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Geistliche Schriften - Franz von Sales

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Die Geistlichen Schriften des Hl. Franz von Sales, Ordensgründer, Mystiker und Kirchenlehrer; dem Patron der Schriftsteller, Journalisten und Gehörlosen. BAND 12/12

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FRANZ VON SALES – GEISTLICHE SCHRIFTENFRANZ VON SALES – GEISTLICHE SCHRIFTENFRANZ VON SALES – GEISTLICHE SCHRIFTENFRANZ VON SALES – GEISTLICHE SCHRIFTENFRANZ VON SALES – GEISTLICHE SCHRIFTEN

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Deutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe der

WERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VWERKE DES HL. FRANZ VON SON SON SON SON SALESALESALESALESALES

Band 12Band 12Band 12Band 12Band 12

Nach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe der

OEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALESOEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SALES

der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä zu Annecy (1892-1931)

herausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten den hl. Franz von Sales

Begründet von PBegründet von PBegründet von PBegründet von PBegründet von P. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. F. F. F. F. Franz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.

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Franz von SalesFranz von SalesFranz von SalesFranz von SalesFranz von Sales

GEISTLICHE SCHRIFTENGEISTLICHE SCHRIFTENGEISTLICHE SCHRIFTENGEISTLICHE SCHRIFTENGEISTLICHE SCHRIFTEN

FFFFFranz-Sales-ranz-Sales-ranz-Sales-ranz-Sales-ranz-Sales-VVVVVerlagerlagerlagerlagerlag

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Auswahl, Übersetzung und Erklärungen

von P. Anton Nobis OSFS

ISBN 3-7721-0064-3Alle Rechte vorbehalten.

© Franz Sales Verlag, Eichstätt2. Auflage 2004

Herstellung Brönner und Daentler, Eichstätt

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VORWORT

Mit diesem Band wird die deutsche Ausgabe der Werke des hl. Franzvon Sales abgeschlossen, die P. Dr. Franz Reisinger OSFS geplant, be-gründet und bis zu seinem Tod (am 23. Januar 1973) geleitet hat. Sieist die bisher umfangreichste deutsche Ausgabe von Werken des Heili-gen; als erste beruht sie auf der vollständigen Ausgabe der ‚Oeuvres‘von Annecy, die 26 Foliobände umfaßt und als quellenkritisch aner-kannt ist. Von Anfang an auf 12 Bände geplant, kann diese deutscheAusgabe naturgemäß nur eine Auswahl bieten, die aber „nichts We-sentliches von der Lehre des Heiligen übergehen“ soll. (Vorwort Band1, Seite 12).

Vollständig wiedergegeben werden die beiden vom Autor veröffent-lichten Hauptwerke, die ‚Anleitung zum frommen Leben‘ (Band 1)und die ‚Abhandlung über die Gottesliebe‘ (Band 3 und 4) sowie dienach seinem Tod durch Johanna Franziska von Chantal herausgege-benen ‚Geistlichen Gespräche‘ (Band 2). Eine Auswahl mußte getrof-fen werden aus 11 Bänden mit über 2000 Briefen (Band 5-8), aus 4Bänden mit Predigten (Band 9) und aus 5 Bänden ‚Opuscules‘ mitkleineren Schriften verschiedener Sachgebiete.

Eine Änderung der ursprünglichen Planung ergab sich im Verlauf derHerausgabe in zwei Fällen: statt der geplanten zwei Bände mit Predig-ten gab es nur einen (Band 9, aber je eine Gruppe von Predigten inBand 10 und 12), die auf einen Band berechnete Auswahl von Kontro-versschriften mußte auf zwei Bände (Band 10 und 11) erweitert wer-den, um sowohl die ‚Kontroversen‘ als auch die ‚Verteidigung der Kreu-zesfahne‘ und den Titel I des ‚Codex Fabrianus‘ ungekürzt zu veröffent-lichen und eine Reihe von Texten aus den ‚Opuscules‘ zugänglich zumachen, die bisher in deutschen Ausgaben kaum bekannt sind.

Der Leitgedanke bei der Auswahl war, das Wesentliche der geistli-chen Lehre des hl. Franz von Sales dem deutschen Leser zugänglich zumachen; daher sind z. B. nicht enthalten die humanistischen Freund-schaftsbriefe an Antoine Favre, zahlreiche administrative Dokumente,die Konstitutionen des Ordens der Heimsuchung, die Statuten der Bru-derschaft vom heiligen Kreuz, des ‚Heiligen Hauses‘ von Thonon, der

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Académie florimontane, etc. Außerdem konnte auf vieles verzichtetwerden, was vor allem dem wissenschaftlichen Studium dient, wie Va-rianten, die éditio princeps der ‚Philothea‘, die erste Redaktion einesTeils der ‚Abhandlung über die Gottesliebe‘, eine Fülle von biographi-schen und textgeschichtlichen Angaben, die den gediegenen Charakterder Annecy-Ausgabe belegen, die deutsche Ausgabe jedoch zu sehrbelastet hätten. All dies wurde aber bei der Redaktion benützt für dieEinführungen zum Verständnis und für die notwendigen Anmerkun-gen.

Nach der Absicht des Initiators soll diese Ausgabe „als Ganzes einklares Bild des Seelenführers, Seelsorgers und Bischofs“ geben (Band1, S. 12). Nach den bisher erschienenen Bänden kann man sagen, daßsie noch mehr bietet; so auch ein Bild des geistlichen Schriftstellers undTheologen, das Pater Reisinger im Anhang zum ‚Theotimus‘ (Band 4)skizziert hat; des Ordensgründers aus den ‚Geistlichen Gesprächen‘und vielen Briefen, besonders an Johanna Franziska von Chantal (Band5) und an Schwestern der Heimsuchung (Band 7). In der Korrespon-denz im Überblick (Band 8) hat Pater Reisinger versucht, auch ein Bilddes Menschen und Heiligen Franz von Sales anzudeuten durch die Hin-weise auf seine innere Verfassung und Entwicklung in den verschiede-nen Lebensabschnitten. Dieser abschließende Band soll nun dem Ge-samtbild, vor allem dem Bild des Seelenführers, Seelsorgers und Bi-schofs, noch deutlichere Konturen geben durch eine Auswahl von Pa-storalschriften und von kleineren Schriften spirituellen Inhalts, vor al-lem aus den ‚Opuscules‘.

Von Anfang an als ‚Handlanger‘ an der Arbeit für diese Ausgabebeteiligt und mit den Absichten ihres Herausgebers vertraut, habe ichnach seinem unerwarteten Tod die Aufgabe übernommen und versucht,das Werk nach seinem Plan und in seinem Sinn zu Ende zu führen. Umes für eilige Leser, besonders für Seelsorger brauchbarer zu machen, isteine ‚Enzyklopädie‘ geplant, in der die Grundgedanken und Charakte-ristika der salesianischen Spiritualität in dieser Ausgabe aufgeschlos-sen werden sollen. Möge dieses Werk vielen von Nutzen sein, um mitFranz von Sales zu sprechen: „zur größeren Ehre Gottes und zum Heilder Seelen.“

Eichstätt, 28. Dezember 1982P. Anton Nobis OSFS

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InhaltsübersichtInhaltsübersichtInhaltsübersichtInhaltsübersichtInhaltsübersicht

Vorwort 5

A. Pastoralschriften

Einführung 11 I. Das Bischofsamt 12

1. Die bischöfliche Lebensregel 122. Ratschläge für Antoine de Revol 183. Eine Lebensregel für André Frémyot 224. Zeugnis für Pierre Fenouillet 235. Zwei Briefe an Jean-Pierre Camus 246. Über den Titel Monseigneur 26

II. Der Brief über die Predigt 29

III. Die Leitung der Diözese 501. Der Stand der Diözese Genf 502. Die Diözesansynode 57

Konstitutionen der Synode vom 2. Oktober 1603 58Konstitutionen der Synode vom 20. April 1605 62Konstitutionen der Synode vom 12. April 1617 66

3. Bestimmungen für die Katechese 71Für die Stadt Annecy 71Für die Pfarreien der Diözese 72

4. Weisungen für die Beichtväter 74Fragment von Ratschlägen für die Beichtväter 87Weisungen für die Unterscheidung der Geister 88

5. Aus dem Rituale der Diözese Genf 91Vorwort 91Vorlage für die Verkündigung 95Rechtfertigung von Riten 102

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IV. Die Führung und Förderung der Seelsorger 1041. Ermahnung zum Studium 1042. Über ein Lehrbuch der Theologie 1063. Vorsorge für gute Seelsorger 1084. Mitarbeiter im geistlichen Amt 113

V. Die Reform der Klöster 1181. Die Abtei Notre Dame von Sixt 1252. Die Abtei Notre Dame von Abondance 1373. Das Priorat von Talloires 1404. Das Priorat von Contamine 146

B. Schriften des geistlichen Lebens

Einführung 149 I. Selbstzeugnisse 151Regeln für den Empfang der heiligen Kommunion –Die geistliche Kommunion 151Die Lebensregel von Padua 152

1. Die Übung der Vorbereitung 1522. Persönliche Führung, um den Tag gut zu verbringen 1543. Übungen des geistlichen Schlafes oder der Ruhe 1574. Regeln für Beziehungen und Begegnungen 1605. Die öftere Kommunion: Vorbereitung und Danksagung 162

Außergewöhnliche Gnaden 164Fragmente über die seligste Jungfrau 165Zwei Gebete zur seligsten Jungfrau 168

II. Christliches Leben in der Welt 170Über die christliche Vollkommenheit 170Worin die Vollkommenheit besteht – Stufen des Gehorsams 172Ratschläge für die Baronin von Chantal 174Geistliche Ratschläge 175Gebet der werdenden Mutter 181Das Geheimnis des Friedens 182Über die Liebe im Urteilen 183

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Ratschläge gegen Traurigkeit und innere Unruhe 185Von der Unruhe (186) – Von der Traurigkeit (187) – Kennzei-

chen der schlechten Traurigkeit (188) – Einige Heilmittel (190)

III. Gebet und religiöse Übungen 193Avis, den Tag gut zu verbringen 193Avis für die Morgenübung 194Morgenübung und Übung der Wiedervereinigung 196Weisung, um der Messe recht beizuwohnen 197Stoßgebete und Gedanke an den Tod 198Gegenstände der geistlichen Einkehr 199Weisung für die Abendübung 201Ratschläge zu den vorhergehenden Übungen 201Fragment der Betrachtungsmethode 202Betrachtung über die Kreuzigung 203Ratschläge für die Betrachtung 212Meditation über die Geburt Jesu Christi 215Kleine Abhandlung über die heilige Kommunion 216Meditation vor der Monatskommunion 226Memorandum über die gute Beichte 228Über das Kreuzzeichen 246Methode des Rosenkranzgebetes 246

IV. Leichenrede für den Herzog de Mercoeur 249

V. Zur Spiritualität des Ordenslebens 279Pflichten durch Profeß und Amt 279Meditation zur Standeswahl 283Das Geheimnis der Berufung 284Die Perle der Vollkommenheit 288Absicht und Erwartungen beim Eintritt 294Absage an Welt, Fleisch und Eigenwillen 302Das Vorbild des Erlösers: die evangelischen Räte 309Fragment über Amt und Gehorsam 314Der Preis der reinen Liebe 316Die hochheilige Demut 320Auf die Versuchung gefaßt sein 326Ratschläge für die Gewissenserforschung 340Ratschläge für Obere 340

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VI. Vom Geist der Heimsuchung 342Zweck und Absicht der Gründung 342Regel und Konstitutionen 343Die hauptsächlichen Tugenden 346Übung der Demut (346) – Übung der Sanftmut (347) – Übungder Einfachheit (348) – Übung der Bescheidenheit (349) – Übungder brüderlichen Liebe (349) – Übung der Abtötung (350) –Übung der Geduld (350) – Übung des Gehorsams (351) – Übungder Keuschheit (352) – Übung der Hochherzigkeit (352) – Übungder starken inneren Frömmigkeit (353) – Übung der Gleichför-migkeit mit dem Willen Gottes (353)Ratschläge für das geistliche Leben 354Über den Gehorsam (354) – Über die Demut (356) – Über dieSanftmut (357) – Über die Einfachheit (358) – Über die Hoch-herzigkeit (359) – Über das Reden (360) – Wie man sich erhe-ben muß, wenn man gefallen ist (362) – Wie man nach dem hö-heren Seelenteil leben soll (364) – Wie man jeden Tag seine gu-ten Vorsätze erneuern soll (365) – Über die Gottes- und Nächs-tenliebe (368) – Über Trockenheit und Unfruchtbarkeit (370) –Über Versuchungen, besonders gegen die Berufung (370) – ÜberAbneigungen (371) – Über die Melancholie (372) – Über dasChorgebet (374) – Über das Gebet (375).Persönliche Ratschläge für meine Besserung 378Ratschläge für einzelne Schwestern 383Die Oberin in der Heimsuchung 388

VII. Das Geistliche Direktorium 402Vom Aufstehen der Schwestern und von der Ausrichtung derIntention (402) – Vom göttlichen Offizium (404) – Die Feier derheiligen Messe (405) – Von der Gewissenserforschung (406) –Vom Essen und von der Rekreation (407) – Vom Stillschweigen(409) – Vom Schlafengehen (411) – Von den Beichten (411) –Wie man zur heiligen Kommunion gehen soll (413) – Auffas-sung unseres hochverehrten Vaters über das Geistliche Direkto-rium (415).

Anmerkungen 417Namen- und Sachregister 425

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A. PA. PA. PA. PA. Pastoralschrifastoralschrifastoralschrifastoralschrifastoralschriftententententen

Die Biographien des hl. Franz von Sales schildern sein Wirken als Priesterund Bischof vor dem geschichtlichen Hintergrund eines politisch durch Kriegeerschütterten Landes und einer religiös gespaltenen und teilweise desorganisier-ten Diözese, deren Bischof im Exil lebte, seinen persönlichen Einsatz um diezum Calvinismus abgefallenen Gläubigen zurückzuführen; die langwierigen Ver-handlungen, um die materiellen Grundlagen für die Reorganisation des katho-lischen Gottesdienstes und der Seelsorge zu schaffen.

Seine Schriften vermitteln einen unmittelbaren Eindruck vom Geist und vonden Methoden dieses Wirkens. Sie zeigen seine hohe Auffassung vom Bischofs-amt, wie er sie für sich selbst und für befreundete Bischöfe dargestellt hat. DieDokumente über die Leitung der Diözese geben Einblick in die damalige kirch-liche und pastorale Situation sowie in die Wege, die Franz von Sales für dieVerbesserung der Seelsorge einschlug. Eine wichtige Voraussetzung dafür wardie Förderung und Führung der Seelsorger, eine Hebung ihres Bildungsstandesund die Reform ihrer Lebensführung.

Wirksame Hilfe in der Seelsorge fand der Bischof in Ordensleuten, besondersin den Kapuzinern und Jesuiten, die schon im Chablais seine Mitarbeiter waren,später in den Barnabiten, die er in der Jugenderziehung einsetzte, und in denFeuillanten. So sehr er sie schätzte und förderte, so sehr bedrückte ihn derVerfall der monastischen Klöster in seiner Diözese, ihre Reform blieb einedornenvolle Aufgabe bis an sein Lebensende. Seine Reformversuche in Frauen-klöstern sind bereits in Band 7 enthalten, deshalb werden hier nur Männerklö-ster behandelt.

Bei all diesen Texten ist aus dem geschichtlichen Zusammenhang zu erklären,was zeitbedingt ist; es trägt dazu bei, das Bild des Heiligen als Seelsorger undBischof zu vervollständigen. Sie erhalten aber auch zeitlos gültige Elementeeiner Spiritualität der Seelsorge und der Seelsorger.

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I. Das Bischofsamt

1. Die bischöfliche Lebensregel1

1.

Erstens, was das Äußere betrifft, wird Franz von Sales, Bischof vonGenf, keine seidenen Kleider tragen, noch solche, die kostbarer sindals jene, die er bisher getragen hat; sie sollen jedoch sauber und sei-nem Körper gut angepaßt sein.

Er wird an seinen Füßen keine Schuhe mit Pantoffeln oder Galo-schen tragen, sowohl weil das nach der Eitelkeit der Welt aussieht, alsauch, weil es durch die Statuten seiner Kirche verboten ist.

Er wird nie ohne Rochet und Mozetta in die Kirche gehen, noch indie Stadt; und er wird das bezüglich der Mozetta sogar im Haus beob-achten, soweit es möglich ist. Im Haus, in der Kirche und in der Stadtwird er stets, soweit es die Umstände erlauben, sein Birett tragen.

Er wird am Finger nur den Ring tragen, den man den Hirtenringnennt, den die Bischöfe tragen müssen als Zeichen der Verbindung,die sie eingegangen sind und die sie ihrer Kirche verpflichtet hält,nicht weniger streng als die Gatten ihren Ehefrauen.

Er wird keine parfümierten oder sehr teuren Handschuhe tragen,noch einen seidenen und gefütterten Muff; er wird aber wählen, wasdem Anstand, der Höflichkeit und der Notwendigkeit entspricht. SeinGürtel kann aus Seide sein, doch nicht kostbar, und an ihm befestigtwird er seinen Rosenkranz tragen. Seine Schuhbänder sollen nichtaus Seide sein, ebenso nicht seine Kniestrümpfe.

Seine Tonsur wird stets so sein, daß man sie sehr gut erkennen kann‚sein Bart rund, nicht spitz, und ohne Schnurrbart, der die Oberlippebedeckt.

Er wird sich bemühen, keine unnötigen und überflüssigen Dienerzu haben. Davon wird er zwei Geistliche haben, von denen einer alleseine Geschäfte führt und der andere ihm bei den Gottesdienstenassistiert. Er wird auch mit einem auskommen; aber gegenwärtignimmt er deren zwei mit Rücksicht auf André de Sauzéa, Doktor deskanonischen Rechtes und Baccalaureus der Theologie; da er ein gu-ter Prediger ist, kann er in dieser Diözese von großem Nutzen sein.Sie werden nach der römischen Art gekleidet sein, wenn es sich ma-

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chen läßt, in aller Bescheidenheit, oder auch wie die Priester des Se-minars von Mailand, weil diese Art der Kleidung weniger kostet undbequemer ist. Einen Sekretär, zwei Kammerdiener, den einen für sich,den anderen für die Dienerschaft, einen Koch mit seinem Gehilfenund einen Lakaien, der lohfarben mit violetten Rändern gekleidet ist.Keiner seiner Diener wird einen Federbusch tragen, keinen Degen,keine Kleider von schreiender Farbe, keine langen Haare noch zuaufgezwirbelte Bärte.

Sie werden jeden zweiten Sonntag des Monats beichten und kom-munizieren, entsprechend den Statuten der Bruderschaft der Büßervom heiligen Kreuz, der sie beitreten werden, und werden in der Mes-se des Bischofs kommunizieren. Sie werden jeden Tag der Messe bei-wohnen und an den Sonn- und Festtagen dem ganzen Gottesdienst inder Kathedrale. Alle werden um 5 Uhr aufstehen; an den Festtagenaber, wenn man zur Matutin gehen muß, um 4 Uhr. Sie werden um 10Uhr abends schlafen gehen; vorher aber werden sie sich im Saal ver-sammeln, um die Litanei zu beten: am Sonntag vom Namen Jesu, amMontag von allen Heiligen, am Dienstag von den Engeln, am Mitt-woch vom heiligen Apostel Petrus, dem Patron der Kirche von Genf,am Donnerstag vom allerheiligsten Sakrament, am Freitag vom Lei-den Unseres Herrn, am Samstag von der glorreichen Jungfrau Maria,unserer Herrin, außer wenn diese Litaneien aus Anlaß irgendeinesFestes verschoben werden müssen. Der Bischof wird das Gebet spre-chen, man wird die Gewissenserforschung machen und dann werdensich alle zurückziehen.

In jedem Zimmer soll eine Gebetsecke sein und in ihr das Weih-wasser mit irgendeinem frommen Bild und Agnus Dei. Zwei Zimmersollen tapeziert sein, das eine für die Fremden, das andere, um fürGeschäfte zu dienen, d. h. der Saal. Stets wird jemand da sein, der sichdamit befaßt, Besucher zu empfangen und hereinzuführen; er wirdhöflich und freundlich sein und sich bemühen, niemand zu kränken,wer immer es sei. Es ist eine zu große Unverschämtheit bei den Die-nern eines Prälaten, die niederen Geistlichen zu verachten. Alle, dieim Dienst des Bischofs von Genf stehen, werden ermahnt und gewöh-nen sich daran, alle höflich zu behandeln, vor allem aber die Priester.

Was die Tafel betrifft, sei sie maßvoll und, wie das Konzil sagt,‚frugal‘ aber doch passend und sauber. Die Priester sitzen an ihr, undsoweit es sich machen läßt, nehmen sie die ersten Plätze ein. Jeder

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wird für sich die Tafel segnen und ebenso die Danksagung sprechen,ausgenommen an Festtagen; denn da wird der Bischof den Segen unddie Danksagung machen, wie er auch an allen Tagen das Gebet spre-chen wird: ‚Herr, segne uns‘, weil das Geringere den Segen des Grö-ßeren empfangen muß (Hebr 7,7). Bis zur Mitte des Mittag- oderAbendessens wird man irgendein frommes Buch lesen; der Rest die-ne ehrenhaften Gesprächen. Das Mittagessen wird um 10 Uhr, dasAbendessen um 6 Uhr sein. An den Festtagen wird man sich zumImbiß nicht setzen; dann ist das Mittagessen um 11 Uhr und der Im-biß (Kollation) um 7 Uhr.

Was das Almosen betrifft, muß man die Tage einhalten, die der Hoch-würdigste Herr gewählt hat, damit es öffentlich geschehe. Man mußsich bemühen, daß es im Winter größer ist als im Sommer, besondersvon Dreikönig an, denn da bedürfen die Armen dessen mehr; unddazu wird man Gemüse verteilen. Ich weiß nicht, ob es günstig wäre,daß der Bischof das Almosen eigenhändig verteilt, wenn er sieht, daßsich das gut machen läßt: so am Mittwoch der Karwoche oder amDonnerstag und Karfreitag. Beim Mandatum am Gründonnerstag wirdman den Armen zu essen geben, bevor man ihnen die Füße wäscht,oder auch nachher, wenn das Mandatum am Morgen gehalten wird,wie es der Hochwürdigste Herr machte. Man muß sich bemühen, daßdie Almosen beachtlich sind, die man den Minderbrüdern gibt, denDominikanern, den Kapuzinern, den Klarissen und dem Hospital,sowohl des Beispiels wegen als auch wegen der größeren Wirksam-keit dem Volk gegenüber. Was andere und außergewöhnliche Almo-sen betrifft, wird die Salbung (1 Joh 2,27) lehren, was zu tun ist.

Was die Gottesdienste betrifft, wird der Bischof an allen gebotenenFesttagen der ersten und zweiten Vesper beiwohnen, dem Hochamtund dem Chorgebet, das vor oder nach ihm verrichtet wird; an denHochfesten aber außerdem der Matutin. Er wird die Messe und dasChorgebet feiern in der Heiligen Nacht und am Tag der Geburt desHerrn, am Dreikönigsfest, am Ostersonntag und Pfingstsonntag, amFronleichnamsfest, am Fest Peter und Paul und am Fest Petrus inKetten, dem Patrozinium der Kathedrale von Genf, am Fest der Auf-nahme Unserer lieben Frau, am Allerheiligenfest und am Jahrestagseiner Weihe. – Während der ganzen Oktav von Fronleichnam wirder dem Chorgebet beiwohnen, er wird am vorhergehenden Sonntagpredigen, um das Volk auf seine Pflicht hinzuweisen, damit es die

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Ablässe gewinnt. Am Festtag, am Sonntag in der Oktav und am Ok-tavtag wird er den Segen in der Kirche der Klarissen halten, sowohlzu ihrem Trost als auch, weil diese Kirche gewöhnlich voller Leute istund dies der letzte Segen ist, der in der Stadt gehalten wird.

Soweit es geschehen kann, wird er sehr oft an den Gottesdienstenund Übungen der Bruderschaft vom heiligen Kreuz, vom heiligstenSakrament, vom Rosenkranz und vom Kordon teilnehmen, vor allemaber an der vom heiligen Kreuz wegen der Kommunion, die dabeigehalten wird, und er wird sich bemühen, das möglichst oft zu tun. Soviel zum Äußeren.

Nun, was das Innere betrifft, und an erster Stelle das Studium. Erwird es in der Weise machen, daß er jeden Tag etwas lernen kann, wasindessen nützlich und seinem Beruf dienlich ist. Gewöhnlich wird erfür das Studium die zwei Stunden zwischen 7 und 9 Uhr morgens zurVerfügung haben; nach dem Abendessen wird er eine Stunde langirgendein frommes Buch lesen lassen; das wird zum Teil für das in-nerliche Gebet sein.

Am Morgen nach der gewohnten Danksagung, der Anrufung desgöttlichen Beistands und der Aufopferung seiner selbst wird er eineStunde lang darüber meditieren, was er sich vorher zurechtgelegt hat.Er wird sich immer in der Gegenwart Gottes halten und ihn bei jederGelegenheit anrufen. Was die Stoßgebete betrifft, wird er sie entwe-der aus der Betrachtung am Morgen gewinnen oder aus verschiede-nen Gegenständen, die sich bieten; sie werden mündlich oder geistigsein, je nachdem er vom Heiligen Geist angeregt wird, und er wirdsich davon eine kurze Sammlung anlegen, um Gott anzurufen, dieseligste Jungfrau, die Engel und die Heiligen, zu denen er eine beson-dere Verehrung hat.

Das Offizium wird er gewöhnlich stehend oder kniend rezitieren:Matutin und Laudes am Abend nach der frommen Lesung; Prim, Terz,Sext und Non zwischen 6 und 7 Uhr morgens, d. h. nach der Betrach-tung; Vesper und Komplet vor dem Abendessen und den Rosenkranznach der Vesper, mit den Meditationen, zumal er durch ein Gelübdeverpflichtet ist, ihn zu beten. Wenn er eine dringende Aufgabe vor-aussieht, kann er die Zeit der Vesper und Komplet vorverlegen. AnFesttagen wird er die Horen und die Vesper mit dem Chor rezitierenund den Rosenkranz während des Hochamts beten. Um 9 Uhr mor-gens wird er weggehen, um das hochheilige Meßopfer darzubringen,

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das er jeden Tag feiern wird, außer wenn er durch dringendste Not-wendigkeit verhindert ist. Und um es mit größerer Frömmigkeit zufeiern, wird er sich eine Sammlung und Zusammenstellung verschie-dener Erwägungen und Affekte anlegen, durch die die Verehrung fürdieses große Geheimnis angespornt werden kann; damit wird er sichbefassen und sie erwägen, wenn er das Zimmer verläßt und währender zum Altar geht. Wenn er in der Sakristei angekommen ist, wird erdie Vorbereitung nicht zu kurz und nicht zu lang machen, um dieWartenden nicht zu langweilen und zu ermüden; ebenso wird dieDanksagung sein. Nach der Messe, bei der er eine Haltung sanfterWürde wahrt, wird er mit niemand sprechen; wenigstens während erzur Messe geht, und vor allem nicht über weltliche Dinge, damit derGeist ganz in sich selbst gesammelt sei. Es wird nicht unangebrachtsein, wenn er an sogenannten Tagen der Frömmigkeit die Messe inKirchen feiert, wo sie gehalten wird, damit das Volk, das dazu kommt,seinen Bischof stets an der Spitze findet; so an den großen Festendieser Kirchen, und wenn dort Ablässe gewonnen werden.

Die Abendübung wird er mit der Hausgemeinschaft halten. Er wirdjeden zweiten oder dritten Tag beichten, außer wenn es die Notwen-digkeit anders verlangt, beim fähigsten Beichtvater, den er bequemhaben kann, den er nicht ohne Notwendigkeit wechseln wird. Er wirdmanchmal in der Kirche vor den Augen aller beichten, um allen alsBeispiel zu dienen.

Außer an den Fasttagen, die die Kirche geboten hat, wird er amVortag aller Feste Unserer lieben Frau, an allen Freitagen und Samsta-gen fasten.

Jedes Jahr wird er während acht, und wenn er kann, mehr TagenRekollektion und Reinigung seiner Seele halten und während dieserZeit wird er sich über seine Erfolge und Fortschritte seit dem letztenJahr erforschen. Und nachdem er die hauptsächlichen Sünden festge-stellt hat, wird er sich darüber vor seinem Beichtvater anklagen, mitdem er seine schlechten Neigungen und Schwierigkeiten im Gutenbesprechen wird. Wenn das geschehen ist, wird er viel beten, vor al-lem innerlich, mit der Aufopferung der Messen, die er in dieser Zeitfeiert und feiern läßt, um von Gott die notwendige Gnade zu erlangenfür seine eigene Führung und die seiner Kirche. Und er wird alleguten Vorsätze und Absichten erneuern, die Gott ihm geschenkt hat.Zu diesem Zweck wird er, bevor er sich zur Beichte einfindet, dieAufzeichnung aller seiner Entschlüsse wieder lesen und von neuem

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vermerken, damit er hinzufügen kann, was ihn die Erfahrung gelehrthat.

Die Zeit dieser Rekollektion kann nicht gut festgelegt werden, au-ßer daß die Wochen des Karneval dafür geeignet scheinen, sowohl umnicht Zeuge des Übermuts und der Ausgelassenheit des Volkes zusein, als auch, um aus der Einsamkeit zur Predigt und zu großen Wer-ken zu schreiten nach dem Beispiel unseres Heilands und ErlösersJesus Christus und seines Vorläufers, des hl. Johannes des Täufers(Mt 4,1.17; Lk 3,2f; 4,1 ff). Wenn er indessen die Hoffnung hat, dasVolk von dieser Ausgelassenheit durch irgendeine größere Übungabzuhalten (wovon in den Artikeln über die Öffentlichkeit zu spre-chen sein wird)2, dann wird er für diese Rekollektion eine der Wo-chen zwischen Ostern und Pfingsten wählen müssen, damit der GeistGottes, den man dabei erwirbt, das Gute dieser Hochfeste und derFronleichnamsoktav bewirken; auch noch deswegen, weil man zu derZeit weniger von Geschäften gedrängt wird und weil diese Zeit sehrgeeignet ist für die Reinigung der Seele wie des Leibes, zumal diePurgation des Körpers als Vorwand dienen kann für die Läuterungder Seele. – – –

2.

– – – Deshalb beschließe ich mein Tun mit dem großen Verlangen,in dieser kostbaren Liebe Fortschritte zu machen. Und um mich da-für bereit zu machen:

Am Morgen, nachdem ich Gott angerufen und mich ihm übergebenhabe, werde ich eine Stunde Betrachtung halten nach dem, was ichvorgesehen habe. Während des Tages werde ich viele Stoßgebete ver-richten, je nachdem mich der Heilige Geist dazu anregen wird. Umdie heilige Messe mit größerer Frömmigkeit zu feiern, werde ich michebenfalls, bis ich am Altar bin, mit allen Erwägungen und Affektenbefassen, durch die die Verehrung für dieses große Geheimnis ange-facht werden kann.

Jedes Jahr werde ich acht oder zehn Tage Retraite halten, um denFortschritt meiner Seele zu prüfen, ihre Neigungen, ihre Schwierig-keiten, ihre Fehler. In dieser Retraite sieht man den Himmel sehrnahe und findet die Erde seinen Augen und seinem Geschmack sehrfern. Weil die heiligen Seelen, die für die Öffentlichkeit verpflichtetsind, dieses Glück nicht genießen können, errichten sie eine Kammer

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in ihrem Herzen, wo sie das Gesetz ihres Meisters kennenlernen undes aus seiner eigenen Hand empfangen. Auf diesem Berg, der so hochist, daß man dort den Lärm der Geschöpfe nicht hört, erfährt manaußerdem, daß Gott gütig und mild ist, wie der Prophet (Ps 34,9) sagt.Durch diese Übung erfahren wir, ob wir in der Tugend Fortschrittemachen. Mit einem Wort, in dieser Zeit und an diesem Ort faßt manheilige und gediegene Entschlüsse, nach den Gesetzen der wahrenund ewigen Weisheit zu leben.

2. Ratschläge für Antoine de Revol3

Mein Herr, ich habe zwei Briefe von Ihnen empfangen, auf die ichnoch nicht geantwortet habe, denn als sie hier ankamen, war ich nichthier, sondern in Piemont, wohin ich wegen der zeitlichen Güter die-ses Bistums zu reisen gezwungen war. Nun sende ich Ihnen die Er-mächtigung von Rom, mein Herr, die Sie gewünscht haben; ich hattesie geöffnet, um zu sehen, ob sie alles enthält, was Sie brauchen; undich sehe, daß sie alles enthält und noch etwas, was Sie nur zu tunbrauchen, ohne irgendwie der Ermächtigung für den Rest vorzugrei-fen, die erforderlich ist. Damit ist also mein Versprechen in diesemPunkt erfüllt. Wenn Sie noch irgendeine Schwierigkeit haben, verfü-gen Sie mit gleichem Vertrauen über mich; ich versichere Ihnen, meinHerr, ich werde nie unterlassen, Ihnen einen Dienst zu erweisen zuIhrem Trost und für Ihren Geist, von dem ich hoffe, daß Gott ihn zumDienst vieler anderer verwenden wird.

Der zweite Teil meines Versprechens ist für mich viel schwerer zuerfüllen wegen der endlosen Geschäfte, die auf mir lasten; ich glaubeja, daß meine Aufgabe beschwerlicher ist als die jedes anderen imgleichen Amt. Hier ist dennoch eine Zusammenfassung dessen, wasich Ihnen vorzuschlagen habe.

Sie treten in den geistlichen Stand ein und gleichzeitig an die Spitzedieses Standes. Ich will Ihnen sagen, was einem Hirten gesagt wurde,der erwählt war, König von Israel zu sein: Du wirst dich zu einemanderen Menschen wandeln (1 Sam 10,6). Sie müssen ein ganz ande-rer werden in Ihrem Leben und in Ihrem Äußeren. Und um diesengroßen, feierlichen Wandel zu vollziehen, müssen Sie Ihren Geistumkehren und ihn ganz durchschütteln. Möge es Gott gefallen, daßunser Amt, stürmischer als das Meer, auch die Eigenschaft des Mee-

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res habe, daß jene, die sich auf ihm einschiffen, alle schlechten Eigen-schaften ablegen und ausspeien. Dem ist aber nicht so; denn sehr oftschiffen wir uns ein und ganz altersschwach setzen wir das Segel nachdem Wind, und je weiter wir segeln und auf hoher See vorankommen,um so mehr schlechte Eigenschaften nehmen wir an. Doch Gott seigepriesen, der Ihnen das Verlangen geschenkt hat, es nicht ebenso zumachen; ich hoffe, daß er Ihnen dazu auch das Können schenken wird,damit sein Werk in Ihnen vollendet werde (Phil 1,6; 2,13).

Um Hilfe bei dieser Umwandlung zu finden, müssen Sie sich derLebenden und der Toten bedienen: der Lebenden, denn Sie müsseneinen oder zwei recht geistliche Menschen finden, um aus dem Um-gang mit ihnen Nutzen zu ziehen. Es ist eine ganz große Erleichte-rung, Vertraute für den Geist zu haben. Ich übergehe Herrn Duval,der zu allem gut und allgemein für solche Aufgaben geeignet ist. Ichnenne Ihnen dafür einen anderen, Herrn Gallemand, Pfarrer vonAumale; wenn er zufällig in Paris wäre, weiß ich, daß er Ihnen vielhelfen wird. Ich nenne Ihnen dafür einen dritten, einen Mann, demGott viel gegeben hat, dem man sich unmöglich ohne großen Nutzennähern kann; das ist Herr de Bérulle. Er ist ganz so, wie ich selbst zusein wünschen könnte. Ich habe kaum einen Geist gesehen, der mir sogefällt wie dieser; vielmehr, ich habe keinen gesehen und bin keinembegegnet. Er hat aber den Nachteil, daß er sehr beschäftigt ist. Manmuß von ihm mit so großem Vertrauen Nutzen ziehen wie von kei-nem anderen, aber mit einiger Rücksichtnahme auf seine Aufgaben.Ich habe einen sehr engen Freund, den Herr Raubon kennt, das istHerr von Soulfour; er vermag in diesen Dingen sehr viel. Ich wünsch-te, daß Sie ihn kennenlernen, weil ich glaube, daß Sie davon großenNutzen haben werden.

Was die Toten betrifft, müssen Sie eine kleine Bibliothek an geistli-chen Büchern von zweierlei Art haben: die einen für Sie, insofern SieGeistlicher sein werden, die anderen für Sie, insofern Sie Bischofsein werden. Die von der ersten Art müssen Sie haben, ehe Sie dasAmt antreten, sie lesen und von ihnen Gebrauch machen; denn manmuß mit dem monastischen Leben beginnen, ehe man zur Verwaltungund zum öffentlichen Leben kommt. Ich bitte Sie, daß Sie den ganzenGranada haben; er soll ihr zweites Brevier sein. Kardinal Borromäushatte keine andere Theologie für die Predigt als das, und trotzdempredigte er sehr gut. Aber das ist nicht die hauptsächliche Verwen-

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dung; die ist vielmehr, Ihren Geist zur Liebe der wahren Frömmig-keit zu bilden und zu den geistlichen Übungen, die für Sie notwendigsind. Meiner Meinung nach sollten Sie ihn zu lesen beginnen mit demgroßen ‚Führer der Sünder‘, dann übergehen zum ‚Memorial‘ und ihnschließlich ganz lesen. Um ihn aber fruchtbringend zu lesen, darfman nicht an ihm naschen, sondern muß ihn durchdenken und abwä-gen, Kapitel für Kapitel durchkauen und auf die Seele anwenden mitvielen Erwägungen und Gebeten zu Gott. Man muß ihn lesen mitEhrfurcht und Frömmigkeit als ein Buch, das die nützlichsten Anre-gungen enthält, die die Seele von oben empfangen kann, um dadurchalle Fähigkeiten der Seele umzugestalten, sie zu läutern durch denAbscheu vor allen schlechten Neigungen und sie auf ihr wahres Zielauszurichten durch feste und große Entschlüsse.

Nach Granada empfehle ich ihnen die Werke Estellas sehr, vor al-lem ‚Über die Eitelkeit der Welt‘, und alle Werke des Jesuiten Arias.Die ‚Bekenntnisse‘ des hl. Augustinus werden äußerst nützlich für Siesein, und wenn Sie mir glauben, werden Sie diese in Französisch nachder Übersetzung des Bischofs Hennequin von Rennes benützen. Auchder Kapuziner Bellintani ist geeignet, um darin ausdrücklich mehre-re schöne Erwägungen über alle Geheimnisse unseres Glaubens zufinden, ebenso die Werke des Jesuiten Coster. Doch nach allem fälltmir ein, Ihnen die ‚Geistlichen Briefe‘ des Johannes Avila zu emp-fehlen; ich bin überzeugt, Sie werden in ihnen viele schöne Erwägun-gen und Lektionen für sich und andere finden. Und im gleichen Zugempfehle ich ihnen die Briefe des hl. Hieronymus in seinem ausge-zeichneten Latein.

Um Ihnen in der Führung Ihrer Geschäfte als Bischof zu helfen,sollen Sie das Buch der ‚Casus conscientiae‘ des Kardinals Toletushaben und es oft gebrauchen. Es ist kurz, leicht und sicher; es wirdIhnen für den Anfang genügen. Lesen Sie die ‚Morales‘ des hl. Gregorund seine ‚Pastoral‘, den hl. Bernhard in seinen Briefen und in denBüchern von der ‚Consideration‘. Wenn Sie aber eine Zusammenfas-sung des einen und des anderen haben wollen, sollen Sie das Buch desErzbischofs von Braga mit dem Titel ‚Stimulus Pastorum‘ haben, inLatein gedruckt bei Kerner. Die ‚Decreta Ecclesiae Mediolanensis‘sind notwendig für Sie, ich weiß aber nicht, ob sie in Paris gedrucktwurden. Ebenso wünsche ich, daß Sie die Lebensbeschreibung desseligen Karl Borromäus besitzen, ausführlich beschrieben in Lateinvon Karl von der Basilica Petri, denn darin werden Sie das Modell

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des wahren Hirten finden. Vor allem aber sollen Sie stets das Konzilvon Trient zur Hand haben und seinen ‚Katechismus‘.

Ich glaube nicht, daß Ihnen das für das erste Jahr nicht genügenwird, denn nur von dem spreche ich. Denn für den Rest werden Sieeine bessere Führung als das haben und selbst durch das, was Sie imersten Jahr gewonnen haben, wenn Sie sich festigen in der Einfach-heit, die ich ihnen vorschlage. Aber entschuldigen Sie mich bitte,wenn ich mit diesem Vertrauen vorgehe, denn ich vermöchte nichtanders zu handeln wegen der hohen Meinung, die ich von Ihrer Güteund Freundschaft habe.

Ich will noch diese zwei Worte hinzufügen. Das eine, daß es unend-lich wichtig für Sie ist, die Weihe zu empfangen mit großer Ehrfurchtund Bereitschaft und mit der vollen Überzeugung von der Größe desMysteriums. Es wird Ihnen sehr helfen, wenn es Ihnen möglich ist,den Kommentar zu bekommen, den Stanislaus Socolovius dazu ge-schrieben hat unter dem Titel ‚De sacra Episcoporum consecrationeet inauguratione‘, wenigstens nach meinem Exemplar;4 denn es istwirklich ein schönes Werk. Sie wissen, daß in allen Dingen der An-fang sehr beachtenswert ist, und man kann wohl sagen: primum inunoquoque genere est mensura caeterorum.5

Der zweite Punkt ist, daß ich Ihnen großes Vertrauen wünsche undeine besondere Verehrung zum heiligen Schutzengel und Fürspre-cher Ihrer Diözese, denn es ist ein großer Trost, bei allen Schwierig-keiten des Amtes zu ihm seine Zuflucht zu nehmen. Alle Väter undTheologen stimmen darin überein, daß die Bischöfe außer dem be-sonderen Engel, der ihnen für ihre Person gegeben ist, den Beistandeines anderen haben, der ihnen für ihre Aufgabe und ihr Amt verlie-hen ist. Sie müssen großes Vertrauen zum einen und zum anderenhaben und durch ihre oftmalige Anrufung eine gewisse Vertrautheitmit ihnen schaffen, vor allem für die Amtsführung mit dem für dieDiözese, wie auch mit dem heiligen Patron Ihrer Kathedrale. Über-dies, mein Herr, werden Sie mich sehr verpflichten, wenn Sie michbesonders lieben und mir den Trost verschaffen, mir vertrauensvollzu schreiben; und glauben Sie, daß Sie in mir einen Diener haben undeinen Bruder in der Berufung, so treu wie kein anderer.

Ich habe zu sagen vergessen, daß Sie unbedingt den Entschluß fas-sen müssen, Ihrem Volk zu predigen. Nach dem Vorbild aller Altenhat das heilige Konzil von Trient (sessio V, cap. 2) bestimmt, daß es„die erste und vornehmste Pflicht des Bischofs ist zu predigen“. Las-

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sen Sie sich zu keiner Überlegung verleiten, die Sie von diesem Ent-schluß abbringen könnte. Tun Sie es nicht, um ein großer Prediger zuwerden, sondern einfach, weil Sie dazu verpflichtet sind und weil Gottes will. Die väterliche Ansprache eines Bischofs wiegt mehr als dieKunst ausgefeilter Predigten von Rednern anderer Art. Für einen Bi-schof braucht es wenig, um gut zu predigen, denn seine Ansprachenmüssen von notwendigen und nützlichen Dingen handeln, nicht vonausgefallenen und gesuchten. Seine Worte seien einfach, nicht gekün-stelt; seine Aktion väterlich und natürlich, ohne Kunst und Berech-nung; und wie kurz sie auch sein mag und wie wenig er sagt, es istimmer viel. Das alles sei für den Anfang gesagt, denn der Anfang wirdSie dann das übrige lehren. Ich sehe, daß Sie Ihre Briefe so gut undflüssig schreiben, daß Sie nach meiner Meinung gut predigen werden,wenn Sie nur ein wenig den Entschluß dazu fassen. Trotzdem sage ichIhnen, mein Herr, daß man nicht nur ein wenig den Entschluß fassenmuß, sondern sehr, und einen guten und unüberwindlichen.

Ich bitte Sie, mich Gott zu empfehlen. Ich werde Ihnen die Gegen-leistung erbringen und werde mein ganzes Leben lang sein, mein Herr,Ihr sehr demütiger und ergebener Diener

Franz, Bischof von Genf.Zu Neci, am 3. Juni 1603.

3. Eine Lebensregel für André Frémyot6

Monseigneur, um Ihnen zu gehorchen, sende ich Ihnen diese arm-selige Schrift, die für Sie in den meisten Punkten unnütz sein wird. Esist nicht sicher, ob es nicht wünschenswert wäre, daß unsere bischöf-lichen Häuser diesem Reglement unterworfen sind. Wir wissen, wasder hl. Paulus (1 Tim 3,1-5; Tit 1,6-8) sagt; ich weiß aber aus eigenerErfahrung, daß man sich der Notwendigkeit der Zeit, des Ortes, desAnlasses und unserer Aufgaben anpassen muß. Ich gestehe Ihnen, daßich keine Bedenken habe, von meiner Lebensordnung abzuweichen,wenn mich der Dienst meiner Herde festhält; denn dann muß dieLiebe stärker sein als unsere eigenen Neigungen, so gut sie unsereEigenliebe uns auch erscheinen läßt. Als ich diese Schrift verfaßte,die ich Ihnen sende, war meine Absicht nicht, mich einzuengen, son-dern vielmehr, mir eine Ordnung zu geben,7 ohne mich zu irgendwel-

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chen Gewissensskrupeln zu verpflichten, denn Gott hat mir die Gna-de verliehen, die hochheilige Freiheit des Geistes ebenso zu liebenwie die Zügellosigkeit und Leichtfertigkeit zu hassen. Monseigneur,mit dem großen Bischof von Hippo müssen wir sagen: Amor meuspondus meum (meine Liebe ist meine Last). – – –

4. Zeugnis für Pierre Fenouillet8

Heiliger Vater! Über die Sitten und die Herkunft des Pierre Fe-nouillet, der vom allerchristlichsten König für den Bischofssitz vonMontpellier nominiert wurde, habe ich umfangreiche Zeugnisse ge-sammelt, die nach der Gepflogenheit dem Apostolischen Stuhl über-geben werden. Dabei konnte ich mich nicht enthalten, zu Füßen Eu-rer Heiligkeit als des liebenswertesten und geliebtesten Vaters allerKirchen den Ausdruck des Glückwunsches darzubringen.

Die Diener und Hausgenossen pflegen ja den Familienvater mitRecht zu beglückwünschen, wenn er eine Tochter für eine glücklicheund ehrenvolle Heirat bestimmt hat. Die Kirche von Montpellierbrauchte um so mehr einen guten Bräutigam, als sie bisher von denHäretikern schlimmste Unbill erleidet. Man kann deshalb nicht zuUnrecht von ihr sagen: Groß wie das Meer ist deine Bedrängnis; werwird dir Abhilfe schaffen ? (Klgl 2,13). Daher ist es angebracht, daßdie Hausgenossen Gottes zunächst jene Diözese, um deren rechteVerleihung es sich handelt, aber auch die römische Kirche als diebeste Mutter beglückwünschen.

