie uns.“ Lena kam aus dem Dorf Pod-sosnowo im Deutschen National-kreis Halbstadt in der Region Altai auf die Insel.

Die Sommerschule auf Sylt ist der Höhepunkt eines Programms, das der Unterstützung von Schu-len mit deutschen Minderheiten dient. Bis in die 1990er Jahre waren Minderheitenschulen die Norm, dann verschwanden sie nach und nach. Aber die Idee ist so einfach und genial, dass es zu voreilig wäre, sie in Vergessenheit geraten zu las-sen. Besonders weil man von den

deutschen Minderheiten aus Däne-mark, Rumänien und Ungarn sowie den Südtirolern lernen kann. Mit deren Erfahrungen vertraut, star-tete der Internationale Verband der deutschen Kultur (IVDK) 2018 ein ähnliches, dreijähriges Testpro-jekt. An den Versuchen nahmen elf Bildungseinrichtungen teil. Deren Schüler trafen sich nun zum zwei-ten Mal, um mehr über sich selbst zu erfahren und die Geschichte der Russlanddeutschen und ihrer Fami-lie zu erkunden.

Letztes Jahr in Sotschi, jetzt auf Sylt. Olga Martens, erste stellver-tretende Vorsitzende des IVDK, spricht über das Ziel des Projekts: „In Ermangelung eigener deutscher Schulen müssen wir zumindest in einigen Schulen, in denen es eine kritische Masse russlanddeutscher Schüler gibt, eine ethnokulturelle Komponente bereitstellen.“ In den teilnehmenden Schulen sollen im Herbst Wahlfächer angeboten wer-den: Geschichte, Kunst, Literatur

und Musik der Russlanddeutschen, und das ist erst der Anfang.Doch werden die Lehrer unter den Bedingungen des russischen Schul-systems den Unterricht spannend gestalten? Es ist schwierig, über die formale Ebene hinaus das tiefere Wesen einer Sprache zu vermitteln, gerade im Kontext einer allgemein-bildenden Schule. Das russische Bildungssystem funktioniert oft so, dass die Kinder in die Schule kom-men, als kämen sie für eine Spritze zum Arzt: kurz und schmerzlos.

Und es gibt noch andere Schwie-rigkeiten, zum Beispiel bei den Familien. Viele ziehen heute das Englische dem Deutschen vor.

Der Erfolg der Minderheitenschu-len hängt also in hohem Maße von den Menschen vor Ort ab. Jede Schule sollte einen eigenen Ansatz für die Umsetzung der ethnokultu-rellen Komponente verfolgen. Ohne Seele und Einfallsreichtum wird das Konzept zwischen den anderen Wahlfächern untergehen. Für den Erfolg braucht es also bedeutende Anstrengungen.

Wie auch immer, das Projekt befindet sich derzeit in der Test-phase. Es wird täglich fortentwickelt

und aufgrund des Feedbacks der Lehrer und Schüler erhält es seinen Feinschliff. Aus diesem Feedback entstand zum Beispiel die Idee, die Verantwortung für den Lernprozess auf die Schüler zu übertragen. „Kin-der müssen einen eigenen Antrieb haben. Und dann ist es unsere Auf-gabe, ihnen nur dabei zu helfen, ihre Idee zu formulieren und ihnen zu sagen, was sie weiter damit machen können,“ erklärt Projektleiter Denis Tsykalov. Auf der Insel entwickeln und präsentieren sie bereits konkre-te Ideen, die später zu Hause umge-setzt werden.

Nastja Miroschnitschenko aus dem Dorf Zwetnopolje im Deut-schen Nationalkreis Asowo berich-tet, sie fühle sich durch die ver-gangenen zwei Wochen nicht „deutscher“ als zuvor. Sie wurde in Russland geboren und wird immer dort bleiben. „In der Familie reden wir wenig über unsere deutschen Wurzeln“, teilt sie mit, „ich gehe davon aus, dass es eine tragische Situation gab, und für meinen Papa ist dies kein einfaches Thema. Aber jetzt bin ich bereit, Fragen zu stel-len. Egal wie schwer es ist, ich muss es wissen.“

Eintauchen in die russlanddeutsche Kultur: Jugendliche bereiten eine Museumsausstellung vor.

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Für Spiel und Spaß war natürlich auch genug Zeit auf Sylt.