Das mache ich um so lieber und berechtigter, als ich den Mann, umdessen Ernennung es sich handelt, am besten von allen kenne. Er istnämlich mein Mitbürger, Heiliger Vater, und von seinem ausgezeich-neten Vater in dieser unserer Stadt von Jugend an in der Wissenschaftausgebildet. Später widmete er sich an anderen Orten mit solchemEifer und so glücklicher Geistesgabe dem Studium, daß er zum Dok-tor der Theologie erklärt, in kurzer Zeit ein sehr berühmter Predigerwurde. Als er deshalb von mir die Sorge für eine Pfarrkirche empfingund zum Kanonikus unserer Kathedrale berufen wurde, konnte die-ses Talent nicht länger in so engen Grenzen festgehalten werden. Sowurde er zu Fastenpredigten nach Paris eingeladen, wo die Kraft sei-ner Rede und Lehre zunächst dem christlichen König zu Ohren kam;darauf stand es ihm nicht mehr frei, daß ihm die Ehre und Bürde des

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Hofpredigers zuteil wurde. Dabei zeigte er immer mehr eine Stärkedes Geistes und eine Kraft der Lehre; was viele berühmte Männersonst kaum in vielen Jahren und durch einflußreichste Fürsprecherzu erreichen vermochten, das hat er in drei Jahren erreicht, nämlich,daß er vom König dem Apostolischen Stuhl für die Ernennung zumBischof von Montpellier vorgeschlagen wurde. Als die Katholikenvon Montpellier davon erfuhren, erfüllte sie große Freude und siesandten einige der Vornehmsten zum König, um im Namen aller füreinen so guten Hirten zu danken, der für sie bestimmt ist.

Unter diesen Umständen, Heiliger Vater, ist leicht einzusehen, wieglücklich die Entscheidung ist, dieses Bistum diesem Mann anzuver-trauen, der in allen Stufen des geistlichen Amtes geübt, gleichsam alstreuer Wächter auf seine Mauern steigt, der Tag und Nacht nicht ab-lassen wird, den Namen des Herrn anzurufen (Jes 62,6). Das wird erum so freudiger tun, wenn Eure Heiligkeit ihn mit väterlichem Wohl-wollen ermutigt, begünstigt und bestärkt.

Als sein bisheriger Bischof bitte ich daher ob seiner Verdiensteum die Diözese Genf Eure Heiligkeit als den besten Vater beiderdurch die Verdienste Christi inständig, indem ich Ihre Füße demü-tig küsse ...

5. Zwei Briefe an Jean-Pierre Camus9

1.

Monseigneur, ich teile die Freude Ihres Volkes, das den Vorteil hat,aus Ihrem Mund die heilsamen Wasser des Evangeliums zu empfan-gen, und ich freue mich darüber um so mehr, wenn es diese mit derLiebe und Dankbarkeit annimmt, die der Mühe gebührt, die Sie sichmachen, um sie so überreich zu verbreiten. Aber man muß von denKindern viel erdulden, Monseigneur, solange sie klein sind, wohl auch,daß sie die Brust beißen, die sie nährt, und man darf sie ihnen den-noch nicht vorenthalten. Die vier Worte des großen Apostels (2 Tim4,2) müssen uns als Leitsatz dienen: gelegen oder ungelegen, in allerGeduld und Lehrweisheit. Er stellt die Geduld an den ersten Platz alsdie notwendigere, ohne die alle Lehrweisheit nichts nützt. Er willwohl, daß wir es erdulden, daß man uns unbequem findet, weil er unslästig zu fallen lehrt durch sein ‚ungelegen‘. Fahren wir nur fort, den

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Acker gut zu bestellen, denn es liegt nicht an dem so unfruchtbarenBoden, daß die Liebe des Arbeiters keine Frucht bringt ...

2.

Monseigneur, Ihren Brief, den Sie mir freundlicher Weise am 2.Juli schrieben, habe ich erst vor etwa einem Monat erhalten. Seitherwar ich immer auf Reisen oder krank und konnte Ihnen nicht dieAntwort geben, die Sie wünschten, oder besser gesagt, die Antwort,die Sie nicht wünschten, wenn ich die Neigung recht zu verstehenvermochte, die Sie hatten, als Sie mir die Gunst erwiesen, mir zuschreiben.

Nun können Sie beurteilen, ob ich Ihrem Wunsch recht zu entspre-chen vermag, da zur gewöhnlichen Schwachheit meines Geistes dieaußergewöhnliche des Leibes, vermehrt durch die Müdigkeit, die mirvom Fieber geblieben ist, eine neue Vermehrung der Schwäche desGeistes hinzufügt. Aber ein so guter Zuhörer wie Sie wird meine Ab-sicht hinreichend erkennen, obwohl sie schlecht ausgedrückt ist.

Erste Feststellung: Die bischöfliche Bürde aus vernunftgemäßenGründen ablegen wollen, das ist nicht nur keine Sünde, sondern auchein Akt der Tugend, sei es der Bescheidenheit oder der Demut, derGerechtigkeit oder der Liebe.

Zweite Feststellung: Es wird angenommen, daß jener von echtenGründen dazu bewogen wird, das Bischofsamt niederzulegen, deraufrichtig bereit ist, sein eigenes Urteil über das Niederlegen des Bi-schofsamtes, seinen Wunsch und schließlich die Gründe, auf die ersich stützt, entweder dem Rat kluger Männer oder wenigstens demUrteil der Vorgesetzten zu unterwerfen und diesem, ob es dafür oderdagegen ausfällt, mit gleicher Bereitschaft Folge zu leisten.

Dritte Feststellung: Obwohl der Gedanke und der Wunsch, das Bi-schofsamt aufzugeben, insofern er nur erlaubt ist, keine Sünde ist,enthält ein solches Verlangen dennoch meistens eine große Versu-chung und kommt sehr oft vom bösen Geist. Der Grund dafür ist:während man die Zeit darauf verwendet, die Bürde abzulegen, gibtman sich gerade noch, ja kaum noch genügend Mühe, sie zu tragen. Sowie einer, der sich von seiner Gattin zu trennen wünscht, kaum gleich-zeitig trachtet, sie richtig zu lieben. Es wäre daher besser, sich selbstzu größerem Bemühen anzuspornen, besser zu segeln, als alles Bemü-

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hen aufgeben zu wollen, weil du bisher nicht recht gesegelt zu habenglaubst. Es ist also besser, die Augen zum Berg zu erheben, woher unsHilfe kommt (Ps 121, 1), auf den Herrn seine Hoffnung zu setzen unduns bereitwillig unserer Schwachheit zu rühmen, damit die Kraft Chris-ti in uns wohne (2 Kor 12,9), als nach der Art der Söhne Efraims zurZeit des Kampfes zurückzuweichen (Ps 78, 9). Denn die auf den Herrnvertrauen, erhalten Flügel wie die Adler, fliegen und gehen nicht zu-grunde (Jes 40,31); die aber untergehen, vergehen wie Rauch (Ps37,20); und wer furchtsam zum Troß zurückkehrt, hat zwar Ruhe,aber keine größere Sicherheit als jener, der kämpft.

Vierte Feststellung: Ich glaube Christus zu hören, der zu mir sagt:Simon, Sohn des Johannes, oder Petrus Johannes, liebst du mich? UndPetrus Johannes, der antwortet: Du weißt, daß ich dich liebe. Dannschließlich den Herrn, der feierlich befiehlt: Weide meine Schafe (Joh21,15-17). Es gibt keinen größeren Beweis der Liebe, als diesen Dienstzu erfüllen. – – –

6. Über den Titel Monseigneur10

Monseigneur, ich bitte Sie sehr demütig, gestatten Sie mir diesenkleinen Starrsinn; denn als Sie wollten, daß ich aus den Briefen, dieich Ihnen sende, die Anrede ‚Monseigneur‘ verbanne, hat sich meinUrteil sogleich von meinem Willen entfernt, der dem Ihren unwider-ruflich ergeben ist; aber es hat sich in meinen Verstand geflüchtet undsich dort verschanzt, so daß ich große Not habe, es daraus entfernenzu wollen. Es ist jedoch nicht so, daß mein Verstand Ihrem Urteilnicht nachgeben wollte, dessen Autorität er überaus achtet und alsunumschränkt gegen sich anerkennt; er ist aber überzeugt, daß Siedie Güte und Aufrichtigkeit seiner Absichten in dieser Hinsicht nichtgut verstanden haben. Soll ich es wohl wagen, mit Ihnen zu streiten,Monseigneur? Ich glaube, Ihre Güte wird mich entschuldigen; es ge-schieht einfach, um mich zu erklären.

Mit Ihrer Erlaubnis sage ich also: Erstens, ich kann Sie Monseig-neur nennen und dieser Titel ist nicht zu groß für Sie, weder von mirnoch von irgendeinem anderen Bischof. Das ergibt sich klar durchdie Autorität all der würdigsten Bischöfe der Kirche Gottes, die nicht

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nur die Patriarchen und Erzbischöfe mit den erhabensten Titeln an-reden, sondern auch die anderen Bischöfe. Diesem Argument wirdder Einwand nicht gerecht, daß alle Priester für Heilige, Selige undVäter gehalten wurden und daß man folglich die Bischöfe zu ihnenrechnen müßte. Nein, Monseigneur, denn alle diese Titel galten ih-rem Stand, ihrer Würde, ihrer Weihe.

Zweitens sage ich, daß ich Sie nicht nur Monseigneur nennen kann,sondern daß es angebracht ist, daß ich es tue, und es wäre gut, wenndas durch alle Bischöfe geschähe. Welchen Sinn hat es denn, daß ichdie weltlichen Fürsten mit ‚Monseigneur‘ anrede, nicht aber jene, dieder Herr zu Fürsten seines Volkes (Ps 45, 17; 113,8) bestellt hat? Undes hilft auch nichts zu sagen: Spielt nicht den Herrn in den Gemeinden(1 Petr 5,3); denn wie ihr nicht herrschen sollt, ist es unsere Pflicht,uns unterzuordnen. Ich bitte Sie, Monseigneur, würdigen Sie diesenGrund des Standes gut. Da wir den weltlichen Fürsten diesen Ehren-titel nicht vorenthalten können, tun wir nicht gut daran, soweit es anuns liegt, in dieser Hinsicht uns denen anzugleichen, von denen mansagen kann, daß uns heute die Jungen verachten, deren Väter nichtwagten, sich mit den niedrigsten Priestern zu vergleichen.

Drittens sage ich, daß es sich sehr schickt; denn obwohl Italien undFrankreich voneinander getrennt sind und man die Sprache nicht vonItalien nach Frankreich übertragen soll, so ist doch die Kirche nichtgetrennt; und die Sprache nicht des Hofes, sondern der Kirche vonRom ist überall gut im Mund der Geistlichen. Deswegen, weil Sie derPapst selbst Monseigneur nannte, ist es geziemend, daß ich dasselbetue.

Es bleibt nur noch das grundlegende Argument Ihres Willens auf-zuheben; aber das kann man nicht aufheben, denn es ist nichts ande-res als Ihre Demut: „damit der Größere an Würde es lieber an De-mut“ sei (Gregor). Ich antworte trotzdem und sage, daß ich alle Bi-schöfe so anrede, denen ich im Geist der Freiheit schreibe, und ichbehandle sie bezüglich dieser äußeren Ehrung gleich und überlasse esmeinem Inneren, unter einem gleichen Wort verschiedene Grade derEhrfurcht zu verleihen, je nach meinen verschiedenen Verpflichtun-gen; so geschieht es bei Ihnen, Monseigneur, das versichere ich Ih-nen, mit einer ganz herzlichen, ganz besonderen Ehrerbietung.

Das ist es, was ich Ihnen im Vorbeigehen sagen kann, da ich in einerStunde die Kanzel besteigen werde. Ich erwarte Ihre Befehle, um ih-nen zu gehorchen, denn letzten Endes bin ich bereit, jede Meinung

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aufzugeben, die Sie nicht billigen, und in allem und überall IhremWillen zu folgen. Aber ich bitte Sie um Vergebung für diesen Streich.Ihre Liebe, die nicht nur alles erträgt und die nicht nur geduldig ist,sondern sanftmütig (1 Kor 13,4.7), wird mich für entschuldbar haltenund Sie versichern, daß ich Ihr demütiger und sehr gehorsamer Die-ner bin,

Franz, Bischof von Genf.

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II. Der Brief über die Predigt11

Monseigneur,Der Liebe ist nichts unmöglich; ich bin zwar nur ein schwacher und

armseliger Prediger, aber die Liebe läßt es mich unternehmen, Ihnenmeine Ansicht zu sagen über die rechte Art zu predigen. Ich weißnicht, ob es Ihre Liebe zu mir ist, die dieses Wasser aus dem Felsen(Num 20,8; Ps 78,16) schlägt, oder ob es meine Liebe zu Ihnen ist,die Rosen aus Dornen erblühen läßt. Erlauben Sie mir dieses Wort‚Liebe‘, denn ich sage es als Christ, und finden Sie es nicht befrem-dend, daß ich Ihnen Wasser und Rosen verspreche; denn das sindBeinamen jeder katholischen Lehre, so mangelhaft sie auch dargebo-ten wird. Ich will beginnen: Gott möge seine Hand dazu leihen.

Um mich an eine Ordnung zu halten, betrachte ich die Predigt nachihren vier Ursachen: die causa efficiens, finalis, materialis und for-malis, d. h. wer soll predigen, zu welchem Zweck soll man predigen,was muß man predigen und in welcher Weise muß man predigen?

Wer soll predigen ?

Keiner darf predigen, der nicht drei Bedingungen erfüllt: einen gu-ten Lebenswandel, eine gediegene Gelehrsamkeit, eine rechtmäßigeSendung.

Ich sage nichts über die Sendung oder Berufung; ich weise nur daraufhin, daß die Bischöfe nicht nur die Sendung haben; sie besitzen derenamtliche Quellen, während die anderen Prediger nur deren Bäche ha-ben. Die Predigt ist ihre erste und große Aufgabe; das sagt man ihnenbei der Weihe. In der Tat empfangen sie zu diesem Zweck bei der Bi-schofsweihe eine besondere Gnade, die sie fruchtbar machen müssen.In dieser Eigenschaft ruft der hl. Paulus (1 Kor 9, 16) aus: Wehe mir,wenn ich das Evangelium nicht verkünde. Das Konzil von Trient sagt:„Die erste Pflicht des Bischofs ist es zu predigen.“ Diese Überlegungmuß uns Mut machen, denn Gott steht uns in dieser Aufgabe besondersbei; und es ist erstaunlich, welch große Macht die Predigt des Bischofshat im Vergleich zu der anderer Prediger. So wasserreich die Bächeauch sind, man trinkt doch gern aus der Quelle.

Was die Gelehrsamkeit betrifft, so muß sie ausreichend sein, und esist nicht notwendig, daß sie hervorragend ist. Der hl. Franziskus war

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nicht gelehrt und doch ein großer und guter Prediger. Und in unsererZeit besaß der selige Kardinal Borromäus nur ein recht mittelmäßi-ges Wissen, gleichwohl wirkte er wunderbar. Davon kenne ich hun-dert Beispiele. Ein großer Gelehrter (das ist Erasmus) hat gesagt:Das beste Mittel, zu lernen und gelehrt zu werden, besteht darin zulehren; man wird ein Prediger, indem man predigt. Ich will nur daseine Wort sagen: Der Prediger weiß immer genug, wenn er nicht denEindruck machen will, mehr zu wissen, als er weiß. Verstehen wirnicht gut über das Geheimnis der Trinität zu sprechen? Dann sagenwir darüber nichts. Sind wir nicht erfahren genug, um das Im Anfangwar das Wort des hl. Johannes zu erklären? Dann unterlassen wir das.Es fehlt nicht an anderen sehr nützlichen Gegenständen. Es geht nichtdarum, alles zu tun.

Was den guten Lebenswandel betrifft, so ist er in dem Maß erforder-lich, wie es der hl. Paulus vom Bischof sagt, mehr nicht. Um Predigerzu werden, müssen wir daher nicht besser sein, als um Bischöfe zuwerden. Es ist also in der Tat schon gleichviel: Der Bischof muß unta-delig sein, sagt der hl. Paulus (1 Tim 3,2).

Ich weise aber darauf hin, daß der Bischof und Prediger nicht nurfrei von Todsünde sein muß; er muß vielmehr außerdem auch be-stimmte läßliche Sünden meiden, ja sogar bestimmte Handlungen,die keine Sünde sind. Von unserem Lehrer, dem hl. Bernhard, stammtdas Wort: „Possen der Weltleute sind bei Geistlichen Gotteslästerun-gen.“ Ein Weltmensch kann spielen, auf die Jagd gehen, nachts zuUnterhaltungen ausgehen; das alles ist nicht tadelnswert, und wennes zur Erholung geschieht, keineswegs Sünde. Aber bei einem Bi-schof, einem Prediger werden diese Handlungen zum Ärgernis, undzum großen Ärgernis, wenn sie nicht durch hunderttausend Umstän-de entschuldbar werden, die schwerlich alle zusammentreffen kön-nen. Man sagt: Die haben viel Zeit, das genießen sie nach Herzens-lust. Dann gehen sie hin und predigen die Abtötung; man wird sichüber den Prediger lustig machen. Ich sage nicht, daß man nicht zurErholung ein- oder zweimal im Monat irgendein sehr ehrenhaftesSpiel machen könnte, sondern daß das mit sehr großer Besonnenheitgeschehen soll.

Die Jagd ist ganz untersagt. Dasselbe sage ich von überflüssigenAusgaben für Gelage, für Kleider und Bücher. Bei Weltleuten sinddas überflüssige Dinge, bei Bischöfen sind sie große Sünden. Der hl.Bernhard belehrt uns und sagt: Die Armen rufen uns nach: „Was ihr

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ausgebt, gehört uns; was ihr sinnlos verschwendet, wird uns grausamgeraubt.“ Wie sollen wir die Verschwendung der Welt tadeln, wennwir die unsere zeigen?

Der hl. Paulus sagt (1 Tim 3,2; Tit 1,7f): Der Bischof soll gast-freundlich sein. Die Gastfreundschaft besteht nicht darin, Gelage zuveranstalten, sondern darin, gern zu einer Tafel zu laden, wie die derBischöfe nach der Bestimmung des Konzils von Trient sein muß: DieTafel der Bischöfe soll frugal sein. Ich nehme bestimmte Gelegenhei-ten aus, die Klugheit und Liebe wohl zu unterscheiden wissen.

Indessen soll man nie predigen, ohne die Messe gefeiert zu habenoder sie feiern zu wollen. Es ist nicht zu glauben, sagt der hl. Chryso-stomus, wie schrecklich für die Dämonen der Mund ist, der das heili-ge Sakrament empfangen hat. Und das ist wahr; man kann anschei-nend mit dem hl. Paulus (2 Kor 13,3) sagen: Verlangt ihr etwa einenBeweis, daß Christus in mir spricht? Man hat dann viel mehr Zuver-sicht, Feuer und Erleuchtung. Solange ich in der Welt bin, sagt derErlöser (Joh 9,5), bin ich das Licht der Welt. Es ist sicher, wenn UnserHerr wirklich in uns gegenwärtig ist, schenkt er uns Erleuchtung,denn er ist das Licht. So wurden auch den Jüngern von Emmaus (Lk24,31) die Augen geöffnet, als sie kommuniziert hatten.

Schließlich muß man aber wenigstens gebeichtet haben, entspre-chend dem Wort Gottes nach der Aussage Davids (Ps 50,16): ZumSünder aber sagte Gott: Wieso erzählst du von meinen Gerichten undnimmst mein Vermächtnis in den Mund? Und der hl. Paulus (1 Kor9,27) sagt: Ich züchtige meinen Leib und mache ihn gefügig, damit ichnicht, während ich anderen predige, selbst verworfen werde.

Vom Ziel des Predigers.

Das Ziel ist das Bestimmende bei allen Dingen; es bewegt den Han-delnden zum Tun, denn jeder Handelnde handelt des Zieles wegenund dem Ziel entsprechend. Dieses ist maßgebend für den Stoff undfür die Form. Je nach der Absicht, ein großes oder kleines Haus zubauen, wird man das Baumaterial wählen und das Werk planen.

Was ist also das Ziel des Predigers, wenn er predigt? Sein Ziel undseine Absicht muß sein, das zu tun, was zu tun Unser Herr in dieseWelt gekommen ist; darüber hat er selbst (Joh 10,10) gesagt: Ich bingekommen, damit sie das Leben haben und es in überreichem Maß

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haben. Das Ziel des Predigers ist also, daß die Sünder, die in derBosheit tot sind, in der Gerechtigkeit leben und daß die Gerechten,die das geistliche Leben haben, es in noch reicherem Maß besitzen,indem sie sich mehr und mehr vervollkommnen, und wie zu Jeremia(1,10) gesagt wurde: um die Laster und Sünden auszureißen und zuzerstören und die Tugenden und Vollkommenheiten aufzubauen undzu pflanzen. Wenn der Prediger auf der Kanzel steht, muß er daher inseinem Herzen sagen: Ich bin gekommen, damit sie das Leben habenund es in überreichem Maß haben.

Um nun das Ziel dieser Forderung und Absicht zu erreichen, mußder Prediger zwei Dinge tun, nämlich belehren und bewegen. Beleh-ren über die Tugenden und die Laster; über die Tugenden, um zuerreichen, daß man sie liebt, schätzt und übt; über die Laster, damitman sie verabscheut, bekämpft und flieht. Das bedeutet, alles in al-lem, dem Verstand Licht und dem Willen Wärme zu geben. Deshalbsandte Gott den Aposteln am Pfingstfest – das war der Tag ihrer Bi-schofsweihe, denn die Priesterweihe hatten sie schon am Tag des letz-ten Abendmahls (Lk 22, 19) empfangen – feurige Zungen (Apg 2,3),damit sie wüßten, daß die Zunge des Bischofs den Verstand der Zuhö-rer erhellen und ihren Willen erwärmen muß.

Ich weiß, manche sagen als Drittes, daß der Prediger ergötzen soll.Doch was mich betrifft, unterscheide ich und sage, daß es ein Ergöt-zen gibt, das aus dem Belehren und Bewegen folgt. Denn wo wäredenn eine derart gefühllose Seele, die nicht größte Freude empfände,gut und heilig den Weg zum Himmel kennen zu lernen, die nichtäußersten Trost über die Liebe Gottes fühlte? Und für dieses Ergöt-zen muß gesorgt werden; aber das ist nicht vom Belehren und Bewe-gen getrennt, es hängt damit zusammen. Es gibt eine andere Art vonErgötzen, das nicht mit dem Belehren und Bewegen zusammenhängt,sondern für sich steht und sehr oft ein Hindernis für das Belehren undBewegen ist. Das ist ein bestimmter Ohrenkitzel, der von einer be-stimmten weltlichen, gewandten und profanen Eleganz kommt, vongewissen Kuriositäten, von der Anordnung der Gedanken, Worte undAusdrücke, mit einem Wort, das ganz von der Kunstfertigkeit ab-hängt. Was nun das betrifft, bestreite ich fest und sicher, daß ein Pre-diger daran überhaupt denken darf. Man muß es den weltlichen Red-nern, den Scharlatanen und Höflingen überlassen, die sich darin ge-fallen. Sie predigen nicht Jesus Christus den Gekreuzigten (1 Kor 1,23),

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sondern sie predigen sich selbst. Folgen wir nicht den Schmeichelei-en der Redner, sondern der Wahrheit der Fischer (Ambrosius).

Der hl. Paulus (2 Tim 4,3) verabscheut die Zuhörer, die nach Oh-renkitzel verlangen, folglich auch die Prediger, die ihnen gefallen wol-len. Das ist Gelehrtendünkel. Ich möchte nicht, daß man nach derPredigt sagt: Was für ein großer Redner! Was hat der ein gutes Ge-dächtnis! Wie gelehrt der ist! Wie gut der spricht! Ich wollte dagegen,daß man sagt: Wie schön ist die Buße; wie notwendig ist sie! MeinGott, wie gut bist du, wie gerecht; und Ähnliches. Oder daß der Zu-hörer seine Zufriedenheit mit dem Prediger nicht besser beweisenkann als durch die Besserung seines Lebens. Damit sie das Lebenhaben und es in überreichem Maß haben.

Was der Prediger verkünden soll.

Der hl. Paulus sagt (2 Tim 4,2) mit einem Wort seinem Timotheus:Verkünde das Wort. Man muß das Wort Gottes predigen. Verkündetdas Evangelium, sagt der Herr (Mt 16,15). Der hl. Franziskus, dessenFest wir heute feiern, erklärt das, indem er seinen Brüdern aufträgt,über die Tugend und die Laster, über die Hölle und den Himmel zupredigen. In der Heiligen Schrift steht für all das genug darüber, mehrbraucht es nicht.

Braucht man sich also der christlichen Theologen und der Bücherder Heiligen nicht zu bedienen? Doch, das muß man wirklich tun.Was ist aber die Lehre der Kirchenväter anderes als das erklärte Evan-gelium, als die Auslegung der Heiligen Schrift? Man kann sagen, mitder Heiligen Schrift und der Lehre der Väter ist es so wie mit einerganzen Nuß und einer aufgebrochenen Nuß, deren Kern jeder essenkann, oder mit einem ganzen Brot und einem Brot, das in Stückegeschnitten und verteilt ist. Man muß sich ihrer im Gegenteil bedie-nen, denn sie waren die Werkzeuge, durch die Gott uns den wahrenSinn seines Wortes mitgeteilt hat.

Aber darf man sich der Geschichten der Heiligen nicht bedienen?Doch, mein Gott, gibt es denn etwas so Nützliches, etwas so Schönes?Aber gewiß, was ist denn das Leben der Heiligen anderes als das indie Tat umgesetzte Evangelium? Zwischen dem geschriebenen Evan-gelium und dem Leben der Heiligen ist kein anderer Unterschied alszwischen einer Musik in Notenschrift und einer gesungenen Musik.

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Und wie ist es mit profanen Geschichten? Sie sind gut, aber manmuß sie gebrauchen, wie man es mit Pilzen macht: sehr wenig, nurum den Appetit anzuregen; und dann müssen sie gut zubereitet sein;und wie der hl. Hieronymus sagt, muß man mit ihnen verfahren, wiees die Israeliten mit gefangenen Frauen machten, wenn sie diese hei-raten wollten: man muß ihnen die Fingernägel stutzen und die Haareschneiden (Dtn 21,11-13); das heißt, man muß sie ganz in den Dienstdes Evangeliums und der wahren christlichen Tugend stellen, allesvon ihnen entfernen, was sich an ihnen Tadelnswertes an heidnischenund profanen Handlungen findet, und wie die Heilige Schrift (Jer15,19) sagt, muß man das Kostbare vom Wertlosen scheiden. Bei derWürdigung Cäsars muß man den Ehrgeiz ausscheiden und darauf hin-weisen, bei der Alexanders die Eitelkeit, den Stolz und den Hochmut,bei der Keuschheit Lukrecias ihren Tod aus Verzweiflung.

Und Fabeln der Dichter? O, von denen überhaupt nichts, außer sowenig, so zur rechten Zeit und mit so viel Vorkehrungen wie einemGegengift, damit jeder sieht, daß man sich nicht näher damit befassenwill; und das alles so kurz, daß es eben genügt. Ihre Verse sind nütz-lich. Die Alten haben sie manchmal verwendet, so fromm sie waren,sogar bis zum hl. Bernhard, von dem ich nicht weiß, wo er sie gelernthat. Der hl. Paulus hat als erster Aratus (Apg 17,28) und Menander(Tit 1,12) zitiert. Was aber ihre Fabeln betrifft, bin ich keiner in einerPredigt der Alten begegnet, außer einer einzigen von Odysseus undden Sirenen, die der hl. Ambrosius in einer seiner Predigten verwen-det hat. Deshalb sage ich: entweder überhaupt nicht oder so gut wienicht. Man darf nicht das Götzenbild des Dagon neben die Bundesla-de stellen.

Und die Geschichten aus der Natur? Sehr gut, denn die Welt, diedurch das Wort Gottes erschaffen ist, weckt in all ihren Teilen denGedanken an dieses Wort; alle ihre Teile singen das Lob des Schöp-fers. Sie ist ein Buch, das das Wort Gottes enthält, aber in einer Spra-che, die nicht jeder versteht. Die sie durch die Betrachtung verstehen,tun sehr gut daran, sie zu verwenden, wie es der hl. Antonius machte,der keine andere Bibliothek hatte. Und der hl. Paulus (Röm 1,19f)sagt: Das Unsichtbare an Gott wird durch die Erkenntnis dessen, wasgeschaffen ist, erkannt; und David: Die Himmel erzählen von der Herr-lichkeit Gottes (Ps 19,1). Dieses Buch ist geeignet für Bilder, für Ver-gleiche vom Geringeren zum Größeren und für tausend andere Din-

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ge. Die Schriften der alten Väter sind voll davon, ebenso die HeiligeSchrift an unzähligen Stellen: Geh zur Ameise (Spr 6,6); wie die Hen-ne ihre Küken sammelt (Mt 23,37); wie der Hirsch lechzt (Ps 42,1);wie der Strauß in der Wüste (Klgl 4,3); seht die Lilien des Feldes (Mt6,28), und tausend andere.

Vor allem aber hüte sich der Prediger sehr, von falschen Wundernzu erzählen, lächerliche Geschichten wie bestimmte Visionen, diegewissen Autoren der unteren Ebene entnommen sind, unanständigeDinge, die unser Amt tadelnswert und verächtlich machen könnten.

So viel, was mir den Inhalt im Großen zu betreffen scheint; es bleibtjedoch noch über die einzelnen Bestandteile des Stoffs der Predigt zusprechen.

Der erste Bestandteil dieses Stoffs sind die Stellen der HeiligenSchrift, die wirklich den ersten Rang haben und das Fundament desBauwerks bilden; denn schließlich verkünden wir das Wort und unse-re Lehre beruht auf seiner Autorität. Er selbst hat gesprochen; das hatder Herr gesagt, sagten alle Propheten; und Unser Herr selbst: MeineLehre stammt nicht von mir, sondern von dem, der mich gesandt hat(Joh 7,16). Es ist aber notwendig, daß die Stellen, soweit es möglichist, wahrheitsgetreu, klar und gut erklärt werden. Nun kann man wohldie Stellen der Heiligen Schrift verwenden, indem man sie auf eineder vier Arten auslegt, welche die Alten angegeben haben:

Der Buchstabe lehrt die Tatsachen;was du glauben sollst, die Allegorie;was du erhoffst, die Anagogie;was du tun sollst, die Tropologie.Hier ist das Versmaß nicht besonders gut, aber es gibt den Reim

und mehr noch den Sinn.Was den buchstäblichen Sinn betrifft, so muß er aus den Kommen-

taren der Theologen geschöpft werden; das ist alles, was man darübersagen kann. Es ist aber Sache des Predigers, ihn zur Geltung zu brin-gen, die Worte, ihre Eigenart, ihren Ausdruckswert abzuwägen. Sohabe ich z. B. gestern in unserem Dorf das Gebot (Dtn 6,5; Mt 22,37)erklärt: Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben aus ganzem Herzen,von ganzer Seele, mit dem ganzen Geist. Mit unserem hl. Bernhardüberlegte ich: Von ganzem Herzen, das heißt mutig, tapfer, glühend,weil dem Herzen der Mut zugehört; von ganzer Seele, das heißt lei-denschaftlich, weil die Seele, insofern sie Seele ist, die Quelle vonLeidenschaften und Affekten ist; mit dem ganzen Geist, das heißt gei-

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stig, einsichtsvoll, weil der Geist, der höhere Teil der Seele, es ist,dem die Einsicht und das Urteil zugehört, um den Eifer entsprechendder Weisheit (Röm 10,2) und Einsicht zu haben. So muß das Wort‚lieben‘ abgewogen werden, weil es von ‚auswählen‘ kommt und denbuchstäblichen Sinn wahrheitsgetreu wiedergibt, der besagt, daß un-ser Herz, unsere Seele und unser Geist Gott erwählen und allen Din-gen vorziehen müssen; das ist die wahre wertschätzende Liebe, mitder die Theologen diese Worte erklären.

Was die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Vätern und Theo-logen betrifft, muß man davon Abstand nehmen, die Meinungen vor-zutragen, die zurückzuweisen sind, denn man besteigt die Kanzelnicht, um gegen die Väter und katholischen Theologen zu streiten.Man darf die Schwächen unserer Lehrer nicht aufdecken, und wasihnen als Menschen entschlüpft ist, damit die Heiden wissen, daß sienur Menschen sind (Ps 9,21). Wohl aber kann man mehrere Ausle-gungen anführen, sie loben und eine nach der anderen auswerten, wieich es bei den letzten Fastenpredigten mit sechs Auffassungen undAuslegungen der Väter gemacht habe zu den Worten: Sagt, wir sindunnütze Knechte (Lk 17,10); und über die Worte: Es ist nicht meineSache, euch das zu geben (Mt 20,23). Denn wenn Sie sich erinnernkönnen, habe ich aus jeder recht gute Folgerungen abgeleitet; mirscheint aber, daß ich die Auffassung des hl. Hilarius verschwiegenhabe, oder wenn ich es nicht getan habe, war das falsch und ich hättees tun müssen, weil sie nicht probabel war.

Bezüglich des allegorischen Sinns muß der Prediger vier oder fünfPunkte beachten. Der erste ist, einen allegorischen Sinn abzuleiten,der nicht zu gekünstelt ist, wie es jene machen, die alles allegorisie-ren. Er muß vielmehr zwanglos gewonnen werden und sich aus demBuchstaben ergeben, wie es der hl. Paulus machte; er sah in Esau undJakob ein Sinnbild des jüdischen Volkes und der Heiden (Röm 9,11-13), in Zion oder Jerusalem für die Kirche.

Zweitens, wo eine Sache nicht ganz augenscheinlich das Sinnbildder anderen ist, soll man die Stellen nicht als Sinnbild der einen fürdie andere behandeln, sondern einfach in der Art des Vergleichs. Sowird z. B. der Ginsterstrauch, unter dem Elija aus Herzeleid ein-schlief (1 Kön 19,4f), von manchen allegorisch als Sinnbild des Kreu-zes erklärt. Ich würde es aber vorziehen, besser so zu sagen: Wie Elijaunter dem Ginsterstrauch einschlief, so müssen wir ausruhen unterdem Kreuz Unseres Herrn durch den Schlaf der heiligen Betrach-

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tung; ich würde aber nicht sagen: So wie Elija den Christen versinn-bildet, so ist der Ginsterstrauch ein Sinnbild des Kreuzes. Ich möchtenicht behaupten, das eine sei das Sinnbild des anderen, sondern woll-te lieber das eine mit dem anderen vergleichen, denn so ist die Dar-stellung sicherer und weniger zu tadeln.

Drittens muß die Allegorie schicklich sein. Darin sind manche zutadeln, die das Verbot der Heiligen Schrift im 25. Kapitel Deuteron-omium allegorisieren, daß eine Frau den Mann nicht an den unehrba-ren Teilen anfassen dürfe: Wenn zwei Männer miteinander Streit ha-ben und einer den anderen zu mißhandeln beginnt und die Frau desanderen ihren Mann den Händen des Stärkeren entreißen will und da-bei Hand anlegt und seine Schamteile anfaßt, dann sollst du ihr dieHand abhauen und kein Mitleid mit ihr haben. Sie sagen, das sei einSinnbild des Unrechts, das die Synagoge begeht, wenn sie den Heidenihre Herkunft vorwirft und sagt, daß sie nicht Abrahams Söhne sind.Das mag einige Wahrscheinlichkeit für sich haben, aber es ist nichtschicklich, weil dieses Verbot im Geist des Zuhörers eine gefährlicheVorstellung hervorruft.

Viertens darf man keine zu weitschweifigen Allegorien anstellen,denn sie verlieren ihren Reiz durch die Länge und scheinen an Kün-stelei zu grenzen.

Fünftens muß die Anwendung klar und mit großer Klugheit ge-macht werden, um die Teile geschickt aufeinander zu beziehen.

Fast die gleichen Regeln sind zu beachten für den anagogischen undtropologischen Sinn. Davon bezieht die Anagogie die Berichte derHeiligen Schrift auf das, was im anderen Leben geschehen wird, dieTropologie wendet sie darauf an, was in der Seele und im Gewissenvor sich geht. Dafür will ich ein Beispiel bringen, das für alle vierAuslegungen dienen kann.

Es sind die Worte über Esau und Jakob (Gen 25,23): Zwei Völkersind in deinem Schoß, und zwei Stämme werden aus deinem Schoßhervorgehen; ein Volk wird über das andere herrschen und das größerewird dem geringeren dienen. Buchstäblich beziehen sich diese Worteauf die zwei Völker, die dem Fleisch nach von Esau und Jakob ab-stammten, nämlich die Idumäer und die Israeliten, von denen daskleinere, das war das der Israeliten zur Zeit Davids, über das größereund ältere der Idumäer herrschte.

Allegorisch versinnbildet Esau das jüdische Volk, das in der Kennt-nis des Heils das ältere war, denn den Juden wurde es zuerst gepre-

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digt. Jakob versinnbildet die Heiden; sie waren die nachgeborenen,und trotzdem haben die Heiden schließlich die Juden übertroffen.

Anagogisch versinnbildet Esau den Leib; er ist der Ältere, denn ehedie Seele erschaffen wurde, war in Adam und in uns der Leib geschaf-fen (Gen 2,7; 1 Kor 15,45f). Jakob versinnbildet den Geist, der jün-ger ist. Im anderen Leben wird der Geist den Leib übertreffen undbeherrschen, der ohne Widerspruch der Seele völlig gehorchen wird.

Tropologisch ist Esau die Eigenliebe zu uns selbst, Jakob die Got-tesliebe in unserer Seele. Die Eigenliebe ist die Ältere, denn sie istmit uns geboren; die Gottesliebe ist jünger, denn sie wird durch dieSakramente und die Buße erworben. Trotzdem muß die Gottesliebedie Herrin sein, und wenn sie in einer Seele ist, dient die Eigenliebeund ist ihr untergeben.

Dieser vierfache Sinn bietet nun ergiebigen, edlen und guten Stofffür die Predigt und hilft, die Lehre vorzüglich verständlich zu ma-chen. Deshalb muß man sich dessen bedienen, aber unter den glei-chen Bedingungen, von denen ich gesagt habe, daß sie für die Verwen-dung des allegorischen Sinnes erforderlich sind.

Nach den Stellen der Heiligen Schrift nehmen die Aussprüche derVäter und Konzile den zweiten Rang ein. Über sie sage ich nur: wennes nicht recht selten geschieht, muß man kurze, treffende und kraft-volle wählen. Prediger, die daraus lange Zitate anführen, schwächenihren Eifer und die Aufmerksamkeit der meisten Zuhörer; sie setzensich außerdem der Gefahr aus, daß ihr Gedächtnis versagt. Kurze undkräftige Aussprüche sind solche wie der des hl. Augustinus: „Derdich erschaffen hat ohne dich, wird dich nicht retten ohne dich“; oderder andere: „Der den Bußfertigen Verzeihung verheißen hat, hat nichtdie Zeit zur Buße versprochen“, und ähnliche. Auch Ihr hl. Bernhardhat deren unzählige. Aber nachdem man sie lateinisch zitiert hat,muß man sie wirkungsvoll französisch sagen und sie zur Geltung brin-gen, indem man sie umschreibt und lebendig auslegt.

Darauf folgen die Beweise, die eine natürliche Begabung und einguter Geist sehr gut verwenden kann. Was sie betrifft, finden sie sichbei den Theologen, besonders beim hl. Thomas ausführlicher als an-derswo. Wenn sie gut entwickelt werden, bilden sie einen sehr gutenStoff. Wenn Sie über eine bestimmte Tugend sprechen wollen, neh-men Sie das Inhaltsverzeichnis des hl. Thomas, sehen Sie, ob er darü-ber spricht, und beachten, was er sagt. Sie werden mehrere Begrün-

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dungen finden, die Ihnen als Stoff dienen können. Aber schließlichdarf man diesen Stoff nur verwenden, wenn man sich wenigstens durch-schnittlichen Zuhörern sehr klar verständlich machen kann.

Die Beispiele haben eine erstaunliche Kraft und geben der Predigteine besondere Würze; sie müssen nur passend sein, gut vorgetragenund noch besser angewendet werden. Man muß schöne und glanzvol-le Geschichten wählen, sie klar und deutlich vortragen und sie le-bensnah anwenden, wie es die Väter machen, wenn sie das BeispielAbrahams anführen, der seinen Sohn opfert (Gen 22), um zu zeigen,daß wir nichts schonen dürfen, um den Willen Gottes zu erfüllen. Sieweisen ja auf alles hin, was den Gehorsam Abrahams nachahmens-wert machen kann. Abraham, sagen sie, war alt; Abraham hatte nurdiesen so schönen, so weisen, so tugendhaften und so liebenswürdi-gen Sohn; und trotzdem führt er ihn ohne Murren und Zögern auf denBerg und will ihn gar selbst mit seinen eigenen Händen hinopfern.Und gewiß machen sie eine noch lebendigere Anwendung: Und du,Christ, bist so engherzig, so kalt, so wenig entschlossen, ich sage nicht,du sollst deinen Sohn oder deine Tochter opfern, nicht deinen ganzenBesitz, noch einen großen Teil davon, sondern einen einzigen Taleraus Liebe zu Gott, um die Armen zu unterstützen, eine einzige Stun-de deines Zeitvertreibs, um Gott zu dienen, eine einzige kleine Nei-gung usw.

Man muß sich aber hüten, unnütze und unergiebige Beschreibun-gen zu machen, wie es manche Anfänger tun. Statt die Geschichteungekünstelt und für die Lebensführung geeignet vorzutragen, ma-chen sie sich daran, die Schönheit Isaaks zu beschreiben, das scharfeMesser Abrahams, den Umkreis der Opferstätte und ähnliche unge-bührliche Dinge. Man darf aber auch nicht so kurz sein, daß das Bei-spiel nicht zur Geltung kommt, und nicht so lang, daß es langweilt.

Man muß sich auch davor hüten, Gespräche zwischen den Personender Geschichte einzufügen, außer wenn sie den Worten der HeiligenSchrift entnommen oder sehr wahrscheinlich sind. Wer in dieser Ge-schichte Isaak vorstellt, der auf dem Altar jammert und den Vater umMitleid anfleht, um dem Tod zu entgehen, oder etwa Abraham, dermit sich selbst hadert und sich beklagt, der handelt schlecht und tutder Entschlossenheit des einen und des anderen unrecht. So müssenauch jene, die in der Meditation Zwiegespräche gefunden haben, beider Predigt zwei Regeln beachten: die eine, daß sie prüfen, ob sie gutbegründet sind auf einer offenkundigen Wahrscheinlichkeit, und die

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andere, sie nicht zu lang vorzutragen, denn das kühlt den Predigerund den Zuhörer ab.

Die Beispiele der Heiligen sind bewunderswert, besonders jene ausder Provinz, in der man predigt, wie die vom hl. Bernhard in Dijon.

Es bleibt ein Wort zu sagen über die Vergleiche. Sie haben eineunglaubliche Wirksamkeit, den Verstand zu erleuchten und den Wil-len zu bewegen. Man entnimmt sie menschlichen Handlungen undgeht vom einen zum anderen über; so davon, was die Hirten tun, zudem, was die Bischöfe und Seelsorger tun müssen, wie es Unser Herrgemacht hat in der Parabel vom verlorenen Schaf (Lk 15,4-7). Mangewinnt sie aus der Naturgeschichte, von Gräsern, Pflanzen und Tie-ren, aus der Philosophie und schließlich aus allem. Die Vergleichemit alltäglichen Dingen, geschickt angewendet, sind ausgezeichnet,so wie es Unser Herr in der Parabel vom Samen (Mt 13,3-27) ge-macht hat. Vergleiche aus der Naturgeschichte haben zweifachenGlanz, wenn die Geschichte und die Anwendung schön ist, wie jenerder Heiligen Schrift (Ps 103,5) von der Erneuerung oder Verjüngungdes Adlers mit unserer Buße.

Dabei gibt es nun ein Geheimnis, das für den Prediger sehr vorteil-haft ist, nämlich der Heiligen Schrift Vergleiche zu entnehmen vonbestimmten Stellen, wo sie wenige bemerken können. Das geschiehtdurch die Meditation der Texte.

Ein Beispiel: David spricht (Ps 9,7) vom Weltmenschen und sagt:Ihr Andenken vergeht mit Schall. Ich ziehe zwei Vergleiche aus zweiDingen, die mit dem Schall vergehen. Wenn man ein Glas zerbricht,geht es klirrend zugrunde, wenn es zerbricht; so gehen die Bösen miteinigem Lärm zugrunde; man spricht von ihnen bei ihrem Tod. Wieaber das zerbrochene Glas ganz unnütz ist, so sind diese Elendenohne Hoffnung auf das Heil für immer verloren. Der zweite Vergleich:Wenn ein großer Redner stirbt, läutet man alle Glocken, man veran-staltet für ihn eine große Leichenfeier; doch wer segnet ihn, wenn derSchall der Glocken verklungen ist? Wer spricht von ihm? Niemand.Wo der hl. Paulus von jenem spricht, der keine Liebe hat und irgend-welche Werke tut, sagt er (1 Kor 13,1): er ist wie ein tönendes Erz odereine klingende Schelle. Man gewinnt einen Vergleich aus der Glocke,die andere in die Kirche ruft und nicht hineingeht; denn so ist einMensch, der Werke ohne Liebe verrichtet: er erbaut die anderen undlädt sie in das Paradies ein, aber er selbst kommt nicht hinein.

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Um nun die Vergleiche zu finden, muß man die Worte erwägen, obsie nicht bildlich zu verstehen sind. Denn wenn das zutrifft, ergibtsich sogleich ein Vergleich für den, der sie recht auszulegen versteht.Zum Beispiel: Ich bin den Weg deiner Gebote gelaufen, da du meinHerz weit gemacht hast (Ps 119,32). Man muß das Wort ‚weit ma-chen‘ und ‚laufen‘ erwägen, denn es ist bildlich zu verstehen. Und nunmuß man die Dinge sehen, die schneller werden durch die Erweite-rung. Sie werden einige finden, wie die Schiffe, wenn der Wind ihreSegel bläht. Schiffe, die im Hafen liegen, segeln also sogleich los,wenn der Wind günstig ist, die Segel erfaßt, sie füllt und aufbläht. Dasgilt gewiß auch für den Menschen. Wenn das gnädige Wehen des Hei-ligen Geistes unser Herz berührt, läuft unsere Seele und segelt imMeer der Gebote. Wer sich daran hält, wird gewiß viele schöne Ver-gleiche mit großem Nutzen anstellen. Bei den Vergleichen muß manaber die Schicklichkeit wahren, um nichts Gemeines, Verächtlichesoder Anstößiges zu sagen.

Nach all dem mache ich Sie aufmerksam, daß man die Heilige Schriftdurch die Anwendung mit großem Nutzen gebrauchen kann, auchwenn das, was man davon ableitet, sehr oft nicht der eigentliche Sinnist. So sagte der hl. Franziskus, das Almosen sei ‚das Brot der Engel‘,weil die Engel es durch ihre Einsprechung beschaffen, und wendet sodie Stelle (Ps 78,25) an: Brot der Engel aß der Mensch. Doch mußman dabei klug und sparsam vorgehen.

Über den Aufbau der Predigt.

Man muß sich bei allem an eine Methode halten. Nichts ist für denPrediger hilfreicher, macht seine Predigt nützlicher und für den Zu-hörer so angenehm. Ich finde es gut, daß der Aufbau klar und erkenn-bar ist, keineswegs versteckt, wie es manche machen, die meinen, essei ein großes Meisterstück, es so zu machen, daß niemand ihre Me-thode erkennt. Ich bitte Sie, wozu dient denn die Methode, wenn mansie nicht sieht und der Zuhörer sie nicht erkennt?

Um Ihnen dabei behilflich zu sein, will ich Ihnen sagen: Sie wollenentweder über eine bestimmte Begebenheit predigen, wie die Geburt,die Auferstehung oder Himmelfahrt (Christi), oder über eine be-stimmte Sentenz der Heiligen Schrift, wie: Jeder, der sich erhöht, wirderniedrigt werden (Lk 14,11), oder über ein ganzes Evangelium, in

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dem mehrere Sentenzen enthalten sind, oder über das Leben irgend-eines Heiligen mit einem bestimmten Ausspruch.

Wenn man über ein Ereignis predigt, kann man sich einer der fol-genden Methoden bedienen: 1. Wie viele Personen in der Geschichtevorkommen, über die Sie predigen wollen; dann über jede von ihnenirgendeine Erwägung anstellen. Zum Beispiel: Bei der Auferstehungsehe ich die Marien, die Engel, die Bewacher des Grabes und unserenlieben Herrn. Bei den Marien sehe ich den Eifer und die Beflissen-heit; bei den Engeln die Freude und den Jubel in ihren weißen Ge-wändern und ihrer Lichtgestalt; in den Grabeswächtern sehe ich dieOhnmacht der Menschen, die sich gegen Gott stellen, in Jesus seheich die Herrlichkeit, den Sieg über den Tod, die Hoffnung auf unsereAuferstehung.

2. Man kann bei einem Geheimnis den wichtigsten Punkt heraus-greifen, wie im vorhergehenden Beispiel die Auferstehung; dann er-wägen, was diesem Ereignis vorausging und was darauf folgte. DerAuferstehung ging der Tod voraus, das Hinabsteigen in das Reich derToten, die Befreiung der Väter, die sich in Abrahams Schoß befan-den, die Furcht der Juden, man könnte den Leichnam stehlen; dieAuferstehung im verklärten und verherrlichten Leib. Was darauf folgte,ist das Erdbeben, das Kommen und Erscheinen der Engel, das Su-chen der Frauen, die Antwort der Engel. Zu all diesen Einzelheitengibt es Wundervolles und in schöner Ordnung zu sagen.

3. Man kann bei allen Geheimnissen folgende Punkte erwägen: wer?warum? wie? Wer steht von den Toten auf? Unser Herr. Warum? Zuseiner Verherrlichung, zu unserem Heil. Wie? Glorreich, unsterb-lich, usw. Wer ist geboren? Der Erlöser. Warum? Um uns zu erlösen.Wie? Arm, nackt, frierend, in einem Stall, als kleines Kind.

4. Nachdem man die Geschichte mit einer kleinen Umschreibungvorgetragen hat, kann man davon manchmal drei oder vier Erwägun-gen ableiten. Die erste, was man daraus lernen muß, um unseren Glau-ben zu stärken; die zweite, um unsere Hoffnung zu vermehren; diedritte, um unsere Liebe zu entflammen; die vierte, um es nachzuah-men und auszuführen. Im Beispiel der Auferstehung sehen wir fürden Glauben die Allmacht Gottes, einen Leib, der durch den Steinhervorgeht, unsterblich, leidensunfähig und ganz vergeistigt. Wie festmüssen wir glauben, daß im heiligen Sakrament der gleiche Leib kei-nen Raum einnimmt, durch die Brechung der Gestalten nicht verletzt

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werden kann und daß er darin auf geistige Weise, wenn auch wirklichenthalten ist. Für die Hoffnung: Wenn Jesus Christus auferstandenist, werden auch wir auferstehen, sagt der hl. Paulus (1 Kor 6,14; 2Kor 4,14); er hat uns den Weg gebahnt. Für die Liebe: So sehr erauferstanden ist, verweilt er doch noch auf Erden, um die Kirche zuunterweisen, und zögert zu unserem Wohl, vom Himmel Besitz zuergreifen, dem Ort, der auferstandenen Leibern eigen ist. Welche Lie-be! Zur Nachahmung: Er ist am dritten Tag auferstanden; o Gott,sollen wir nicht auferstehen durch Reue, Beichte und Genugtuung?Er sprengt den Stein; überwinden wir alle Schwierigkeiten.

Wenn Sie über einen Ausspruch predigen wollen, müssen Sie über-legen, auf welche Tugend er sich bezieht, wie z. B.: Wer sich erhöht,der wird erniedrigt werden (Lk 14,11); hier steht die Demut als Gegen-stand fest. Es gibt aber andere Schriftworte, wo der Gegenstand nichtso offenkundig ist, wie: Wie bist du hereingekommen, obwohl du keinhochzeitliches Gewand hast? (Mt 22,12). Das betrifft die Liebe; aberdie sehen Sie von einem Gewand bedeckt, denn das hochzeitlicheGewand ist die Liebe. Wenn Sie also in dem Schriftwort, das Sie be-handeln wollen, die Tugend festgestellt haben, auf die es abzielt, kön-nen Sie den Aufbau Ihrer Predigt machen und erwägen, worin dieTugend besteht, ihre wahren Kennzeichen, ihre Wirkungen und dasMittel, sie zu erwerben und zu üben. Das war immer meine Methodeund es war mir eine Beruhigung, das Buch des Jesuiten Pater Rossi-gnol zu entdecken, das mit dieser Methode übereinstimmt. Das Buchhat den Titel ‚De Actionibus Virtutum‘, ist in Venedig gedruckt undwird für Sie sehr nützlich sein.

Es gibt noch eine andere Methode, die zeigt, wie sehr die Tugend,um die es sich handelt, zu schätzen ist, wie nützlich und köstlich oderangenehm sie ist. Das sind drei Güter, die man wünschen kann. Mankann noch anders vorgehen, d. h. die Vorteile behandeln, die dieseTugend gewährt, und die Nachteile, die das entgegengesetzte Lastermit sich bringt; aber die erste Methode ist nützlicher.

Wenn man ein Evangelium behandelt, in dem es mehrere Senten-zen gibt, muß man jene genauer ansehen, bei denen man sich längeraufhalten will, und sehen, von welchen Tugenden sie handeln, danndarüber kurz sprechen in der Weise, wie ich von einem Ausspruchgesagt habe, die anderen aber streifen und umschreiben. Doch dieseArt, ein ganzes Evangelium mit Aussprüchen zu behandeln, ist weni-ger fruchtbar, weil sich der Prediger bei den einzelnen Aussprüchen

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nicht lange aufhalten und sie nicht gut auslegen kann, noch dem Zu-hörer einprägen, was er will.

Wenn man das Leben eines Heiligen behandelt, gibt es verschiede-ne Methoden. Jene, die ich bei der Leichenrede für den Herrn deMercoeur anwandte, ist gut, weil es die Methode des hl. Paulus (Tit 2,12) ist: daß er fromm vor Gott, mäßig gegen sich selbst und gerechtgegen den Nächsten lebte; und die Lebensabschnitte des Heiligen,jeden nach seiner Bedeutung darlegen. Oder, man kann erwägen, waser getan hat ‚agendo‘, das sind seine Tugenden, ‚patiendo‘ seine Lei-den, sei es des Martyriums oder der Abtötung, ‚orando‘, seine Wun-der. Oder man kann erwägen, wie er den Teufel, die Welt und dasFleisch bekämpft hat: die Hoffart, die Habsucht und die Begierlich-keit. Das ist die Einteilung, die der hl. Johannes getroffen hat: Alles,was in der Welt ist, sagt er (1 Joh 2, 16), ist Fleischeslust etc. Oder mankann vorgehen, wie ich es in Fonteine über den hl. Bernhard gemachthabe: wie man Gott in seinem Heiligen und den Heiligen in Gottehren soll; wie man Gott dienen soll in der Nachahmung seines Hei-ligen; wie man Gott bitten soll durch die Fürsprache seines Heiligen.Auf diese Weise kann man das Leben des Heiligen durchgehen undalles an seiner Stelle behandeln.

Das sind für den Anfang der Methoden genug. Denn nach einigerÜbung werden Sie andere anwenden, die für Sie geeignet und bessersind. Für den Aufbau bleibt mir noch zu sagen, daß ich die Stellen derHeiligen Schrift gern an die erste Stelle setze, die Beweise an diezweite, die Vergleiche an die dritte und die Beispiele an die vierte,wenn es heilige sind; wenn es profane sind, dann sind sie nicht geeig-net, eine Predigt zu beschließen: eine heilige Rede muß mit etwasHeiligem beendet werden. Außerdem verlangt die Methode, daß derAnfang der Predigt bis zur Mitte den Zuhörer belehrt und von derMitte bis zum Schluß bewegt. Deshalb müssen die affektiven Ausfüh-rungen an den Schluß gesetzt werden.

Nach all dem muß ich Ihnen noch sagen, wie Sie die Punkte IhrerPredigt ausfüllen müssen, und sehen, auf welche Weise. Sie wollenz.B. die Tugend der Demut behandeln und haben sich die Punkte fol-gendermaßen zurechtgelegt: 1. worin die Tugend besteht, 2. ihre Kenn-zeichen, 3. ihre Wirkungen, 4. die Mittel, sie zu erwerben. Das istIhre Disposition. Um sie mit Inhalt zu erfüllen, werden Sie im Sach-register der Autoren die Worte ‚Demut, demütig, Stolz, hochmütig‘nachschlagen und sehen, was sie darüber sagen. Die Beschreibungen

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und Definitionen, die Sie finden, werden Sie unter die Überschriftsetzen: „Worin die Tugend besteht“, und werden versuchen, diesenPunkt gut zu beleuchten, indem Sie zeigen, worin die Demut besteht,ebenso das entgegengesetzte Laster.

Um den zweiten Punkt auszufüllen, werden Sie im Register ‚heuch-lerische Demut‘ finden, ‚aufdringliche Demut‘ und ähnliches; damitwerden Sie den Unterschied zwischen der falschen und der echtenDemut zeigen. Wenn dort Beispiele für die eine und die andere ste-hen, werden Sie diese anführen; und so bei den beiden anderen Punk-ten. Dem Verständigen genügt wenig.

Die Autoren, bei denen sich dieser Stoff findet, sind der hl. Tho-mas, der hl. Antonin, Bischof Wilhelm von Lyon in der ‚Summa überdie Tugenden und Laster‘, die ‚Summa der Prediger‘ von Philipp Diezund alle seine Predigten, Osorius, Ludwig von Granada in seinen geist-lichen Werken, Hylaret in seinen Predigten, Estella im Kommentarzu Lukas, die Jesuiten Salmeron und Barradas über die Evangelien.Der hl. Gregor ist unter den Alten hervorragend, ebenso der hl. Chry-sostomus mit dem hl. Bernhard.

Doch ich muß meine Ansicht sagen. Von allen, die Predigten ge-schrieben haben, sagt mir Diez überaus zu; er ist zuverlässig, er hatden Geist der Predigt, er schärft gut ein, er erklärt die Texte gut, bringtanschauliche Schilderungen, versteht ausgezeichnet zu sprechen, istsehr fromm und klar. Ihm fehlt, was Osorius hat, das ist die Ordnungund die Methode, denn daran hält er sich nicht; mir scheint aber, daßman sich am Anfang daran gewöhnen muß. Das sage ich nicht, weilich ihn sehr viel benützt hätte, denn ich habe ihn erst nach langer Zeitentdeckt, sondern weil ich ihn so kenne, und mir scheint, daß ichmich nicht täusche. Es gibt einen Spanier, der ein umfangreiches Werkmit dem Titel ‚Sylva Allegoriarum‘ verfaßt hat; das ist sehr nützlichfür einen, der es recht zu handhaben weiß, ebenso wie die ‚Konkor-danzen‘ von Benedicti. Das ist meiner Meinung nach das Wichtigste,was mir jetzt über den Stoff in den Sinn kommt.

Über die Form, d. h. wie man predigen soll.

Mein Herr, hier erwarte ich mehr Glauben als sonst, weil ich nichtdie allgemeine Auffassung teile. Was ich sage, ist dennoch die Wahr-heit selbst.

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Die Form, sagt der Philosoph, gibt den Dingen das Leben und dieSeele. Sagen Sie Wunderdinge, sagen sie aber nicht gut, so ist es nichts;sagen Sie wenig und sagen es gut, dann ist es viel. Wie muß man alsobei der Predigt sprechen? Man muß sich vor dem ‚quamquam‘ (wennauch) und den langen Perioden der Schulfuchser hüten, vor ihrenGesten, ihrem Mienenspiel und vor ihren Bewegungen: das alles isteine Pest für die Predigt. Der Vortrag muß ungezwungen, vornehm,freimütig, natürlich, kraftvoll, heilig, würdevoll und etwas getragensein. Doch was muß man tun, um den zu haben? Mit einem Wort, manmuß mit frommem Eifer sprechen, einfach und unbefangen und mitZuversicht; man muß von der Lehre überzeugt sein, die man vorträgt,und davon, wovon man überzeugen will. Die höchste Kunst bestehtdarin, keine Kunstgriffe zu haben. Unsere Worte müssen entflammtsein, nicht durch Schreie und maßlose Aktionen, sondern von inne-rem Feuer; sie müssen mehr von Herzen kommen als aus dem Mund.Man hat gut reden, aber das Herz spricht zum Herzen, die Zungespricht nur zu den Ohren.

Ich habe gesagt, der Vortrag muß ungezwungen sein, im Gegensatzzu einem bestimmten gekünstelten und gesuchten Vortrag von Pe-danten. Ich habe gesagt: vornehm, im Gegensatz zum derben Vortragmancher, die sich darauf verlegen, mit den Fäusten, den Füßen, mitdem Bauch gegen die Kanzel zu schlagen, die schreien und ein abson-derliches Gebrüll veranstalten, und sehr oft an unpassender Stelle.Ich habe gesagt: freimütig, im Gegensatz zu jenen, die einen furchtsa-men Vortrag haben, so als sprächen sie zu ihrem Vater, nicht zu ihrenSchülern und Kindern. Ich habe gesagt: natürlich, im Gegensatz zujeder Künstelei und Affektiertheit. Ich habe gesagt: kraftvoll, im Ge-gensatz zu einem bestimmten leblosen, matten und wirkungslosenVortrag. Ich habe gesagt: heilig, um die höfische und weltliche Ge-fallsucht auszuschließen. Ich habe gesagt: würdevoll, im Gegensatzzu bestimmten Leuten, die den Zuhörern so viele Bücklinge machen,so viele Verbeugungen, und dann so viele kleine Mätzchen, indem sieihre Hände vorzeigen, ihr Chorhemd, und ähnliche unschicklicheAktionen. Ich habe gesagt: etwas getragen, um einen bestimmten ha-stigen, kurz abgehackten Vortrag auszuschließen, der mehr das Augeergötzt als an das Herz rührt.

Ebenso sage ich von der Sprache, daß sie klar, deutlich und natür-lich sein soll, ohne Zurschaustellung griechischer, hebräischer, mo-discher und höfischer Worte. Der Aufbau soll natürlich sein, ohne

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Vorrede, ohne Ausschmückung. Ich billige, daß man beim erstenPunkt ‚erstens‘ sagt, beim zweiten ‚zweitens‘, damit das Volk den Auf-bau sieht.

Ich meine, daß niemand, vor allem aber kein Bischof, Schmeiche-leien den Anwesenden gegenüber gebrauchen darf, selbst wenn esKönige, Fürsten oder Päpste wären. Es gibt wohl bestimmte Rede-wendungen, um das Wohlwollen zu gewinnen, die man gebrauchenkann, wenn man das erstemal zu seinem Volk spricht. Ich bin sehrdafür, daß man sein Verlangen nach dessen Wohl bezeugt, daß manmit Grüßen und Segenswünschen beginnt, mit dem Wunsch, ihm rechtzu seinem Heil verhelfen zu können; ebenso dem Vaterland: doch dasalles kurz, herzlich und ohne hochtrabende Worte. Unsere alten Vä-ter und alle, die fruchtbringend gepredigt haben, enthielten sich desWortschwalls und weltlichen Beiwerks. Sie sprechen von Herz zuHerz, von Geist zu Geist, wie gute Väter zu Kindern. Die gewöhnli-chen Anreden sollen sein: meine Brüder, mein Volk (wenn es dasIhre ist), mein liebes Volk, christliche Zuhörer.

Der Bischof soll am Schluß den Segen spenden, das Birett auf demKopf, und dann das Volk grüßen. Man muß mit kurzen, lebendigenund kraftvollen Worten schließen. Ich billige sehr oft die Zusammen-fassung oder Rekapitulation, nach der man vier oder fünf glutvolleWorte sagt, oder in der Form des Gebetes oder der Anrufung. Es istgut, bestimmte vertraute Ausrufe zu haben, die klug ausgesprochenund verwendet werden, wie: O Gott, Güte Gottes, guter Gott, wahrerGott, ei, ach, o mein Gott!

Für die Vorbereitung der Predigt billige ich, daß man sie am Vor-abend macht und am Morgen für sich meditiert, was man den anderensagen will. Die Vorbereitung, die man vor dem heiligsten Sakramentmacht, hat große Kraft, sagt Ludwig von Granada, und ich glaube es.

Ich liebe die Predigt, die mehr Liebe zum Nächsten verrät als Ent-rüstung, ja sogar zu den Hugenotten, die man mit großem Mitleidbehandeln muß, ohne ihnen zu schmeicheln, sondern indem man siebedauert.

Es ist immer besser, daß die Predigt kurz ist als lang. Darin habe ichbisher gefehlt; möge ich mich bessern. Vorausgesetzt, daß sie einehalbe Stunde dauert, kann sie nicht zu kurz sein.

Wenn es möglich ist, soll man keine Unzufriedenheit zeigen, we-nigstens nicht im Zorn, wie ich es am Fest Unserer lieben Frau ge-

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macht habe, als man läutete, ehe ich geendet hatte. Das war ohneZweifel ein Fehler neben vielen anderen. Ich liebe keine Scherze undSpitznamen; dafür ist die Predigt nicht der Ort.

Ich schließe, indem ich sage: die Predigt ist die Verkündigung undAuslegung des Willens Gottes für die Menschen durch den, der da ist,rechtmäßig gesandt, damit er sie belehre und dazu bewege, der göttli-chen Majestät in dieser Welt zu dienen, damit sie in der anderen ge-rettet sind.

Was sagen Sie dazu, mein Herr? Verzeihen Sie mir, ich bitte Sie.Ich habe geschrieben, wie es in die Feder floß, ohne auf Worte oderKunst zu achten, einzig von dem Wunsch beseelt, Ihnen zu bezeugen,wie gehorsam ich Ihnen bin. Ich habe die Autoren nicht angegeben,die ich an manchen Stellen zitiert habe; das geschah deswegen, weilich auf dem Land bin, wo ich sie nicht zur Hand habe. Ich habe michselbst zitiert, mein Herr, weil Sie meine Meinung erfahren wollen,nicht die von anderen. Und wenn ich sie selbst erprobt habe, warumsoll ich sie nicht sagen?

Bevor ich diesen Brief beschließe, muß ich Sie beschwören, meinHerr, ihn niemand zu zeigen, dessen Augen mir weniger gewogenwären als die Ihren, und ich füge die sehr demütige Bitte hinzu, daßSie sich zu keinerlei Überlegungen verleiten lassen, die Sie am Predi-gen hindern oder dazu veranlassen könnten, das Predigen aufzuschie-ben. Je eher Sie beginnen, um so eher werden Sie Erfolg haben. Undoft predigen, nur dadurch wird man Meister. Sie können es, meinHerr, und Sie müssen es. Ihre Stimme ist dazu geeignet, Ihr theologi-sches Wissen ausreichend, Ihr Auftreten angemessen, Ihr Rang in derKirche sehr erhaben. Gott will es, die Menschen erwarten es; es istzur Verherrlichung Gottes, es ist zu Ihrem Heil. Beherzt, mein Herr,und Mut aus Liebe zu Gott.

Der Kardinal Borromäus predigt, erbaut und heiligt sich, ohne denzehnten Teil der Talente zu haben, die Sie besitzen. Wir dürfen nichtunsere Ehre suchen, sondern die Ehre Gottes; und wenn wir ihn ge-währen lassen, wird Gott unsere Ehre suchen. Beginnen Sie einmalbei Weihen, mein Herr, ein andermal in irgendeiner Kommunität;sagen Sie vier Sätze, dann acht, dann zwölf, bis zu einer halben Stun-de; dann besteigen Sie die Kanzel. Für die Liebe ist nichts unmöglich.Unser Herr fragte den hl. Petrus nicht: „Bist du gelehrt oder redege-wandt?“, um ihm zu sagen: Weide meine Schafe, sondern: Liebst dumich? (Joh 21,15-17). Um gut zu sprechen, genügt es, recht zu lieben.

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Der hl. Johannes wußte vor seinem Tod nichts anderes zu sagen, als ineiner Viertelstunde hundertmal zu wiederholen: „Meine Kinder, liebteinander“, und mit dieser Vorbereitung bestieg er die Kanzel. Undwir haben Bedenken, sie zu besteigen, wenn wir nicht wunder was füreine Beredsamkeit besitzen! Lassen Sie diejenigen reden, die die Fä-higkeit Ihres Herrn Vorgängers rühmen: er hat auch einmal angefan-gen wie Sie.

Doch mein Gott, was werden Sie von mir sagen, mein Herr, daß ichso unbekümmert mit Ihnen umgehe? Die Liebe kann nicht schwei-gen, wo es um das Wohl dessen geht, den man liebt. Mein Herr, ichhabe Ihnen Treue geschworen, und man erträgt viel von einem treuenund ergebenen Diener. Mein Herr, Sie gehen zu Ihrer Herde; schade,daß es mir nicht vergönnt ist, hinzueilen, um Ihnen zu assistieren, wieich bei Ihrer ersten Messe die Ehre hatte! Ich werde dabei an IhrerSeite sein durch meine Wünsche und Gebete. Ihr Volk erwartet Sie,um Sie zu sehen und von Ihnen gesehen zu werden; von Ihrem Begin-nen wird es Schlüsse auf das Weitere ziehen: Beginnen Sie frühzeitig,was Sie immer tun müssen. Wie werden sie erbaut sein, wenn siesehen, daß Sie oft am Altar das Opfer für ihr Heil darbringen, mitIhren Pfarrern über ihre Erbauung beraten, auf der Kanzel vom Wortder Versöhnung (2 Kor 5,19) sprechen und predigen!

Mein Herr, ich stand nie am Altar, ohne Sie Unserem Herrn zuempfehlen; ich wäre überglücklich, wenn ich würdig bin, daß Sie dortmanchmal an mich denken. Ich bin und werde mein Leben lang sein,von Herzen, von ganzer Seele, im Geist, mein Herr, Ihr sehr demüti-ger Diener und ganz kleiner und gehorsamer Bruder,

Franz, Bischof von Genf.Am 5. Oktober 1604.Ich schäme mich, während ich diesen Brief noch einmal lese. Wenn

er kürzer wäre, würde ich ihn neu schreiben. Ich habe aber so vielVertrauen auf die Unerschütterlichkeit Ihres Wohlwollens, mein Herr,daß ich ihn schicke, wie er ist. Um der Liebe Gottes willen, lieben Siemich immer und halten Sie mich so sehr für Ihren Diener wie je einenlebenden Menschen, denn ich bin es.

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III. Die Leitung der Diözese

Franz von Sales übernahm die Leitung der Diözese Genf nicht unvorbereitet. AlsPropst des Domkapitels hatte er seit seiner Priesterweihe einen gewissen Anteil anihr. Als er 1598 in Vertretung des kränklichen Bischofs Claude de Granier adlimina nach Rom reiste (vgl. Band 8, S. 45f), war er schon zu dessen Koadjutor mitdem Recht der Nachfolge ausersehen. Nach seiner Rückkehr bemühte er sich vorallem um die Reorganisation der Seelsorge in den Gebieten, die politisch wieder anSavoyen gefallen waren, die er von seiner Missionstätigkeit im Chablais am bestenkannte. Anfangs 1602 reiste er nach Paris zu langwierigen Verhandlungen über diekirchlichen Interessen in Gex, das im Frieden von Lyon (1601) an Frankreichgefallen war, aber zur Diözese Genf gehörte. Auf der Rückreise erreichte ihn dieNachricht vom Tod seines Bischofs (s. Bd. 8,77). Nach seiner Bischofsweihe am 8.Dezember 1602 setzte er die schwierigen Verhandlungen fort, doch sobald es ihmmöglich war, nahm er in aufreibenden Visitationsreisen die persönliche Verbindungmit dem katholisch gebliebenen Teil der Diözese bis in das letzte Bergdorf auf. Sokonnte er Ende 1606, als sein Besuch ad limina fällig war (s. Band 8,121), ausgründlicher Kenntnis über den Stand und die Probleme seiner Diözese berichten(OEA XXIII, 311-334).

1. Der Stand der Diözese Genf

Schon vor 61 Jahren wurde der Bischof von Genf mit seinem Kle-rus von den Häretikern aus seiner Stadt vertrieben und höchst unge-recht aller beweglichen und des größten Teils der unbeweglichenGüter beraubt. Daher hat er nun seinen Sitz in der Stadt Annecy imHerzogtum Savoyen, [in der Erwartung, daß seine Rückführungkommt].

Die Einkünfte des Bischofs sind so gering, daß sie kaum die Summevon 1000 Gulden erreichen, [so daß nach Abzug der Gehälter für dieBeamten der Diözese sehr wenig bleibt für seinen und seiner Ange-stellten Unterhalt. Wahrhaftig, wer nicht gelernt hat, Überfluß zu ha-ben (Phil 4,12), muß lernen, Mangel zu leiden].

Der gegenwärtige Bischof von Genf, Franz von Sales, ist der sech-ste, der außerhalb von Genf lebt. Er stammt aus dieser Diözese undist aus dem Domkapitel hervorgegangen (dessen Propst er zehn Jahrewar). Er ist vor vier Jahren ernannt und geweiht worden. [Da er in denersten zwei Jahren durch Kriegswirren und -stürme daran gehindertwar, hat er in den beiden folgenden Jahren an 260 Pfarreien persön-lich visitiert, und soweit es ihm bei seiner Dürftigkeit möglich war,

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überall selbst das Brot des Wortes Gottes dem Volk gereicht undgebrochen und unzähligen Gläubigen das Sakrament der Firmunggespendet;] den Rest der Diözese wird er im nächsten Jahr visitieren.

Sein Vorgänger war Claude de Granier, ein würdiger Bischof un-vergänglichen Andenkens, der nach den kirchlichen Dekreten jedesJahr die Synode hielt. Zum Amt des Pfarrers berief er nach den Vor-schriften des heiligen Konzils von Trient diejenigen, die in der Prü-fung am würdigsten befunden wurden. Fast zu allen Quatemberzeitenerteilte er die heiligen Weihen und ließ das Offizium überall nachrömischem Brauch verrichten. Seinen Spuren folgte sein Nachfolger,obwohl unwürdig, mit großem Nachdruck.

Der Stand der Kathedrale.

An der Kathedrale von Genf, die dem hl. Petrus unter dem Titelseiner wunderbaren Befreiung aus den Ketten geweiht ist, gibt es 30Kanoniker, den Propst, der die höhere Dignität besitzt, den Kantorund Sakristan eingeschlossen, deren Amt für immer besteht. Jedervon ihnen empfängt die gleiche Pfründe, so daß der Propst nicht mehrals die anderen erhält. Es gibt an ihr sechs Chorknaben mit dem Ma-gister, acht Benefiziaten, die dem Gesang und der Musik obliegen,und vier weitere, die für das Kreuztragen, Glockenläuten, die Leitungder Zeremonien und die Erhaltung der Paramente sorgen.

Nach Abzug aller Lasten und notwendigen Ausgaben erreicht nunder Anteil, der jedem Kanoniker zukommt, nicht den Wert von 40Goldtalern jährlich, eine Pfründe, die unangemessen und völlig un-zureichend ist, einen Menschen zu ernähren. Es ist aber bewunderns-wert, wie würdig und fromm bei solcher Armut das Chorgebet vondiesem Kapitel gefeiert wird, [damit nicht wegen der Verbannung dieHarfen in den Weidenbüschen aufgehängt werden und der Gesangverstummt; es singt vielmehr ein Lied von Zion und das Lied desHerrn in fremdem Land (Ps 137,2-4). Dieses Chorgebet verrichtet es]in der Kirche der Minoriten von der Observanz in der Stadt Annecy.Alle Kanoniker sind adelig von beiden Eltern oder Doktoren, gemäßihrem alten Statut, das vom Apostolischen Stuhl bestätigt wurde. Unterihnen sind derzeit auch zehn hervorragende Prediger des WortesGottes.

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Der Stand des Klerus.

In der Diözese Genf gibt es vier Kollegiatkirchen: in Annecy mit12 Kanonikern und ebensovielen Benefiziaten; in Sallanches mit 13Kanonikern und 4 Benefiziaten; in La Roche mit 15 Kanonikern, inSamoens mit 10 Kanonikern. In allen wird täglich das Chorgebet ge-sungen; aber alle haben bisher in gleicher Weise dürftige Jahresein-kommen.

Es gibt außerdem sechs Abteien von Männern; in Aulps, Haute-combe und Chézery vom Zisterzienserorden, in Abondance und Sixtvon Regularkanonikern des hl. Augustinus, in Entremont von Kano-nikern des hl. Rufus. Alle sind im Besitz von Kommendatar-Äbten.

Außerdem gibt es fünf Konventual-Priorate: vom heiligen Grab inAnnecy, von Unserer lieben Frau in Peillonex, beide von Regular-Kanonikern; in Talloires des Ordens von Savigny, in Contamine undBellevaux des Ordens von Cluny [von all diesen ist nur das letzte vomTräger des Titels besetzt].

Es gibt vier Klöster von Kartäusern. Ebenso 35 Landpriorate ver-schiedener Orden. Von ihnen sind 12 mit verschiedenen Kirchen so-wohl dieser Diözese als auch anderen vereinigt; von den übrigen sind11 nach dem Titel, 12 in Kommende besetzt.

Es gibt 450 Pfarrkirchen, in denen überall die Sakramente gespen-det und das Volk seiner Fassungskraft entsprechend in den Hauptleh-ren der katholischen Religion unterwiesen wird.

Es gibt vier Konvente von Mendikanten: einen in Seyssel von Augu-stinern, den zweiten in Annecy von Dominikanern, den dritten eben-falls in Annecy und den vierten in Cluses von den Minoriten der Ob-servanz. Dazu kam vor zehn Jahren als fünfter einer der Kapuziner inAnnecy.

Es gibt zwei Klöster der Klarissen: eines in Annecy, das andere inEvian. Ebenso zwei Klöster oder Abteien von Frauen: Sainte Cathe-rine in der Nähe der Stadt Annecy und Bonlieu vom Zisterzienseror-den; auch eine der Kartäuserinnen in Mélan.

Der Stand des Volkes.

Das gesamte Volk der genannten Pfarreien ist wahrhaft katholischund pflegt die alte Frömmigkeit, obwohl in 70 der genannten Pfarrei-

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en während zwanzig Jahren die calvinistische Häresie herrschte; denndank der Autorität des erlauchten Fürsten und durch die Predigt vie-ler Prediger, teils des Weltklerus, teils verschiedener Orden, beson-ders der Kapuziner und der Gesellschaft Jesu, haben sie sich zumHirten ihrer Seelen (1 Petr 2,25) bekehrt, so daß sie, während sie vor-her Finsternis waren, nun Licht im Herrn (Eph 5,8) sind.

Es gibt 15 Schulen für Knaben, in denen sie in Grammatik undHumaniora unterrichtet werden, besonders aber durch die Katechesein der christlichen Lehre. In zehn Orten wird während der Fastenzeitjeden Tag das Wort Gottes gepredigt.

Schäden und Mißstände der Diözese Genf,die vom heiligen Apostolischen Stuhl durch geeignete Maßnahmen

geheilt und behoben werden können.

Über die Errichtung eines Seminars.

Keine Diözese des christlichen Erdkreises bedarf dringender einesSeminars als die von Genf; aber bisher hat man sich vergeblich umseine Errichtung bemüht.12 Das Einkommen des Bischofs ist zu dürf-tig, als daß von ihm etwas weggenommen oder abgezweigt werdenkönnte; das Einkommen des Domkapitels ist sehr gering und genügtnicht, um die Kanoniker zu ernähren, ebenso die anderen Kollegiat-kirchen der Diözese. Obwohl die Abteien und Priorate reich sind,kann man ihnen überhaupt nichts entwinden. Die sie innehaben, hal-ten daran fest, und meistens sind sie durch verschiedene Pensionen,die auf ihnen lasten, ziemlich ausgeblutet.

Wenn aber der Apostolische Stuhl einige Landpriorate, die zuerstfrei werden, durch seine höchste Autorität für die Errichtung des Se-minars bestimmen wollte, hätte die Sache ohne Zweifel besten Er-folg. Jedenfalls aber muß das Werk auf diese Weise oder durch eineallgemeine Abgabe des Klerus verwirklicht werden.

Über den Theologen und Pönitentiar.

Nur der Magister der Theologie an der Kathedrale hat eine Pfründeals Theologal, eine zweite der Pönitentiar, um den Beichtdienst zuversehen. Sie können aber ihr Amt nicht richtig ausüben, weil sie von

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ihren Pfründen kaum leben können, zumal sie den Wert von 40 Ta-lern jährlich nicht erreichen.

Diesem Übel könnte abgeholfen werden, wenn der ApostolischeStuhl zwei Laien-Präbenden von benachbarten Klöstern mit den ge-nannten Pfründen des Theologalen und des Pönitentiars vereinigt.

Über die notwendige Reform der Regularen.

Es ist erstaunlich, wie sehr die Disziplin aller Regularen in denAbteien und Prioraten dieser Diözese zerstört ist (die Kartäuser undMendikanten nehme ich aus). Bei allen anderen ist das Gold in Schlak-ke verwandelt und der Wein mit Wasser gemischt (Jes 1,22), ja sogar zuGift geworden. Dadurch lassen sie die Feinde des Herrn Gott lästern(2 Sam 12,14), wenn sie jeden Tag sagen: wo ist denn ihr Gott? (Ps42,11).

Diesem Mißstand kann abgeholfen werden, indem man entwederBessere von anderen Orden einsetzt oder sie jedes Jahr visitiert undzüchtigt oder sie schließlich durch Säkularkleriker ersetzt. Die ersteMaßnahme ist bei weitem die leichteste, die dritte die nützlichste,gereicht zur größeren Ehre Gottes und ist angesichts der Notlage die-ser Provinz die vorzüglichste; die zweite ist die schwierigste und un-sicherste, denn was mit Gewalt geschieht, wird kaum gut.

Über die Reform bestimmter Nonnen und die Hilfe für andere.

Bei den Zisterzienserinnen steht die Tür jederzeit für alle offen,sowohl für die Nonnen zum Ausgang als auch für Männer zum Ein-treten.

Alle aber, sowohl die Zisterzienserinnen wie die Klarissen, entbeh-ren den Trost, den ihnen das Konzil von Trient nicht ohne Anregungdes Heiligen Geistes gewähren will, daß ihnen nämlich wenigstensdreimal im Jahr ein außerordentlicher Beichtvater gegeben wird. Siesind ja gezwungen, immer bei ein- und demselben zu beichten, und essteht ihnen nie frei, den Dienst eines anderen zu erbitten. Zu welcherGefahr das für die Seele führt, ich weiß es nicht, Gott weiß es (2 Kor12,2f).

Ebenso stellen sie die Mädchen nie dem Bischof oder seinem Vikarvor, damit er ihren freien Willen prüfen könne, die Ordensgelübdeabzulegen.

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Über die Vermehrung der Pfarrkirchen.

Die Diözese Genf ist zwischen sehr hohen Bergen gelegen; zwi-schen ihren Gipfeln und Höhen sind aber häufig Dörfer mit zahlrei-chen Familien zerstreut. Damit sie geistlich betreut werden, habendie Vorfahren Kirchen gebaut, zu denen an den Feiertagen Pfarrerkommen, die in den tiefer gelegenen Tälern wohnen, um dem Volkdie Wohltat des Meßopfers zu verschaffen. Da nun anfangs die Zahlder Familien gering war, die an diesen rauhen Orten wohnten, mußtedieser zeitweise Besuch der Seelsorger vollauf genügen, zumal vorallem wegen der Armut der Äcker und der Bauern aus ihren Abgabenkein Geistlicher ernährt und unterhalten werden konnte, der bei ih-nen gewohnt hätte. Da aber Gott nun sowohl die Bevölkerung ver-mehrt hat als auch durch die Arbeit und den Fleiß des Volkes dasunfruchtbare Land in Felder und Wiesen verwandelt wurde, wäre eswünschenswert, ihnen Seelsorger zu geben, zu deren Unterhalt dieAbgaben ausreichten, die sie jährlich entrichten.

Das Hindernis, dies zu machen, ist folgendes: Fast immer stehendie Abgaben dieser Orte den Äbten und Klöstern zu, denen sie auchjetzt geleistet werden, während die Vorratskammern der Klöster vollsind und nach allen Seiten überfließen und die Mönche wie fette Schafeauf ihren Fluren (Ps 144,13) sehr zahlreich sind. Da man aber jetzt,wie oben gesagt wurde, allgemein nur das Kleid von Mönchen fest-stellen kann, rufen diese armen Bergbewohner wie Schafe, die keinenHirten haben (Mk 6,34): Warum nähren sich jene von unserer Milchund kleiden sich von unserer Wolle, weiden aber unsere Herde wederselbst noch durch andere (Ez 34,3)? Ihre Frage scheint berechtigt.

Ich habe eine Pfarrkirche besucht und visitiert, die zuhöchst in denBergen liegt, zu der man nur auf Händen und Füßen kriechend gelan-gen kann, sechs italienische Meilen von der nächsten Kirche entfernt.Ihr einziger Pfarrer, der allein beide leitet, feiert in jeder von ihnenjeden Sonntag die Messe, ich kann nicht sagen, mit welcher Mühe,unter welchen Gefahren, welchem Ungemach, besonders im Winter,wenn in jener Gegend alles von Eis und Schnee bedeckt ist. Als ichhinkam, riefen mir Männer und Frauen, Große und Kleine von allenSeiten zu: Wie kommt es, daß wir alle Kirchengesetze beobachten,den Zehnten und die Erstlingsgaben abliefern und uns kein Seelsor-ger gewährt wird? Wir sind vielmehr wie eine Herde, die keine Weide

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findet (Klgl 1,6). Alles bekommt doch der Abt des benachbarten Klos-ters.

Es ist zwar Aufgabe der Bischöfe, zu entscheiden, was in solchenFällen zu tun ist; das ist aber kaum möglich. Denn vor allem werdenProzesse über Besitzrechte vor weltlichen Gerichten angestrengt.Wenn sie keinen Erfolg haben, belasten sie den, der die Entscheidunggetroffen hat, mit verschiedenen Berufungen, die sie nicht gebrau-chen, sondern mißbrauchen; nicht weil sie belastet werden, sagt derhl. Bernhard, sondern um zu belasten. Möge doch ein Visitator mitapostolischer Autorität kommen, treu und klug, der den einzelnenKirchen gleich Familien das für jede notwendige Maß des Unterhaltszuteilt (Lk 12,42)!

Über die Häretiker in der Diözese.

Außer jenen 450 Pfarreien, von denen wir gesagt haben, daß sie vonwahren Katholiken bewohnt werden, bleiben noch 130 andere, diezum Teil unter der despotischen Gewalt der Berner stehen, zum Teilunter der Herrschaft des allerchristlichsten Königs. Was die von denBernern besetzten betrifft, ist nichts zu erhoffen, bis die Stadt Bernselbst zur Ordnung zurückgeführt wird.

Was aber die übrigen betrifft, die unter der Hoheit des allerchrist-lichsten Königs stehen, [heißt uns der König selbst zu Recht immerzu hoffen, und auf sein Geheiß habe ich bisher vier Jahre gehofft;jetzt aber beginnen meine Augen zu versagen in Erwartung seines Ver-sprechens und sagen: Wann wird er mich trösten (Ps 119,82)? Darü-ber weiß der Hochwürdigste Kardinal del Bufalo bestens Bescheid.Als Nuntius des Heiligen Stuhls in Frankreich hat er in seinem Eiferfür die Ehre Gottes den König zu bewegen versucht, daß er uns dasRecht verschaffe, in diesen Pfarreien die kirchlichen Güter zu erhal-ten, und was die Hauptsache ist, die katholische Religion auszuüben,was den anderen Bischöfen und Geistlichen im ganzen übrigen Kö-nigreich gewährt wurde.]

Über Genf will ich weiter nichts hinzufügen; denn was Rom für dieEngel und Katholiken ist, das ist Genf für die Teufel und Häretiker.Allen, die den römischen, d. h. den wahren Glauben bekennen, vorallem dem Papst und den Fürsten obliegt es, daß dieses Babylon ent-

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weder zerstört oder bekehrt wird, mehr aber, daß es sich bekehre undlebe (Ez 18,23) und den preise, der lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Franz, Bischof von Genf.

Wie sehr äußere Verwaltungsaufgaben, die allerdings im Dienst der Seel-sorge standen, auch später die geistliche Leitung der Diözese erschwerten,zeigt ein Brief vom 12. 9. 1613 an Bischof Antoine de Revol (OEA XVI,69-71):

– – – Ich habe dauernd Scherereien, die mir die Leitung dieserDiözese ständig bereitet. Ich finde nicht einen Tag, um meine armenBücher anzusehen, die ich manchmal so geliebt habe und jetzt nichtmehr zu lieben wage aus Furcht, daß die Trennung von ihnen, zu derich gekommen bin, mir noch härter und verdrießlicher werde.

Wir haben wohl ein kleines Gebiet, wo seit kurzem durch die Auto-rität des Königs und gemäß dem Edikt von Nantes die kirchlicheVerwaltung wiederhergestellt ist. Aber diese Verwaltung stellt michmehr vor die Aufgabe, mit den Prädikanten um die zeitlichen Güterder Kirche zu streiten, die sie uns vorenthalten, als sie und das Volkvon der Wahrheit der geistlichen Güter zu überzeugen, nach denensie streben müßten. Es ist erstaunlich, wie diese Schlangen ihre Oh-ren verstopfen, um die Stimme des Schlangenbeschwörers nicht zuhören, wie weise und heilig er sie auch beschwören mag. Es gibt hiereine ausreichende Zahl von guten Seelsorgern und tüchtigen Kapuzi-nerpatres. Wenn auch die Menschen nicht auf sie hören, Gott schautauf sie und wird ohne Zwefel ihre gegenwärtige Nutzlosigkeit für dasHeilige annehmen, die er später durch eine fruchtbare Ernte ausglei-chen wird, und wenn sie unter Tränen säen, werden sie mit Freudenernten ...

2. Die Diözesan-Synode

Ein wichtiges Instrument der Leitung der Seelsorge war für Franz vonSales die jährliche Diözesan-Synode, eine Einrichtung, die er von seinemVorgänger übernahm, die er zu einem geistlich ausgerichteten Treffen derPfarrer ausgestaltete, die mit ihm die Liturgie feierten und Fragen derSeelsorge berieten.

Hier wird die Einberufung der ersten Synode, wenige Wochen nach derÜbernahme des Amtes (OEA XXIII,261f) wiedergegeben, sowie derengrundlegende Konstitutionen (XXIII,262-267), die auch einen Einblick in

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den Stand der Seelsorge zu Beginn seines Wirkens als Bischof geben; an-schließend die Konstitutionen der Synode von 1605 (XXIII,305-310) undvon 1617 (XXIII,389-398) – Die Funktion der in den Konstitutionen ge-nannten ‚Aufseher‘ entsprach in etwa jener der Dekane im heutigen Sinn.

Franz von Sales, durch Gottes und des heiligen Apostolischen Stuh-les Gnade Fürstbischof von Genf, entbietet seinen Gruß allen, diedas Folgende sehen.

Entsprechend den apostolischen Anordnungen und Bestimmungenund der allgemeinen Übereinstimmung der Kirche Gottes ordnenWir hiermit Fasten und Abstinenz in der ganzen Diözese für die hei-lige Fastenzeit an. Wir verbieten ausdrücklich allen Personen jegli-chen Standes, Speisen, die nach den Gesetzen und dem Brauch derKirche in dieser Zeit verboten sind, zu essen, zu verkaufen und zuverabreichen, ohne ausdrückliche schriftliche Erlaubnis von Uns, vonUnserem Generalvikar oder anderen dazu Bevollmächtigten, die amSchluß dieses Schreibens genannt sind.

Hiermit berufen Wir auch die Synode ein, dem löblichen Brauchgemäß für den Mittwoch der zweiten Woche nach Ostern.13 Wir ge-bieten allen Pfarrern und den übrigen, die dazugehören, sich persön-lich dazu einzufinden, um die Konstitutionen zu hören und die fürihr Amt und das Wohl ihrer Gemeinde notwendigen Anordnungen.

Wir ordnen auch die Residenz an für alle, die ein Benefizium inneha-ben, das sie durch Gesetz oder Gewohnheit erfordert. Sie haben genauinnerhalb von zwei Monaten nach Erlaß dieses Schreibens ihrer Ver-pflichtung nachzukommen, um persönlich ihr Amt und ihren Dienstzu versehen, oder den Grund anzugeben, warum sie in Anspruch neh-men könnten, dazu nicht verpflichtet zu sein. Andernfalls wird gegensie nach der Strenge der kanonischen Gesetze vorgegangen.

Gegeben zu Annecy am 15. Januar 1603.

Konstitutionen der Synode vom 2. Oktober 1603.

Franz von Sales, durch Gottes und des heiligen Apostolischen Stuh-les Gnade Fürstbischof von Genf: allen Geistlichen Unserer DiözeseGruß.

Vom Wunsch beseelt, daß die Anordnungen, die auf der jüngstenSynode (der ersten die unter Unserer Amtsführung gehalten wurde)erlassen wurden, sorgsam befolgt werden, haben Wir sie drucken las-

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sen, damit die Bekanntmachung leichter ist und ihr keinen Vorwandder Unkenntnis habt, sondern ihr sie vor Augen habt und sie befolgtnach ihrem Wortlaut, der folgt.

1. Wir haben hingewiesen auf die Canones der früheren Konzileund sie von neuem veröffentlicht, die den Geistlichen verbieten, inihren Häusern und Wohnungen irgendwelche Frauen zu halten, derenAufenthalt und Verbleib mit ihnen gerechterweise Verdacht erwek-ken könnte; und soweit eine Notwendigkeit bestand, haben Wir die-ses Verbot unter Androhung strenger Bestrafung von neuem ausge-sprochen.

2. Wir haben den hochwürdigen Aufsehern dieser Diözese die Voll-macht gegeben und geben sie ihnen, in den Pfarreien, die ihnen anver-traut sind, von der Beobachtung der gebotenen Feiertage je nach Not-wendigkeit zu dispensieren, und allen Pfarrern und allen anderen,vor allem Beamten des Laienstandes verboten, solche Erlaubnisse zugeben.

3. Bezüglich der Differenzen, die zwischen den Pfarrern entstehenkönnten wegen der Almosen bei Begräbnissen von Gläubigen, die ineiner Pfarrei sterben und in der anderen beerdigt werden, wurde an-geordnet, daß die Beleuchtung gleichmäßig zwischen den Pfarrerngeteilt werde, die auch beide Gebete und Messen für den Verstorbe-nen darbringen werden. Das Jahresgedächtnis wird jedoch von demPfarrer gehalten, der den Toten beerdigt hat, wofür das Leichentuchund die anderen Almosen der Leichenfeier ihm verbleiben. Alle an-deren Differenzen werden dem Urteil der Aufseher überwiesen.

4. Alle Pfarrer werden am Sonntag und an gebotenen Feiertagenden Katechismus des Hochwürdigsten Kardinals Bellarmin lehren,zur Stunde, die nach den örtlichen Verhältnissen am geeignetstenscheint. Zu diesem Zweck werden sie sich bemühen, an den Wochen-tagen diesen Katechismus die kleinen Kinder zu lehren, damit siedarauf antworten können.

5. Die Pfarrer werden aus ihren Kirchen und vor allem aus ihremChor profane Möbel entfernen, die während des Krieges dort in Si-cherheit gebracht wurden, und sie werden von jetzt an nicht erlauben,daß solche Dinge ohne offenkundige Notwendigkeit dort eingestelltwerden.

6. Alle Geistlichen werden in allem genau die Dekrete des heiligenKonzils von Trient befolgen, besonders in dem, was das göttliche Of-

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fizium und die Feier der Messe betrifft. Und künftig wird keiner zumExamen für die Priesterweihe zugelassen, der nicht ein Zeugnis desAufsehers seines Ortes mitbringt, daß er die heiligen Zeremoniennach dem Ritus von Trient genau beherrscht.

7. Alle Pfarrer werden für ihre Kirchen Tabernakel mit passendenZiborien aufstellen und besorgen, um das allerheiligste Sakramentauf dem Altar aufzubewahren. Jeden ersten Sonntag des Monats wer-den sie die heiligen Hostien erneuern, die für die Kranken bestimmtsind. Die heilige Hostie, die am Fronleichnamsfest ausgesetzt wird,werden sie nur bis zum Tag unmittelbar nach der Oktav aufbewahrenund sie an diesem Tag konsumieren.

8. Die Residenz wird allen Pfarrern aufgetragen sowie allen, die einSeelsorgeamt haben (wenn sie nicht rechtmäßig entschuldigt sind),unter Androhung des Entzugs ihrer Benefizien. Das gilt als letzteAufforderung.

9. Allen Geistlichen wird auferlegt, sich angemessen zu kleiden,stets die Tonsur und den klerikalen Kranz auf dem Kopf zu tragenund den Bart über der Oberlippe zu stutzen.

10. Der Besuch von Schenken und Wirtshäusern ist für alle Geistli-chen am Ort ihrer Residenz verboten, ohne Ausnahme und jeglichenVorwand, selbst der Bezahlung und jedes anderen, außer in Fällenoffenbarer Notwendigkeit, wobei sie sich dort mit aller Bescheiden-heit und Mäßigkeit benehmen.

11. Ihnen sind unerlaubte Spiele an allen Orten verboten; die er-laubten und anderer Zeitvertreib auf Plätzen, an Straßenecken, aufStraßen, an Wegen und anderen öffentlichen Orten. Ebenso auch dieJagd mit Parforcehunden und Büchse, die zu tragen ihnen völlig ver-wehrt ist; darüber hinaus jede andere Jagd, die je nach verschiedenenOrten selbst Laien verboten ist.

12. Alle Pfarrer werden die heiligen Öle jedes Jahr aus der Handjener empfangen, die dazu aufgestellt sind, sie zu verteilen, und siewerden diese in geziemenden und unzerbrechlichen Gefäßen aufbe-wahren. Die sie verteilen, werden eine Liste der Empfänger führen.

13. Kein Geistlicher wird unter irgendeinem Vorwand, so heiligund fromm er scheinen mag, Geld für die Austeilung der heiligenKommunion verlangen, weder direkt noch indirekt, in welcher Weisees geschehe, unter Androhung exemplarischer Bestrafung.

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14. Keiner mache bei der Predigt irgendeine Ankündigung von welt-lichen und profanen Dingen und Geschäften, sondern nur darüber,was den Dienst (Gottes und) der Seelen betrifft.

15. Die Pfarrer werden künftig adeligen Damen und anderen Frau-en nicht gestatten, ihren Kirchenstuhl im Chor der Kirche aufzustel-len, und werden dafür sorgen, jene entfernen zu lassen, die mißbräuch-lich dort aufgestellt sind; ebenso dafür, daß die Fenster und Fenster-scheiben ihrer Kirchen ganz und geschlossen sind, besonders jene,die dem Altar entsprechen, während man die heilige Messe feiert.

16. Keiner nehme von jetzt an den Exorzismus vor, wenn er nichtbesonders und von neuem dazu ermächtigt ist. Und es ist allen Exor-zisten allgemein verboten, dem Teufel zu befehlen, daß er die Namenvon Zauberern und Hexen zu offenbaren habe, noch irgendeine ande-re Art von Sünde.

17. Jahrmärkte und Kaufläden sind für Geistliche verboten, außerim Notfall, was selten vorkommt. In diesem Fall werden sie sich ih-rem Stand entsprechend verhalten, nicht als Kaufleute und Händler.

18. Allen, die ein Seelsorgeamt haben, wird auferlegt, die Registerder Taufen, Eheschließungen und Beerdigungen auf gutem Stand zuhalten und eine unterzeichnete Abschrift davon bei jeder Synode inUnserer Registratur abzuliefern.

19. Die Pfarrer werden an drei verschiedenen Sonntagen bei derPredigt bekanntgeben lassen, daß die Rektoren oder Gründer vonKapellen, die sich in ihrer Pfarrei befinden, innerhalb eines Monatsnach der letzten Verkündigung vor Unserem Generalvikar zu erschei-nen haben, um ihn über den Dienst und die Mittel des Unterhaltsdieser Kapellen zu unterrichten. Im Fall der Unterlassung werden sieabgerissen und das Einkommen, das sich finden wird, dem Hauptal-tar der Pfarrei oder irgendeinem anderen zugeteilt, je nachdem waszweckmäßig ist.

20. Die Pfarrer werden dafür sorgen, daß die Benefiziaten von Ka-pellen ihre Pflicht erfüllen, werden sie auch freundlich aufnehmenund ihnen die notwendigen Dinge zur Feier der Messe besorgen, zuder sie ihnen zur Stunde und auf gebührende Weise zu läuten erlau-ben werden.

21. Die Pfarrer werden ehestens die Hebammen ihrer Pfarrei kom-men lassen, um sie über die Form und Materie der Taufe zu befragen.

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Wenn sie diese nicht kennen, werden sie sie darüber belehren, damitsie im äußersten Notfall mit der erforderlichen Form, Materie undIntention taufen können.

22. Es ist verboten, bei Gebeten und Beschwörungen gegen Unwet-ter unbekannte Worte, abergläubische Ausdrücke und Zeichen zu ge-brauchen.

23. Jede andere Form der Verkündigung als jene, die durch Unse-ren hochwürdigsten Vorgänger (Gott hab’ ihn selig) veröffentlichtwurde, ist ganz und gar verboten.

24. Ebenso auch jede andere Art der Absolutionsformel als die fol-gende ...

Schließlich wird allen Pfarrern und Vikaren aufgetragen, diese Kon-stitutionen zu besitzen und sie in ihrer Sakristei anzuschlagen oderan einem anderen Platz ihrer Kirche, wo sie diese oft sehen und erwä-gen können, zur Ehre Gottes und zum Heil des Volkes.

Franz, Bischof von Genf.Decomba.

Konstitutionen der Synode vom 20. April 1605.

Die Nachlässigkeit, die der Großteil der Unserem Amt unterste-henden Geistlichen in der Befolgung unserer ersten Anordnungengezeigt hat, und die Erkenntnis der Notwendigkeit am Beginn Unse-rer allgemeinen Visitation, Streitigkeiten und Auseinandersetzungenvorzubeugen, die zwischen den Pfarrern und Pfarrangehörigen ent-stehen könnten, haben Uns bewogen, diese Konstitutionen zu erlas-sen.

Erstens haben Wir angeordnet, daß die Konstitutionen, die Wir aufder Synode vom 2. Oktober 1603 erlassen haben, von neuem veröf-fentlicht werden, selbst mit dem, was von den Schenken und Wirts-häusern, unter welchem Vorwand immer, handelt, damit sie mit dengegenwärtigen befolgt werden.

Alle Inhaber von Benefizien, die ein Seelsorgeamt haben, sind ver-pflichtet, innerhalb von sechs Wochen persönlich anwesend zu sein,unter Androhung der Exkommunikation, wenn sie nicht gültig dis-pensiert sind. Dazu sind sie verpflichtet, innerhalb der gleichen Zeitvor Uns oder unserem Generalvikar zu erscheinen. Damit die Inha-ber dieser Benefizien nicht den Grund der Unkenntnis in Anspruch

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nehmen, wird ihren Vikaren aufgetragen, sie davon zu unterrichtenund ihnen mündlich oder schriftlich diese Anordnung mitzuteilenund unserem Generalvikar innerhalb eines Monats einen Akt zu über-geben, aus dem er ihre Sorgfalt ersehen kann; unter der Strafe von 50Pfund für jeden Säumigen.

Allen Geistlichen ist es verboten, künftig den Exorzismus vorzu-nehmen, wenn sie nicht von neuem von Uns oder unserem Generalvi-kar zugelassen und diese Zulassung denen schriftlich gegeben wird,die für geeignet befunden werden, dieses Amt auszuüben. Ihnen ver-bieten Wir unter Androhung der Exkommunikation, den Exorzismusaußerhalb der Kirche vorzunehmen, die Besessenen in ihrem Hauszu behalten, vor allem Frauen und Mädchen, und mit ihnen Reisenund Wallfahrten zu machen; unter der Strafe von 25 Pfund und ande-ren Maßnahmen.

Keinem Ordensmann, gleich von welchem Orden, soll es erlaubtsein, in unserer Diözese zu predigen, wenn er nicht die schriftlicheErlaubnis von Uns oder unserem Generalvikar hat. Er ist gehalten,diese dem Pfarrer des Ortes zu zeigen, wo er predigen will, und ihndavon zu verständigen, bevor dieser das Hochamt beginnt, damit erdie Möglichkeit hat, die Pfarrkinder aufzufordern, daß sie der Pre-digt beiwohnen.

Alle Pfarrangehörigen sind gehalten, zu Ostern bei ihrem Pfarrerzu beichten oder bei anderen, die Vollmacht haben, Beichte zu hören.Und bezüglich der heiligen Kommunion sind sie gehalten, sie in ih-rer Pfarrei zu empfangen aus der Hand ihres Pfarrers oder anderer,die von ihm beauftragt sind. Wenn es einzelne gibt, die die Kommuni-on nicht aus der Hand ihres Pfarrers empfangen wollen, werden siegehalten sein, ihm das mitzuteilen und ihn um Erlaubnis zu bitten,anderswohin zu gehen; der Pfarrer wird sie geben, ohne weiter nachder Veranlassung zu fragen. Diese Pfarrkinder werden innerhalb vonacht Tagen nach Ostern eine Bestätigung von dem Priester bringen,der ihnen die Kommunion gespendet hat, auf die Gefahr hin, sonstfür Häretiker gehalten zu werden.

Für jene, die mit dem Unserer Diözese benachbarten Gebiet derHäretiker verkehren oder auch dort zu wohnen gezwungen sind, umihren Lebensunterhalt zu verdienen, haben Wir allen Pfarrern undden übrigen, die Beichterlaubnis haben, die Vollmacht gegeben, ihreBeichte zu hören und sie loszusprechen, daß sie von unserer MutterKirche gebotene Feiertage nicht gehalten, an den Vigiltagen und an

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Quatember der Fastenzeit nicht gefastet haben; ebenso, daß sie andiesen Tagen Fleisch gegessen haben, ausgenommen die Freitage undSamstage; ebenso daß sie bei den Predigten der Prädikanten waren,sofern sie nicht das Abendmahl genommen haben.

Um vielen Streitigkeiten und Auseinandersetzungen vorzubeugen,die zwischen den Pfarrern und den Pfarrangehörigen entstehen wegendes Leichentuchs, das man über die Toten breitet, während man sie zuGrabe trägt, haben Wir angeordnet, daß die Erben des Verstorbenenoder andere, die für die Leichenfeier aufzukommen haben, wählenkönnen, ob sie das Leichentuch dem Herrn Pfarrer überlassen oder eszurückerwerben, indem sie 6 Gulden zahlen; und für das Häubchenoder Kleidchen, das man auf die kleinen Kinder legt, 2 Gulden.

Wegen der Klagen, die Uns erreichten, daß manche Pfarrer die Be-leuchtung zurückbehalten, die man bei der Leichenfeier und beimLeichengottesdienst am Tag des Begräbnisses trägt, und sie nicht fürdie Messe verwenden wollen, die sie am nächsten Tag feiern, sonderneine andere verlangen, haben Wir angeordnet, daß die Pfarrer gehal-ten sind, die Beleuchtung aufzustellen am nächsten Tag und währendder drei Tage, an denen man für die Toten zu beten pflegt, solange siereicht. Nach drei Tagen soll dem Pfarrer gehören, was übrig ist. Wennder Fall eintritt, daß am nächsten Tag keine Messe gefeiert wird, sol-len sie keineswegs verpflichtet sein, die Beleuchtung aufzustellen.

In manchen Kirchen Unserer Diözese werden die Pfarrer gebeten,die Beleuchtung für Begräbnisse zu besorgen, und wenn es zum Be-zahlen kommt, sind sie sehr oft gezwungen, deswegen mit ihren Pfarr-kindern einen Prozeß zu führen. Da Wir dem vorbeugen wollen, ha-ben Wir angeordnet: Wenn die Pfarrer die Beleuchtung besorgen,werden sie diese in Gegenwart der Auftraggeber wiegen, bevor siediese herausgeben, wie auch, wenn sie sie zurücknehmen. Man wirdihnen für das verbrauchte Wachs 5 Gulden für das Pfund von Annecybezahlen. Zum gleichen Preis soll man die Beleuchtung bezahlen, dieman das Jahr über aufstellen läßt.

Aus der Erkenntnis, daß es manche Kapellen mit geringem Ein-kommen gibt, die von der Stiftung mit großen Diensten belastet sind,denen die Rektoren nicht entsprechen können, haben Wir angeord-net, daß der Rektor einer Kapelle, die z. B. nur 10 Gulden Einkom-men hat, nur 20 Messen zu lesen verpflichtet ist, entsprechend 6 Sousfür die Messe, und in gleicher Weise die anderen. Wir wollen jedoch

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jene, die Kapellen mit einem guten Einkommen innehaben, nicht zumehr Dienst verpflichten, als ihnen durch deren Stiftung aufgetragenist.

Wir verpflichten alle Geistlichen, die in Unserer Diözese wohnen,künftig das Fest ‚Petrus in vinculis‘ mit seiner Oktav zu feiern, da esdas Patrozinium Unserer Kathedrale ist; ebenso auch den Jahrestagihrer Weihe, das ist der 8. Oktober.

Wir haben Kenntnis davon bekommen, daß viele Pfarrer und ande-re Inhaber von Benefizien in Unserer Diözese Prozesse gegen ihrePfarrangehörigen anstrengen, manchmal mehr aus Animosität als ausEifer, die Güter ihrer Kirchen und Benefizien zu erhalten, wobei esleicht wäre, den Streit am Anfang beizulegen. Daher haben Wir allenPfarrern und anderen Benefiziaten verboten, künftig Prozesse gegenihre Pfarrangehörigen anzustrengen, außer sie haben sich vorher mitihrem Aufseher beraten. Dieser wird die Parteien anhören und sie zueinigen versuchen. Wenn er sieht, daß das Unrecht auf der Seite derPfarrangehörigen liegt und sie sich nicht zur Vernunft bringen lassen,soll es den Pfarrern erlaubt sein, ihr Recht durch die Justiz zu su-chen.

Obwohl alle Veräußerungen von Kirchengütern durch das Rechtverboten sind, außer wenn sie offenkundig zu ihrem Vorteil und Nut-zen sind (in diesem Fall muß man noch die Erlaubnis der Vorgesetz-ten haben), hat Unser Vermögensverwalter Uns aufmerksam gemacht,daß manche Inhaber von Benefizien, sowohl Pfarrer und Rektorenvon Kapellen als auch andere, ohne Unser Wissen und Unsere Zu-stimmung oder die unseres Generalvikars die Grundlagen ihrer Be-nefizien vertauschen oder verkaufen, was Anlaß zu vielen Prozessengibt. Um dem vorzubeugen, haben Wir alle Verträge der Veräuße-rung oder des Tausches von Geistlichen für nichtig erklärt, die ge-schlossen wurden oder künftig geschlossen werden ohne Unser Siegeloder das unseres Generalvikars, und verpflichten die Inhaber vonBenefizien, innerhalb von sechs Monaten wieder beizubringen, wasauf diese Weise veräußert wurde, unter Strafe von 50 Pfund. Damitverbinden Wir das Verbot an alle Inhaber von Benefizien, ohne Un-sere Erlaubnis Güter zu veräußern, die von ihrem Benefizium abhän-gen, unter Strafe von 100 Pfund. Wir tragen den Aufsehern auf, ihreHand darüber zu halten, jeder innerhalb seiner Aufsicht, und denVermögensverwaltern, jene zu melden, die dem zuwiderhandeln, da-mit dann nach dem Recht in dieser Sache verfahren werde.

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Bestimmungen der Synode vom 12. April 1617.

1. Alle, die von Rechts wegen verpflichtet sind, an der Synode teil-zunehmen, werden künftig im Chorhemd und mit dem viereckigenBirett erscheinen. Die Aufseher sollen so früh zu kommen trachten,daß sie an der Versammlung am Tag vor der feierlichen Synode teil-nehmen können, um vorzubereiten, was man bezüglich der Schwie-rigkeiten und Erfordernisse der Diözese vorlegen und erklären muß.

2. Alle Pfarrer werden nach ihrer Rückkehr von der Synode dreiMessen lesen: eine vom Heiligen Geist für den ganzen Klerus dieserDiözese, eine für den Frieden, das Wohlergehen unserer Fürsten unddie gute Amtsführung der von ihnen eingesetzten Beamten, die drittefür die verstorbenen Bischöfe, Pfarrer und Geistlichen der Diözese.

3. Alle Pfarrer werden ihre Pfarrkinder zu besonderen Gebeten auf-fordern für den Frieden und die Erhaltung der Staaten Seiner Hoheit;in Städten werden sie diese jeden Tag verrichten, in den Dörfern anSonn- und Feiertagen, uzw. am Abend oder bei der Vesper, wenn siegesungen wird und das Volk daran teilnimmt.

4. Wenn die Aufseher an den Orten ihrer Aufsicht sind, werden siealle außerordentlichen Beichtväter rufen, d. h. jene, die nicht Pfarrersind, um ihre Zulassung zu sehen oder sie zurückzuweisen, wenn siekeine haben. Und weil manche, nachdem sie diese erhalten haben,überaus unwissend geworden sind, werden die Aufseher sie prüfen,um zu sehen, ob es ratsam ist, ihre Zulassung zu verlängern für dieganze Zeit, die ihre Urkunde angibt, oder sie zu widerrufen, wenn dasnicht gut wäre. In diesem Fall werden sie ihnen deren Widerruf inUnserem Namen erklären.

5. Die Priester, die zur Spendung der Sakramente zugelassen wer-den wollen, werden sich den auf der Synode bestimmten Examinato-ren am ersten Donnerstag jeden Monats vorstellen, wenn nicht einFeiertag auf ihn trifft. In diesem Fall sollen sie sich am nächstfolgen-den vorstellen, um geprüft und dann vom hochwürdigsten Herrn Ge-neralvikar oder seinen Substituten approbiert zu werden. Die Pfarrersollen die anderen Priester ihrer Pfarrei darauf hinweisen, damit siesich nicht an anderen Tagen vorstellen, an denen sie nicht angenom-men werden.

6. Jene, die künftig zu den heiligen Weihen zugelassen werden wol-len, werden sich gemäß der Anordnung des heiligen Konzils von Tri-ent mit einem guten und ausreichenden Titel versehen vorstellen. Als

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solcher wird er nicht betrachtet werden, wenn er nicht wenigstens120 Gulden beträgt und nicht in Gegenwart des Aufsehers ausgestelltund bestimmt wurde. Sie werden auch eine Bestätigung ihres Pfarrersvorlegen, daß drei Aufgebote in der Verkündigung ihrer Kirche ge-macht wurden, ohne daß irgendein Hindernis für den Empfang derheiligen Weihen bei ihnen gefunden worden ist. Sie werden außerdemgehalten sein, die Weihen auszuüben, die sie haben, und darüber eineschriftliche Bestätigung ihres Pfarrers vorzulegen, wie auch über ihrAlter und ihre guten Sitten. Die Herren Pfarrer werden ermahnt undbeim ewigen Richter beschworen, darin sehr gewissenhaft zu sein.

7. Kein Geistlicher, ob Welt- oder Ordenspriester, soll zugelassenwerden, das Wort Gottes zu predigen, bevor er von den Examinatorengeprüft und von Uns oder unserem Generalvikar approbiert ist. Wirnehmen davon allerdings die Doktoren und Graduierten der Theolo-gie aus, die ohne Prüfung zugelassen werden können, und diejenigen,denen Wir früher eine solche Erlaubnis gegeben haben. Unter diesemVerbot wollen Wir auch nicht die Herren Pfarrer verstanden wissen,die durch ihre Anstellung das ihnen anvertraute Volk nicht nur be-lehren können, sondern ihrer Bedeutung entsprechend müssen.

8. Alle Beichtväter dieser Stadt und die von deren Aufsicht, Welt-priester wie Ordensleute, werden zweimal im Jahr zusammenkom-men, nämlich vor der Fastenzeit und vor Allerheiligen, um eine Kon-ferenz über das Bußsakrament zu halten. Zu dieser Konferenz wer-den auch alle Beichtväter jeder Aufsicht einmal im Jahr zusammen-kommen, nämlich vor der Fastenzeit, am Ort, wo die heiligen Öleverteilt werden, und das in Anwesenheit des Aufsehers oder einesanderen Beauftragten als Vorsitzender.

9. Die Verteilung der heiligen Öle wird zunächst geschehen durchden kleinen Pförtner oder Untersakristan der Kathedrale an die Ab-gesandten der Städte und Ortschaften, die ihm für jeden Pfarrer, derin ihrer Liste aufgeführt ist, zwei Sous bezahlen. Die Abgesandtenwerden sie an die in ihrer Liste verzeichneten Pfarrer verteilen, vondenen sie je vier Sous erhalten; davon sind zwei die Erstattung für diezwei, die sie dem erwähnten Untersakristan bezahlt haben, die ande-ren zwei für die Auslagen, die sie hatten, um das Öl zu holen und zuerneuern. Das soll pünktlich in der Zeit zwischen Ostern und Pfing-sten geschehen, und anschließend sollen die genannten Verteiler in-nerhalb von vierzehn Tagen unserem Generalvikar die Liste derjeni-

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gen schicken, die sie nicht geholt haben. Sie werden beim Abfüllender heiligen Öle darauf achten, allmählich nichtgeweihtes Öl zumgeweihten zu gießen, nicht umgekehrt, und werden sie keinem zumÜberbringen geben, der nicht heilige Weihen empfangen hat.

10. Wir werden den weltlichen Arm anrufen, damit die Buchhänd-ler, im Land ansässige wie fremde, ihre Bücher nicht zum Verkaufausstellen, bevor sie ein Verzeichnis davon vorgelegt haben: in dieserStadt unserem Generalvikar, sonst dem Pfarrer des Ortes, an dem siediese ausstellen wollen; dies um zu verhindern, daß verbotene Bü-cher zum Schaden der Gewissen verbreitet werden.

11. Alle Geistlichen, die Frauen, gleich welchen Alters, zu ihremDienst oder sonstwie halten, werden sie entlassen und innerhalb ei-nes Monats ausziehen lassen; unter der Strafe der Exkommunikation,die nach Ablauf der Frist eintritt und Uns vorbehalten ist, und ande-rer angemessener Bestrafung. Ausgenommen sind jene, die das Ge-setz erlaubt, wie Mutter, Schwester, Stiefmutter, Stiefschwester, leib-liche Cousine und Nichte vom Bruder oder der Schwester. Wenn sichnach Ablauf des Monats noch jemand findet, der dieser Bestimmungnicht entsprochen hat, sollen die Aufseher unserem GeneralvikarNachricht geben.

12. Um dem großen Ärgernis abzuhelfen, soweit Wir können, dasmehrere Geistliche dem christlichen Volk geben durch den Besuchvon Schenken, indem sie die früher erlassenen Verbote mißachten,erneuern Wir sie unter größerer Strafandrohung, nämlich der vonselbst eintretenden und Uns reservierten Exkommunikation. Dieseziehen sich alle Geistlichen zu, die im Bereich ihrer Pfarrei und ihresWohnortes in einer Schenke essen und trinken, außer einzig im Fallvon Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen und Bruderschaftsfesten. Da-von nehmen Wir jedoch nicht aus Verlobungen, Jahresgedächtnisse,Zahltage von Steuern und Besoldung, noch irgendeinen anderen Vor-wand.

13. Alle Benefiziaten, sowohl von Pfarreien wie Kapellen, werdensobald als möglich alle Titel und Dokumente ihrer Kirchen und Ka-pellen dem Archiv der Diözese bringen oder schicken, um dort auf-bewahrt und gehütet zu werden. Sie werden den Inhabern und Rekto-ren der genannten Kirchen und Kapellen je nach Anlaß und Bedarfausgefolgt werden. Darauf sollen die Aufseher die Pfarrer und dieübrigen Benefiziaten ihres Bezirks aufmerksam machen, damit sieein Verzeichnis ihrer genannten Titel aufstellen, die ihnen für die

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Anforderung ihrer Einkünfte genügen werden. Die Kapitel werden andas genannte Archiv wenigstens das allgemeine Verzeichnis ihrer Ti-tel senden.

14. Alle Pfarrer werden innerhalb von drei Monaten ihre Tauf-,Ehe- und Beerdigungsbücher an die bischöfliche Kanzlei schicken;unter der Strafe der Suspendierung vom Amt, sobald die drei Monateverstrichen sind.

15. Die Beichtväter sollen die Frauen darauf hinweisen, daß sieentsprechend den Anordnungen der heiligen Väter und der Oberhir-ten der Kirche Männerklöster nicht betreten dürfen.

16. Die Beichtväter sollen darauf achten, daß sie die Beichte vonFrauen nicht hören in der Sakristei, in Zimmern und anderen ge-schlossenen Räumen, sondern im Beichtstuhl und an Orten, die derallgemeinen Sicht ausgesetzt sind.

17. Wir erneuern das Verbot der durch die heiligen Canones verbo-tenen Spiele, ja auch von erlaubten an öffentlichen und heiligen Or-ten oder von anderen, bei denen man Ärgernis geben kann.

18. Die Bescheidenheit und der äußere Anstand sei den Geistlichenin der Weise empfohlen, daß man sie nicht mehr lange, gezwirbelteund gedrehte Schnurrbärte tragen sieht, daß sie vielmehr in ihremganzen Äußeren großes Maßhalten zeigen.

19. Wir erneuern das Gebot der Residenz für Benefizien, mit denenSeelsorge verbunden ist, entsprechend dem heiligen Konzil, mit derAnordnung, jene zu zitieren, die nicht residieren, wenn sie nicht durchein apostolisches Indult dispensiert sind.

20. Die Geistlichen werden künftig bei öffentlichen Versammlun-gen mit dem viereckigen Birett erscheinen, in den Städten werden siein Soutane und Mantel gehen, in den Dörfern wenigstens in der Souta-nelle.

21. Die Geistlichen werden keinen Straf- oder Zivilprozeß anstren-gen, wenn sie sich nicht mit den Moderatoren in Verbindung gesetzthaben, die in dieser Stadt wohnen, um zu sehen, ob der Prozeß ver-mieden oder beigelegt werden kann, und wenn es notwendig ist, zuplädieren, um ihn nicht ohne gute Grundlage zu führen.

22. Sollte es vorkommen, daß irgendein Geistlicher seinen Weinim einzelnen verkaufen muß, dann darf er unter keinerlei Vorwandetwas anderes verkaufen und darf nicht erlauben, daß der Wein inRäumen seines Hauses getrunken wird.

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23. Alle Weltpriester wissen, daß sie zur Befolgung der Synodal-Konstitutionen verpflichtet sind und daß die Ordensleute sie in dembefolgen, was sie betrifft, wie: nicht ohne Approbation Beichte zuhören und zu predigen, Personen dieser Diözese nicht von reservier-ten Fällen zu absolvieren, und allgemein, daß sie die übrigen Anord-nungen befolgen, die sie betreffen, wenn sie mit Weltlichen zu tunhaben.

24. Alle Pfarrer werden an der Synode teilnehmen, unter der Aufla-ge einer angemessenen Buße. Wenn sie ankommen, werden sie sichdem bischöflichen Aktuar vorstellen, um ihren Namen anzugebenund die Gebühr zu zahlen, die die heiligen Canones die ‚Kathedralta-xe‘ nennen, die auf zwei Sous festgesetzt ist. Die nicht an der Synodeteilnehmen, werden die gleiche Verpflichtung durch einen Vertretererfüllen.

25. Die Pfarrer der Städte und Ortschaften werden nicht versäu-men, jeden Sonntag in ihrer Kirche die Christenlehre zu halten, unterAndrohung einer angemessenen Strafe. Die Pfarrer der Dörfer wer-den ermahnt, sie nach ihren Möglichkeiten zu halten.

26. Wir erneuern die Anordnung, das für den Gebrauch dieser Di-özese verfaßte Rituale zu besitzen und zu gebrauchen und die darinenthaltene Verkündigung zu machen, indem sie diese dem Volk vor-lesen.

27. Die Pfarrer werden darauf achten, den Gebeten für die Verstor-benen beim Begräbnis und beim Jahresgedächtnis keine neuen Re-sponsorien hinzuzufügen, ebenso nicht-approbierte Gebete, die nichtim Rituale dieser Diözese enthalten sind.

28. Die Pfarrer werden ihren Pfarrkindern erlauben, ihre Beichtebei approbierten Beichtvätern zu machen, die sie wünschen. Sie sol-len ihnen aber eine Bestätigung darüber bringen, sonst gelten sie, alshätten sie nicht gebeichtet. Sie werden dagegen, wenn sie es nicht fürgut halten, diese Erlaubnis nicht für die heilige Kommunion geben.

29. Die Pfarrer werden die Aufgebote der Hochzeiten machen unddie veröffentlichten und unterzeichneten Monitorien verkünden, ohneirgendeine Gebühr zu verlangen.

30. Man wird die Bestimmung der Kirche einschärfen und befol-gen, die Hochzeiten nur am Morgen bei der Messe zu feiern, in derdie Mädchen den Brautsegen empfangen. Und sie sollen aufgefordertwerden, daß sie mit ihrem Bräutigam, entsprechend der Rubrik desMissale, die Kommunion empfangen.

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31. Die Pfarrer werden sorgsam darauf achten, daß man in der Kir-che nicht bestimmte Weihnachtslieder singt, die voll von würdelosen,profanen Worten sind, die der Predigt und der den heiligen Orten undDingen gebührenden Ehrfurcht widersprechen; ebenso, daß man nichtden Psalmen, die man am Fest der Geburt des Herrn singt, gewisselächerliche Worte voller Gotteslästerungen hinzufügt. Vielmehr sol-len beim Gottesdienst geflissentlich einzig die heiligen Zeremonieneingehalten werden, die die katholische Kirche gottesfürchtig einge-führt hat.

3. Bestimmungen für die Katechese

In den Synodal-Konstitutionen 1603 wurden die Pfarrer zum Katechismus-Unterricht verpflichtet, der vom Konzil von Trient zwar vorgeschrieben, abernoch nicht durchgeführt war. Darüber hinaus gründete Franz von Sales eineeigene Bruderschaft von Laien, mit einem Prior und verschiedenen Ämtern,bestellte einen Priester als Diözesanbeauftragten für die Katechese und führteein ‚Fest des Katechismus‘ ein, das er am 11. Januar 1604 zum erstenmalfeierte. In Annecy hat er selbst zwei Jahre die Katechese mit großem Erfolggehalten.

Von seinen Bestimmungen für die Stadt Annecy vom Oktober 1603 (OEAXXIII,273-275) ist nur ein Fragment überliefert; die Bestimmungen für diePfarreien der Diözese (XXIII,276-278) regelten die Katechese durch die Bru-derschaft.

Für die Stadt Annecy.

– – – Man bestimme zwei Jungen, um die Kinder zu versammeln,von denen einer sie diesseits der Brücken sammelt, der andere jen-seits. Beide sollen eine kurze blaue Dalmatik tragen, auf der vorneund hinten der Name Jesus gemalt ist; jeder soll ein Glöcklein tragen,mit dem er die Kinder zusammenruft.

Es soll nur zwei Klassen geben, eine für die kleinen Kinder, dieandere für die Größeren.

Am Beginn des Katechismus wird man irgendein Lied singen, wäh-rend man die Mittagsstunde erwartet; ebenso wird man am Schlußwieder ein anderes singen.

Man wird am Sonntag nach dem Fest des Katechismus beginnen.Die Herren des Rates werden gebeten, den Erlaß Seiner Hoheit

über die christliche Lehre bekanntmachen zu lassen. – – –

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Für die Pfarreien der Diözese.

Man wird das Volk durch ein Glockenzeichen so früh vor der Ves-per zusammenrufen, daß der Katechismus den ganzen Sommer überzwei Stunden dauern kann.

Wenn das Glockenzeichen gegeben ist, wird der Pförtner die Schu-le oder Kirche öffnen, die Bänke aufstellen und die Ankommendenan der Tür erwarten. Er wird die Kinder hineinführen und sie dierechte Art des Grußes lehren, damit sie sagen können: „Gott gebe unsseinen Frieden.“ Er wird sie das Kreuzzeichen mit dem Weihwassermachen lehren, wie auch das Gebet des Herrn und den EnglischenGruß zu sprechen. Wo sie dazu nicht fähig sind, wird er sich wenigs-tens bemühen, daß sie die Kniebeugung vor dem allerheiligsten Sa-krament auf dem Hochaltar machen. Dann wird er sie in ihre Bänkeeinweisen.

Der Prior wird einige weitere Brüder zur Unterstützung des Pfört-ners bestimmen, die ebenso vorgehen. Der Prior und die übrigen Of-fizianten werden sich bemühen, pünktlich in der Schule zu sein, unddafür sorgen, daß die Kinder unterwiesen werden und das Schweigenbeobachten.

Man wird sie so lange unterweisen, wie es der Prior für gut befindet.Er wird darauf achten, daß jeder seine Aufgabe gut erfüllt. Wenn ernicht durch sein Amt verhindert ist, wird er jene bestimmen, die fra-gen und antworten können, wobei er stets die am besten Unterrichte-ten und Fähigen wählen wird.

Der Subprior und Ermahner werden gleicherweise darauf achten,daß kein Lärm gemacht wird, andernfalls werden sie stillschweigenddem Ruhegebieter ein Zeichen geben; deshalb werden sie auf ver-schiedene Plätze der Schule verteilt sein, wenn sich nicht der Priormit ihnen bespricht, während die anderen unterrichten.

Nachdem darauf einige Zeit verwendet wurde, wobei die Lehrervolle Freiheit im Unterricht haben (sie werden für gewöhnlich vierbis sechs Kinder haben), wird der Prior ein Glockenzeichen geben,niederknien und die anderen dasselbe tun heißen. Darauf wird er dasvor dem Wechselgespräch übliche Gebet sprechen und mit seinenKindern den Segen des Priesters empfangen (wenn einer anwesendist). Dann läßt er sie auf einem erhöhten Platz Aufstellung nehmen,wo sie gesehen werden können, die einen auf dieser, die anderen aufder anderen Seite.

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Nachdem diese Kinder das Kreuzzeichen gemacht und die Wortelaut gesprochen haben, werden sie den Abschnitt des Katechismusaufsagen, der ihnen angegeben wurde; die einen werden die Fragenstellen, die anderen darauf antworten. Manchmal wird er sie einhal-ten lassen und sie fragen, was er will, um sie auf diese Weise verstän-diger und aufmerksamer zu machen. Er wird indessen darauf achten,daß das Gespräch von Dingen handelt, die bereits gesagt wurden.Deshalb werden alle Kinder derselben Ordnung und Klasse am glei-chen Platz sitzen, damit er ohne Zeitverlust jedes fragen kann, wie essich trifft. Und ausgehend von dem, was gesagt wurde, wird er einenkleinen Vortrag halten und eine Zusammenfassung geben, damit allediese Lehre ihrem Geist besser einprägen können. Wenn er das nichtmachen könnte, wird er irgendeinen Lehrer oder Offizianten darumbitten.

Wenn das geschehen ist, wird man das kleine Gesetz der guten Sit-ten vorlegen, das alle anhören; hernach wird man das Gebet verrich-ten, wie es angeordnet ist.

Schließlich (wenn man nicht die Abwesenden feststellen oder ein-zelne zurechtweisen muß) wird man die Kinder entlassen, indem mansie ermahnt, bescheiden zu sein, sich zu merken, was gesagt wurde,und am nächsten Feiertag pünktlich wiederzukommen.

Der Prior wird Belohnungen verteilen an jene, die eifrig und be-scheiden waren, wie fromme Bildchen, Rosenkränze, Medaillen undähnliche Dinge; denn auf diese Weise wird er erreichen, daß sie sichimmer besser betragen. Der Kanzler wird die Fehlenden in der Listevermerken, ob sie krank sind, und wird darüber dem Prior und denanderen Offizianten berichten. Darauf wird man die Predigt oderErmahnung hören, die der Priester hält.

Wenigstens einmal im Monat wird der Prior einen von den Offizi-anten oder Lehrern zur General- oder Diözesanversammlung schi-cken, der über den ganzen Stand und die Bedürfnisse seiner Schuleberichten wird. Ebenso werden alle anderen einander durch irgendei-nen der Ihren besuchen, damit ein aufrichtiger Austausch aller Früch-te und des geistlichen Nutzens zur größeren Ehre Gottes geschieht.

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4. Weisungen für die Beichtväter14

Den Herren Pfarrern und Beichtvätern der Diözese Genf.Frieden und Gruß im Herrn.

Meine lieben Brüder!Ihr übt ein erhabenes Amt aus, da ihr von Gott bestellt seid, um die

Seelen mit solcher Autorität zu richten, daß das Urteil, das ihr recht-mäßig auf Erden fällt, im Himmel bestätigt wird. Euer Mund ist derKanal, durch den der Friede vom Himmel zur Erde fließt auf dieMenschen guten Willens (Lk 2,14); eure Stimme ist die Posaune deserhabenen Jesus, die die Mauern der Bosheit, das ist des mystischenJerichos (Jos 6,1ff) zerstört.

Es ist eine überaus große Ehre für einen Menschen, zu dieser Wür-de erhoben zu werden, zu der selbst Engel nicht berufen sind; denn zuwelchem Engelchor wurde je gesagt: Empfanget den Heiligen Geist;wem ihr die Sünden nachlaßt, dem sind sie nachgelassen (Joh 20,22f)?Das wurde jedoch zu den Aposteln gesagt und in ihrer Person zu al-len, die durch rechtmäßige Nachfolge die gleiche Vollmacht empfin-gen. Da ihr also zu diesem bewundernswerten Dienst bestellt seid,müßt ihr Tag und Nacht eure Sorgfalt auf ihn verwenden und ich ei-nen großen Teil meiner Aufmerksamkeit.

Deshalb habe ich, nachdem ich vor einiger Zeit eine Sammlung voneinigen Bemerkungen gemacht habe, die ich für geeignet halte, euchin diesem Dienst eine Hilfe zu sein, daraus diese kleine Denkschriftzusammengestellt, die ich euch überreiche, weil ich glaube, daß siefür euch recht nützlich sein wird.

I. Die Disposition des Beichtvaters.

Habt eine große Zartheit und Reinheit des Gewissens, weil ihr dieGewissen der anderen reinigen und läutern sollt, damit man euch nichtdas alte Sprichwort vorhält: Arzt, heile dich selbst (Lk 4,23); und dasWort des Apostels: Worin du die anderen richtest, verurteilst du dichselbst (Röm 2,1). Wenn ihr daher zum Beichtdienst gerufen werdetund euch im Zustand der Todsünde befindet (was Gott verhüte), müßtihr zuerst selbst zur Beichte gehen und die Lossprechung empfangen;oder wenn ihr wegen Mangels eines Beichtvaters diese Wohltat nichthaben könnt, müßt ihr in euch die heilige Reue erwecken.

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Habt ein glühendes Verlangen nach dem Heil der Seelen, beson-ders derjenigen, die sich zur Beichte einfinden, und bittet Gott, ermöge gnädig zu ihrer Belehrung und zu ihrem geistlichen Fortschrittmitwirken.

Denkt daran, daß euch die armen Pönitenten zu Beginn ihres Be-kenntnisses ‚Vater‘ nennen und daß ihr tatsächlich ein väterliches Herzfür sie haben müßt, indem ihr sie mit äußerster Liebe empfangt undihre Ungeschliffenheit und Unwissenheit, ihre Geistesschwäche, Un-beholfenheit und andere Unvollkommenheiten geduldig ertragt; ihrsollt nie müde werden, ihnen zu helfen und beizustehen, solange ir-gendeine Hoffnung auf ihre Besserung besteht, nach dem Ausspruchdes hl. Bernhard: Die Sorge der Hirten gilt nicht den starken Seelen,sondern den Schwachen und Gebrechlichen; denn die Starken tunvon sich aus genug, aber die Schwachen muß man tragen. Obwohl derverschwenderische Sohn ganz nackt, schmutzig und übelriechend zu-rückkam, umarmte ihn sein gütiger Vater trotzdem, küßte ihn liebe-voll und weinte über ihn (Lk 15,15.20), weil er sein Vater war undweil das Herz der Väter voll Zärtlichkeit für das der Kinder ist.

Habt die Klugheit eines Arztes, weil auch die Sünden geistlicheKrankheiten und Leiden sind, und beobachtet aufmerksam die Ver-fassung eures Pönitenten, um ihn entsprechend zu behandeln. Wennihr ihn daher z. B. von Scham und Scheu gequält seht, dann gebt ihmdie Gewißheit des Vertrauens, indem ihr ihm versichert, daß ihr keinEngel seid, so wenig wie er; daß ihr es nicht befremdend findet, daßdie Menschen sündigen; daß die Beichte und Buße den Menschenunendlich ehrenwerter macht, als ihn die Sünde erniedrigen konnte;daß vor allem Gott, aber auch die Beichtväter die Menschen nichtdanach einschätzen, was sie in der Vergangenheit gewesen sind, son-dern danach, was sie gegenwärtig sind; daß die Sünden in der Beichtevor Gott und dem Beichtvater begraben werden, so daß ihrer nie mehrgedacht wird.

Wenn ihr ihn unverschämt und ohne Reue seht, dann gebt ihm rechtzu verstehen, daß er sich vor Gott niederzuwerfen kommt; daß es beider Beichte um sein ewiges Heil geht; daß er in der Stunde des Todesüber nichts so streng Rechenschaft geben wird wie über die Beichten,die er schlecht gemacht hat; daß in der Lossprechung der Preis unddas Verdienst des Todes und der Passion Unseres Herrn zugewendetwerden.

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Wenn ihr ihn furchtsam seht, niedergeschlagen und ohne Vertrau-en, die Vergebung seiner Sünden zu erlangen, dann richtet ihn auf,zeigt ihm das große Wohlgefallen, das Gott an der Buße der großenSünder hat; daß die Barmherzigkeit Gottes um so mehr verherrlichtwird, je größer unser Elend ist; daß Unser Herr Gott, seinen Vater,für die gebeten hat, die ihn kreuzigten (Lk 33,34), um uns erkennenzu lassen, daß er uns sehr gern verzeihen würde, wenn wir ihn mitunseren eigenen Händen gekreuzigt hätten; daß Gott die Buße sohoch schätzt, daß die geringste Buße der Welt, wenn sie nur echt ist,ihn jede Art der Sünde vergessen läßt, so daß selbst den Teufeln alleihre Sünden vergeben würden, wenn sie Reue haben könnten; daß diegrößten Heiligen große Sünder waren: der hl. Petrus, der hl. Matthä-us, die hl. Magdalena, David etc.; schließlich, daß es das größte Un-recht ist, das man der Güte Gottes, dem Leiden und Sterben JesuChristi zufügen kann, wenn man kein Vertrauen hat, Vergebung fürunsere Missetaten zu erlangen; daß wir durch einen Glaubensartikelverpflichtet sind, an die Vergebung der Sünden zu glauben, damit wirnicht daran zweifeln, sie zu erlangen, wenn wir unsere Zuflucht zudem Sakrament nehmen, das Unser Herr zu diesem Zweck eingesetzthat.

Wenn ihr ihn verwirrt seht, so daß er seine Sünden nicht gut ange-ben kann oder sein Gewissen nicht zu erforschen verstand, dann ver-sprecht ihm euren Beistand und versichert ihm, daß ihr mit GottesHilfe nichts unterlassen wollt, um ihn eine gute und heilige Beichtemachen zu lassen.

Vor allem seid liebenswürdig und taktvoll gegen alle, besondersaber gegenüber Frauen, um ihnen das Bekenntnis beschämender Sün-den zu erleichtern.

1. Wenn sie sich von selbst irgendwelcher Worte anklagen, die siewiedergeben, dann zeigt euch keineswegs zimperlich oder erwecktden Eindruck, sie befremdend zu finden, bis das ganze Bekenntnisabgeschlossen ist; dann könnt ihr sie gütig und liebenswürdig übereine sittsamere Form belehren, sich in diesen Dingen auszudrücken.

2. Wenn sie bei diesen beschämenden Sünden ihre Anklage mitEntschuldigungen, Ausreden und Geschichten verbinden, dann habtGeduld und verwirrt sie in keiner Weise, bis sie alles gesagt haben;dann könnt ihr sie über diese Sünde zu fragen beginnen, um sie zuveranlassen, die Erklärung ihrer Sünden vollkommener und genauerzu machen, indem ihr ihnen liebenswürdig das Überflüssige, das

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Ungehörige und Unvollkommene zeigt, das sie begangen haben, in-dem sie sich entschuldigten, ihre Anklage beschönigten und verschlei-erten, ohne sie jedoch irgendwie zu tadeln.

3. Wenn ihr seht, daß es ihnen schwer fällt, sich selbst dieser be-schämenden Sünden anzuklagen, dann beginnt damit, sie über dieleichteren auszufragen, etwa ob sie Gefallen gefunden haben, Uneh-renhaftes reden zu hören, daran gedacht haben; wenn ihr so allmäh-lich von einem zum anderen weitergeht, d. h. vom Hören zu Gedan-ken, von Gedanken zu Begierden, vom Wollen zu Handlungen, indem Maß, wie sie sich erklären, dann werdet ihr sie ermutigen, immerweiter zu gehen, indem ihr ihnen manchmal Worte sagt wie diese:Wie glücklich sind Sie, gut zu beichten! Glauben Sie, daß Gott Ihneneine große Gnade erweist. Ich erkenne, daß der Heilige Geist IhrHerz bewegt, um Sie eine gute Beichte machen zu lassen. Haben Sieguten Mut, mein Kind, sagen Sie kühn Ihre Sünden und seien Sieunbesorgt; Sie werden dann eine große Befriedigung empfinden, gutgebeichtet zu haben, und möchten es um nichts in der Welt missen,Ihr Gewissen vollkommen entlastet zu haben. In der Todesstundewird es Ihnen ein großer Trost sein, diese demütige Beichte gemachtzu haben. Gott segne Ihr Herz, das so willig bereit ist, sich richtiganzuklagen. – Auf diese Weise werdet ihr ihre Seele sanft dazu drän-gen, ein vollständiges Bekenntnis abzulegen.

4. Wenn ihr Menschen begegnet, die wegen außergewöhnlicher Sün-den wie Hexerei, Einlassen mit dem Teufel, Bestialität, Mord undähnlicher Ungeheuerlichkeiten äußerst verschreckt und in ihrem Ge-wissen beunruhigt sind, dann müßt ihr sie mit allen Mitteln aufrich-ten und trösten. Versichert sie der großen Barmherzigkeit Gottes, dieunendlich größer ist, um ihnen zu vergeben, als alle Sünden der Welt,um sie zu verdammen; versprecht ihnen, daß ihr ihnen in allem bei-stehen werdet, wessen sie von euch zum Heil ihrer Seele bedürfen.

II. Die äußere Disposition.

Wenn es ein Sakrament gibt, bei dessen Spendung man mit Ernstund Würde auftreten muß, dann ist es das Bußsakrament, weil wir inihm von Gott bestellte Richter sind. Ihr werdet dabei also in Soutaneund Chorrock, die Stola umgelegt und das Birett auf dem Kopf, aneinem sichtbaren Platz der Kirche sitzen, mit freundlicher und wür-devoller Miene, die ihr nie ändern dürft durch irgendwelche äußere

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Gesten oder Zeichen, die Unmut oder Verdruß verraten könnten, ausFurcht, denen, die euch sehen, irgendwie Anlaß zur Vermutung zugeben, daß euch der Pönitent etwas Unerfreuliches oder Ungeheuer-liches sage.

Ihr werdet veranlassen, daß euer Pönitent sein Gesicht dem eurenin der Weise zuwendet, daß er euch nicht ansieht und nicht direkt ineuer Ohr spricht, sondern daran vorbei.

III. Fragen, bevor sich der Pönitent anklagt.

Ist der Pönitent erschienen, so muß man ihn vor allem nach seinemStand und Rang befragen, d. h. ob er verheiratet ist oder nicht, Geist-licher oder nicht, Ordensmann oder weltlich, Advokat oder Prokura-tor, Handwerker oder Arbeiter; denn je nach seinem Stand muß manunterschiedlich mit ihm vorgehen.

Danach muß man wissen, ob er die Absicht hat, sich all seiner Sün-den anzuklagen, ohne wissentlich etwas zu verschweigen; ebenso dieSünde aufzugeben und völlig zu verabscheuen und zu tun, was ihm zuseinem Heil auferlegt wird. Wenn er diesen Willen nicht hat, mußman sich damit befassen, ihn dafür zu disponieren, wenn es möglichist. Wenn das nicht zu erreichen ist, muß man ihn wegschicken, nach-dem man ihm zu verstehen gegeben hat, wie gefährlich und bedau-ernswert sein Zustand ist.

IV. Worüber sich der Pönitent anklagen muß.

Es ist ein unerträglicher Mißbrauch, wenn sich die Sünder von sichaus keiner Sünde anklagen, sondern nur, soweit man sie fragt. Manmuß sie daher lehren, sich zuerst von sich aus anzuklagen, soweit siees vermögen, und ihnen dann helfen und beistehen durch Aufforde-rungen und Fragen.

Es genügt nicht, daß sich der Pönitent nur der Gattung seiner Sün-den anklagt, etwa daß er ein Mörder, Unzüchtiger oder Räuber war;es ist vielmehr erforderlich, daß er die Art nennt, ob er z. B. derMörder seines Vaters oder seiner Mutter war, denn das ist eine Artdes Mordes, die sich von anderen unterscheidet und Elternmord heißt;ob er in der Kirche getötet hat, denn darin liegt ein Sakrileg; oder ober einen Geistlichen ermordet hat, denn das ist ein geistlicher Vater-

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mord und ist mit der Exkommunikation belegt. Ebenso bei der Sündeder Unzucht: ob er eine Jungfrau verführt hat, denn das ist eine Schän-dung; ob er mit einer verheirateten Frau verkehrt hat, das ist Ehe-bruch; und so bei den anderen Sünden.

Man muß nicht nur nach der Art der Sünde fragen, sondern auchnach ihrer Zahl, damit sich der Pönitent darüber anklagt und sagt,wie oft er eine solche Sünde begangen hat, oder ungefähr, so genau eres nach seiner Erinnerung kann, oder wenigstens sagt, wie lange ersich in seiner Sünde aufgehalten und ob er sich ihr sehr hingegebenhat; es ist ja ein Unterschied, ob einer einmal geflucht hat oder hun-dertmal oder ob er es gewohnheitsmäßig tut.

Man muß den Pönitenten auch nach den verschiedenen Graden derSünde fragen. Es ist z. B. ein großer Unterschied, ob man innerlichzürnt, schimpft, mit der Faust zuschlägt oder mit einem Stock odermit dem Degen; das sind verschiedene Grade der Sünde des Zorns.Dasselbe ist zu sagen von unzüchtigen Blicken, unehrbaren Berüh-rungen und der fleischlichen Vereinigung; das sind verschiedene Gradeein- und derselben Sünde. Es ist richtig, daß einer, der eine schlechteHandlung beichtet, nicht nötig hat, die anderen zu beichten, die not-wendigerweise erforderlich sind, um diese zu begehen; wer sich z. B.anklagt, ein Mädchen einmal verführt zu haben, ist nicht verpflichtet,die Küsse und Berührungen anzugeben, die er dabei und bei dieserGelegenheit gemacht hat, denn das versteht sich hinreichend, ohnedaß man es sagt, und die Anklage über solche Dinge ist enthalten imBekenntnis der vollendeten Handlung der Sünde.

Dasselbe sage ich von Sünden, deren Schwere sich in ein- und der-selben Handlung verdoppeln und vervielfachen kann. Wer z. B. einenTaler stiehlt, begeht eine Sünde; wer deren zwei stiehlt, begeht auchnur eine Sünde und von der gleichen Art, aber trotzdem ist die Sündeim zweiten Fall im Vergleich zum ersten doppelt so groß. Ebensokann es vorkommen, daß man durch schlechtes Beispiel einer PersonÄrgernis gibt, und mit einem anderen schlechten Beispiel der glei-chen Art gibt man dreißig oder vierzig Personen Ärgernis, und es istkein Vergleich zwischen der einen und der anderen Sünde. Deshalbmuß man, soweit es sich gut machen läßt, die Menge dessen näherbestimmen, was man gestohlen hat, die Zahl der Leute, denen mandurch eine einzige Handlung Ärgernis gegeben hat, und so nachein-ander bei anderen Sünden, deren Schwere ja nach der Zahl der Perso-nen und der Menge der Gegenstände zunimmt.

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Man muß noch weiter gehen und den Pönitenten befragen bezüg-lich der rein inneren Begierden und Wünsche, sei es, ob er irgendwieRache nehmen wollte, etwas Unehrbares tun oder ähnliches; denndiese schlechten Wünsche sind Sünde.

Man muß noch weiter gehen und die schlechten Gedanken erfor-schen, auch wenn ihnen keine Begierden und Wünsche folgen. Werz.B. Freude daran hat, an den Tod, den Ruin oder das Unglück seinesFeindes zu denken, obwohl er solche Wirkungen nicht wünscht, hatdennoch gegen die Nächstenliebe gefehlt und muß sich dessen genauanklagen, wenn er freiwillig und bewußt Wohlgefallen und Freude ansolchen Vorstellungen und Gedanken hatte. Genau so ist es bei ei-nem, der freiwillig, um Freude daran zu haben, sich in Gedanken undVorstellungen der Fleischeslust aufhält und daran Wohlgefallen hat;denn er sündigt innerlich gegen die Keuschheit und muß sich dessenanklagen, zumal er zwar nicht seinen Leib der Sünde hingeben wollte,ihr aber doch sein Herz und seine Seele hingegeben hat. Nun bestehtdie Sünde mehr in der Zuwendung des Herzens als des Leibes, und esist in keiner Weise erlaubt, bewußt Wohlgefallen und Befriedigung ander Sünde zu haben, weder durch Handlungen des Leibes noch durchAkte des Herzens. Ich habe ‚bewußt‘ gesagt, denn die schlechten Ge-danken, die uns gegen unseren Willen kommen, und ohne daß wirganz darauf achten, sind überhaupt keine Sünde oder sind keine Tod-sünde.

Außerdem muß sich der Pönitent noch der Sünden anderer ankla-gen nach dem Beispiel Davids (Ps 19,14); denn wer durch schlechtesBeispiel oder auf andere Weise jemand zur Sünde verleitet hat, istdessen schuldig; man nennt das Ärgernis im engeren Sinn. Dagegenmuß man, soweit das geschehen kann, den Pönitenten daran hindern,die Mitschuldigen an seiner Sünde zu nennen oder zu erkennen zugeben.

V. Von der Sorgfalt des Beichtvaters, keinen loszusprechen, der für die Gna-de Gottes nicht empfänglich ist.

Danach muß der Beichtvater feststellen, ob der Pönitent in der Ver-fassung ist, die Lossprechung zu empfangen, die bestimmten Grup-pen von Menschen nicht gegeben werden darf. Dafür will ich eucheinige Beispiele nennen, die euch Aufschluß über alles übrige gebenwerden.

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1. Jene, die sich in der größeren Exkommunikation befinden, kannder Beichtvater davon nicht lossprechen ohne Ermächtigung des Vor-gesetzten, außer wenn sie ihm nicht vorbehalten ist.

2. Ebenso können jene, die eine dem Papst oder dem Bischof vorbe-haltene Sünde haben, nicht ohne deren Vollmacht losgesprochen wer-den. Man muß sie also an jene verweisen, die die Vollmacht haben,oder sie warten lassen, bis man sie eingeholt hat, wenn das leichtgeschehen kann.

3. Fälscher, falsche Zeugen, Diebe, Wucherer, solche, die sich Gü-ter, Titel, Rechte, Ehrenstellen eines anderen unrechtmäßig aneig-nen und sie zurückbehalten, ebenso solche, die fromme Legate, Al-mosen, Erstlingsgaben und Abgaben zurückbehalten, böswillige Pro-zessierer, Ehrabschneider und allgemein alle, die dem Nächsten Scha-den zufügen, können ebenfalls nicht losgesprochen werden, wenn sienicht auf die bestmögliche Weise das Unrecht und den Schaden gut-machen oder wenigstens versprechen, es tatsächlich wieder gutzuma-chen.

4. Ebenso Eheleute, die in Zwietracht getrennt voneinander lebenoder die ehelichen Pflichten nicht erfüllen wollen; sie können nichtlosgesprochen werden, solange sie auf diesem verkehrten Willen be-harren.

5. Geistliche, die ihr Benefizium unrechtmäßig erlangt haben oderetwas damit Unvereinbares haben ohne rechtmäßige Dispens oderdie das Offizium grundsätzlich nicht verrichten und das geistlicheKleid nicht tragen; sie alle dürfen nicht losgesprochen werden, wennsie nicht versprechen, es in Ordnung zu bringen und alle diese Fehlerzu bessern.

6. Ebenso dürfen Konkubinarier, Ehebrecher, Säufer nicht losge-sprochen werden, wenn sie nicht den festen Vorsatz erkennen lassen,nicht nur von ihren Sünden zu lassen, sondern auch die Gelegenhei-ten dazu aufzugeben. Solche sind für Konkubinarier und Ehebrecherihre Frauenzimmer, die sie fortschicken müssen; für die Säufer dieWirtshäuser, für die Flucher das Spielen.

7. Schließlich können Streitsüchtige, die Rachegefühle und Feind-schaften haben, die Lossprechung nicht empfangen, wenn sie nichtihrerseits vergeben und sich mit ihren Feinden versöhnen wollen.

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VI. Wie man die Wiedergutmachung und Wiederherstellung der Güter undder Ehre des Nächsten auferlegen muß.

Nachdem nun der Beichtvater die Gewissensverfassung des Pöni-tenten richtig erkannt hat, muß er bestimmen und anordnen, wovoner sieht, daß es notwendig ist, um ihn für die Gnade Gottes empfäng-lich zu machen, sowohl was die Rückerstattung der Güter des Nächs-ten, die Wiedergutmachung des Unrechts und der Beleidigung be-trifft, die er ihm zugefügt hat, als auch was die Besserung seines Le-bens und die Flucht oder Entfernung der Gelegenheiten zur Sündebetrifft.

Und bezüglich der Wiedergutmachung und Rückerstattung, die mandem Nächsten leisten muß, muß man nach Möglichkeit ein Mittelsuchen, es heimlich zu tun, ohne daß der Pönitent bloßgestellt wird.Wenn es sich um einen Diebstahl handelt, muß er das gestohlene Gutoder den Gegenstand zurückgeben durch eine verschwiegene Person,die den Rückerstatter nicht nennt und in keiner Weise verrät. Wennes eine falsche Beschuldigung oder eine Lüge war, muß man geschicktdafür sorgen, daß der Pönitent, ohne diesen Anschein zu erwecken,den gegenteiligen Eindruck erweckt bei jenen, vor denen er das Un-recht begangen hat, indem er das Gegenteil dessen sagt, was er be-hauptet hatte, ohne den Anschein von etwas anderem zu erwecken.Was aber Wucher, falsche Prozesse und ähnliche Verwicklungen desGewissens betrifft, ist es notwendig, mit besonderer Klugheit derenWiedergutmachung anzuordnen.

Wenn sich der Beichtvater dazu nicht genügend in der Lage sieht,muß er den Pönitenten freundlich um etwas Zeit bitten, um darübernachzudenken; dann soll er sich an besser Unterrichtete wenden, wiees die Deputierten des Gebietes sind. Diese werden, wenn es der Fallverdient, Unsere Weisung einholen oder die unseres Generalvikars.Bei allen Dingen aber muß man darauf achten, daß diejenigen, derenRat man einholt, auf keinen Fall den Pönitenten erkennen oder erra-ten können, wenn es nicht mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis ge-schieht. Das darf man auch mit seiner Erlaubnis nicht tun, wenn esnicht aus einer zwingenden Notwendigkeit geschieht und wenn er nichtden Beichtvater außerhalb und nach der Beichte darum bittet.

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VII. Die reservierten Fälle und die Beichte in periculo et articulomortis.

Nun, die Seiner Heiligkeit vorbehaltenen Fälle sind recht zahlreich,aber der Großteil sind doch solche, daß sie diesseits der Alpen fastnicht vorkommen; und was diejenigen betrifft, die vorkommen kön-nen, ist ihre Zahl gering. Abgesehen von der Bulle ‚In Coena Domi-ni‘15 sind es fünf:

1. Eine kirchliche Person töten oder schwer schlagen, aus Bosheitund mit Absicht. Ich habe ‚schwer schlagen‘ gesagt, denn wenn derSchlag leicht und das Übel unbedeutend ist, kann der Fall vom Bi-schof absolviert werden, außer der Schlag war, obwohl an sich leicht,ein großes Ärgernis, so wenn er z. B. einem Priester beim Gottes-dienst gegeben wurde oder an einem Ort oder in einer Umgebung, diesehr ehrwürdig und bedeutend sind.

2. Die Simonie und die tatsächliche Übereinkunft.3. Die Sünde des Duells bei denen, die dazu fordern und den Zwei-

kampf durchführen.4. Die Verletzung der Klausur von Klöstern klausurierter Nonnen,

wenn diese Verletzung zu einem bösen Zweck geschieht.5. Die Verletzung der Immunitäten der Kirche. Dieser fünfte Fall

ist schwer zu erkennen und kommt kaum vor und stets durch öffentli-che Handlungen, daher wird er fast nie in der Beichte entschieden,wenn er nicht außerhalb von ihr durch die Bischöfe oder ihre Vikareentschieden wurde.

Die Fälle der Bulle ‚In Coena Domini‘, die vorkommen können,sind ebenfalls gering an Zahl:

1. Die Häresie, das Schisma, häretische Bücher besitzen und lesen,die Fälschung von Bullen und Apostolischen Schreiben.

2. Die Verletzung von Freiheiten und Privilegien der Kirche, vonkirchlichen Gütern und Personen, die absichtlich geschieht; die wi-derrechtliche Aneignung von kirchlichen Gütern, insofern sie kirch-lich sind.

Die Fälle, die Wir uns vorbehalten haben, sind gering an Zahl:1. Das erste Gebot betreffend haben wir reserviert die Hexerei und

die Zaubermittel, die gegen den Zweck der Ehe angewendet werden.2. Das vierte betreffend haben Wir den Verwandtenmord reserviert,

der geschieht durch Töten oder Schlagen von Vater, Mutter, Schwie-gervater, Schwiegermutter.

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3. Das fünfte Gebot betreffend haben Wir den absichtlich vollbrach-ten Mord reserviert.

4. Das sechste betreffend haben Wir reserviert die Bestialität undSodomie, den Inzest im ersten und zweiten Grad und das Sakrileg,das mit Nonnen und Ordensfrauen verübt wird, Vergewaltigung undNötigung von Mädchen und Frauen.

5. das siebente Gebot betreffend haben Wir reserviert die absichtli-che Brandstiftung an Häusern des Nächsten, Plünderung und Dieb-stahl von geweihten Gegenständen.

Für alle diese reservierten Fälle müßt ihr nun zwei Regeln beach-ten:

1. Die Pönitenten, die sie begangen haben, trösten und nicht entmu-tigen, sondern sie freundlich an diejenigen verweisen, denen Wir dieVollmacht gegeben haben, die Wir in großer Zahl in allen Gebietender Diözese aufgestellt haben; denn wenn sie auch nicht von den Fäl-len lossprechen können, die dem Papst reserviert sind, so können sieihnen doch den Weg weisen, um die Absolution zu erlangen.

2. Im äußersten Notfall und in Todesgefahr können und müssen allePriester, auch wenn sie keine Beichtvollmacht haben, welcher Artund welchen Ranges sie auch sein mögen, allgemein von allen Sündenlossprechen. Selbst jener, der krank geworden den Beichtvater ver-langt, wenn er hernach die Sprache verloren hat und keinerlei Zei-chen geben kann, muß auf den einfachen Wunsch nach der Beichtehin losgesprochen werden. Außerdem muß man jenen absolvieren,der zwar den Priester nicht verlangt hat, aber wenn er ihn sieht undhört, dennoch ein Zeichen gibt, daß er die Lossprechung wünscht.

VIII.Wie man die Buße auferlegen und welche Ratschläge man denPönitenten geben soll.

Der Beichtvater muß die Buße mit gütigen und tröstenden Wortenauferlegen, vor allem dann, wenn er den Sünder recht bußfertig sieht,und er soll ihn stets fragen, ob er sie gern verrichten will; denn wenner ihn verlegen sieht, wird er besser daran tun, ihm eine leichtere zugeben, denn es ist in der Regel immer besser, die Pönitenten mitLiebe und Güte zu behandeln (ohne ihnen jedoch in ihren Sünden zuschmeicheln), als sie hart zu behandeln. Und trotzdem darf man nichtvergessen, dem Pönitenten zu verstehen zu geben, daß er entspre-

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chend der Schwere seiner Sünden eine härtere Buße verdiente, damiter demütiger und frommer verrichte, was man ihm auferlegt.

Die Bußen dürfen nicht verworren und nicht aus verschiedenen Ar-ten von Gebeten zusammengesetzt sein, wie z. B. drei Vaterunser zubeten, einen Hymnus, die Gebete der Kollekte, aus Antiphonen undPsalmen. Es darf auch keine gegeben werden, die aus verschiedenarti-gen Handlungen zusammengesetzt ist, wie z. B. drei Tage Almosen zugeben, an drei Freitagen zu fasten, eine Messe lesen zu lassen, sichfünfmal zu geißeln. Denn aus dieser Häufung von Handlungen oderGebeten ergeben sich zwei Unzuträglichkeiten: die eine, daß der Pö-nitent darauf vergißt und dann Gewissensbisse hat; die andere, daß ermehr daran denkt, was er zu beten oder zu tun hat, als an das, was erbetet oder tut, und während er in seinem Gedächtnis sucht, was er tunmuß, oder während der Gebetszeit, was er zu beten hat, die Frömmig-keit sich abkühlt. Es ist daher besser, Gebete der gleichen Art aufzu-geben, wie alles an Vaterunser oder alles aus Psalmen, die aufeinan-der folgen, damit er nicht da und dort einen nach dem anderen suchenmuß. Und es wird sogar gut sein, das eine oder andere der folgendenDinge aufzugeben: etwa dieses oder jenes Buch zu lesen, das man fürgeeignet hält, um dem Pönitenten zu helfen, oder ein Jahr lang jedenMonat zu beichten, einer Bruderschaft beizutreten und ähnliche Hand-lungen, die nicht nur als Buße für die begangenen Sünden dienen,sondern auch als Vorbeugung gegen künftige Sünden.

Und was die Ratschläge betrifft, die der Beichtvater dem Pöniten-ten im allgemeinen geben soll, so sind die nützlichsten für Personenjeder Art folgende: sehr oft beichten und kommunizieren, einen gu-ten ständigen Beichtvater wählen, häufig Predigten besuchen, guteBücher über die Frömmigkeit besitzen und lesen, so unter anderendie des Ludwig von Granada, schlechte Gesellschaften zu fliehen undgute aufzusuchen, sehr häufig zu Gott beten, am Abend das Gewissenerforschen, an den Tod denken, an Gericht, Himmel und Hölle, heili-ge Bilder haben und oft küssen, wie vom Gekreuzigten und andere.

IX. Wie man die Absolution geben muß.

Wenn das geschehen ist, werdet ihr, bevor ihr die Lossprechunggebt, den Pönitenten fragen, ob er nicht demütig danach verlangt, daßihm seine Sünden nachgelassen werden, ob er nicht diese Gnade vom

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Verdienst des Todes und der Passion Unseres Herrn verlangt, ob ernicht den Willen hat, künftig in der Furcht Gottes und im Gehorsamgegen ihn zu leben.

Darauf könnt ihr ihm zu verstehen geben, daß das Urteil seinerLossprechung, das ihr auf Erden verkündet, im Himmel anerkanntund bestätigt wird; daß die Engel und Heiligen im Himmel sich freu-en, ihn in die Gnade Gottes zurückkehren zu sehen; er möge künftigso leben, daß er in der Todesstunde die Frucht dieser Beichte genie-ßen kann; und da er sein Gewissen im Blut des unschuldigen LammesJesus Christus gewaschen hat (Offb 7,14), möge er darauf achten, esnicht mehr zu beflecken.

Nachdem ihr diese oder ähnliche Worte des Trostes gesagt habt,werdet ihr das Birett abnehmen, um die Gebete zu sprechen, die derAbsolution vorausgehen. Und wenn ihr das „Und Unser Herr JesusChristus“ gesagt habt, werdet ihr das Birett aufsetzen und die rechteHand gegen das Haupt des Pönitenten ausstrecken und mit der Abso-lution fortfahren, wie es im Rituale angegeben ist.

Es ist richtig, wie der gelehrte Doktor Emmanuel Sa sagt „bei derBeichte derjenigen, die oft beichten“, kann man alle Gebete weglas-sen, die man vor und nach der Absolution spricht, und einfach sagen:„Ich spreche dich los von all deinen Sünden. Im Namen des Vatersund des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Dasselbe ist zu sagen,wenn es eine Menge von Pönitenten gibt und die Zeit kurz ist, dennman kann kluger Weise die Absolution kurz fassen und nur sagen:„Unser Herr Jesus Christus spreche dich los und in seiner Vollmachtspreche ich dich los von all deinen Sünden. Im Namen des Vaters unddes Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“

Ebenso kann man auch beim Andrang von Pönitenten, die häufigbeichten, diese auffordern, das Confiteor für sich zu sprechen, ehe sievor den Beichtvater treten, damit sie unmittelbar nach ihrer Ankunftvor ihm und nach dem Kreuzzeichen mit der Anklage beginnen; dennauf diese Weise wird nichts ausgelassen und man gewinnt viel Zeit.

Der Pater Valerian Reginald von der Gesellschaft Jesu, Lektor derTheologie in Dole, hat kürzlich ein Buch veröffentlicht über die ‚Klug-heit der Beichtväter‘, das sehr nützlich für die Leser sein wird.

Meine lieben Brüder, das sind 25 Artikel, die ich für wert gehaltenhabe, sie euch vorzulegen; indessen habe ich sie, durch viele andereAufgaben abgelenkt, nicht besser darzustellen, noch den Rest zu Pa-

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pier zu bringen vermocht. Empfehlt meine Seele stets der Barmher-zigkeit Gottes, wie ich meinerseits euch seinen Segen wünsche.

Fragment von Ratschlägen für die Beichtväter

– – – Hütet euch vor allem, zu harte Worte den Pönitenten gegen-über zu gebrauchen; denn manchmal sind wir in unseren Ermahnun-gen so streng, daß wir uns tatsächlich als tadelnswerter erweisen, alsjene schuldig sind, die wir zurechtweisen. Gott will das nicht; er be-klagt sich, daß durch unsere zu große Strenge seine Altäre verlassenund seine Opfer ohne Opfergaben sind: Weil ihr mit so absoluter Machtherrscht, sagt Unser Herr (Ez 34,4f) zu uns Priestern, sind meinearmen Schafe aus Angst geflohen.

Unser Meister Jesus Christus hätte nie Menschen zu Beichtväternbestimmt, wenn sie nicht Sünder gewesen wären. Da nun die Beicht-väter selbst Sünder sind, sind sie verpflichtet, demütig und mild zusein und sich mit den armen Pönitenten durch eine gütige Herablas-sung zu demütigen. Das versteht indessen der Großteil der geistli-chen Väter nicht, und ich wundere mich darüber, denn die Probe füreinen vollkommenen Beichtvater besteht darin, barmherzig gegen-über dem Vergehen des anderen zu sein und unnachsichtig gegenüberseinem eigenen. Die wahre Frömmigkeit, sagt der hl. Hieronymus,hat immer Mitleid, die falsche nur Unmenschlichkeit.

Im Gesetz der Gnade gibt es nur Güte. Der Zorn Unseres Herrngleicht dem Sommerregen, der das Land nur berührt. Der Sohn Got-tes ist eine Seele voll Erbarmen und er ist ausdrücklich Mensch ge-worden, um sich mit einem Herzen voll Mitleid zu verbinden; des-halb hat sich seine göttliche Seele mit seiner Menschheit vereinigt,um zu dulden, und hat sich mit einem Leib verbunden, um in Gütemit seinen Geschöpfen zu leiden und sich seinen Brüdern gleichförmigzu machen (Hebr 4,15; 11,17). Ich verstehe dieses Mitleid nicht alsein Kissen für das Laster und ein Polster, um die Sünde nach seinemBelieben darauf zu betten (vgl. Ez 13,18); nein, ich verstehe es nur so,daß wir uns der Verfassung jedes einzelnen anpassen und etwas nichtder Bosheit zuschreiben, sondern der Schwachheit. Die Geister wol-len nicht hart angefaßt, sondern sanft zurückgeführt werden; so istder Mensch veranlagt. Für diese Führung braucht man eine heiligeGeschicklichkeit; bei diesen Begegnungen muß das Gewissen unserFührer sein. – – –

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Weisungen für die Unterscheidung der Geister

Meine Brüder, wenn Gott euch zur Führung von Seelen bestimmthat, müßt ihr ihn ständig um seine Erleuchtung bitten, um die echtenWirkungen seines Geistes recht zu erkennen. Wenn ihr daher die Lei-tung bestimmter Menschen habt, die mit seinen außergewöhnlichenund erhabenen Gaben begnadet sind, dann achtet darauf:

1. ob sie sich in dem Sinn verhalten, der wenigstens der HeiligenSchrift entnommen ist; der ist als der allgemeinste am wenigsten ge-fährlich, weil die Heilige Schrift die Regel der Führungen Gottes inden Seelen ist.

2. Es ist auch eine Wirkung des Geistes Gottes, daß er in denen, dieer liebt, zugleich mit höchstem Vertrauen eine große Furcht erweckt.Diese kommt von der Erkenntnis unserer Schwachheit, jenes folgtaus der heiligen Liebe. Der Teufel dagegen verleitet zu erhabenenGedanken und zu Vorstellungen einer sehr hohen Tugend und einesguten Lebens, indem er dazu überredet, sich auf seine eigenen Fähig-keiten und seine guten Werke zu verlassen.

3. Aber der Prüfstein, um den guten wie den bösen Geist auf dieProbe zu stellen und den Anfänger vom bereits Fortgeschrittenen zuunterscheiden, besteht in der Bereitschaft zu leiden. Denn der Schlech-te wird durch Trübsale schlechter und murrt gegen die VorsehungGottes; der Anfänger leidet unwillig und dann bedauert er, daß ersich zur Ungeduld hinreißen ließ. Der Fortgeschrittene schleppt zu-erst sein Kreuz ein wenig; wenn er aber seinen Erlöser und Meisterdas seine auf den Kalvarienberg tragen sieht, nimmt er es doch aufsich, faßt Mut und entschließt sich zur Geduld und dazu, Gott zupreisen. Der Vollkommene, in diesem Jahrhundert ein seltener Vogelals der Phönix in Arabien, erwartet nicht nur Schmach, Verfolgungund Verleumdung, sondern geht ihnen selbst ohne Verwegenheit ent-gegen und eilt wie zum Hochzeitsmahl (vgl. Mt 22,2; Offb 19,9), daer sich noch für unwürdig hält, die Livree zu tragen, nach der man ihnfür einen Diener des Hauses Gottes halten muß.

4. Es ist auch ein Kennzeichen des Geistes Gottes, gütig und vollMitleid mit seinem Nächsten zu sein, selbst wenn er näher daran ist,der Strenge seiner Gerechtigkeit zu verfallen, aus Furcht ihn unterseinen Ruinen zu begraben. Es ist auch ein Zeichen eines Geistes, derin seinen frommen Übungen oder in seinem Verhalten vom Teufelgetäuscht wird, wenn er unter dem Namen eines bestimmten Eifers

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über alles streng urteilt und alles bestrafen will, ohne Erbarmen unddie geringste Milde walten zu lassen.

5. Die Übung der Tugenden nicht aufzugeben wegen der Schwierig-keiten, die dabei begegnen, das ist ebenfalls das Zeichen einer Seele,deren Opfer Gott wohlgefällig ist. Denn diese grenzenlose Güte zücktkeine flammenden Schwerter, um jenen den Eintritt in sein Paradieszu verwehren (Gen 3,24), die es aufrichtig suchen, und obwohl erzuläßt, daß seine Erwählten sich in Unbilden, in Leiden und Kreuzenbefinden, erfüllt er sie so sehr mit Gnade, mit Kraft und Milde, daßsie sich für sehr glücklich und bevorzugt halten, aus Liebe zu ihm zuleiden. Der Teufel dagegen läßt sie in Gott eine furchtbare Rachsuchtsehen, um ihre geringsten Fehler zu bestrafen. Er gaukelt ihnen einenZorn und äußerste Strenge vor in Dem, der nicht das geringste seinerGeschöpfe schreien hören kann, ohne ihm Beistand zu gewähren (vgl.Jes 30,19), und der sich von der ersten Träne rühren läßt, die auseinem wahrhaft zerknirschten Herzen entspringt (vgl. Ps 1,19; 56,9;Jes 38,5). Aber seid auf der Hut vor der List unseres Feindes: Bevorer sie zur Sünde verführt hat, stellt er ihnen Gott ohne Hände undohne Blitze vor, und wenn er sie zu Boden gestreckt hat, läßt er ihn inihrer Vorstellung erscheinen, umgeben von flammenden Blitzen undganz von Feuer erfüllt, um sie in Asche zu verwandeln.

6. Prüft auch, ob diese Menschen sich in ihrer eigenen Hochschät-zung verlieren, indem sie ihre Gnaden und ihre eigenen Gaben her-vorheben, die dagegen die Gunsterweise, die Gott anderen zuteil wer-den läßt, mit Verachtung behandeln oder für verdächtig halten. Es istnämlich das sicherste Kennzeichen der Heiligkeit, wenn sie auf einerechten und tiefen Demut und auf einer glühenden Liebe gegründet ist.Die übernatürlichen Wirkungen, sagt der hl. Bernhard, können eben-sogut von Scheinheiligen geschehen wie von Heiligen; die von Her-zen Demütigen lassen deren Gediegenheit und Echtheit erkennen.

7. Und was die getäuschten Menschen betrifft, so dient ihnen Gottselbst als Gewähr und Sicherheit, wenn ihr ihnen darin Glaubenschenkt. Doch beobachtet ihre geistlichen Reden und seid bezüglichdieser außergewöhnlichen Ausdrücke sehr auf der Hut. Wenn sie z.B.sagen: Ich bin dessen sicher, was Gott von mir will; er tut Ihnen durchmeinen Mund kund, was zu Ihrem Heil und zu Ihrer Führung notwen-dig ist; tun Sie das auf mein Geheiß, ich verantworte es vor Gott, undähnliche Reden, die eine große Erleuchtung über innere Dinge an-

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deuten und eine Vertrautheit mit dem Himmel (Phil 3,20). Prüft mitKlugheit, ob ihre Taten mit diesen hohen Erleuchtungen übereinstim-men.

8. Seht auch, ob der Bericht, den man diesen Menschen über dieSchwachheit des Nächsten gibt, in ihnen mehr eine Regung der Ent-rüstung und des Entsetzens weckt als des Mitleids und Erbarmensmit seinem Elend. Es ist nämlich ein falscher Eifer, gegen die Untu-gend seines Bruders zu wettern, ohne Notwendigkeit und gegen dieLiebe dessen Fehler aufzudecken. Solche Menschen glauben zu errei-chen, daß man ihre Tugend bewundert, wenn sie die Fehler des Nächs-ten bekanntmachen.

9. Wenn man von Gott spricht, dann prüft außerdem, ob diese Men-schen sich in affektierten Ausdrücken verlieren, weil sie zeigen wol-len, daß ihr Feuer nicht unter der Asche verborgen bleiben kann unddaß man durch diesen Funken die Gluten entdecken könne, die inihrem Innern sind.

10. Wenn ihr zuverlässig beurteilen wollt, ob diese Seelen die rech-te Auffassung von Gott haben und ob die Gnaden echt sind, die sievon seiner Güte zu empfangen behaupten, dann seht, ob sie nicht anihrem eigenen Urteil und an ihrem eigenen Willen hängen sowie andiesen Gnaden selbst. Oder ob sie ihnen im Gegenteil mißtrauen undsie unentschieden lassen, bis sie durch das Urteil ihres Seelenführersund mehrerer frommer, gelehrter und erfahrener Personen in ihremGlauben darüber bestärkt werden, was sie von all dem halten müssen.Denn der Heilige Geist liebt über alles die demütigen und gehorsa-men Seelen. Er gefällt sich wunderbar in der Herablassung und Un-terordnung als Fürst des Friedens (Jes 9,6; 1 Kor 14,33) und der Ein-tracht. Der Geist des Hochmuts dagegen gibt Sicherheit und machtjene, die er täuschen will, stolz, eigensinnig und sehr kühn; er läßt sieihr Übel derart lieben, daß sie nichts so sehr fürchten wie ihre Hei-lung; er redet ihnen ein, daß jene, die mit ihnen sprechen, sie mehrum ihr Glück beneiden, als auf ihr Heil bedacht zu sein. So ist derGeist der Neuerer beschaffen.

11. Um diese ganze Darstellung abzuschließen, seht schließlich, obdiese Menschen in ihren Worten und Taten einfach und aufrichtigsind; ob sie ihre Gnaden nicht herausstellen wollen, ohne daß es not-wendig ist; ob sie suchen, was nach außen auffällt.

12. Es ist ganz im Gegenteil eine Wirkung der beglückenden Füh-rung des Vaters der Lichter (Jak 1,17), durch innere Einsprechungen

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anzuregen, sanft in die Seele zu fließen und dort einzudringen wie derRegen in die Wolle (Ps 72,6). Der hl. Chrysostomus sagt, Gott hat denHebräern seine Gebote unter großen Schrecken und vielen Donner-schlägen bekanntgemacht (Ex 19,16.18); aber das war notwendig, umdie Menschen zu erschrecken, die sich nur aus Furcht der Anordnungfügten. Unser Herr dagegen kam freundlich zu seinen Aposteln, diegelehriger und der göttlichen Geheimnisse weniger unkundig waren.Es ist wahr, daß es einen gewissen Lärm und ein wenig Brausen gab(Apg 2,2); aber Gott ließ das der Juden wegen geschehen und aus denGründen, die in der Heiligen Schrift (Apg 2,13-21) angegeben sind.

5. Aus dem Rituale der Diözese Genf

Vorwort16

Franz von Sales, durch Gottes und des Apostolischen Stuhles Gna-de Fürstbischof von Genf, den in Christus geliebten hochwürdigenVorstehern der Pfarrkirchen der Diözese Genf ewiges Heil.

Geliebte Brüder! Als Holofernes Betulia belagerte, kam er auf denGedanken, ihre Wasserleitung und alle Quellen ringsum zu unterbre-chen und zu besetzen, damit kein Tropfen Wasser bleibe, um denDurst der Belagerten zu löschen (Jdt 7,6-11). Das war auch die Ab-sicht aller, die die Kirche bekämpfen, besonders der Häretiker dieserZeit, nämlich die Sakramente, durch die wie Kanäle und gewisserma-ßen geeignete Gänge der allergütigste Erlöser das Wasser der heilsa-men Gnade in unsere Herzen leitet und ergießt, entweder ganz abzu-schneiden oder durch falsche Anschauungen zu verderben und zubesetzen, damit künftig der sanfte Strom des ins ewige Leben fließen-den Flusses die Stadt Gottes nicht mehr erreichen könne (Joh 4,14;Ps 46,5). Vor allem suchen sie durch einmütigen Ansturm der Leug-nung die Buße, die Priesterweihe, die Firmung, die Ehe und die Letz-te Ölung fast ganz zu zerstören; dann berauben sie entweder in höch-ster Gottlosigkeit oder Anmaßung die Taufe der wirksamen Verge-bung der Sünden und die Eucharistie der wahren belebenden Gegen-wart des Herrenleibes.

Jene altehrwürdigen Riten schließlich, mit denen die Mutter Kir-che wie mit goldenen Fransen angetan (Ps 45,14) bei der Spendungihrer Sakramente in lieblicher Vielfalt erstrahlt und glänzt, trachtensie nicht nur zu leugnen, sondern auch nach Kräften durch Spott und

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Gelächter auszupfeifen. Weil aber die Kirche nicht außerhalb derMauern, sondern in ihrer Mitte den Heiligen Geist besitzt, jene ergie-bige Quelle belebenden Wassers, die sich von hier durch die Sakra-mente in die Seelen ergießt, haben die Häretiker vergeblich und läp-pisch erwogen, beschlossen und versucht, unser Betulia der Christendurch Durst zu bedrängen oder zur Übergabe zu zwingen. Denn of-fenkundig hat das Unterbrechen der Bäche, die von der Stadt ihrenAusgang nehmen, nicht die eingeschlossenen Bürger, sondern dieausgeschlossenen Feinde, nicht die Belagerten, sondern die Belage-rer von der Fülle des Wassers getrennt und entfernt.

Ja, je heftiger die Versuche und je maßloser das Ungestüm ist, mitdem die Feinde der Kirche gegen die Zahl, die Würde und die Zere-monien der Sakramente ankämpfen, um so stärker und fester habenfür ihre Siebenzahl, für die Feierlichkeit ihrer religiösen Riten unddie Heiligkeit der sakramentalen Dinge zuerst alle auf dem heiligenKonzil von Trient versammelten Bischöfe, dann die meisten für sichin fast allen ihren Provinzen mit immer größerem Eifer gekämpft.

Unter ihnen erinnern wir von unseren Vorgängern an den großenAngelo Giustiniani, einen Mann unvergleichlicher Gelehrsamkeit undFähigkeit, der am Konzil teilnahm und nach seiner Rückkehr aufdiese Fragen die größte Mühe verwandte. Da er aber durch den kurzzuvor erfolgten beklagenswerten Abfall der Stadt Genf diese ganzeDiözese allenthalben aufgewühlt vorfand, hielt er es für seine Pflicht,den Hauptteil seiner Bemühungen auf die Festigkeit des katholischenGlaubens zu verwenden. Obwohl nämlich von unserer Bevölkerungsich niemand offen zum Irrglauben bekannte, hielten doch manchedas Verbrechen der Häresie nicht für so verabscheuungswürdig, wiees erforderlich ist: Menschen, die zwar nicht kalt im Glauben sind,gewiß aber auch nicht warm (vgl. Offb 3,15f). Einige Halbgebildeteund Bewunderer der humanistischen Schriften trachteten, die katho-lischen Riten zwar nicht ganz zu verwerfen, sie aber der Prüfung undanmaßend der Entscheidung ihres Urteils zu unterwerfen.

Gegen alle diese Gefahren für die Seelen schuf der hervorragendeBischof wirksame Abhilfe durch die hervorragende Fähigkeit, die erbesaß, über göttliche Dinge zu sprechen und zu lehren, in häufigenPredigten und persönlichen Gesprächen; und er erreichte schließlich,daß künftig in der Diözese, vor allem aber in dieser Stadt die Irrlehrenund der Name der Häretiker allen als schimpflich, schrecklich undabscheulich galten. Über diesen Bemühungen, abgehalten und verwik-

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kelt in verschiedene Aufgaben, schwierigste Knoten zu lösen, durchdie die Ungunst der Zeit und menschliche Bosheit die Versuche derbesten Väter zu vereiteln pflegen, vermochte der Bischof, obwohl äu-ßerst wachsam und tapfer, in der kurzen Zeit von zwölf Jahren, in de-nen er das Bischofsamt innehatte, den äußeren Glanz der kirchlichenOrdnung und der Sakramente kaum wiederherzustellen.

Auf ihn folgte dann Claude de Granier, ein Mann, von Gott und denMenschen geliebt, dessen Andenken gesegnet ist (Sir 45,1). Ihn hat dieHand des Höchsten wegen der Wahrheit, der Rechtschaffenheit undFrömmigkeit wunderbar geführt (Ps 45,5), ihm gleiche Ehre mit denHeiligen gegeben (Sir 45,2), um ihn zu verherrlichen in seinen Mühenund sein Werk zu vollenden (Weish 10,10). Diesem hervorragendenBischof ist gerechterweise fast alles zuzuschreiben, was es in dieserDiözese Untadeliges gibt. Er hat die kirchlichen Gebete und Offiziennach der Vorschrift des Konzils verbessert, äußerst gütig und zugleichwirksam in allen Kirchen der Diözese eingeführt. Er übernahm alserster von allen Provinzen Frankreichs nach der Bestimmung des glei-chen Konzils die überaus heilsame Übung, die nützlichste und heilig-ste, die man sich denken kann, Pfarrkirchen durch den Konkurs zuübertragen; dadurch hat er anderen Bischöfen ein Beispiel gegeben,damit auch sie so handeln, wie er getan hat (Joh 13,15). Soweit esnach den örtlichen Umständen möglich war, hat er die Kleidung derPriester zur klerikalen Einfachheit zurückgeführt. Er hat fast überallfromme Bruderschaften zu Ehren des heiligsten Sakramentes und derseligsten Jungfrau errichtet. Er hat den Brauch der jährlichen Synodewiederhergestellt. Auf verschiedene Orte verteilt hat er Wächter ein-gesetzt, die man ‚Aufseher‘ nennt; ihnen hat er die Vollmacht undAufgabe übertragen, die anderen Priester aufzurichten, zurechtzu-weisen, zu ermahnen und über ihren Lebenswandel zu wachen. So-weit es die Unbilden der Zeit zuließen, hat er schließlich nichts un-versucht gelassen, um das kirchliche Leben auf den alten Stand besse-rer Zeiten zurückzuführen.

Von allem, was er sich zu diesem Zweck vorgenommen hat, glaubeich aber, darf man nicht an letzter Stelle eine neue Ausgabe des Ri-tuale nach der Norm der heiligen römischen Kirche nennen. Es gibtzwar viele Ausgaben eines Rituale, deren Titel dem Leser die Ord-nung und Abfolge der Riten der römischen Kirche verspricht; aberman findet kaum eine, die dem Titel einigermaßen entspricht und dasbietet, was er ankündigt. Daher hielt es der vorzügliche Bischof der

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Mühe wert, wenn er für die Herausgabe eines Buches der Zeremoniensorgte, das dem Vorbild des römischen Rituale selbst angeglichen,alle in dieser Diözese einheitlich und als einziges besitzen und dannin der großen Vielfalt der Zeremonien eine einheitliche Regel für dieRiten haben.

Doch im letzten Jahrzehnt seines Lebens war er teils durch Kriegs-folgen, teils durch verschiedene Aufgaben, Kirchen wiederherzustel-len und Tausende von Häretikern selbst und durch seine Mitarbeiterzur Buße zurückzuführen (die er dann der flehenden Mutter Kircheals wiedergeborene Kinder zurückgab), ermattet, beschäftigt und be-hindert. Während indessen die Herausgabe des Rituale verzögertwurde, hinterließ er seinen größten Wunsch zum Wohl aller, wurdeselbst hinweggenommen und in den Himmel aufgenommen, wie manhoffen darf. Daher glauben Wir am glücklichsten gehandelt zu haben,daß Wir einem solchen Vater nicht nur im Amt nachfolgen, das erinnehatte, sondern ihm auch darin ein gehorsamer Nachfolger undNachahmer sind, daß Wir dieses Rituale, das er selbst sehr wünschte,jetzt endlich euch vorlegen, die ihr es erwartet.

Wir sind dabei folgendermaßen vorgegangen: Zunächst haben Wireinige gelehrte und fromme Männer Unserer Kathedrale beigezogenund das Rituale verschiedener Provinzen beschafft. Dann haben Wireinzig dem römischen alles getreu entnommen, was die Spendung derSakramente betrifft. Aus den anderen, am meisten aus dem alten Ri-tuale von Genf, haben Wir viele Segensformeln übernommen, vondenen wir glaubten, daß ihr Gebrauch bei unserem Volk nach lobens-wertem Brauch beibehalten werden soll. Aus allen, die Wir erreichenkonnten, haben Wir aber hier und da verschiedene Regeln und zahl-reiche Beispiele entnommen, die den Pfarrern und ihren Vikaren ammeisten Licht für die rechte Ausübung ihres Amtes bieten. Auf dieseWeise haben Wir nach dem Beispiel der Bienen aus verschiedenenBlüten den Honig in unseren Bienenstock zusammengetragen.

Wir haben auch ein Kalendarium hinzugefügt, in dem wir die Festeund Offizien aufgezählt haben, die in dieser Diözese sowohl nachaltem Brauch als auch durch die jüngsten Synodalkonstitutionen fest-gesetzt und zugelassen wurden. Schließlich haben wir diesem Buchdas Formular hinzugefügt, nach dem die Hauptpunkte der christli-chen Religion jeden Sonntag dem Volk vorzutragen sind. Ihr hattet esschon vorher, im Auftrag Unseres hochwürdigsten Vorgängers her-ausgegeben; jetzt wurde es durchgesehen und von Fehlern gereinigt,

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die ihm anhafteten. So habt ihr alles, was euer Amt am meisten be-trifft, in diesem einen Band enthalten bequemer vor Augen.

In dieser Hinsicht schien ja beinahe nichts weiter wünschenswert,außer um was viele von euch mich oft gebeten haben, nämlich kate-chetische und familiäre Ansprachen über die Sakramente und dieübrigen Hauptpunkte der Religion. Ich verspreche jedoch, sie euchmit Gottes Hilfe zu geben, sobald mir die Fülle der verschiedenenSorgen und Aufgaben, die von allen Seiten auf mich zukommen, eini-ge Muße und etwas Atem lassen. Ich meine, ihr seht jetzt, daß dieseArbeit dem Rituale gar nicht hinzugefügt werden durfte, weil sie ei-nen ganzen Band für sich beanspruchen dürfte.

Da Wir nun also dieses so viele Jahre geforderte Werk mit GottesHilfe zu diesem glücklichen Abschluß gebracht haben, bleibt nur,daß wir alle es nun gern und einmütig gebrauchen. Damit es niemandaus Trägheit oder Nachlässigkeit unterlasse, befehlen Wir jedem ein-zelnen von euch und euch allen gemeinsam und ordnen an, daß künf-tig niemand andere Riten als die in diesem Rituale enthaltenen beider Spendung der Sakramente und bei der Feier heiliger Segnungenund Handlungen sich anzueignen oder unter irgendeinem Vorwandanzuwenden anmaße. Denn auf diese Weise werden wir nicht nur imgleichen Glauben, sondern auch aus ein- und demselben Mund undauf gleiche Weise Gott den Herrn lobpreisen und wird bei uns nachapostolischer Vorschrift (1 Kor 14,40) alles mit Andacht und in Ord-nung geschehen.Gegeben zu Annecy in Savoyen am 8. Februar 1608.

Vorlage für die Verkündigung17

In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen.Christliches Volk! Obwohl unser gütiger Gott alle Gebete erhört,

die ihm andächtig im Namen seines Sohnes Jesus Christus darge-bracht werden, hat er sich dennoch Orte und Tage vorbehalten, andenen er will, daß ihm in besonderer Weise gedient und er angerufenwird; an diesen nimmt er auch unsere Bitten gnädiger an. Deshalb hatdie heilige Kirche, gestützt auf die göttlichen Verheißungen und dieapostolische Übung, sehr richtig angeordnet, daß wir uns an den hei-ligen Sonn- und Feiertagen in der Kirche versammeln, die von Unse-rem Herrn Haus Gottes und des Gebetes (Mt 21,13; Lk 19,46) ge-nannt wurde. Das geschieht, um in ihr das hochheilige Meßopfer zu

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feiern, in dem sich unser Erlöser durch die Hände der Priester unterden Gestalten von Brot und Wein opfert und sich wirklich Gott, sei-nem ewigen Vater als Hostie und lebendige Opfergabe darbringt zurErinnerung und zum Gedächtnis seines Todes und seiner Passion;damit wir durch dieses göttliche Opfer Gott, unserem Schöpfer, Hul-digung, Anerkennung und Danksagung darbringen für unsere Güterund Personen und daß kraft dieses Opfers unsere Gebete vor demThron seiner göttlichen Güte noch wohlgefälliger werden.

Um nun heute diese Feier möglichst gut zu begehen, und da wirwissen, daß Gott gern auf das Gebet der Demütigen schaut (Ps 102,18)und das zerknirschte und demütige Herz nicht verschmäht (Ps 51,19),knien wir nieder, demütigen uns von ganzem Herzen vor seinem An-gesicht, danken ihm für alles Gute, das wir haben und das uns ge-schenkt wurde, vor allem für den Tod und die Passion unseres HerrnJesus Christus, durch die wir von der ewigen Verdammnis befreitwurden. Wir erkennen und bekennen uns als seine armen und elen-den Geschöpfe, als unwürdige und unnütze Knechte (Lk 17,10), diein allem gänzlich von seiner heiligen Barmherzigkeit und Gnade ab-hängig sind, zu der wir unsere Zuflucht nehmen, um Nachlaß undVergebung unserer Sünden und Missetaten zu finden.

In dieser Absicht klagen wir uns aller unserer Sünden im allgemei-nen an, mit dem echten Vorsatz, sie im einzelnen zu beichten zur Zeitund am Ort gemäß der Anordnung Gottes und seiner Kirche. So wol-len wir sprechen: „Ich bekenne Gott dem Allmächtigen ...“ Miseraturvestri ... Indulgentiam ...

In dem gleichen Bewußtsein und in Demut wollen wir Gott umseine Hilfe und seinen Beistand in all unseren Nöten bitten:

Vor allem, daß er unsere Seele zu seinem heiligen Dienst anleitenmöge, damit wir auf der Grundlage des wahren Glaubens eine heiligeHoffnung auf unser Heil haben können durch die Liebe in der Beob-achtung seiner Gebote.

Dann wollen wir beten für alle unsere Vorgesetzten, sowohl geistli-che wie weltliche; für unseren Heiligen Vater, den Papst, für alle Bi-schöfe, Hirten und Geistlichen, die rechtmäßig zur Leitung der See-len aufgestellt sind, im besonderen für unseren hochwürdigsten HerrnBischof und Oberhirten, damit es Gott gefalle, ihnen die Gnade zuschenken, die ihnen anvertraute Herde so gut zu weiden und zu füh-ren, daß sie vor allen falschen Anschauungen und Verführungen be-wahrt, hier auf Erden in der Einheit der katholischen, apostolischen

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römischen Kirche leben und ausharren in der Erwartung, daß sie imHimmel droben in die triumphierende Kirche aufgenommen wer-den.

Wie der hl. Paulus (1 Tim 2,1f) rät, wollen wir auch beten für allechristlichen Fürsten und Obrigkeiten, im besonderen für Seine Maje-stät und die regierende Königin und für die Prinzen von Geblüt; undnicht nur für sie, sondern für alle, die berufen sind, ihrerseits zu re-gieren, daß es Gott gefalle, ihnen die Gabe der Stärke und des Rateszu verleihen, um uns in heiligem Frieden und Sicherheit zu erhalten,und die Gerichtsbarkeit gerecht zu verwalten, damit wir im Gehor-sam gegen sie „so durch die zeitlichen Güter hindurchgehen, daß wirdie ewigen nicht verlieren“ (Missale).

Da unser Erlöser (Lk 19,41) den Untergang Jerusalems vorhersahund beweinte, müssen wir außerdem von ganzem Herzen beweinenund bedauern die Verderbnis der bedauernswerten Seelen der Un-gläubigen, Schismatiker, der verirrten und falschen Christen, die sichGottes Zorn für den Tag des Gerichtes anhäufen (Röm 2, 5), damit esihm gefalle, sie mit seiner heiligen Gnade und Wahrheit zu erleuch-ten.

Da Unser Herr als ihm erwiesen betrachtet, was dem Geringstender Seinen erwiesen wird (Mt 25,40), wollen wir überdies beten füralle armen Betrübten und Notleidenden, für die Witwen und Waisen,für Kranke, Gefangene, Reisende und allgemein für alle, die Trübsalund Widerwärtigkeiten haben, auf daß es dem Vater der Erbarmungund allen Trostes (2 Kor 1,3) gefalle, ihnen mit seinem Heiligen Geistbeizustehen, damit sie ihre Bedrängnis in Demut annehmen und ihreSeele in Geduld besitzen (Lk 21,19) können.

Im besonderen wollen wir bitten, es möge Gott gefallen, die wer-denden Mütter in seine Obhut zu nehmen, auch diejenigen dieserPfarrei, und die Frucht ihres Leibes zum heiligen Sakrament der Tau-fe zu führen, damit sie Anteil erhalten am Erbteil des Himmels.

Wenn man einen Bestimmten empfehlen muß:

Wir wollen auch beten für N.N. aus dieser Pfarrei, der/die von schwe-rer Krankheit betroffen, sich eurer Liebe empfiehlt, damit es Gottgefalle, ihm/ihr zu schicken, wovon er weiß, daß es ihm/ihr am meis-ten zum Heil gereicht.

Wir wollen den himmlischen Vater auch um unser tägliches Brot

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bitten, wie er es uns (Mt 6,11; Lk 11,3) gelehrt hat, und ihn bitten, ermöge die Früchte der Erde erhalten und vermehren und die Arbeitunserer Hände segnen, damit wir sie in Frieden und guter Gesundheiternten könnten, sie nach seinem Willen mäßig genießen und davonden armen Notleidenden mitteilen.

Da die Heilige Schrift (2 Makk 12,45) bezeugt und die Kirche im-mer geglaubt hat, daß es ein heiliger und heilsamer Gedanke ist, für dieverstorbenen Gläubigen zu beten, wollen wir schließlich beten fürunsere Väter und Mütter, Brüder und Verwandten, Freunde und alleübrigen Verstorbenen, besonders für jene, deren Leib in dieser Kir-che oder auf diesem Friedhof ruht, und für die Wohltäter der Kirche(und besonders für N.N.); da sie im Schoß der Kirche gestorben sind,sind sie und werden sie immer ihre Kinder sein, ein- und demselbenReich Jesu Christi angehören als Glieder desselben Leibes mit ihm.Möge es Gott gefallen, wenn sie noch in irgendeiner Pein sind, siedaraus zu befreien und in die ewige Ruhe aufzunehmen.

Damit nun unsere Bitten dem ewigen Vater wohlgefälliger seien,wollen wir sie ihm in der Weise vortragen, die uns sein Sohn, UnserHerr, im Gebet des Herrn (Mt 6,9-13; Lk 11,2-4) gelehrt hat. Wirwollen es nun sprechen, sowohl um uns seiner zu erinnern, als auchum unsere Gebete mit ihm zu beginnen. Ihr sollt also demütig mitmir sprechen:

Pater noster ... Das heißt: Vater unser ...Wir wollen auch den Englischen Gruß sprechen, sowohl zum Ge-

dächtnis unserer Erlösung, die in diesem Gruß durch den Engel ange-kündigt wurde, als auch um uns mit der Gemeinschaft der Heiligenzu vereinigen in der Person der glorreichen Jungfrau Maria, die wirbitten, für uns Fürsprache einzulegen bei Gott Vater im Namen ihresSohnes, unseres einzigen Erlösers. Ihr sollt mir also nachsprechen:

Ave Maria ... Das heißt: Gegrüßet seist du Maria ...Weil aber nicht nur unsere Gebete, sondern auch alle unsere Hand-

lungen im wahren Glauben gegründet sein müssen, ohne den es un-möglich ist, Gott zu gefallen, wie die Heilige Schrift (Hebr 11,6) sagt,wollen wir außerdem das allgemeine Bekenntnis ablegen, daß wir imGlauben der katholischen, apostolischen römischen Kirche leben undsterben wollen, indem wir das Apostolische Glaubensbekenntnis spre-chen:

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Credo in Deum Patrem omnipotentem ... Das heißt:Ich glaube an Gott, den Vater den allmächtigen ...Benedicite Dominus, nos et ea quae sumus sumpturi, benedicat dexteraChristi. In nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Das heißt: Segne, Herr,oder vielmehr: der Herr segne uns; sowohl wir als auch alles, was zu unse-rem Gebrauch ist, werde gesegnet durch die Rechte Jesu Christi. Im Namendes Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Da es für den wahren Christen vor allen Dingen erforderlich ist, denWillen Gottes zu erfüllen, um zum ewigen Leben zu gelangen, daaber der Glaube ohne Werke tot ist, wie der hl. Jakobus (2,20) sagt, sohört nun in Ehrfurcht die Gebote Gottes, um sie mit seiner GnadePunkt für Punkt halten zu lernen:

1. Ich bin der Herr, dein Gott ... (Ex 20,2-17).

Manchmal können die Gebote, wie sie dort geschrieben sind, vorgetragen werden;andere Male auf folgende Weise:

Das sind die Gebote Gottes, wie sie Mose gegeben wurden; um siebesser im Gedächtnis zu behalten, kann man sie folgendermaßen zu-sammenfassen:

1. Du sollst einen Gott allein anbeten ...Nun will Gott nicht nur, daß man auf ihn hört und ihm gehorcht,

sondern er will auch, daß man auf die Kirche hört und ihr gehorcht,unter der Androhung, daß jene, die dawiderhandeln, vor ihm als Un-gläubige, Heiden und Zöllner gelten (Mt 18,17), weil „Gott nichtzum Vater haben kann, wer die Kirche nicht zur Mutter hat“. Ihr solltalso ihre Gebote vernehmen und sie bereitwillig halten, nämlich:

1. Du sollst an Sonn- und Feiertagen die Messe hören ...

Wenn ein Fest oder eine Vigil ist, kann man sagen:

Wenn ihr also diese Gebote beobachtet, dann werdet ihr an demoder dem Tag fasten und werdet das Fest des N. an dem und dem Tagfeiern, indem ihr euch jeder knechtlichen Arbeit enthaltet, um demDienst Gottes genau so wie am Sonntag oder (je nach dem Fest) anWeihnachten zu obliegen.

Wenn irgendein Fest des Gelöbnisses ist, wird man sagen:

Ihr habt (an dem Tag) das Fest des N., das eure Vorfahren aus die-sem Anlaß gelobt haben, das ihr nach eurem Gelöbnis wie den Sonn-tag zu halten verpflichtet seid.

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Wenn irgendein Fest der Frömmigkeit ist, wird man sagen:Ihr habt (an dem Tag) das Fest des N., das nicht geboten ist, sondern

nur aus Frömmigkeit für jene, die es halten wollen.

Dann kann man hinzufügen:

Und für jetzt habt ihr keinen anderen gebotenen Feiertag.

Wenn man eine Eheschließung ankündigen muß, wird man sagen:

Vor unserer Mutter, der heiligen Kirche, wurde die Ehe verspro-chen zwischen N. und N. Wenn daher jemand ein Hindernis weiß,deswegen diese Ehe nicht zur letzten und vollen Wirkung gelangendarf, hat er das bekanntzugeben; andernfalls wird ihm später nichtgeglaubt.

Wenn man auf einen Diebstahl oder eine verlorene Sache hinweisen muß, wird mansagen:

Die (das ...) gestohlen oder gefunden haben, fordere ich auf, es zu-rückzugeben; sonst verfallen sie dem Fluch, der über diejenigen aus-gesprochen ist, die das Gesetz Gottes brechen.

Wenn ein ‚Monitorium‘ vorliegt, wird es hier bekanntgegeben.Wenn kein Fest anzuordnen ist, wird man sagen:

In dieser Woche habt ihr keinen gebotenen Feiertag und kein Festder Frömmigkeit.

Und man wird schließen mit den Worten:

Ich empfehle euch aber nur, Gott über alles zu lieben und eurenNächsten wie euch selbst (Mt 22,37.39; Lk 10,27). Möge daher allerStreit, Rachsucht, Uneinigkeit und Mißgunst weichen und nie untereuch herrschen (2 Kor 12,20). Und der Segen und die Gnade und derFriede Gottes (Phil 4,7) werde euch für immer gewährt. + Im Namendes Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Oder auch:

Und der Segen, der dem hl. Petrus, dem hl. Paulus, der heiligenBüßerin Maria Magdalena und dem guten Schächer am Kreuzesholz

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gewährt wurde, werde euch allen zuteil: + im Namen des Vaters unddes Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

An Hochfesten und anderen gebotenen Feiertagen kann man die Verkündigungbeginnen:

Christliches Volk! Obwohl unser gütiger Gott ...

und was folgt, bis ‚Indulgentiam‘ einschließlich; dann kann man schließen mit denWorten:

Ich empfehle euch, Gott über alles zu lieben und euren Nächstenwie euch selbst. Deshalb soll aller Streit, Rachsucht, Uneinigkeit undMißgunst weichen und nie unter euch herrschen. Und der Segen, dieGnade und der Friede Gottes werde euch für immer gewährt: + imNamen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Am zweiten Sonntag nach Epiphanie werden alle Pfarrer das Dekret des Konzilsvon Trient über die Ehe folgendermaßen bekanntgeben:

Da das Sakrament der Ehe von so großer Bedeutung für die Kircheund für den christlichen Staat ist, und damit es künftig geziemenderund heiliger gefeiert werde, hat unsere Mutter, die heilige katholischeapostolische römische Kirche alle Ehen für nichtig und unwirksamerklärt, die nicht in Gegenwart des Bischofs oder des Pfarrers odereines vom Bischof oder Pfarrer Bevollmächtigten und nicht in Ge-genwart von zwei Zeugen geschlossen werden. Diese Anordnung, dieschon vor langer Zeit in dieser ganzen Diözese bekanntgemacht wur-de, wird euch jetzt von neuem erklärt, bekanntgemacht und angekün-digt, damit niemand deren Unkenntnis vorschützen kann.

Am Fest der heiligsten Dreifaltigkeit werden jedesmal alle Pfarrer das Volk mitfolgendem Wortlaut über die Form der Spendung des Sakraments der Taufe belehren:

Die Kirche legt uns heute in der Heiligen Schrift des Evangeliums(Mt 28,18-20) den Auftrag vor, den Unser Herr seinen Aposteln überdie Spendung des Sakramentes der Taufe gegeben hat. Weil übrigensjeder Gläubige im äußersten Notfall es spenden kann und muß, des-halb müßt ihr wissen: Im äußersten Notfall, d. h. wenn die Gefahrbesteht, daß das Geschöpf, das getauft werden soll, sogleich stirbt,genügt es, natürliches und gewöhnliches Wasser zu nehmen und es soüber das Kind zu gießen, daß es dieses berührt, und dabei die Worte

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zu sprechen: Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes unddes Heiligen Geistes.

Und damit ihr es besser behalten könnt, um im Fall der genanntenNotwendigkeit davon Gebrauch zu machen, sage ich noch einmal:Man muß Wasser nehmen und es über das Geschöpf gießen, so daß esdieses berührt, und sprechen:

Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heili-gen Geistes.

Am Sonntag Quinquagesima wird jeder Pfarrer das Volk mit folgenden Wortenermahnen:

Am kommenden Mittwoch beginnen wir die heilige Fastenzeit undnehmen nach apostolischer und katholischer Einsetzung das Aufle-gen der geweihten Asche vor. Deshalb sei jeder aufgefordert, seinePflicht zu erfüllen, sich von diesem Tag an bis Ostern des Genussesvon Fleisch, Eiern und Käse zu enthalten, außer er ist von den kirch-lichen Oberen aus einem vernünftigen Grund davon dispensiert. Au-ßerdem muß jeder, ausgenommen am Sonntag, jeden Tag fasten, au-ßer wer wegen Alters, Krankheit oder anderer Gründe davon ausge-nommen ist. Und weil diese heilige Zeit die geistliche Erntezeit guterWerke ist, werdet ihr im Namen Gottes ermahnt, sorgsamer dem Gebet,dem Almosen und der Buße zu obliegen und euch dadurch auf dieheilige Beichte und Osterkommunion vorzubereiten, zur Ehre Got-tes und zum Heil eurer Seele.

Rechtfertigung von Riten

An Unbekannte (OEA XVI,81-83) Annecy, Oktober 1613.

Meine Herren, ich habe erfahren, daß ihr Anstoß daran nehmt, daßman euch die Ablution nach der Kommunion in einem Glas reicht18

und daß man die Brautleute zur Eheschließung vor den Altar führt.Deshalb wollte ich euch diese zwei Worte schreiben, um euch zu er-mahnen, daß ihr euch nicht selbst das Unrecht zufügt, zu glauben,was unsere Mutter Kirche anordnet, könnte schlecht oder unnütz sein.

Nun ordnet sie an, daß die Laien die Kommunion nur unter derGestalt des Brotes empfangen, durch die sie dennoch ganz am Leibund Blut Unseres Herrn teilhaben, genau so, als empfingen sie diese

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auch unter der Gestalt des Weines, da der Erlöser selbst (Joh 6,56f)gesagt hat: Wer mich ißt, wird durch mich leben; und: Wer dieses Brotißt, wird ewig leben. Was daher das Volk nach der Kommunion trinkt,ist nicht das Blut des Erlösers, sondern lediglich Wein, den mannimmt, um den Mund zu spülen und den kostbaren Leib und das Blut,die man schon in der heiligen Kommunion empfangen hat, ganz zuschlucken. Daher muß dieser Wein nicht im Kelch gereicht werden,sondern in einem anderen Gefäß, entweder aus Glas oder aus einemanderen Material. Wenn es früher anders gemacht wurde, dann ge-schah es mißbräuchlich aus Nachlässigkeit und Bequemlichkeit derDiener der Kirche, gegen die Absicht der Kirche selbst.

Und was die Eheschließung betrifft, ist es nicht angemessen, sieanderswo als vor dem Altar zu feiern, weil sie ein großes Sakrament(Eph 5,32) ist und weil jene, die es empfangen, nicht außerhalb derKirche sind, wie die kleinen Kinder, die man zur Taufe bringt, dennsie sind bereits getauft und folglich in die Kirche und zum Altar ge-führt.

Meine Freunde und Brüder, laßt euch daher als gute Schafe vondenen führen, die euch unter meiner und des heiligen ApostolischenStuhles Autorität als Hirten gegeben sind. Und Gott segne euch, wieich ihn bitte und von ganzem Herzen bin Euer wohlgewogener undim Herrn ganz ergebener

Franz, Bischof von Genf.

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IV. Führung und Förderung der Seelsorger

Die Dokumente über die Leitung der Seelsorge lassen manchen Rück-schluß auf die Zustände und den Stand des Klerus zu, wie sie zur Zeit deshl. Franz von Sales ziemlich allgemein und zum Teil auch in seiner Diözeseherrschten. In der Unwissenheit vieler Priester und in ihrem Lebenswandelsah er einen der Gründe für die Erfolge der protestantischen Reformation(s. Band 10, S. 388). Schwerwiegende Mißstände ergaben sich unter ande-rem auch durch die Art, wie Benefizien und Pfarreien vielfach verliehenwurden.

Daher galt die Sorge des Bischofs von Anfang an der Hebung des Prie-sterstandes und seiner Ehre. Dabei konnte er sich auf eine kleine Elitegelehrter und vorbildlicher Priester stützen, denen er wichtige Seelsorge-aufgaben übertrug und sein ganzes Vertrauen schenkte. Für sein Programmkonnte er an die Initiativen seines Vorgängers anknüpfen (an denen er zumTeil maßgeblich mitgewirkt hatte). Durch seine geduldigen Bemühungen,die auch von Schwierigkeiten und Enttäuschungen begleitet waren, hat erim ganzen doch erreicht, daß man den hohen Stand seines Klerus allgemeinbewunderte.

1. Ermahnung zum Studium19

– – – Diejenigen von euch, die sich Beschäftigungen widmen, die sieam Studium hindern, machen es wie jene, die entgegen der grobenNatur ihres Magens leichte Speisen essen wollen. Daher kommt es,daß er allmählich schwach wird. Ich kann euch in Wahrheit sagen,daß kein großer Unterschied ist zwischen der Unwissenheit und derBosheit; trotzdem ist die Unwissenheit mehr zu fürchten, weil sieeinem nicht nur selbst schadet, sondern bis zur Verachtung des geist-lichen Standes führt.

Deshalb, meine vielgeliebten Brüder, beschwöre ich euch, euch demStudium zu widmen, denn die Wissenschaft ist für einen Priester dasachte Sakrament der Hierarchie der Kirche, und ihr größtes Übel istdaher gekommen, daß sich die Bundeslade in anderen Händen als indenen der Leviten befand (vgl. 1 Sam 4,3ff). Daher hat unser erbärm-liches Genf uns überrumpelt, als es merkte, daß wir infolge unseresMüßiggangs nicht auf der Hut waren und uns damit begnügten, ein-fach unser Brevier zu beten, ohne daran zu denken, gelehrter zu wer-den. Da täuschten sie die Einfalt unserer Väter und Vorfahren undmachten sie glauben, daß bisher niemand die Heilige Schrift recht

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verstanden habe. Während wir schliefen, hat auf diese Weise der Feinddas Unkraut auf den Acker der Kirche gesät (Mt 13,25ff) und hat denIrrtum einschleichen lassen, der uns entzweit und in diesem ganzenLand Feuer gelegt hat.

Dieses Feuer hätte euch und mich mit vielen anderen verzehrt, hät-te nicht die Güte Gottes diese starken Geister erweckt, ich will sagendie hochwürdigen Patres Jesuiten, die sich den Häretikern entgegen-stellten und uns in unserem Jahrhundert glorreich siegen lassen. Wirverdanken es der Barmherzigkeit des Herrn, daß wir nicht verschlun-gen wurden (Klgl 3,22). Diese großen Männer begannen einzig in derKraft desjenigen, dessen Namen sie tragen, diese Partei zu teilen zueben der Zeit, als Calvin die Wirklichkeit vom Vermächtnis zu tren-nen gedachte, das Gott uns hinterlassen hat. Deshalb wurden sie vonden Häretikern bedrängt, aber noch empfindlicher unterdrückt vondenen, die nur scheinbar unsere Brüder sind. Sie litten und leidennoch unter Verfolgungen, die alle von Genf ausgingen. Doch ihr un-verwüstlicher Mut, ihr furchtloser Eifer, ihre Liebe, ihre profundeGelehrsamkeit und das Beispiel ihres heiligen Ordenslebens gabenihnen nach einer Offenbarung ihres heiligen Gründers die Gewiß-heit, daß diese Stürme ein Jahrhundert dauern, sie aber dann sieg-reich über den Irrtum und die Häretiker sein werden. So sehen wirschon, daß man in dem Maß aufhört, ihre Unschuld zu bedrängen, alsdie Sekte der Calviner verfällt. So läßt der allgemeine Haß nach, dendie Erzhäretiker in der Volksseele gegen sie geschürt hatten. Das sindDummköpfe, die die Waffe der Verleumdung gegen sie richten, wäh-rend sie bei ihren ständigen Studien die Bücher verschlingen. Wäh-rend sie endlose Schmähungen und Beschimpfungen ertragen, habensie unseren Glauben und alle heiligen Geheimnisse unseres Glau-bens begründet und gesichert. Und noch jetzt erfüllen sie durch ihregroßartige Arbeit die Welt mit gelehrten Männern und zerstören al-lerorts die Häresie.

Da mich die göttliche Vorsehung ungeachtet meiner Unfähigkeitzu eurem Bischof bestellt hat, fordere ich euch auf, alles Gute zustudieren, damit ihr gelehrt und durch guten Lebenswandel untadeligund fähig seid, allen Antwort zu geben, die euch über Dinge des Glau-bens fragen.

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2. Über ein Lehrbuch der Theologie20

– – – Mit größter Freude habe ich den Plan Ihrer ‚Summa Theolo-giae‘ gesehen, der nach meiner Meinung gut und sinnvoll gemacht ist.Wenn Sie mir die Gunst erweisen, mir ein Heft zu schicken, werdeich es liebevoll lesen und werde Ihnen freimütig und aufrichtig meineMeinung sagen, was es auch koste. Um Ihnen aber jetzt eine Probedavon zu geben, sage ich Ihnen, Sie sollten soviel als möglich allemethodischen Ausdrücke beschränken; man muß sie zwar verwen-den, wenn man lehrt, doch wenn man schreibt, sind sie überflüssig,und wenn ich mich nicht täusche, störend.

Ist es z. B. notwendig zu schreiben: „In dieser Schwierigkeit begeg-nen uns drei Fragen. Die erste Frage ist nämlich, was die Prädestina-tion ist; die zweite, wen die Prädistination betrifft; die dritte“ etc. DaSie nämlich sehr methodisch vorgehen, wird man wohl sehen, daß Siediese Dinge nacheinander behandeln, ohne daß Sie es vorher ankün-digen.

Ebenso: „In dieser Frage gibt es drei Meinungen: die erste Meinungist“, etc. Genügt es denn nicht, den Bericht über die Meinungen ohneVorrede zu beginnen, mit einer vorausgehenden Ziffer, in der Weise:„1. Scotus, Mayronis und ihre Anhänger ... 2. Occam, Aureolus unddie Nominalisten ... 3. Die Heiligen Thomas, Bonaventura dagegen...“ und so die übrigen?

Dann, statt zu sagen: „Es muß auf drei Schlußfolgerungen geant-wortet werden, deren erste heißt ...,“ genügt es doch zu sagen: „Dahersage ich: 1 ...: 2. sage ich ..., 3. sage ich ...“

Dasselbe gilt von Vorreden, um den Gegenstand weiterzuführen:„Nachdem wir Gott den Einen behandelt haben, ist es angemessen,nun von Gott dem Dreifaltigen oder von der Trinität zu sprechen“,etc. Das ist gut für Leute, die ohne Methode vorgehen oder die esnotwendig haben, ihre Methode kenntlich zu machen, weil sie unge-wöhnlich oder verzwickt ist. Nun, das würde sehr dazu beitragen, daßIhre ‚Summa‘ nicht zu umfangreich wird. Dadurch wird sie Mark undBein und meiner Meinung nach schmackhafter und angenehmer sein.

Ich füge hinzu, daß es eine Menge ganz unnützer Fragen gibt, ohnedaß sie der Abhandlung Profil gäben. Es besteht sicher kein großesBedürfnis zu wissen, „ob die Engel an einem Ort sind durch ihr We-sen oder ihr Wirken; ob sie sich von einem Ort zum anderen ohneZwischenraum bewegen“, und ähnliches. Obwohl ich wünschte, daß

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man nichts auslasse, so scheint es mir bei solchen Fragen zu genügen,wenn Sie Ihre Auffassung gut ausdrücken und sie richtig begründen;dann können Sie am Schluß oder am Anfang einfach sagen, daß „derund der anders gedacht haben“. Dadurch können Sie mehr Raum ge-winnen, um sich ausführlicher mit wichtigen Dingen zu befassen, überdie Sie Ihren Leser gut zu belehren trachten müssen.

Item: ich weiß, wenn Sie wollen, haben Sie einen affektiven Stil,denn ich erinnere mich sehr gut Ihres ‚Benjamin der Sorbonne‘. Ichwürde es befürworten, daß Sie da, wo es gut geschehen kann, die Be-gründung für Ihre Auffassung in diesem Stil ausführen; etwa in derFrage „ob Christus Fleisch angenommen hätte, wenn Adam nicht ge-sündigt hätte“. Für die eine und die andere Auffassung kann man dieMeinungen in affektivem Stil anführen. In der Frage, „ob die Vorher-bestimmung nach den vorhergesehenen Verdiensten geschieht“, kannman die Argumente in affektivem Stil darstellen, ob man nun derAuffassung der Väter vor Ambrosius folgt oder sich an die des hl.Augustinus hält, an die des hl. Thomas oder anderer; ohne sie breitauszuführen, sondern indem man sie zusammenfaßt. Und statt zu sa-gen: „Die zweite Begründung wird sein“, kann man einfach die Zahlzwei davorsetzen.

Übrigens ist es eine große Bereicherung, mehrere gute Autoritätenanzuführen, wenn sie prägnant und kurz sind; wenigstens mit einemHinweis.

Nun denn, mein lieber Pater, was halten Sie von meinem Herzen?Ist es nicht aufrichtig gegen das Ihre? Aber glauben Sie mir, daß ichnoch nicht so einfältig bin, daß ich mit einem anderen so umginge.Ich erinnere mich Ihrer natürlichen, geistigen und übernatürlichenFreundlichkeit; meine Vorstellung ist erfüllt von Ihrer Liebe, die al-les erträgt (1 Kor 13,7), daß Sie gern die Törichten ertragen, da Sieselbst weise sind (2 Kor 11,19). Ich habe daher in meiner Torheitgeschrieben.

Gott lasse Sie in seiner Liebe wachsen. In ihm bin ich bis zumäußersten, mein lieber Pater, Ihr sehr demütiger und ergebener Bru-der und Diener

Franz, Bischof von Genf.Von Annecy, am 15. November.

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3. Vorsorge für gute Seelsorger

Es ist vernünftig, die Sorge für ein Amt dem zu übertragen, der esam wenigsten mißbrauchen kann. Und wenn ich Einfluß bei den Gro-ßen hätte, würde ich das Gewissen dem Wissen und dem Rang derFamilie vorziehen; und keiner bekäme ein Amt in der Kirche, dernicht von Lastern befreit ist, die ihn zerrüttet haben. Ich würde dieWürden denen verleihen, die sie fliehen, nicht denen, die ihnen nach-laufen; ich würde aber keinen Priester befördern, wie es ein Königvon Frankreich gemacht hat, der in der Kirche schläft. Alle Anwär-ter, die ihr Glück im Reich Jesu Christi suchen, bekunden offensicht-lich, daß sie dafür ungeeignet sind und des Ehrgeizes schuldig. Siesuchen nicht die Gerechtigkeit Gottes, sagt der hl. Paulus im Römer-brief (10,3), sondern ihren eigenen Vorteil (Phil 2,21).

Jene, die sagen, man müsse vakante Stellen besetzen und sie Ge-lehrten geben, sagen damit nicht genug, wenn sie nicht hinzufügen:„und Demütigen“. Denn das Wissen bläht auf (1 Kor 8,1) und darfnur in dem Maße gewertet werden, als es fruchtbringend für das Heilist.

Es gibt viele Stufen, bevor man zum Gemach der wahren Gelehr-samkeit gelangt. Man muß vorbeigehen an jenen, die wissen wollenum des Wissens willen; man nennt sie Wißbegierige. Von da kommtman zu jenen, die wissen wollen, um als Weise zu gelten; die nenntman eitel; dann zu jenen, die wissen wollen, um das Wissen zu ihremGebrauch und zu ihrer Annehmlichkeit heranzuziehen; die kann manhabsüchtig nennen; hierauf zu jenen, die wissen wollen, um zu erbau-en; hier ist die Liebe. Aber es ist der Gipfel, wissen zu wollen, umerbaut zu werden, denn hier ist das Gemach der wahren Gelehrsam-keit. – – –

Es ist eine Tatsache, daß die guten Pfarrer nicht weniger notwendigsind als die guten Bischöfe. Die Bischöfe arbeiten vergebens, wennsie nicht sorgsam darauf bedacht sind, ihre Pfarrkirchen mit from-men Pfarrern von vorbildlichem Lebenswandel und ausreichenderGelehrsamkeit zu besetzen. Sie sind ja die unmittelbaren Hirten, dieden Schafen vorangehen (Joh 10,4), sie den Weg zum Himmel lehrenund ihnen das Beispiel geben sollen, dem sie folgen müssen. Die Er-fahrung hat mich gelehrt, daß sich das Volk leicht zu Übungen derFrömmigkeit bereitfand, wenn es Geistliche hatte, die es durch dasWort Gottes und ihr gutes Beispiel anspornen, das Laster zu fliehen

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und die Tugend zu ergreifen. Umgekehrt wandte sich das gewöhnli-che Volk sehr leicht von der Übung der christlichen Tugend ab, wennseine Priester unwissend waren, von geringer Sorge für das Heil derSeelen und von schlechtem Lebenswandel.

Angesichts der weit verbreiteten Mißstände waren diese grundsätzlichen Ge-danken (OEA XXIII,398-401) für Franz von Sales verbindlich bei der Zulas-sung zu den Weihen, bei der Verleihung von Benefizien und der Ernennung vonPfarrern.

Da es noch kein Priesterseminar gab, waren eigene Examinatoren aufgestelltund Franz von Sales prüfte die Weihekandidaten auch selbst über das erforder-liche theologische Wissen. Er zögerte nicht, sie zurückzuweisen, wenn er esungenügend fand (vgl. Band 8,250). Für die übrigen Voraussetzungen, wie Un-terhaltstitel, Weihehindernisse, Lebenswandel, war man weitgehend auf dasZeugnis des Heimatpfarrers angewiesen (vgl. Nr. 6 der Bestimmungen der Syno-de von 1617).

Um die Nachteile auszuschalten, die durch fremde Einflüsse auf die Verlei-hung von Benefizien und die Besetzung von Pfarreien entstanden, stützte sichFranz von Sales auf den vorgeschriebenen Konkurs, d. h. die Eignungsprüfungvor den dazu bestellten Examinatoren, die vor der Synode vereidigt wurden.Darauf berief er sich auch adeligen Protektoren und Beamten seines Landes-herrn gegenüber (s. Band 8,121.177.249). In einem Brief an Claude de Quoeux(OEA XIX,118-120) verteidigte er die Rechte des Bischofs und die Interessender Seelsorge gegen einen jungen Priester, der sich die Pfarrei seines verstorbe-nen Onkels aneignen wollte:

Mein Herr,meine geringste Sorge ist, was aus dem Nachlaß des verstorbenen

Herrn Gras wird; und wenn Sie das Recht des Bischofs ein wenigberücksichtigen, werden Sie Herr über alles sein, was davon abhängt,wie über alles andere, was meiner Person zusteht. Aber daß ein Pries-ter ohne echte oder fingierte Verleihungsurkunde sich mit Gewalteiner Pfarrei bemächtigt und die Autorität des Bischofs nicht aner-kennen will, daß er den Vermögensverwalter abweist, der rechtmäßiggeschickt ist, und verhindert, daß der Bischof ein Inventar dessenmachen läßt, was sich in einem Priesterhaus befindet, es als Miß-brauch einer ganz rechtmäßigen Autorität bezeichnet, als ob mir nichtwenigstens die Sorge für die Benefizien meines Amtsbereichs zustün-de, solange sie vakant sind, bis sie besetzt werden: das alles kann ichnicht gutfinden, nicht anständig und erträglich.

Wenn Herr Gras mir seine rechtmäßige Anstellung vorweist, werdeich sie nicht mißachten und ihr getreu den Wert beimessen, den sieverdient, denn ich kenne den Respekt, der den Rechten und Handlun-

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gen des Generaloberen von Geistlichen gebührt. Bis dahin aber willich der Herr sein, weil ich einen guten Rechtstitel habe, er dagegenkeinen für sich noch gegen mich. Denn wenn es erlaubt ist, das recht-mäßige und ordentliche Vorgehen der Bischöfe auf dem Weg der Tat-sachen auszuschalten, welche Mißstände werden wir nicht daraus ent-stehen sehen? Ich werde mich zurückziehen, wenn es Zeit dazu ist,aber für jetzt kann und darf ich es nicht, und will folglich mein Rechtnicht abtreten, die Anordnung zu treffen, die ich bei diesem vakantenBenefizium für gut halte, in der Erwartung, daß es besetzt wird. Undich will auf keinen Fall, daß jene, die sich dem widersetzen, dort dieSakramente spenden. Ich habe einen Priester bestimmt, der morgenhingeht, um zu verhindern, daß diese Leute nicht mit dem versorgtwerden, was in dieser Hinsicht für sie notwendig ist.

Ich schätze die Herren Gras, um so mehr, als einer von ihnen inIhren Diensten steht; aber ich bin verpflichtet, den Respekt aufrecht-zuhalten, der der Autorität gebührt, die mir übertragen ist, und ihrGeltung zu verschaffen, wo es notwendig ist. In dieser Absicht habeich mich an den Senat gewandt, um in den Besitz des Inventars zukommen und um die Berufung wegen Mißbrauchs abzuwenden, da-mit ich eines Besseren belehrt werde, falls ich meine Autorität miß-brauche, oder erreiche, daß diejenigen eines Besseren belehrt wer-den, die meinen, daß ich sie mißbrauche.

Mein größter Kummer wäre, wenn ich Ihnen dabei irgendwie Ver-druß bereite; aber ich will und kann das nicht glauben, denn meineAbsicht ist gut und ohne Gehässigkeit, und Sie lieben mich ständig,der ich unwandelbar bin, mein Herr, Ihr sehr demütiger Diener undGevatter,

Franz, Bischof von Genf.31. Januar (1620)

Der Bischof hielt sich an die Entscheidung der Examinatoren. Seine Einfluß-nahme beschränkte sich auf Informationen und Vorschläge im Interesse der Seel-sorge, wie in den folgenden Briefen an seinen Bruder Jean-François und an dieExaminatoren.

OEA XVII,48-52. 6. September 1615.Mein teuerster Bruder und Freund,

Dom Juste ist gestern abgereist und bringt Ihnen Briefe von mir;aber nachher habe ich den erhalten, den Sie mir geschrieben habenwegen der Schwierigkeit, die sich beim Konkurs ergeben muß. Ich

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weiß nicht, ob jener, der ihn machen muß, seine Dispens von zweiIrregularitäten besitzt, von denen eine naturgegeben ist, weil er un-ehelich geboren ist, die andere erworben, um als ‚in criminibus‘ be-trachtet zu werden, wie man annehmen muß. Die geringste Notiz, dieman darüber auf den Tisch legte, würde ihn vom Konkurs ausschlie-ßen; und wenn man sie nicht vorlegte und er als der Geeignetste beur-teilt würde, die Pfarrei zu bekommen, darf man ihn auf keinen Fallzur Einsetzung annehmen. Das ganze Übel wird in diesem Fall imGekeife bestehen; dabei muß man würdevoll und ruhig bleiben undnichts darauf erwidern als: Die Stimmenmehrheit hat entschieden.Wenn er aber die Dispens besäße, hätte er Unrecht zu glauben, daß indiesem Wettbewerb das Wissen allein den Ausschlag gibt. Und manmuß sich stets an die Stimmenmehrheit halten, die unanfechtbar istfür den, dem sie gilt, besonders dann, wenn sie ihm nicht gegebenwird.

Ich habe trotzdem an Herrn Grandis geschrieben, damit er womög-lich zu Hilfe komme; ich habe aber wenig Hoffnung, daß er es derzeitkann. Deshalb sage ich schließlich: Wenn diese Pfarrei bis zum Tagder Ausschreibung besetzt werden könnte, wäre ich sehr erleichtertund ich wünsche es sehr. Wenn aber die Schwierigkeiten unüberwind-lich scheinen, könnte man die Entscheidung bis zu meiner Rückkehrverschieben, die sobald wie möglich sein wird. Aber diese Verzöge-rung darf nur im äußersten Fall eintreten, und wegen der schon in derVersammlung aufgetretenen Schwierigkeit, nicht aus Angst vor derSchwierigkeit. Ich glaube, daß sie wegen des Herrn Chevrier entste-hen wird.

Das Gehalt für den Pönitentiar müßte wohl diese Aufregung ver-hindern. Und was dieses Gehalt betrifft, muß man es in der Weisebestimmen, daß derjenige, dem die Pfarrei zugesprochen wird, sienicht in Besitz nehmen kann, wenn er nicht durch aktenkundige Zu-stimmung erklärt, daß er dieses Benefizium übernimmt mit diesergerechten Auflage, die durch meine Autorität und den Rat der Ex-aminatoren gemacht wurde. Es wird auch günstig sein, wenn mangleichzeitig mit der Einsetzung einen bestimmten Betrag des Abzugsfür das genannte Gehalt des Pönitentiars festsetzt, ohne daß er etwasmit dem Pfarrer zu tun hat. Der menschliche Geist ist ja so widerwär-tig in allem, was im geringsten seinen Vorteil betrifft, daß man aufandere Weise schwerlich dieses kleine Einkommen für den Pöniten-tiar sichern könnte.

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Wenn der Pfarrer von Mieussy gestorben ist, könnte man wohl denHerrn von Monfalcon begünstigen mit der Auflage, daß er tüchtigeVikare einsetzt, solange er zur Fortsetzung seiner Studien von derResidenzpflicht dispensiert sein wird. Es bedarf ja besserer Vikare,wo der Pfarrer nicht residiert. Und weil das Kapitel selbst daran in-teressiert ist, könnte es dafür sorgen, daß sie deswegen schnell geprüftwerden. Doch das sage ich nur als Vorschlag, da ich überzeugt bin,daß die Liebe diese Herren verpflichtet, die Ärmeren unter ihnen beiGelegenheit zu berücksichtigen und solche, die schon genügend Jah-re haben. Ich schreibe auf jeden Fall an die Herren des Konkurseswegen des Gehalts für den Pönitentiar ...

OEA XVII,53f. 6. September 1615.

Meine Herren,Ihr erinnert euch, dessen bin ich sicher, an den Beschluß, den wir

gefaßt haben, als wir fast alle beisammen waren, ein Einkommen fürden Pönitentiar unserer Kathedrale einzubehalten bei der ersten Va-kanz einer Pfarrei, die das tragen kann. Dieser Beschluß ist gerecht,angemessen und im Einklang mit dem Konzil. Aus Anlaß der Vakanzvon Gruffy bitte ich euch, dieses Reservat bis zur Höhe von 200 Gul-den zu machen. Und um Streitigkeiten zu vermeiden, die der Eigen-nutz bei solchen Gelegenheiten zu erregen pflegt, wünsche ich, daßman bei der Einsetzung des künftigen Pfarrers einen Betrag des Ab-zugs festsetzt, der dem erwähnten Pönitentiar angewiesen wird, derihn unmittelbar erhält.

Ich weiß, daß auch eine gewisse Schwierigkeit entstehen wird beider Zulassung des Herrn Jay zum Konkurs, zumal die Begründung,warum wir ihn ohne Konsequenzen von der Regel der auf ihre PfarreiResignierenden ausnehmen zu können glaubten, der Grundlage zuentbehren scheint, weil sich der öffentliche Nutzen nicht ergab, denwir davon wünschten. Da ihn aber daran keine Schuld trifft und ergroßen Nachteil hätte und allen Grund, sich zu beklagen, er sei durchunsere Zusage getäuscht worden, glaube und wünsche ich, er soll mitden übrigen zugelassen werden. Ich glaubte euch diesen Rat geben zumüssen und bin sicher, daß ihr ihm folgen werdet. – – –

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4. Mitarbeiter im geistlichen Amt

In der zum guten Teil sehr schwierigen Seelsorge stützte sich Franz von Salesauf seine ‚Brüder‘ im geistlichen Amt, vor allem auf sein Domkapitel, das ‚einHerz und eine Seele‘ mit ihm war (s. Band 8,258). Zu zahlreichen Priesternhatte er ein vertrauensvolles Verhältnis; ihnen übertrug er oft schwierige Po-sten. Etienne Dunant, der schon im Chablais sein Mitarbeiter war, setzte er inGex ein und ermunterte ihn zum Durchhalten:

OEA XIV,65-67 25. September 1608

Mein Herr und teuerster Mitbruder!Verzeihen Sie mir bitte, daß ich so spät auf Ihren ersten Brief ant-

worte, den Sie mir schon früher geschrieben haben; das gleiche giltfür die anderen, deren Empfang mir ein Trost ist. Aber ich hatte beimeiner Abreise so viel zu tun, daß ich keine Muße fand, um dieserVerpflichtung gegen Sie nachzukommen; außerdem war ich mir Ih-rer Liebe sicher, die diese Verzögerung im guten Sinn auslegen wird.

Ich bleibe stets dabei, Ihnen zu sagen, daß Sie Gott dienen müssen,wo Sie sind, und facere quod facis (tun, was Sie tun). Nein, meinlieber Bruder, nicht daß ich ein Wachstum Ihrer guten Übungen undeine ständige Läuterung Ihres Herzens ausschließen wollte; aber tunSie, was Sie tun, und besser, als Sie es tun. Ich weiß ja sehr wohl, wasGott allen seinen Getreuen in der Person Abrahams (Gen 17,1) ge-bietet: Wandle vor mir und sei vollkommen; und: Selig sind, die aufden Wegen des Herrn wandeln (Ps 128,1); daß unsere Väter aufbra-chen und gingen (Ps 126,6) und in ihrem Herzen den Aufstieg erwo-gen, um von Tugend zu Tugend (Ps 84,6.8) fortzuschreiten.

Haben Sie also guten Mut, diesen kleinen Weinberg zu bearbeitenund durch Ihre geringe Arbeit zum geistlichen Wohl der Seelen bei-zutragen, die sich Gott vorbehalten hat, damit sie das Knie nicht vorBaal beugten (1 Kön 19,18; Röm 11,4) inmitten eines Volkes, dasseine Lippen befleckte (Jes 6,5). Wundern Sie sich nicht, wenn sichnoch keine Früchte zeigen, denn wenn Sie geduldig das Werk Gottesverrichten, wird Ihre Arbeit vor dem Herrn nicht vergeblich sein (1Kor 15,58).

Wohlan, mein Herr, Gott hat uns mit der süßen Milch vieler Trö-stungen genährt, damit wir, groß geworden, uns bemühen, beim Wie-deraufbau der Mauern Jerusalems (Ps 51,20) zu helfen, indem wirentweder Steine schleppen oder den Mörtel rühren oder mauern (vgl.1 Sam 5,15ff). Glauben Sie mir, halten Sie dort aus; tun Sie getreu

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und redlich alles, was Sie moralisch leisten können, und Sie werdenerfahren: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes schauen(Joh 11,40). Und wenn Sie es gut machen wollen, dann halten Siealles für eine Versuchung, was Ihnen in den Sinn kommen mag, umIhre Stelle zu wechseln; denn während Ihr Geist nach einer anderenAusschau hält, wird er sich nie damit befassen, da nützlich zu sein, woSie jetzt sind.

Wohlan, das alles sei gesagt in dem Vertrauen, das Sie mir in IhremBrief schenken, und in der aufrichtigen Freundschaft, die ich Ihnenentgegenbringe im Herzen dessen (Phil 1,8), dessen Seite aus Liebezu uns durchbohrt wurde. Ich bitte ihn, daß er den Eifer für seineEhre immer mehr in Ihnen festige, und bin von Herzen Ihr demütigerund sehr ergebener Mitbruder und Diener

Franz, Bischof von Genf.Von Sales, am 25. September 1608.

Im Vertrauen auf seine Mitarbeiter übertrug der Bischof auch gern Vollmach-ten, allgemein den ‚Aufsehern‘, wie die Ernennungsurkunde für den Domherrnde L’Espine (OEA XXIV,153-156) zeigt, wie die Synodalkonstitutionen und dieWeisungen für die Beichtväter bestätigen, und in konkreten Fällen, wie im Briefan den Abt Vespasian Ajazza von Abondance.

OEA XXIV,153-156. 12. April 1617.Franz von Sales, durch Gottes und des Apostolischen Stuhles Gna-

de Fürstbischof von Genf, Unserem in Christus geliebten François deL’Espine, Domherr der Kathedrale von Genf, Heil und Liebe im Her-zen Christi.

Die Ausdehnung dieser Diözese und die Vielfalt der Aufgaben istso groß, daß ich von der Last der Seelsorge bedrückt, nach dem hl.Gregor mit Recht das Psalmwort (38,7; 119,107) in Anspruch neh-men kann: Ich bin gebeugt und von allen Seiten niedergedrückt; ausähnlichem Grund sagte ja Mose (Ex 11,14): Ich kann nicht alleindieses ganze Volk tragen, denn es ist schwer.

Deshalb müssen aus der Zahl meiner Brüder im Priesteramt einigeausgewählt werden, die ich, wie Mose (Num 11,16f) gesagt wurde, alsder Gesinnung und dem Geist nach als Älteste des Volkes kenne,damit sie mit mir die Last des Volkes tragen und nicht ich allein damitbeschwert sei, der ich sehr schwach bin (1 Kor 11,30).

Ich glaubte und wollte, daß Sie, mein Bruder, einer von ihnen seinsollen, da ich zu Ihrer Rechtschaffenheit, Ihrem Eifer und Ihrer Klug-

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heit großes Vertrauen habe. So übertrage und empfehle ich Ihnen,soviel ich vor dem Herrn vermag, deswegen die besondere Sorge undSorgfalt für die Kirchen, die Sie unten namentlich aufgezählt finden.Kraft dieses Dekretes werden Sie diese wenigstens zweimal im Jahrvisitieren. Wenn in ihnen etwas fehlt oder in schlechtem Zustand ist,werden Sie anordnen, daß es ersetzt und wiederhergestellt wird; wennbei Geistlichen etwas der Besserung bedarf, werden Sie es verbes-sern; ist aber eine stärkere Zurechtweisung notwendig, werden Sie esmir vortragen ...

Außerdem können Sie in den Uns reservierten Fällen absolvieren,von Feiertagen und von der Einhaltung des vierzigtägigen Fastensdispensieren, wo eine Notwendigkeit oder ein rechtmäßiger Grundvorliegt, Gelübde umwandeln, aber nicht von ihnen dispensieren. Siekönnen auch Gewänder, Gefäße, Korporalien und andere Dinge, dieGott geweiht werden, segnen und weihen, wenn dafür nicht Chrisamerforderlich ist.

Schließlich sollen Sie sorgfältig über das allgemeine Wohl der Ih-nen anvertrauten Kirchen wachen, so daß Sie einer von denen sind,die in ihrem Gebiet wachen und Tag und Nacht Wache halten über dieHerde. Und der Engel des Herrn wird über Ihnen stehen und die Herr-lichkeit Gottes wird Sie umstrahlen (Lk 2,8f). Auf diese Weise werdenSie mich aufrichten und stützen, der unter der Last gebeugt ist, und ingegenseitigem Bemühen verbunden werden wir gleichsam einanderan der Hand haltend den schlüpfrigen Weg gehen. So werden die Füßebeider um so kräftiger ausschreiten, je stärker sich einer auf die Liebeund das Vertrauen des anderen stützt.

Damit aber alle, die es betrifft, wissen, daß Sie die genannten Auf-gaben erfüllen können, haben Wir es eigenhändig unterzeichnet undUnser Siegel aufprägen lassen.

Annecy, am 12. April 1617.Franz, Bischof von Genf.

OEA XIII,48-50. Annecy, 1. Juni 1605.Mein Herr,

Die Glockenweihe ist ohne Zweifel nach dem allgemeinen RechtSache des Bischofs, wie alle anderen Dinge, die mit Öl gesalbt wer-den, nur von ihm geweiht werden können, sei es, daß eine solche Seg-nung von der Bischofsweihe abgeleitet wird oder ihm wegen der Wür-de vorbehalten ist. Doch überall diesseits der Alpen, wo die Diözesen

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sehr groß und verwickelt sind, hat die Gewohnheit dazu geführt, daßdie Bischöfe „einen würdigen Priester“ dazu bestimmen können, wievon unserem Metropoliten Pierre de Villars in der ‚Institution derPfarrer‘ ausdrücklich bestimmt wurde. Auf seine Autorität berufe ichmich nicht nur, weil er unser Vorgesetzter ist, sondern weil er auchsehr gelehrt und eine große Persönlichkeit ist. Und um die Wahrheitzu sagen, mir scheint, daß man in diesen Fragen der Zeremonien ohnegroße Gefahr der Auffassung folgen kann, die unser Amt erleichtert;erst recht in Gebieten, wo wegen der großen Zahl der Pfarreien dieUngelegenheit groß wäre, sich mit allen Handlungen solcher Art zubefassen.

Machen Sie sich also die Mühe, mein Herr, im Namen des Herrndie erforderliche Weihe in Ihrer Kirche vorzunehmen, und nicht nurin diesem Fall und in dieser Sache, sondern in allen ähnlichen Fällen,in denen der Bischof von Rechts wegen oder durch Gewohnheit dele-gieren kann. Und darüber hinaus, wenn es Ihnen zu beschwerlich ist,sich selbst damit zu befassen, dann beauftragen Sie damit, wen Sie fürgut finden, denn ich betrachte ihn als beauftragt und gebe meine Zu-stimmung. – – –

Es gab verschiedene Mißstände im Klerus der Diözese, die sich zum Teilhartnäckig hielten, wie die wiederholten und dann meist verschärften Be-stimmungen der Synodal-Konstitutionen beweisen. Manchmal war der Bi-schof machtlos, wie im Fall eines Geistlichen, der zugleich Gesandter desHerzogs war (s. Band 8,195), oder im Fall des skandalösen Dekans von Sallan-ches (Band 8,254f). Größten Schmerz bereitete Franz von Sales der Abfalleines Neffen seines Vorgängers, Denis de Granier (vgl. Band 8,321.323;Band 5,350).

Kamen dem Bischof Klagen zu Ohren, dann ließ er Erkundigungen anstel-len (vgl. Band 8,245) oder lud den Priester selbst vor (vgl. Band 8,175) odersorgte für Abhilfe, so gut es ging, wie in dem Brief an den Baron von Cusy:

OEA XVI,202f. Annecy, 8. August 1614.Mein Herr, ich werde sehr erleichtert sein, wenn euer Pfarrer abwe-

send ist, denn er ist einer von denen, deren Anwesenheit für die Her-de schädlicher ist als die Abwesenheit; und ich würde seine Beurlau-bung gern ausdehnen, bis er besser und älter ist, aber das würde ihnerzürnen. Was die Ernennung eines Vikars betrifft, habe ich einenernannt; wenn er sich entschließen will, bin ich sicher, daß er euchzufriedenstellen wird. Wenn er nicht will, werde ich bis Dienstag se-hen, was ich tun kann, um euch mit einem guten zu versehen ...

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Grundsätzlich nahm Franz von Sales seine Priester gegen Beschuldigungen inSchutz, solange ihre Schuld nicht feststand. Einem Geistlichen gab er in einemBrief Ratschläge für das Verhalten gegen Verleumdungen:

OEA XX, 229f. Annecy, 1621 oder 1622.Mein Herr,

schon drei Tage vor der Ankunft des guten Eremitenbruders in die-ser Stadt, den ich recht nach meinem Geschmack finde, hatte ich vonder ärgerlichen Geschichte gehört, über die er mir in Ihrem Auftragberichtete. Und wie es mir sehr schwer fällt, wenn ich von einer be-deutenden Persönlichkeit einen guten Eindruck gewonnen habe, michdavon loszumachen, so erlaube ich diesem üblen Bericht nicht, inmeinen Geist einzudringen, sondern halte ihn an der Pforte auf, ent-sprechend dem alten Rat:

Wen man zu leicht durch Verleumdung erfreut,der hat entweder kein Urteil oder eine boshafte Seele.Trotzdem versetzt mich der Fall Salomos, an den ich oft denke, in

große Sorge, das versichere ich Ihnen. Und ich war sehr erleichtert,als mir der gute Bruder berichtete und als ich das über jeden Einwanderhabene Zeugnis des Herrn Erzdiakons sah, dessen Aussage größtenRespekt verdient. Nun denn, Gott sei gepriesen.

Und hier ist mein Rat. Erstens: Wie mir der Bote berichtet und IhrBrief anzeigt, ist die Verleumdung noch nicht in die breite Öffent-lichkeit gedrungen und die angesehensten und würdigsten Richterder menschlichen Handlungen dieser Gegend sind im Gegenteil ganzentschieden in der Auffassung über Ihre Rechtschaffenheit; daherziehe ich das Übergehen dem Widerspruch vor, denn wir befindenuns in der Lage des Weisen der Antike:

Spreta exolescunt; si irascare, agnita videntur.21

Wie ich zu sagen pflege, ist der Bart nicht ausgerissen oder ver-brannt, sondern nur abgeschnitten oder rasiert; er wird leicht nach-wachsen.

2. Ich möchte, daß das Übergehen freimütig geschieht, wie es heroi-sche Akte sein müssen, die man aus Liebe zu Gott macht: ohne sichzu beklagen, ohne großes Widerstreben gegen das Verzeihen zu zei-gen, denn die Einfalt des Herzens, das verzeiht, läßt das Unrecht desVerleumders um so deutlicher werden.

3. Trotzdem muß man vor den Augen der Böswilligen alles vermei-den, was sie herausfordern könnte und nicht zum Dienst Gottes ge-hört ...

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V. Die Reform der Klöster

Fast alle Klöster und Priorate von Konventualen, der Männer wieder Frauen, in Savoyen, in der Grafschaft Genf oder in anderen Besit-zungen und Gebieten, die dem erlauchten Herzog diesseits der Alpengehören, sind in einem Maß von der Regeltreue und alten Disziplinabgefallen, daß man die Regularen kaum von Weltleuten unterschei-den kann. Die einen schweifen nämlich unstet überall umher, andere,die in Klöstern leben, geben dem Volk schwerstes Ärgernis.

Deshalb bittet (der Bischof) Eure Heiligkeit, sie möge gnädig ei-nem von den Bischöfen diesseits der Alpen, der über alles gut Be-scheid weiß, die Vollmacht geben, daß er gemeinsam mit zwei Patresder Gesellschaft Jesu oder des Kapuzinerordens, und wenn es not-wendig ist, selbst mit Hilfe des weltlichen Armes, solche Klöster freiund unbeschränkt visitieren kann und muß, um sie zur alten Ordnungzurückzuführen und die Unbotmäßigkeit zu maßregeln, je nachdemer es zu ihrem Heil und zum Trost des Volkes als zweckmäßig erken-nen wird, unter Ausschluß der Appellation und jeden Widerstands,mit Rücksicht darauf, daß die Vorgesetzten dieser Klöster solchenVerfall herbeiführen und dulden, weil sie keine Maßregeln dagegentreffen.

Das schrieb Franz von Sales im Oktober 1598 (OEA XXII,187f) im Entwurfdes Rechenschaftsberichtes des Bischofs Granier für Papst Clemens VIII., dener selbst in Rom vorlegen sollte. Die nachteiligen Folgen des Verfalls der mona-stischen Klöster hatte er vor allem bei seiner Chablais-Mission feststellen müs-sen. Schon seit Ende 1596 hat er in seinen Briefen an den Nuntius Riccardiwiederholt auf die Notwendigkeit ihrer Reform hingewiesen (s. Band 8,26f.33.43).In Rom erreichte er, daß der Papst die Visitation in Aussicht stellte, „wenn dieZeit gekommen ist“ (Bd. 8,50), und er drängte weiter.

Nachdem er (Ende 1602) die Leitung der Diözese übernommen hatte, erhielter im August 1603 die Vollmacht zur Visitation, er hielt aber für eine wirksameReform weitergehende Maßnahmen für erforderlich, die er Ende 1603 (OEAXII,239-243) dem neuen Nuntius Tolosa darlegte:

Ich beantworte den Brief, den Ew. Gnaden mir vor einiger Zeitüber die Reform der Klöster dieser Diözese geschrieben haben. Ichwill Ihnen meine Auffassung in aller Aufrichtigkeit freimütig sagen;dazu verpflichtet mich der Gehorsam, den ich Ihnen schulde.

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Sicher ist, daß der Sittenverfall in allen Klöstern Savoyens, ausge-nommen jedoch die Kartäuser, so eingewurzelt ist, daß ein gewöhnli-ches Heilmittel nicht genügen wird, um Abhilfe zu schaffen. Um Er-folg zu haben, bedarf es eines Reformators von großer Autorität undKlugheit, ausgestattet mit weitreichenden Vollmachten, von denen erje nach den Umständen Gebrauch machen kann; ja ich sage, nicht nurweitreichende, sondern absolute Vollmacht ohne die Möglichkeit derAppellation, denn die Mönche sind im Prozessieren sehr erfahrenund gewandt. Um ihnen jede Möglichkeit zu nehmen, sich der Re-form zu entziehen, wäre es notwendig, daß Seine Hoheit in dieserSache den Senat von Savoyen einschaltet, denn ohne dessen Interven-tion wird man nichts erreichen. Das könnte ohne Beeinträchtigungder kirchlichen Jurisdiktion geschehen, weil sich der weltliche Armnur einschalten würde, um die Maßnahmen durchzuführen, die manfür notwendig erachtet.

Es wäre sehr zweckmäßig, scheint mir, in bestimmte Klöster ande-re Mönche einzusetzen, wie die Feuillanten oder Kartäuser, in ande-ren die Mönche zu ersetzen durch Weltpriester oder Kanoniker. DerGrund, der mich diese Maßnahme wünschen läßt, ist der: Weil einTeil der Klöster nicht-reformierten Oberen untersteht, könnte dieReform nicht von Dauer sein, selbst wenn ihre Untergebenen sie an-nehmen. Wir haben z. B. hier in der Nähe das Priorat Talloires, vonseiner Gründung her ein sehr bedeutendes Haus, und in der Nähe vonGenf das Priorat von Contamine und die Abtei von Entremont; daserste ist abhängig von der Abtei Savigny in Frankreich, das zweite vonder Abtei Cluny, das dritte von der Abtei Saint-Ruph in Valence. Wiekönnten nun diese Oberen die Disziplin und Reform bei ihren Unter-gebenen aufrechterhalten, wenn sie selbst keine haben, ja nicht ein-mal wissen, was die Reform ist?

Um das Ärgernis zu beseitigen, wird nach meiner Auffassung eineder beiden Maßnahmen erforderlich sein: entweder dort andere, re-formierte Mönche einzusetzen oder aus ihnen Säkular-Kollegiate zumachen. Eine dritte Möglichkeit ist, sie einer reformierten Kongre-gation ihres Ordens zu unterstellen; oder als viertes Mittel, sie demOrdinarius zu unterstellen, wie es einst viele ausgezeichnete Klösterwaren, ehe die Exemptionen eingeführt wurden. Für andere Klösterwird es notwendig sein, sie zu säkularisieren, so das Kloster von Sixt,das von Peillonex, von Sépulcre in dieser Stadt und ähnliche, zumaldie Ordensleute Regularkleriker des hl. Augustinus sind, aber von

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einer bestimmten Kongregation, die weder General, Provinzial nochKapitel hat, keine Visitation, keine bestimmte Form der Gelübdekennt, weder Regel noch Konstitutionen. Es ist wahr, daß Sixt undPeillonex vom Bischof visitiert wurden, auch von mir, aber ich konn-te sie nicht zur Beobachtung der Regel verpflichten, weil sie keinehaben. Ich habe sie lediglich die gewöhnlichen Konstitutionen befol-gen lassen, als wären sie Säkularkanoniker, in der Erwartung, daßihre Verfassung verbessert werden kann ...

In dem umfassenden Bericht über den Stand der Diözese vom November1606 (s. III) sind die Klöster aufgezählt und sowohl die Notwendigkeit als auchdie Möglichkeiten der Reform dargelegt. Dann ist in der Korrespondenz mitden höheren kirchlichen Stellen längere Zeit keine Rede von der Klosterreform.In diesen Jahren machte aber Franz von Sales konkrete Anstrengungen (die anmarkanten Beispielen anschließend behandelt werden).

Daß der Erfolg seiner Bemühungen ausblieb und seine Vorschläge durchgrei-fender Maßnahmen in Rom offenbar keine Wirkung hatten, geht aus dem Ent-wurf für den Rechenschaftsbericht, vom Januar oder Februar 1614 (OEAXXIII,383-388) hervor, der die früheren Mißstände und Vorschläge zum Teilwörtlich wiederholt:

– – – Es ist erstaunlich, wie sehr die Disziplin aller Regularen (ichnehme die Kartäuser und die Mendikanten aus) zerstört ist, so daß ihrSilber in Schlacke verwandelt wurde (Jes 1,22). Deshalb wird der Namedes Herrn ihretwegen von den Häretikern gelästert (2 Sam 12,14),die jeden Tag sagen: Wo ist denn ihr Gott (Ps 42,11).

Ich denke, daß gegen dieses Übel auf dreifache Weise Abhilfe ge-schaffen werden kann:

1. indem man bessere Mönche anderer Orden einsetzt, z. B. anstelleder Zisterzienser die Feuillanten, anstelle der Regularkanoniker die-ser Stadt Barnabiten und so bei anderen. Damit wurde schon im Klos-ter Abondance begonnen, in dem die Regularkanoniker durch dieFeuillanten ersetzt wurden.

2. indem man die Regularkanoniker durch Säkularkanoniker er-setzt. Wenn es auch etwas hart scheinen mag, das bei allen durchzu-führen, so wäre es dennoch bei den meisten vorteilhaft. Die Regular-kleriker unterscheiden sich ja in dieser Diözese durch nichts von denweltlichen, außer daß sie den sogenannten Frocus (wie anderswo dasSkapulier) tragen; was die Säkularkanoniker durch die tägliche Zu-teilung erhalten, pflegen sie durch die Präbenden zu empfangen. Wennsie diese erhalten haben, nehmen sie am Chorgebet teil, wenn sie wol-

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len; wenn nicht, werden sie dadurch um nichts ärmer. Außerdem gibtes bei ihnen keine Observanz einer geregelten Disziplin, keine ge-schriebenen Konstitutionen, keine ausdrückliche Gelübdeablegung.Warum soll man sie also nicht in Säkularkanoniker umwandeln, diefür das christliche Gemeinwesen viel nützlicher sind? Dies um somehr, als es in Savoyen viele Adelige ohne ausreichende Einkünftegibt; für ihre Söhne, die den geistlichen Stand wählen, könnte manauf diese Weise gut sorgen. Und wenn man das gleiche mit bestimm-ten anderen Mönchen täte, wäre das nach meiner Meinung eine guteSache.

3. indem man die verbleibenden Mönche jedes Jahr visitiert undzurechtweist. Es wäre aber nicht angebracht, daß diese Visitationenvon den Oberen ihres Ordens gehalten werden, denn die Mönche undÄbte von Cluny, von Savigny und Saint-Ruph wissen nicht einmal,was Reform ist. Da sie schal gewordenes Salz sind, wie könnten siedazu dienen, die Untergebenen zu bessern?

Die Klöster der Regularkleriker dieser Gegend gehören aber zukeiner Kongregation, halten kein Kapitel, keine Visitation, folgenkeiner Regel. Und obwohl das Kloster von Sixt und von Peillonexvom Bischof visitiert wird, dem es nach altem Recht untersteht (ob-wohl sie ihm bisher kaum gehorchen wollten), wurde bei ihnen vonUns doch nichts erreicht, weil sie weder Regel noch Konstitutionenhaben und sich sehr bescheiden geben, was die kirchliche Profeß be-trifft. Daher müßten sie von einem anderen Visitator visitiert werden.

Um aber die Wahrheit zu gestehen, werden das erste und zweiteHeilmittel die nützlichsten sein, denn das dritte ist sehr schwierigund sehr unsicher, denn was mit Gewalt geschieht, gelingt kaum.

Was jedoch die Nonnen betrifft, halten sich die zwei Klöster der hl.Klara vorzüglich und ich sehe nichts, was zu wünschen wäre, außerdaß den Nonnen der Trost gewährt wird, den ihnen das Konzil vonTrient nicht ohne Eingebung des Heiligen Geistes zugestand und ge-ben wollte, daß ihnen nämlich wenigstens dreimal im Jahr ein außer-ordentlicher Beichtvater zugeteilt wird. Sie sind ja gezwungen, im-mer bei ein- und demselben zu beichten, so daß sie keinesfalls undaus keinem Grund bei einem anderen beichten können. Welche Ge-fahr das für die Seelen bedeutet, weiß ich nicht, Gott weiß es.

Dasselbe ist von den Kartäuserinnen in Mélan zu sagen, die bisherganz lobenswert lebten, obwohl die Klausur nicht streng aber hinrei-chend eingehalten wird. Sie gehen nämlich in der Umgebung des Klos-

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ters aus, um sich auf benachbarten Wiesen zu erholen, aber nur inGruppen, manchmal auch in die Kirche. Umgekehrt gewähren sieallen weltlichen Frauen Zutritt, nur Männer sind ausgeschlossen.

Die Klöster der Zisterzienserinnen dagegen stehen allen offen, denNonnen zum Besuch der Freunde und Verwandten und den Männernzum Eintritt. Ich glaube aber, daß sie nur reformiert werden können,wenn man sie in die Städte überführt und anderen Oberen unterstellt,die größere Sorge für ihre geistliche Betreuung tragen. – – –

Ein großes Hindernis der Reform war der Mißbrauch der Exemption, überden sich Franz von Sales in einem Brief an Bischof Camus beklagt:

OEA XVI,215-219 Annecy, 22. August 1614Monseigneur,

ich freue mich gewiß über Ihre Siege, denn was man auch sagenmag, es gereicht zur größeren Ehre Gottes, wenn unser bischöflicherStand als das anerkannt wird, was er ist, und wenn dieses Moos derExemptionen vom Baum der Kirche entfernt wird. Man sieht ja, wel-ches Unheil es da angerichtet hat, wie das heilige Konzil von Trientsehr richtig feststellte. Ich bedauere aber trotzdem, daß Ihr Geist indiesem Krieg so sehr leidet, in dem fast nur die Engel die Unschuldbewahren können. Und wer in den Prozessen die Mäßigung bewahrt,für den ist meiner Meinung nach der Heiligsprechungsprozeß schongewonnen. „Weise sein und lieben, das wird höchstens den Götternzuteil.“22 Aber ich möchte lieber sagen: Streiten und nicht unsinnighandeln, das gelingt höchstens Heiligen. Trotzdem, wenn es die Not-wendigkeit erfordert und wenn die Absicht gut ist, muß man sicheinschiffen in der Hoffnung, daß die Vorsehung selbst, die uns zurSeefahrt verpflichtet, sich selbst verpflichtet, uns zu führen ... Wel-che Erniedrigung, daß wir das geistliche Schwert in Händen haben(Eph 6,17) und als einfache Vollstrecker des Willens des weltlichenRichters zuschlagen müssen, wenn er es anordnet, und aufhören,wenn er es befiehlt, und daß wir des wichtigsten Schlüssels beraubtsind über jene, die Unser Herr uns anvertraut hat (Mt 16,19), d. h.des Urteils, der Entscheidung und der Weisheit im Gebrauch unse-res Schwertes ...

Das ist eine Anspielung auf weltliche Einflüsse durch Patronatsrechte. Aufdiesem Gebiet erwartete Franz von Sales Hilfe vom Erbprinzen Victor-Amédée,

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der sich für die Reform der Klöster, für deren rechtliche und finanzielle Grund-lagen einsetzte (vgl. Band 8,252). Im Herbst 1616 verfaßte der Bischof imAuftrag des Prinzen zwei Memoranden über die Reform der Männer- und Frau-enklöster (OEA XXIV,510-515); sie zeigen einerseits, wie wenig er bisher er-reicht hatte, andererseits, wie beharrlich er sein Ziel verfolgte.

1.

Die Abhängigkeit der Ordensleute von ihren Kommendatar-Äbtenund -Prioren führt ständig zu Prozessen, Händeln und Streitigkeitenzwischen ihnen.

Deshalb dürfte es vielleicht zweckmäßig sein, den Anteil des Ein-kommens, der für den Unterhalt der Ordensleute, des Klosters undder Kirche erforderlich ist, von dem zu trennen, der dem Kommenda-tar-Abt oder -Prior verbleiben kann. Auf diese Weise hätten die Or-densleute nichts mit dem Abt zu tun und der Abt nichts mit ihnen,weil jeder von ihnen seine Sache für sich hätte. So hat man es mitgroßem Nutzen in Paris gemacht in den Abteien von St. Viktor undSaint Germain. Auf diese Weise hätten auch die klösterlichen Obe-ren alle gebührende Autorität, die Klöster gut zu reformieren, indemsie den Anteil der Ordensleute in gemeinsamen Besitz überführen.So könnte man auch die Oberen durch die Wahl von drei zu dreiJahren wechseln.

Damit die Reform leichter gelingt, wäre es notwendig, diese Ord-nung zuerst in Talloires einzuführen, wo schon ein guter Anfang derReform gemacht ist; und dann müßte man Talloires alle Klöster desOrdens vom hl. Benedikt unterstellen, um dort die gleiche Reformeinzuführen.

Was die Klöster des Ordens von Citeaux betrifft, sehe ich keineMöglichkeit der Reform, außer wenn man dort Feuillanten einsetzt,wie man es in ‚Consolata‘ von Turin, in Pignerolo und in Abondancegemacht hat. Es gibt außerdem Klöster der Regularkanoniker vom hl.Augustinus, die nicht weniger der Reform bedürfen; die kann schwer-lich durchgeführt werden ohne Änderung des Ordens. Es scheint auch,daß es hilfreich wäre, einige von ihnen in die Städte zu verlegen, soz.B. das Kloster von Entremont nach La Roche, um die Zahl der Ka-noniker zu vermehren und dort einen ansehnlichen Dienst einzufüh-ren mit einem Theologalen und einem Pönitentiar, mit Rücksicht aufdie Nachbarschaft von Genf und den ständigen Verkehr der Bewoh-ner von Genf mit denen von La Roche. Andere könnte man in Kon-

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gregationen von Priestern des Oratoriums umwandeln, so z. B. dasKloster Saint Sepulcre in dieser Stadt, und die anderen dem Kollegdieser Stadt angliedern wie das Priorat von Peillonex.

Was ich nun gesagt habe, daß man manche Klöster in die Städteverlegen soll, so berücksichtigt dies das Wohl des Adels dieser Ge-gend. Er ist zahlreich, aber zum großen Teil arm und hat keine Mög-lichkeit, seine Kinder ehrenvoll unterzubringen, die eine Stellung inder Kirche wollen, außer in Benefizien, die über das Land verstreutsind wie die Pfarreien und Kanonikate. Die könnte man auf heilsameWeise einführen, nicht ehe sie durch den Konkurs Adelige oder Dok-toren verliehen wurden.

In dieser Hinsicht könnte daher Seine Hoheit ihrem Gesandteneine Anweisung geben, um von Seiner Heiligkeit einen Auftrag anden Erzbischof von Tarantaise, den Bischof von Maurienne und anden von Genf zu erwirken, um die genannten Niederlassungen zu er-richten, jedoch in der Weise, daß die beiden anderen vorgehen kön-nen, wenn einer der genannten Bischöfe abwesend ist.

Und der General- und Erbprokurator sollen beauftragt werden, beijeder Gelegenheit die Ausführung zu überwachen, mit der ausdrück-lichen Empfehlung an den Senat, seine Hilfe zu gewähren in allenFällen, die es erfordern.

2.

Es wäre notwendig, daß man die drei Klöster der Zisterzienserin-nen in die Städte verlegt, damit ihr Verhalten ständig gesehen wird,damit sie geistlich besser betreut werden und damit sie nicht demEinfluß der Feinde des Glaubens oder des Staates ausgesetzt sind, derFrechheit von Dieben und dem Unwesen so vieler unnützer und ge-fährlicher Besuche von Verwandten und Freunden. Dazu kommt, wennman sie auf dem Land einsperrt, fern von geistlichem Beistand, dannmacht man sie zu bedauernswerten Gefangenen, nicht aber zu gutenOrdensfrauen, wozu man sie durch die guten Ermahnungen machenwill, die sie in den Städten erhalten. Und das Konzil von Trient ord-net aus den gleichen Gründen ebenfalls an, daß man sie in die Städteverlegt.

Man könnte also die Nonnen von Sainte Catherine in diese Stadtverlegen, jene von Bonlieu nach Rumilly und die von Betton nachSaint Jean in Maurienne oder in Montmelian. Und was die Klarissen

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außerhalb von Chambéry betrifft, könnte man sie ebenfalls in dieStadt Chambéry überführen.

Damit aber gleichzeitig mit der Verlegung in die Städte bei allendie Reform durchgeführt wird, wäre es notwendig, daß Seine Heilig-keit einen Bischof beauftragt, in den Klöstern alle Anordnungen zutreffen, die das Konzil von Trient vorgeschrieben hat, und um ihnenObere zu geben, an die man sich leicht wenden kann.

Seine Hoheit könnte daher zu diesem Zweck ihrem Gesandten An-weisung geben, daß er von Seiner Heiligkeit zwei Erlässe erwirke:einen an den Abt von Citeaux, den General des Zisterzienserordens,daß er dafür sorgt, daß sich die Ordensfrauen der Klöster Savoyensunverzüglich in benachbarte Städte zurückziehen, an einen Ort, derfür ihre Wohnung geeignet ist, bis sie ein neues Kloster errichtet ha-ben; den anderen an den Bischof von Maurienne und an den Bischofvon Genf, damit sie darüber wachen, daß alle Anordnungen des Kon-zils von Trient durchgeführt werden, nicht nur in den Klöstern derZisterzienserinnen, sondern auch in allen anderen Frauenklöstern inSavoyen.

Und an den Generalprokurator, daß er die Durchführung nach derAbsicht Seiner Hoheit überwache.

Drei Jahre danach entwarf Franz von Sales im Auftrag des Prinzen eine Denk-schrift, die offenbar für Rom bestimmt war (vgl. Band 8,304). In einem Briefvom 31. 8. 1621 (vgl. Band 8,332) erinnert der Bischof den Prinzen erneut andessen Pläne zur Reform der Klöster, die er 1616 bei der Konferenz in Annecygefaßt hatte, ohne deren Durchführung die Reform nicht gelingen kann, und anseine Denkschriften.

In den bisher angeführten Dokumenten fällt das harte Urteil auf, das Franzvon Sales über die Zustände in den Klöstern und über die Erfolgsaussichtenihrer Reform fällt. Beides beruht auf seiner Kenntnis der Situation und aufseinen beharrlichen Bemühungen, die im folgenden an konkreten Beispielengezeigt werden, soweit die Annecy-Ausgabe dafür Unterlagen bietet.

1. Die Abtei Notre Dame von Sixt

Das größte Hindernis für die Reform der Augustiner Chorherren von Sixt warder Kommendatar-Abt Jacques de Mouxy, der nur Subdiakon war, sich aberunter Berufung auf die Exemption der Reform widersetzte. Der Prior JeanMoccand und die jüngeren Kanoniker dagegen waren zur Reform bereit. Franzvon Sales visitierte die Abtei im September 1603 und verfaßte darüber dasfolgende Protokoll (OEA XXIV,441-452):

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Franz von Sales, durch Gottes und des Apostolischen Stuhles Gna-de Fürstbischof von Genf, kam am 20. September 1603 in die Abteiund Kirche von Sixt. Nach der Feier der Messe am folgenden Tagversammelte er zunächst den Ehrwürdigen Herrn Jacques de Mouxyzusammen mit allen Ordensleuten, die dort leben und eine Pfründehaben. Als sie vor ihm erschienen, erklärte er ihnen, er sei in ihreAbtei gekommen, um als Vorgesetzter der genannten Abtei alles zuvisitieren, was ihre Sitten, ihr Leben und ihren Umgang betrifft, aberauch die Gebäude, Güter und Rechte. Er mache das, müsse und kön-ne es gemäß dem alten Recht und Brauch des Bistums Genf tun. Wennsie daher etwas hätten, aufgrund dessen sie glaubten, das dürfte nichtgeschehen, sollten sie es freimütig kundtun. Darauf antworteten allemit gebührender Ehrfurcht, der Hochwürdigste Bischof von Genf habedas Recht, ihre Abtei und sie zu visitieren, und sie wollten das inkeiner Weise bestreiten oder verhindern.

So wandte er sich an den Ehrwürdigen Abt, den er seit vielen Jahrenim unbestrittenen Besitz seines Amtes wußte, und fragte ihn, ob erKommendatar oder wirklicher Abt sei. Der antwortete, das wisse ernicht, weil er schon seit langem seine Ernennungsbulle nicht mehrgesehen habe, die in Chambéry bei einem Prozeß vorgelegt wurde.Der oberste Senat von Savoyen habe ihm aber die Zurechtweisung derOrdensleute untersagt, da er nicht Titular sei; daher trage er nichtden Habit der Ordensleute. Die Verwaltung der zeitlichen Güter ste-he ihm aber zu.

Darauf fragte er die Ordensleute, ob sie Profeß gemacht haben. Sieantworteten ihm, sie hätten die Profeß nicht ausdrücklich, sondernnur implicite und stillschweigend nach der Regel des hl. Augustinusgemacht.

Er fragte nach Titeln und Rechten. Wenn jemand solche bei sichoder bei jemand wisse, solle er es offenbaren, damit über deren Auf-rechterhaltung entschieden werde. Der Herr Abt versicherte unterEid, er besitze nur fünf Anerkennungsbriefe, und gab an, er habe dieSchriftstücke. Ebenso habe er eine bestimmte Schenkung des Aymonvon einer gewissen Stadt Faucigny, die aus einem Prozeß in Annecyhervorgegangen sei; außerdem eine bestimmte Mitteilung, die inChambéry ausgestellt wurde, über eine bestimmte Mühle; schließlicheinige andere, an die er sich nicht recht erinnere, die er durch seineArbeit und seinen Fleiß erworben habe, von denen er ein Verzeichnismachen werde.

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Der hochwürdige Prior erklärte, er habe die Rechte der Kommuni-tät, von denen er eine Liste aufstellen werde. Frater Petrus Pugin sag-te, er habe bestimmte Rechte an der Kapelle des hl. Nikolaus in Sa-moens. Die übrigen aber erklärten, sie hätten keinerlei Rechte fürsich und wüßten nichts, daß bei einem anderen Rechte lägen, die dasKloster betreffen.

Darauf bestimmte der Hochwürdigste Herr Bischof als Visitator,bis zum nächsten Aschermittwoch sollte ein Verzeichnis aller Rech-te und Titel in der vorgeschriebenen und bewährten Ordnung aufge-stellt werden und zwei gleichlautende Abschriften, von denen eine imbischöflichen Archiv aufbewahrt werde, die andere von dem, den dasKapitel bestimmt, um zur Klärung von Streitigkeiten zu dienen.

Die Ordensleute beschwerten sich, daß von der erforderlichen Zahlder Kanoniker drei fehlten; es müßten zwölf sein, aber der zehnte,elfte und zwölfte fehlten. Der Abt erwiderte, die Einkünfte seien teilsdurch die Nachlässigkeit der Vorgänger, teils durch Überschwem-mungen, die ganze Ortschaften und Meierhöfe zerstörten, so starkzurückgegangen, daß er nicht mehr Ordensleute ernähren und klei-den könne. Die Ordensleute dagegen brachten dem Herrn Abt jähr-lich 1000 Gulden, frei von allen Lasten, und zwölf Präbenden nachAbzug der Lasten.

Der Hochwürdigste Herr Visitator erkannte, daß er diese Frage nichtleicht entscheiden konnte, und verschob die Entscheidung auf später,bis er klarer über das hinreichende Einkommen sehe ...

Für das Chorgebet ordnete der Hochwürdigste Herr Bischof an,daß es nach der vom heiligen Konzil von Trient herausgegebenenOrdnung verrichtet werde, sowohl privat wie im Chor; ihre Rubrikenseien zu befolgen. Was das kleine Offizium der seligsten Jungfrau,das Totenoffizium und die Bußpsalmen betrifft, können sie nach demBrauch der Abtei vor dem Tagesoffizium verrichtet werden; jedoch inder Weise, daß niemand verpflichtet ist, sie außerhalb des Chorgebetszu verrichten, außer nach Vorschrift des tridentinischen Breviers. DieGradualpsalmen aber sollen nach demselben Brauch vor der Matutinrezitiert werden, wenn die Ordensleute zusammenkommen. Die Primwird nach den Laudes verrichtet.

Jeden Tag werden wenigstens vier Messen gefeiert, an bestimmtenTagen fünf, wenn sie nämlich anderweitig dazu verpflichtet sind. AmSonntag muß nach altem Brauch eine stille Messe für die Verstorbe-nen gefeiert werden und die Konventmesse.

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Für die Kirche ordnete er an, daß der Tabernakel des allerheiligstenSakraments, der in der Mitte des Altars steht, von allen Seiten ver-schlossen und wenigstens ein Gehäuse aus Zinn sein muß.

Auf der rechten Seite hinter dem Hochaltar ist ein Altar aus Holz;er ließ ihn entfernen, und weil er zu nahe am Hochaltar war, übertruger auf diesen die Stiftung des Holzaltars.

Auf dem Altar in der Nähe des Chorgestühls der Ordensleute fander Bilder, die durch Alter und Feuchtigkeit entstellt waren. Er ließsie entfernen und an einem geziemenden Ort heimlich verbrennen.

Das Chorgestühl fand er verfallen und befahl dem EhrwürdigenHerrn Abt, daß er es wiederherstellen und restaurieren lasse.

Das Gewölbe des Chores ist durch Risse und Spalten vom Einsturzbedroht. Er befahl dem Abt, es innerhalb von zwei Monaten instand-setzen und wiederherstellen zu lassen.

Die Sakristei soll er erneuern. Die Zäune und Mauern des Klosters,die für die Erhaltung der Ordensdisziplin besonders notwendig sind,soll er wiederherstellen; sie sind durch zwei Tore zu verschließen.

Über die Wiederherstellung der Ordensdisziplin bestimmte er: So-bald die Zäune wiederhergestellt sind, ist ein Pförtner vorzusehen.Inzwischen sind innerhalb der Umfriedung und der Reste der verfal-lenen Mauern Frauen nicht zuzulassen.

Die Wiederherstellung der gemeinsamen Tafel anzuordnen, bliebder Zeit vorbehalten, wenn die dafür notwendigen Mittel reichen, diedem Kloster derzeit fehlen, wie für diesen Ort passende Geräte undähnliches.

Ebenso blieb die Frage der ausdrücklichen Gelübdeablegung of-fen, weil bezüglich der Regel und Konstitutionen keine hinreichendeKlarheit besteht. Er wird aber sehen, daß es später möglich sein wird,und dafür sorgen, daß es geschieht.

Sowohl der Ehrwürdige Herr Abt als die Ordensleute versprachen,allen diesen Anordnungen zu gehorchen.

Am 14. November 1603 (OEA XII,226f) schrieb der Bischof an den Priorund die Ordensleute von Sixt:

Meine Brüder in Jesus Christus!Ich möchte sehr gerne wissen, welche Wirkungen die Anordnungen

hatten, die bei unserer Visitation getroffen wurden, sowohl auf eurer

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Seite als auch beim Herrn Abt. Deshalb bitte ich euch, mir das zwi-schen jetzt und Weihnachten Punkt für Punkt mitzuteilen, damit ich,wenn ich zu ihrer vollen Durchführung einen bestimmten Beitragleisten muß, nichts aus Unkenntnis seiner Notwendigkeit unterlasse.

Herr de Saint Paul sagt mir, daß der Herr Abt versäumt hat, dieAbtei zu verpachten, was er mir versprochen hatte, angeblich wegeneiniger leichtfertiger Worte von eurer Seite, die die Pächter befrem-deten, die sich vorstellten. Wenn dem so ist, werdet ihr Gelegenheithaben, den Herrn Abt dessen zu entheben, denn was mich betrifft,lege ich keinen Wert darauf, vorausgesetzt, daß ihr entsprechend be-zahlt werdet; darauf kommt es mir in diesem besonderen Punkt al-lein an. Wenn ihr mir Nachricht gebt, falls es euch daran mangelt,werde ich nichts versäumen, um mich um Abhilfe zu bemühen. Ichwürde mich keine Anordnungen bei der Visitation anderer Klösterzu treffen getrauen, wie es unser Heiliger Vater und Seine Hoheitwollen, wenn ich bei der ersten gar keinen Erfolg gehabt hätte.

Ich empfehle mich euren Gebeten, die ich wahrhaftig brauche, undbin, meine Herren, euer sehr demütiger Mitbruder und Diener inJesus Christus,

Franz, Bischof von Genf.

Wie das Protokoll der Visitation festhält, hatte der Abt das Recht desBischofs zur Visitation anerkannt und die Anordnungen zu befolgen verspro-chen. Später strengte er jedoch beim Erzbischof von Vienne einen Prozeßgegen Franz von Sales an (den er verlor), um sich jeder Kontrolle zu entzie-hen. In diesem Zusammenhang schrieb der Bischof an den Prior und die Or-densleute von Sixt:

OEA XIII,169f Annecy, 14. April 1606Meine Herren,

ihr wißt von dem Prozeß, den der Herr Abt von Sixt gegen mich inVienne angestrengt hat, um von der Zurechtweisung durch die Bi-schöfe exempt zu werden, wenn er kann. Ich bin überzeugt, daß ersich am Ende beschämt finden wird, wenn die Ungerechtigkeit seinerAbsicht ins Licht der Gerechtigkeit gerückt wird. Inzwischen aberentzieht er sich dem von einem Mal zum anderen durch jedes Mitteldes Hinhaltens, das er erreichen kann, und flieht vor dem Urteil. Umihn möglichst bald zur Ordnung zu rufen, wäre es daher vorteilhaft,wenn ihr eine Erklärung eures Kapitels und der Ordensleute be-schließt, mich als Vorgesetzten anerkennt und meinen Anordnungen

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völlig zustimmt. Da es doch die Wahrheit ist, daß ich das Ende diesesProzesses nur zur Ehre Gottes und zum Wohl eures Klosters zu sehenwünsche, glaube ich, daß ihr keine Schwierigkeiten machen werdet,mir die erwähnte Erklärung zu schicken. Ich bitte euch darum, emp-fehle mich euren Gebeten und verbleibe, meine Herren, euer sehrdemütiger Mitbruder.

OEA XIII,172 Annecy, 24. April 1606Meine Herren,

ich danke euch für das Schreiben, das ihr mir geschickt habt, das ichnur zu eurer Beruhigung und zu eurem Trost zu verwenden wünsche.Ich hoffe, daß ich in kurzer Zeit das Urteil zugunsten meines gutenRechtes haben werde. Mit dessen Hilfe werden wir die Sache so vielerWinkelzüge in Angriff nehmen, die der Herr Abt schließlich der Ver-nunft anzupassen gezwungen sein wird. Ich werde mich wenigstensdem nicht entziehen, mit Gottes Hilfe, den ich bitte, euch mit seinenGnaden zu überhäufen, und dessen Barmherzigkeit ich in euren Op-fern empfohlen zu werden wünsche. Ich bin, meine Herren, euer sehrdemütiger und ergebener Mitbruder,

Franz, Bischof von Genf.

Der Widerstand des Abtes und die Spannung zwischen ihm und den Kononi-kern dauerten jedoch an und verzögerten die Durchführung der Reform, bis imZusammenhang mit der Initiative des Prinzen Victor-Amedée 1617 ein neuerAnstoß dazu vom Prior ausging. Darauf reagierte Franz von Sales mit einemBrief an die Ordensleute:

OEA XVIII,81f Annecy, 12. September 1617Meine hochwürdigen Brüder!

Durch den Herrn Prior Jan Moccand habe ich von eurer guten Ein-stellung erfahren, um euer Kloster und eure Gemeinschaft auf denWeg der alten Frömmigkeit eures Ordens zurückzuführen. Dafür habeich Gott von ganzem Herzen gedankt und ich bin darüber sehr er-freut, denn es ist eine Sache von größter Wichtigkeit für den DienstGottes, für euer Heil und euren Trost sowie zur Erbauung der Gläu-bigen.

Deshalb ermahne ich euch mit allem Nachdruck, faßt ehestens un-ter euch den Beschluß, damit zu beginnen. Um euch dabei zu dienenund beizustehen, werde ich euch einen sehr gebildeten und tüchtigenMann schicken, sobald ihr mir mitteilt, daß es Zeit dazu ist. Wenn es

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notwendig ist, werde ich gern selbst kommen und werde mich glück-lich schätzen, wenn ich nützlich sein kann, einen so ehrenvollen undfrommen Plan zu fördern. Faßt Mut, Gott wird mit euch sein. Er wirddas Werk vollbringen, wenn ihr ihn darum bittet. Er hätte euch diesegute Einstellung nicht gegeben, wenn er euch nicht zur Vollendungdes Werkes führen wollte.

Indessen erwarte ich eure Nachricht und wünsche euch allen heili-gen Trost und verbleibe, meine hochwürdigen Brüder, euer ganz de-mütiger und sehr ergebener Bruder im Herrn,

Franz, Bischof von Genf.

Die Kanoniker faßten am 30. Dezember 1617 den förmlichen Beschluß zurReform, den der Bischof amtlich beglaubigte. Im September 1618 reiste erselbst nach Sixt und unterzeichnete nach drei Tagen das Reformdekret, dem erseine persönlichen Wünsche hinzufügte.

OEA XXIV,452f Annecy, 23. Januar 1618Franz von Sales, durch Gottes und des Apostolischen Stuhles Gnade Fürst-bischof von Genf.

Seit langem haben Wir gewünscht, daß alle Ordensleute UnsererDiözese zur ursprünglichen Regel und Ordnung ihres Instituts zu-rückkehren, vor allem aber haben Wir gewünscht und Uns durch Er-mahnungen bemüht, daß dies geschehe in den Klöstern, die UnsererSorge, Unserem Eifer und Unserer ordentlichen Jurisdiktion anver-traut sind. Deshalb heißen Wir diesen Beschluß der frommen Regu-larkanoniker des hl. Augustinus vom Kloster Sixt nicht nur gut undbeglaubigen ihn, sondern loben und lieben ihn, soviel Wir können,im Herzen Christi. Damit er aber künftig in diesem Kloster getreugehalten wird, gebieten Wir die Reform kraft Unserer Vollmacht undordentlichen Autorität über das genannte Kloster und die Kanonikerdieses Klosters und ordnen sie im Herrn an. Allen, die jene besonde-re Armut pflegen, die von denen beobachtet wird, die in Gemein-schaft leben, spenden Wir väterlichen Segen.

Gegeben zu Annecy, am 23. Januar 1618.

Reformdekret (OEA XXIV,454-465)

Franz von Sales, durch Gottes und des Apostolischen Stuhles Gnade Fürst-bischof von Genf, allen, die diese Schrift lesen, überreiches Heil in Chris-tus.

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Da das Kloster des ehrwürdigen Ordens der Regularkanoniker deshl. Augustinus in Sixt der Sorge und Autorität Unserer Vorgängerund der Unseren nach den heiligen Regeln des ursprünglichen kirch-lichen Rechts anvertraut ist, müssen und wollen Wir Uns seinemNutzen und dem der ehrwürdigen Kanoniker, die in ihm Gott dienen,mit allem möglichen Eifer widmen und darauf bedacht sein. Da Wirnun erkannt haben, daß die ehrwürdigen Kanoniker selbst auf Einge-bung Gottes die Observanz der ursprünglichen Regel, die durch dieUngunst der Zeit bei ihnen fast ganz verfallen und ausgelöscht war,aufrichten und wiederherstellen wollten, daß außerdem die erlauch-ten und ehrwürdigen Herren Jacques de Mouxy, obwohl Kommenda-tar-Abt, und Humbert de Mouxy, dessen Koadjutor und Erwählterdieses Klosters, diese frommen Beschlüsse und Wünsche nicht nur zubilligen, sondern auch gern zu unterstützen beschlossen haben:

Deshalb sind Wir hierher gekommen, damit Wir unsere ordentli-che Autorität und unserem Beistand diesem lobenswerten und über-aus wünschenswerten Werk leichter zugutekommen lassen können.Nachdem Wir alles geprüft und erwogen und alle über das Vorausge-hende befragt haben, beschlossen Wir schließlich so zu entscheidenund anzuordnen, wie Wir nun entscheiden und anordnen.

Vor allem gebieten Wir und ordnen von neuem eindringlicher an,was Wir bei Unserer letzten Visitation als dem Recht und der Ver-nunft entsprechend zu tun befohlen und angeordnet haben.

Über die Profeß: Da sich unter den ehrwürdigen Kanonikern, diejetzt leben, keiner befindet, der ausdrücklich die Profeß abgelegt hät-te, besonders und vor allem, um dem Geist und Buchstaben des heili-gen Konzils von Trient zu gehorchen, erklären und bestimmen Wir,daß die genannten ehrwürdigen Herren Kanoniker alle zu der erwähn-ten ausdrücklichen Profeß verpflichtet sind. Wir schreiben für alleund jeden einzelnen, der jetzt den Habit des Klosters trägt, ein Jahrvor, das als Noviziatsjahr gelten soll. Nach dessen Ablauf sollen siedie erwähnte Profeß ablegen oder Uns, falls sie Gründe haben, wa-rum sie diese Profeß nicht machen wollen, diese darlegen.

Nach Ablauf des Probejahres ist der Novize, wie das gleiche Konzilbestimmt hat, entweder sogleich zur Profeß zuzulassen, wenn er da-für geeignet befunden wird, oder aus dem Kloster zu entlassen. Wenndagegen der Novize nach dem erwähnten Probejahr als noch nichtfähig zur Profeß beurteilt wird, jedoch begründete Hoffnung besteht,daß er etwas später geeignet werden kann, darf man ihn auch bis zu

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einem ganzen Jahr im Kloster behalten. Daß das erlaubt ist, antwor-tete die Kardinalskongregation des Konzils, als das Konzil über dieGeeigneten und Fähigen, nicht über die anderen entschied.

Über die Wahl des Priors und Subpriors: Da die Abtei eine Kommen-de ist, bestimmen Wir, daß in ihr künftig daran festzuhalten ist, wie esfrüher gehalten wurde, daß nämlich allen Chorherren einer des glei-chen Ordens mit ausdrücklicher Profeß, der Prior genannt werde undder Herde vorangehen und vorstehen kann, entsprechend der Bestim-mung des Konzils von Trient, Kapitel 25, Sessio 6, vorgesetzt undbestellt wird. Wie an gleicher Stelle, Kapitel 6, vorgesehen ist, wird ervom Kapitel in geheimer Wahl gewählt, so daß die Namen der Wählernie bekanntgegeben werden. Wem die Mehrheit der geheimen Stim-men des Kapitels zufällt, der gilt absolut als gewählt und bleibt, wenner sich recht führt, bis zum Tod als Prior im Amt. Ebenso werde es imübrigen mit dem Subprior gehalten.

Über den regulären Gehorsam: Alle sollen dem Prior „wie einemVater“ gehorchen, wie die Regel des hl. Augustinus vorschreibt, undin seiner Abwesenheit dem Subprior.

Wenn etwas von größerer Wichtigkeit zu tun oder zu befehlen undkeine Gefahr im Verzug ist, wird der Prior nichts veranlassen oderbestimmen, ohne sich vorher mit seinem Kapitel darüber beraten zuhaben. Bei allen schwerwiegenden Schwierigkeiten aber, die vom Priorund dem Kapitel nicht gelöst werden können, sollen sie sich an denBischof dieser Diözese oder in dessen Abwesenheit an den bischöfli-chen Generalvikar wenden, der kraft ordentlicher Vollmacht entschei-den wird, was zu geschehen hat, wie es schon bisher gehalten wurde.

Über die Gottesdienste und Riten: Der hochwürdige Herr Prior oderSubprior wird jeden Samstag in der Kirche eine Liste auflegen, in derdie Namen derjenigen verzeichnet sind, die während der ganzen Wo-che den Dienst am Altar und im Chor zu versehen haben. Alles sollsoviel als möglich nach dem Ritus und den Zeremonien der Kathe-drale gehalten werden.

Über das Studium und die Bücher: Im Kloster soll kein Buch ohneErlaubnis des Priors oder in seiner Abwesenheit des Subpriors behal-ten werden; er soll darüber wachen, daß keine von der Kirche verbo-tenen Bücher oder solche von vorwitzigen und unnützen Lehren her-einkommen. Er wird auch dafür sorgen, daß eine ausreichende Zahl

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frommer Bücher, solcher mit Gewissensfällen und der Theologie vor-handen sind, die für alle Kanoniker reichen, damit sie täglich in dervon der Regel vorgesehenen Zeit der Lesung obliegen können. DieStunde für die Lesung könnte vor der Vesper sein, zwischen Vesperund Komplet oder zwischen Komplet und Abendessen.

Über die Tafel und die Tischlesung: Sobald als möglich soll die Tafelso angeordnet werden, daß die Kanoniker nur auf einer Seite sitzenund ihnen die Portion einzeln gereicht wird. Den Tischsegen und dieDanksagung nach dem Essen soll der Hebdomadar sprechen, außeran Festtagen, an denen der Prior oder in seiner Abwesenheit der Sub-prior dieses Amt übernimmt. Während der Mahlzeit wird immer mitklarer, verständlicher Stimme und mit entsprechenden Pausen zwi-schen den einzelnen Punkten gelesen.

Vom Ausschluß der Frauen: Alle Gesetze verlangen, was Wir beider letzten Visitation dieses Klosters bestimmt haben, daß nämlichFrauen auch kurze Zeit nicht innerhalb der äußeren Umfriedung undMauern des Klosters wohnen oder sich aufhalten dürfen. Deshalb ge-bieten Wir allen und jedem einzelnen, den es betrifft, kraft des heili-gen Gehorsams und unter der Strafe der höheren Exkommunikation,daß sie ausnahmslos alle Frauen aus dem Kloster fernhalten, entfer-nen und ausschließen, soweit es jetzt welche in ihm gibt, und andereniemals zulassen oder innerhalb der Umfriedung des Klosters dul-den.

Über Titel und Ansprüche des Klosters: Im Anschluß an Unsere letzteVisitation befehlen Wir unter der Strafe der höheren Exkommunika-tion, daß innerhalb eines Monats, vom heutigen 15. September 1618an gerechnet, alle und jeder, der Dokumente oder Titel dieses Klos-ters hat, diese im Archiv hinterlegt, entsprechend der Anordnungdarüber, die Wir bei der erwähnten Visitation getroffen haben.

Über die Präbenden: Der Herr Abt wird verpflichtet sein, der Kom-munität der Kanoniker jährlich zwölf Präbenden zu zahlen, wie beider erwähnten Visitation bestimmt wurde. Die Kommunität der ge-nannten Kanoniker wird aber verpflichtet sein, zwölf geeignete Ka-noniker, die hier residieren oder von Rechts wegen als residierendgelten, zu nähren und zu unterhalten, d. h. für Nahrung, Kleidung undalles Lebensnotwendige aufzukommen.

Über die Gebäude: Ausgenommen davon sind die Gebäude des gan-zen Klosters, die auf Kosten und Rechnung des genannten Herrn Abtesin einen Zustand zu versetzen und zu erhalten sind, der den Erforder-

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nissen der regulären Observanz entspricht. Was die Wiederherstel-lung des Chores, des Refektoriums und der Uhr betrifft, hat der hoch-würdigste Herr Koadjutor und erwählte Abt versprochen, dafür zusorgen, daß es möglichst bald geschieht, so daß es am nächsten Weih-nachtsfest abgeschlossen ist. Das übrige aber, vor allem das Dormito-rium und die Klausurmauern des Klosters werde er wie ein sorgsamerFamilienvater nacheinander restaurieren. Im Vertrauen auf seineFrömmigkeit überlassen Wir ihm die Durchführung.

Über die übrigen Petitionen der genannten Herren Kanoniker, diedie Zahlung der Präbenden des vergangenen Jahres betreffen und dasNotwendige für die künftige Haltung eines Pferdes und ähnliches,glaubten Wir, weil darüber zwischen ihnen und dem genannten HerrnKoadjutor und Erwählten freundliches Einvernehmen besteht, nichtsweiter anordnen zu müssen, als was Wir nach gemeinsamer Überein-kunft der Parteien als geschrieben unterzeichnet haben.

Gegeben in der Abtei von Sixt, am 15. September 1618.Franz, Bischof von Genf.

OEA XXIV,464f. – – – Schließlich versichern Wir alle des Segens und des Schutzes

Gottes, die mit Liebe diese Anordnungen annehmen und durchfüh-ren, die mich einzig der Wunsch treffen ließ, daß Gott in euch herr-sche und sein Ruhm vermehrt werde. Ich hoffe, daß durch ihre Erfül-lung diese Ordensfamilie ihren alten Glanz wieder gewinnt und über-all den angenehmen Duft verbreite, mit dem sie früher die ganze Ge-gend erfüllte.

Das erwarte ich von deiner barmherzigen Güte, mein Gott, unddarum bitte ich dich von ganzem Herzen für diese Menschen und fürjene, die ihnen nachfolgen werden.

Über die Durchführung gab es dann offenbar in Sixt neue Meinungsverschie-denheiten, denn nach der Rückkehr von seiner Reise nach Paris mahnte er dieOrdensgemeinde am 22. November 1619 zur Einheit und im Frühjahr 1620legte er beim Präsidenten der Rechnungskammer, Francois de Tardy, Fürspra-che für sie ein, als der Abt gegen sie prozessierte.

OEA XIX,57 Annecy, 22. November 1619Meine Herren Mitbrüder!

Ich grüße euch und umarme euch im Geist sehr herzlich bei meinerAnkunft nach so langer Abwesenheit. Ich habe erfahren, daß der Feind

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des Friedens und der Einigkeit allmählich Gedanken der Zwietrachtunter euch zu säen versucht. Ich bitte und ermahne euch von ganzemHerzen, laßt nicht zu, daß er die Übermacht über die heiligen undehrenvollen Beschlüsse gewinne, die ihr mit mir gefaßt habt, gemein-sam und miteinander verbunden im Gehorsam gegen eure Regeln zuleben. Unter ihnen ist die wichtigste die Gemeinsamkeit und die Ein-heit der Herzen und der Güter. Ihr werdet stark sein, wenn ihr einigseid, schwach und vom Untergang bedroht, wenn ihr uneinig seid.Und wie ich euch immer gern zu Diensten sein werde, solange ihrtreu nach den gefaßten Beschlüssen lebt, könnte ich leicht den Eiferdafür verlieren, wenn ihr mich durch eure Uneinigkeit der Möglich-keit beraubt, euch beizustehen.

Ich bitte Gott, euch zu segnen, und bin euer ganz demütiger undsehr ergebener Mitbruder

Franz, Bischof von Genf.

OEA XIX, 165f Annecy, 18. März 1620Mein Herr!

Abgesehen davon, daß die ehrwürdigen Ordensleute von Sixt durchihr vorbildliches Leben und ihren Eifer für die Reform gefördert zuwerden verdienen, fühle ich mich durch den Rechtsstreit, den sie ge-genwärtig haben, dazu verpflichtet, mit ihnen die gleiche Bitte an Siezu richten, damit Sie die Ordensleute in der Wahrung ihres gutenRechtes unterstützen möchten. Der Streit hat ja seinen Anfang zumTeil in der Visitation genommen, die ich gehalten habe. Ich kannwohl Gott selbst zum Zeugen anrufen, daß ich dabei nur seinen Dienstim Auge hatte und außerdem fast nichts anordnete, als wozu ich durchGründe das gütliche Einverständnis der Parteien erreicht hatte. Da-mit werden Sie ein Gott sehr wohlgefälliges Werk tun, das auch michsehr verpflichtet, der ich für immer Ihr sehr demütiger Diener bin,

Franz, Bischof von Genf.

Erst im November 1620 konnte der Bischof durch sein persönliches Erschei-nen in Sixt den Streit zwischen dem Abt und dem Konvent beilegen. Kaum warer nach Annecy zurückgekehrt, da verlangte der Abt Jacques de Mouxy drin-gend nach ihm, legte seine Lebensbeichte ab und starb unter dem Beistand desBischofs am 4. Dezember 1620. Nun wollten die Kanoniker seinen Neffen Hum-bert de Mouxy nicht als Abt anerkennen, weil sie die Gültigkeit seiner Ernen-nung zum Koadjutor bezweifelten. So verzögerte sich ihre Profeß weiter, wieder folgende Brief zeigt.

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OEA XX, 156 Annecy, 23. September 1621Meine Herren Mitbrüder!

Da Herr Lachat, der Pfarrer von Vailly, hier ist, wollte ich seinenguten Willen benützen, um euch diese paar Zeilen zukommen zu las-sen. Durch sie will ich euch an den Eifer erinnern, den ihr so offen-kundig gezeigt habt, daß ihr die Ordensprofeß ablegen wollt, die fürdie gute Verfassung eures Klosters so notwendig ist. Ich bitte euchalso, einen endgültigen Entschluß über den geeigneten Zeitpunkt zufassen und über die Personen, von denen ihr wünscht, daß sie daranteilnehmen. Wenn ich darüber Nachricht habe, werde ich meinerseitsWeisung geben, damit euch mit Gottes Hilfe nichts fehle. Ich bitteihn indessen, euch mit seiner Gnade zu überhäufen, und bin, meineHerren, euer ganz demütiger und sehr ergebener Mitbruder,

Franz, Bischof von Genf.

Franz von Sales erlebte den Abschluß der Reform nicht mehr. Im Januar1622 übergab er den Kanonikern die Konstitutionen der Heimsuchung (s. Band8,338). Diesen entnahmen sie Anregungen für ihre Konstitutionen, die derNachfolger des Bischofs 1635 approbierte. So führten die geduldigen Bemü-hungen des Heiligen in Sixt, wenn auch erst nach seinem Tod, doch noch zumErfolg.

2. Die Abtei Notre Dame von Abondance

Einfacher und radikaler war die Lösung im Mutterkloster von Sixt, in derAbtei von Abondance. Hier sah Franz von Sales von Anfang an keine Möglich-keit, die wenigen Augustiner Chorherren für die Reform zu gewinnen; deshalbwollte er sie durch Feuillanten ersetzen, eine reformierte Kongregation, die ausdem Zisterzienserorden hervorgegangen war und 1589 von Rom approbiertwurde. Der Bischof legte seinen Plan sowohl Papst Clemens VIII. als auch demHerzog vor.

OEA XII,371-374 Annecy, 27. Oktober 1604Heiliger Vater,

es gibt nichts Besseres als gute Ordensleute und nichts Schlimme-res als schlechte, sagten die Alten; und die Erfahrung unserer Zeitbestätigt das so klar, daß man mit Jeremia (24, 1-3) von ihnen sagenkann: Wenn die Feigen gut sind, dann sind sie sehr gut; wenn sie verdor-ben sind, dann ganz schlecht. Doch keine Diözese des katholischenErdkreises ist mehr als die von Genf der Plage dieser schlechten Fei-

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gen ausgesetzt, während keine mehr als sie der Erfrischung durch dieErnte guter Feigen bedürfte. Heiliger Vater, wir stehen hier in vor-derster Linie und sind den Angriffen der Feinde als erste ausgesetzt.Ihre Taktik besteht darin, wegen des Sittenverfalls der Unseren dieganze Lehre der Kirche anzugreifen und die schwachen Geister desVolkes zu verwirren. Deshalb ist es um so beklagenswerter daß unterden zahlreichen Klöstern verschiedener Orden, die in dieser Diözeseerrichtet wurden, kaum eines zu finden ist, in dem die Ordensdiszi-plin nicht erschüttert, ja fast ganz zerstört wäre, so daß nicht einmaleine Spur jenes früheren himmlischen Eifers zu finden ist, so sehr istdas Gold geschwärzt und der schöne Glanz geschwunden (Klgl 4,1).

Erfahrene Kenner sind nun der Auffassung, daß diesem Übel nichtbesser abgeholfen werden kann als dadurch, daß Ordensleute aus re-formierten Kongregationen berufen und an die Stelle jener eingesetztwerden, die (um mich sehr gemäßigt auszudrücken) das Land bisherzu Unrecht besaßen. Von diesem Gedanken geleitet, schlägt Vespasi-an Ajazza vor, das Kloster Unserer lieben Frau von Abondance, des-sen Kommendatar-Abt er ist, womöglich Ordensleuten der Feuillan-ten vom hl. Bernhard zu übergeben und zu übertragen, deren guterRuf schon weit verbreitet ist. Von dort sollen sechs Mönche entferntwerden, die fast alle zwar nichts tun, aber durch Alter und krassesteUnkenntnis der Ordensdisziplin fast vollendet sind. Der Vorschlagist wirklich gut und der Annahme durchaus würdig (1 Tim 1,15), da-mit in den Garten der Kirche Blumen statt Dornen gepflanzt werden.

Mit dem General der Kongregation der Feuillanten ist alles bespro-chen und vereinbart, was notwendig schien, damit das geschehen kann.Auf diese Weise schien nur noch eines, dies aber am meisten und vorallem wünschenswert, nämlich die Genehmigung des Heiligen Stuh-les, damit das alles durchgeführt werden kann und nach der Durch-führung festen Bestand hat ...

OEA XII,374f Annecy, 27. Oktober 1604Eure Hoheit!

Seit langem weiß ich, wie sehr Eure Hoheit die Reform der Klösterdiesseits der Alpen wünscht, auch daß Sie es immer für das besteMittel dazu gehalten haben, auf einem vernünftigen Weg Ordensleuteund Mönche zu entfernen, die sich bisher schlecht geführt haben, undan ihre Stelle andere Ordensleute von reformierten Kongregationen

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zu setzen. Deshalb zweifle ich in keiner Weise daran, daß Eurer Ho-heit der Plan des Herrn Abtes von Abondance sehr willkommen seinwird, in sein Kloster die guten Patres von St. Bernhard einzuführen,die durch ihr vorbildliches Leben und ihre Lehre den Schaden gutma-chen werden, den die anderen durch ihr schlechtes Beispiel angerich-tet haben. Ich muß dennoch meine untertänigste Bitte darum an EureHoheit richten als an den, der dadurch ebenso getröstet sein wird, wiedas Volk dieser Diözese dadurch erbaut wird ...

Durch den Tod Clemens VIII. verzögerte sich die Genehmigung durch denApostolischen Stuhl, die Paul V. am 28. 9. 1606 durch ein Breve erteilte. Zudessen Ausführung delegierte Franz von Sales seinen Generalvikar:

OEA XXIV,466f Thonon, 2. Mai 1607Franz von Sales, durch Gottes und des heiligen Apostolischen Stuh-

les Gnade Fürstbischof von Genf, gibt allen, die dies lesen, kund undzu wissen:

Wir haben von unserem Heiligen Vater Papst Paul V. ein Breveempfangen, gegeben in Rom bei St. Markus am 28. September desvergangenen Jahres 1606 und gezeichnet von Cobelluzi, durch dasUns aufgetragen wird, die Ordensleute vom hl. Augustinus aufzuhe-ben, die sich in der Abtei Unserer lieben Frau von Abondance inUnserer Diözese befinden, und an ihrer Stelle zwölf Mönche des Or-dens des hl. Benedikt von der Kongregation Notre Dame der Feuil-lanten einzusetzen. Wir sind von Seiner Heiligkeit zur Durchführungdes Breves ermächtigt. Da Wir infolge verschiedener, unerwartet auf-getretener Amtsgeschäfte dem Auftrag nicht selbst entsprechen kön-nen, haben Wir zu dessen Durchführung delegiert und delegieren durchdieses Schreiben den hochwürdigen Herrn Jean Favre, Doktor derRechte und Domherr von St. Peter in Genf, von Uns als Unser Offizi-al und Generalvikar in Unserer Diözese bestellt. Wir delegieren undbeauftragen ihn mit der Durchführung des genannten Breves nachseinem Wortlaut und Inhalt.

Zur Beglaubigung dessen haben Wir dieses Schreiben erlassen underlassen es, mit eigener Hand gezeichnet und gesiegelt und gegenge-zeichnet von Unserem Aktuar.

Thonon, am 2. Mai 1607Franz, Bischof von Genf.

Decomba.

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Der Kommendatar-Abt von Abondance, Vespasian Ajazza, mit dem Franzvon Sales eine enge Freundschaft verband, wollte dieses geglückte Modell auchauf andere Klöster übertragen (vgl. Band 8,167). Diesen Gedanken sprach derBischof selbst in einem Brief an den Feuillanten Asseline aus:

OEA XV, 116f Annecy, 15. November 1611Es ist wahr, daß ich Ihre Kongregation von Herzen liebe, bisher aber

mit einer unfruchtbaren Liebe. Gott mache sie ebenso wirksam, wie sieherzlich ist; und wir werden nicht nur in Abondance, sondern in zweioder drei bedeutenden Klöstern dieser Diözese die heilige Frömmig-keit wieder aufblühen sehen, die der glorreiche Freund Gottes undUnserer lieben Frau, der hl. Bernhard, begründet hat. – – –

3. Das Priorat von Talloires

Das Priorat der Zisterzienser in Talloires war abhängig von der Abtei Savigny.Der Verfall der Observanz war hier so skandalös, daß Franz von Sales auch dieZisterzienser durch Feuillanten ersetzen wollte (vgl. den Brief von Ende 1603an den Nuntius). Dem widersetzten sich jedoch der Abt von Savigny und derPrior von Talloires, Claude-Louis-Nicolas de Quoeux, ein Freund des Bischofs,den er aus Savigny nach Talloires geholt und 1606 zum Priester geweiht hatte.Nach seiner Wahl zum Prior (im Juni 1609) mußten einige gewalttätige Oppo-nenten das Kloster verlassen, und nun versuchte der Bischof mit dem Prior dieReform zu erreichen; darüber schrieb er ihm:

OEA XIV, 172-175 Annecy, 10. Juli 1609Mein Herr,

da Gott eine sehr kleine Zahl, noch dazu aus den Geringeren desKlosters an Alter und Ansehen, gewählt hat, muß alles unternommenwerden mit sehr großer Demut und Einfachheit, ohne daß es den An-schein hat, diese kleine Zahl wollte die anderen rügen oder tadeln,weder durch Worte noch durch äußere Gebärden. Man muß sie viel-mehr erbauen durch gutes Beispiel und im Gespräch.

Da der Beginn so klein ist, muß man eine große Langmut im Stre-ben haben und sich erinnern, daß Unser Herr nach 33 Jahren nur 120richtig geeinte Jünger hinterließ, und unter ihnen gab es noch vielemit schwierigem Charakter. Die Palme, die Königin der Bäume, bringtihre Frucht erst hundert Jahre, nachdem sie gepflanzt wurde. Es ziemtsich daher, bei einem Werk von so großer Wichtigkeit mit einem

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großmütigen Herzen und mit langem Atem ausgestattet zu sein. Gotthat die Reformen durch kleine Anfänge bewirkt, und man darf nichtsGeringeres anstreben als die Vollkommenheit.

Und um zu Einzelheiten zu kommen, meine Auffassung ist, daßIhre ganze heilige Gemeinschaft darauf achten soll, wenigstens ein-mal in der Woche fromm zu kommunizieren. Man lehre sie, jedenAbend ihr Gewissen gut und geziemend zu erforschen; man unter-weise sie, das Geistesgebet recht zu verrichten, je nach der Dispositi-on des einzelnen; vor allem lehre man sie, dem Seelenführer sehrwillig, sehr fest und sehr beständig zu gehorchen.

Was den Habit betrifft, glaube ich nicht, daß es günstig wäre, ihnvor Ablauf eines Jahres zu ändern. Wohl wünsche ich, daß er in allemso einheitlich sei, wie es sich machen läßt, sowohl in der Form wie imStoff, und daß der Froc weit sei nach der Form der reformierten Be-nediktiner. Mir scheint, daß man das Hemd des Anstands wegen bei-behalten muß, jedenfalls wenn der Kragen nicht übermäßig breit ist,sondern sehr schmal und von der gleichen Art. Alle sollen außerdemdas Zingulum und das Birett von der gleichen Form tragen und allessehr passend.

Was die Betten betrifft, je einfacher sie sind, um so passender wer-den sie auch sein. Jeder soll sein eigenes haben und sie sollen soangeordnet sein, daß man beim Niederlegen und Aufstehen nicht ei-ner den anderen sieht, damit selbst die Augen rein und lauter seien.

Ich würde es sehr begrüßen, wenn diejenigen, die einen Bart tragen,nach alter Gewohnheit der Benediktiner am Kopf und am Kinn gutrasiert sind; und daß man soviel als möglich nicht mehr allein ausge-he, sondern stets mit einem Gefährten.

Es wäre zweckmäßig, daß die kleine Schar zu den Gottesdienstengemeinsam einzieht, verbleibt und auszieht, in der gleichen Haltungund Zeremonie, denn die äußere Haltung, ob beim Chorgebet, beiTisch oder in der Öffentlichkeit, ist ein mächtiges Motiv zu viel Gu-tem.

An diesem Beginn ist es nicht notwendig, zur Abstinenz am Freitagund Samstag eine weitere hinzuzufügen, außer die am Mittwoch ge-mäß der alten Übung und Mäßigung, die im Kloster beobachtet wird.

Das ist meine kleine Anweisung für den Beginn. Das angestrebteZiel wird mit Gottes Hilfe etwas ganz anderes sein; denn wie Siewissen „ist das Erste in der Absicht das Letzte in der Ausführung“.

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Um aber in diesem Werk gut zu dienen, muß man einen unüberwind-lichen Mut haben und die Frucht in Geduld erwarten (Lk 8,15). Ichkenne und sehe eure Regel, die Wunderbares sagt; es ist aber dennochnicht zweckmäßig, ohne Mittelweg von einem Extrem zum anderenzu gehen.

Hegen Sie weiterhin die gute Absicht in Ihrem Herzen, mein Herr,die Mauern Jerusalems wieder aufzubauen (Gen 12,36). Gott steheIhnen mit seiner Hand bei. Seien Sie vor allem darauf bedacht, Milchund Honig (Hld 4,11) zu geben, weil die schwachen Zähne der Gela-denen feste Speisen noch nicht kauen können (vgl. 1 Kor 3,2).

Mit Gott, und haben Sie guten Mut, einer von denen zu sein, durchdie Israel Heil widerfährt (1Makk 5,62). Ihr ergebener Mitbruder undDiener im Herrn,

Franz, Bischof von Genf.

Neue Unruhen in Talloires zwangen Franz von Sales im Oktober 1610 zumEinschreiten. Er überzeugte sich, daß nur die Einführung der Feuillanten Ab-hilfe schaffen konnte, und erhielt die Ermächtigung dazu vom Heiligen Stuhlund vom Herzog (am 11. 9. und 15. 12. 1612). Darauf strengte der Abt vonSavigny in Rom einen Prozeß gegen die Feuillanten an. In dieser Situationschrieb Franz von Sales an seinen Vertrauten Philippe de Quoeux, einen Bruderdes Priors von Talloires:

OEA XVI, 113-117 Annecy, Mitte Dezember 1613Mein Herr,

ich weiß nicht, wie Sie auf den Gedanken kommen können, daß ichan Ihrer Freundschaft Zweifel hegen könnte wegen des ganzen Bei-stands, den Sie Ihrem Bruder, dem Herrn Prior, und seiner refor-mierten Gruppe leisten. Ich habe ja kein anderes Interesse am Aus-gang Ihres Unternehmens als dasselbe, das Sie in Ihrem Brief als dasIhre bezeichnen: die größere Ehre Gottes und den größeren Dienstseiner Kirche; und es ist gleichgültig, ob Gott durch schwarz oderweiß gekleidete Ordensleute gedient wird.

Aber ich sage noch mehr, und ich sage es vor Unserem Herrn: Auchwenn ich mehr Interesse für die eine als für die andere Seite hätte, sowürde ich doch von der göttlichen Majestät die Gnade erhoffen, nichtso leidenschaftlich und ungeordnet in der Eigenliebe zu stecken, daßich jemand böse wäre, der nicht meiner Ansicht ist. Nein, ich denkebestimmt nicht, daß mein Empfinden, meine Meinung und meine

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Interessen für irgendeinen Menschen in der Welt maßgebend seinmüßten, besonders nicht für meine Freunde. Ich wäre ihnen umge-kehrt überaus verbunden, wenn sie mich nicht weniger als Ihren lie-bevollen und wahren Freund betrachteten, weil ich anderer Ansichtbin als sie. Die Engel haben Meinungsverschiedenheiten in der Tätig-keit, der hl. Petrus und der hl. Paulus hatten solche (Gal 2,11-14),wie auch der hl. Paulus und der hl. Barnabas (Apg 15,36-39), ohnedaß dadurch ihre untrennbare Liebe vermindert wurde.

Ich habe Ihnen in aller Einfalt meine Meinung über die Reformgesagt, die Sie wünschen: es ist aus Respekt für die eine, die ich fürgut halte, und für die andere, die ich für besser halte; und ich wärebetrübt, wenn ich den milden und friedlichen Eifer verlöre, den ichbeiden schulde. Aber habe ich Ihnen das nicht bei Ihrer Abreise klargesagt? Ich habe damals aufrichtig gesagt (ich wiederhole es jetzt undwerde künftig sagen): Jeder soll in seinem Inneren überzeugt sein (Röm14,5), wenn nur Christus verherrlicht wird.

Das ganze Mißfallen, das ich dabei empfinde, besteht darin, daß ichIhnen nicht ganz zu Gefallen sein und mich nicht Ihrem Wunsch an-schließen kann, selbst darin, an den Hochwürdigsten Kardinal Bel-larmin zu schreiben. Ich bin schon früher von einer Partei abgelehntworden, die sich über mich beschwert; es ist nicht vernünftig, mirauch die Klagen der anderen Partei aufzuhalsen.

Ich weiß überhaupt nichts über die Reformierten von N., außer vomHerrn Prior und von M.; ich kenne die anderen nur dem Namen nachund einige vom Sehen. Ich bin als Kommissar delegiert und darf keinVorurteil haben, damit ich noch entscheiden kann, wenn die Parteienirgendetwas gegen die Reform vorbringen. Mir scheint, es gibt tau-send Gründe, warum ich die eine und die andere Seite hören muß,ohne mich durch Hilfeleistung für die einen oder die anderen einzu-mischen, bis ich vom Richteramt entbunden bin, das mir übertragenwurde.

Unsere Freundschaft beruht nicht auf der Reform der einen oderder anderen; deshalb bitte ich Sie, mir die Ihre zu bewahren bei alldiesen Verhandlungen, wie auch ich meinerseits bei ihr bleibe aus sovielen Rücksichten, die ich Ihnen schulde. Ich weiß, ein anderer, derweniger rücksichtsvoll und liebenswürdig wäre als Sie, könnte beidiesen Verhandlungen viel über mich sagen, wie es in Chambéry ge-schehen ist. Dafür preise ich Gott, daß lieber Sie es sind als ein ande-rer, obwohl ich fest überzeugt bin, um es freimütig unter uns zu sagen,

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daß ich von keinem getadelt werde, der ohne Leidenschaft Zeit undUmstände berücksichtigt bei dem, was durch meine Hände gesche-hen ist und was durch jene geschehen ist, die sich beschweren. Wennes aber Gott gefallen sollte, daß er jemand wie mich abtöten läßt, wirdmein zweites Heilmittel die Geduld sein.

Ich schließe daher, wie ich begonnen habe, von neuem mit demDank für die Mühe, die Sie sich mit den guten Seelen machen, dieGott für Sie bitten werden, die Ihnen äußerst verbunden sind, so wieich, der ich von ganzem Herzen ohne Ende bin, mein Herr, Ihr ganzdemütiger, ganz ergebener und treuer Mitbruder,

Franz, Bischof von Genf.

Ich habe gewußt, wie wenig man im Rat von N. vom Ortsbischofhält; aber ich kann mich doch nicht dazu bereitfinden, etwas zu tunohne reifliche Überlegung, denn man darf keinen Fehler machen,wenn man sich dem Schlechten widersetzt. Man kann unmöglich ver-hindern, daß jeder in guter Absicht seinen Vorteil zu gewinnen trach-tet.

Der Prozeß verhinderte naturgemäß die Reform. Als zwei Mönche öf-fentliches Ärgernis gaben, schrieb Franz von Sales an den Prior von Tal-loires:

OEA XVI,127f Annecy, 1611-1613Ich wünsche so sehr das Wohl und den guten Ruf Ihres Klosters,

daß mich jede Kenntnis von gegenteiligen Dingen bewegt und michzum Eifer anregt. Ich habe erfahren, daß die Herren N. und N. einenso üblen Geruch ihrer Jugend verbreiten, daß der Gestank davon biszum Senat gedrungen ist, der eingreifen will, wenn nicht ihre Besse-rung das verhindert. Es ist wahrhaftig eine große Schande für Sie,wenn die Laien Kenntnis von dem Tadel über Mitglieder der Gemein-schaft erhalten, über die man Sie als Oberhaupt eingesetzt hat. Aberdas wäre irgendwie auch ein Vorwurf gegen mich, der Sie dazu aufge-stellt hat, wenn ich nicht darauf bedacht wäre, Sie zu unterstützen,und ich schiene mitschuldig an allem, was dort geschieht, obwohl inWirklichkeit weder Sie noch ich es verhindern können.

All das zusammengenommen veranlaßt mich, Sie zu bitten und auf-zufordern, alle Sorgfalt darauf zu verwenden, um diese jungen Leuteauf den Weg ihrer Pflicht zurückzuführen und mir Nachricht zu ge-

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ben über ihre Haltung, damit ich Ihre Sorgfalt bezeugen kann wiemeine eigene und damit ich mein Gewissen beruhigen kann, das michspäter zwingen wird, andere Maßnahmen zu ergreifen, wenn Ihre Klug-heit, Wachsamkeit und Gerechtigkeit nicht ausreichen, diese Rebel-len zu zähmen. Ich wundere mich über ihre Liederlichkeit um somehr, als ihre Herkunft sie zum Streben nach Tugenden und nach derFrömmigkeit anhalten müßte, die ihrer Berufung entsprechen. Ihrjugendliches Alter mag sie bis jetzt schützen, aber die Fortdauer machtsie künftig unentschuldbar.

Sie wissen, wie sehr und wie herzlich ich Sie liebe und wie ganzbesonders. Das läßt mich glauben, daß Sie diese Mahnung ebensosanftmütig annehmen, wie ich Ihnen diesen Verweis mit großer Liebeerteile zum Wohl des Hauses, in dem Unser Herr Sie erhalten möge,das er so mit Heiligkeit erfüllen wolle, wie ich weiß, daß Sie es mitmir wünschen, der ich Ihr sehr ergebener Diener bin,

Franz, Bischof von Genf.

Das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Franz von Sales und Philippe de Quoeuxblieb durch den Prozeß ungetrübt, wie der Anfang eines Briefes zeigt, der imübrigen verschiedene Fragen behandelt, die Quoeux im Auftrag des Bischofs inRom vertrat:

OEA XVI, 147-154 Annecy, 27. Januar 1614Mein Herr,

ich bin Ihnen unendlich dankbar für die Freundlichkeit, mit der Siemeine Ansichten aufnehmen. Sie sind in Wahrheit ganz aufrichtigund stehen im Dienst unseres gemeinsamen Herrn. Aber das ist mei-ner Meinung nach zwischen uns schon zu viel gesagt, denn wir kenneneiner den anderen zu gut, um Entschuldigungen oder Erklärungen beisolchen Anlässen nötig zu haben.

Ich habe einen Brief vom Hochwürdigsten Kardinal Borghese er-halten; er berührt in keiner Weise den Prozeß seit Ihrer Abreise.Der hochwürdigste Nuntius hat mich aufgefordert, ihm wahrheits-gemäß über den gegenwärtigen Zustand des Klosters von Talloireszu berichten; das habe ich getan, so gut es mir möglich war. Nun istes Sache der Vorsehung Gottes, zu entscheiden, und unsere Sache,in Frieden und Ehrfurcht mit Ergebung unseres Willens in seinenhochheiligen Willen abzuwarten, welchen Ausgang zu geben ihmgefallen wird. – – –

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Franz von Sales verfolgte die Entwicklung in Talloires weiter mit wachemInteresse (vgl. Band 8,253), beklagte die Uneinigkeit der Gutgesinnten (Band8,277) und hielt auch nach dem Tod seines Freundes Philippe de Quoeux dieVerbindung mit dem Prior (s. Band 8,281) und dessen Bruder Claude (s. Band8,257) aufrecht.

Im Oktober 1621 (OEA XX,403-405) ernannte der Herzog den Bischof vonGenf unter Berufung auf die Reform von Talloires zum ‚Oberhaupt aller refor-mierten Benediktiner‘ in Savoyen, – aber die Einsetzung der Feuillanten inTalloires, und damit die volle Reform, war gescheitert.

4. Das Priorat von Contamine

Eine Reform der Benediktiner von Contamine, die von Cluny abhängig wa-ren, schien von Anfang an aussichtslos. Die Einkünfte des Priorates wurden1599 für das ‚Heilige Haus‘ in Thonon bestimmt (vgl. Band 8,178.248.250).Als 1616 die Barnabiten die Leitung des Kollegs in Thonon übernahmen, schlugFranz von Sales vor, ihnen Contamine zuzuteilen (vgl. Band 8,251f.280). So-wohl Cluny als auch einzelne Mönche, die untereinander uneins waren (vgl.Band 8,317), suchten das zu verhindern oder zu umgehen; so mußte der Bischofwiederholt die Autorität des Prinzen Victor-Amédee einschalten, der sich derReform der Klöster angenommen hatte.

OEA XIX,55f Annecy, 19. November 1619Monseigneur!

Als Eure Hoheit den glücklichen Gedanken hatten, Ihre Sorge undIhre Autorität der Reform der hiesigen Klöster zuzuwenden, gabenSie die Weisung, daß die erledigten Präbenden des Klosters von Con-tamine zurückbehalten werden, um dann für diesen Zweck verwendetzu werden. Nun hat aber jetzt ein alter Mönch von Contamine densehnlichen Wunsch, daß einer seiner Neffen die Stelle und die Prä-bende erhalte, und hat ein Schreiben Seiner Hoheit erwirkt, in dem eranordnet, daß ihm diese Präbende verliehen wird. Man kann abernicht glauben, daß dieses Schreiben den Absichten des Herzogs ent-spricht, denn es steht im Widerspruch zu dem Beschluß, der mit soviel Bedacht gefaßt wurde. Es kann ja sein, daß Seine Hoheit die Erin-nerung an ihn nicht immer gegenwärtig hat. In der Erwartung, daßman von Rom die Vollmacht erreicht, diese Präbenden nützlicher zuverwenden, wird man sie verwenden, um die notwendigen Wohnun-gen auszubauen und die Sakristei dieser Kirche instandzusetzen.

Eure Hoheit wird daher untertänigst gebeten, den Willen SeinerHoheit in diesem Fall klären zu lassen, damit man mit Sicherheit sich

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ihm entweder fügen kann oder, was wünschenswert ist, diese Präben-de verweigern. Indessen bitte ich Gott, Eure Hoheit immer mehr mitseinen Segnungen zu überhäufen, und bin, Monseigneur, Ihr sehr de-mütiger, sehr gehorsamer und sehr treuer Fürbitter und Diener,

Franz, Bischof von Genf.

OEA XX,368f Annecy, 24. September 1622Monseigneur!

Bei meiner Ankunft hier traf ich den Herrn Subprior und den Sa-kristan von Contamine an, die im Begriff sind, die vier Präbenden zuvergeben, von denen Eure Hoheit angeordnet haben, daß sie unbe-setzt bleiben, um für die Kollege der Barnabiten verwendet zu wer-den. Tatsächlich haben sie diese mit vier jungen Verwandten besetzt,denen sie mit der Vollmacht des Herrn Abtes von Cluny, ihres Gene-raloberen, den Habit ihres Ordens gegeben haben.

Eure Hoheit war sehr richtig der Auffassung, daß es zweckmäßigerwar, die Einkünfte dieses Klosters zum Unterhalt der Kollege undLektoren der Barnabiten umzuwandeln, in der Voraussicht, daß essich um ein völlig verfallenes Kloster handelt, das nicht gut wieder-hergestellt werden kann und in dem die klösterliche Disziplin in kei-ner Weise gewahrt wird, ebenso wie an anderen Orten dieses Ordensauch. Es bleibt noch zu wünschen, daß der gerechte Plan verwirklichtwird, den Eure Hoheit so oft gefaßt hat, nicht nur zu verhindern, daßdie Präbenden vergeben werden, sondern auch von Seiner Heiligkeitdie erforderlichen Maßnahmen zu erwirken für die Übertragung derEinkünfte vom Orden von Cluny auf den der Barnabitenpatres, derfür den Dienst Gottes und das allgemeine Wohl unendlich nützlicherist. Eure Hoheit bestand auf diesem Entschluß, als ich Turin verließ.Es bleibt also nur, daß das entsprechende Gesuch gemacht wird. Da-rum bitte ich jetzt Eure Hoheit untertänigst ...

OEA XX, 383f Annecy, 17. Dezember 1622Monseigneur!

Die alten Mönche von Contamine versuchen auf verschiedene Wei-se ständig, ihrem Orden von Cluny den Besitz der Präbenden diesesOrdens zu erhalten, obwohl sie sehr gut wissen, daß Eure Hoheitbeschlossen hat, diese für den Unterhalt der Kollege und des Novi-ziates der Barnabitenpatres zu bestimmen, die in diesem Land errich-tet wurden. Deshalb, Monseigneur, wendet sich der Propst des Kol-

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legs von Thonon, der daran das meiste Interesse hat, an Eure Hoheit,damit Sie Anweisung geben, daß Ihrer Absicht entsprechend die Mön-che und Präbenden dieses Klosters aufgehoben werden. Eure Hoheithat mir den Auftrag gegeben, Sie auf Dinge hinzuweisen, die sich aufdie Förderung der Ehre Gottes in dieser Diözese beziehen, deshalbfüge ich dem Gesuch des Herrn Propstes der Barnabiten diesen Hin-weis hinzu.

Außerdem, Monseigneur, bitte ich Eure Hoheit untertänigst, an denerlauchten Prinzen Thomas zu schreiben, daß er den Rat des Heili-gen Hauses einberufe, damit durch seine Autorität Ordnung in denAngelegenheiten dieses Hauses geschaffen wird, das sonst ganz zu-grunde geht. Es wäre äußerst schade, wenn ein Werk von so hoher undgroßer Bedeutung, das Seine Hoheit mit solcher Frömmigkeit ge-gründet hat, aus Mangel an Hilfe und Ordnung unterginge.

Gott in seiner Güte erhalte Eure Hoheit lange, deren sehr demüti-ger, sehr treuer und sehr gehorsamer Fürsprecher und Diener ich un-veränderlich hin, Monseigneur.

Franz, Bischof von Genf.

Franz von Sales hat den Ausgang nicht mehr erlebt. Vor seiner Abreise nachLyon, wo er am 28. Dezember 1622 gestorben ist, übergab er alles dem Rat des‚Heiligen Hauses‘ (vgl. Band 8,349). Erst 1624 verfügte Rom die Aufhebungdes Priorates von Contamine zugunsten der Barnabiten.

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B. SchrifB. SchrifB. SchrifB. SchrifB. Schriften des geistlichen Lebensten des geistlichen Lebensten des geistlichen Lebensten des geistlichen Lebensten des geistlichen Lebens

Der zweite Teil dieses abschließenden Bandes bietet eine Zusammenstellunggeistlicher Schriften meist geringeren Umfangs, die hauptsächlich in den letz-ten Bänden der Annecy-Ausgabe, den sogenannten ‚Opuscules‘ enthalten sindund, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, bisher noch nicht ins Deutscheübersetzt wurden. Darunter sind zahlreiche Texte mit Gedankengängen, die inden Werken des hl. Franz von Sales oder in seinen Seelenführungs-Briefenmanchmal wörtlich wiederkehren; sie stellen vielfach die erste Fassung von Leit-gedanken seiner geistlichen Lehre dar und gewinnen an Interesse, wenn ihreAdressaten bekannt sind.

Um den Stoff übersichtlicher zu machen, werden diese Schriftstücke nicht,wie in der Annecy-Ausgabe, in chronologischer Abfolge wiedergegeben, sondernnach ihrem Inhalt bestimmten Gruppen zugeordnet.

Selbstzeugnisse (I) über das geistliche Leben des hl. Franz von Sales sind,abgesehen von der im ersten Teil enthaltenen bischöflichen Lebensordnung, ausseiner Studienzeit überliefert, ebenso die spärlichen Angaben über außerge-wöhnliche Gnaden. Seine Marienverehrung kennzeichnen die angeführten ma-rianischen Texte.

Vor allem in den ersten Jahren seines Wirkens als Seelenführer, beginnendmit den Fastenpredigten 1604 in Dijon, hat Franz von Sales einer Gruppe vonFrauen kleine Abhandlungen (‚Avis‘) geschickt. Zu ihnen gehörten außer derBaronin von Chantal als die bekanntesten Mme Brulart und ihre SchwesterRose Bourgeois, die Äbtissin von Puits-d’Orbe. Zusammen mit einzelnen Schrift-stücken für andere, meist unbekannte Personen und aus späteren Jahren bildendiese ‚Avis‘ den Inhalt der beiden folgenden Gruppen über das christliche Lebenin der Welt (II) und über Gebet und religiöse Übungen (III).

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Die Leichenrede für den Herzog de Mercoeur (IV) findet hier ihren Platz,weil Franz von Sales nach seinen eigenen Worten im ,Brief über die Predigt’ (s.A/II) in ihr ein Bild des christlichen Lebens in der Welt zeichnen wollte.

Das Interesse und das Wirken des hl. Franz von Sales für das Ordenslebenbeschränkte sich nicht auf seine Bemühungen um die Reform verkommenerKlöster, wie sie in Band 7 dieser Ausgabe für einige Frauenklöster und im erstenTeil dieses Bandes für Männerklöster aufscheinen. Hier ist auch seine Hochach-tung und Förderung der ,gut reformierten Orden’ und die Zusammenarbeit mitihnen zu sehen, die in zahlreichen Dokumenten und Briefen bezeugt sind, undschließlich die Gründung des Ordens von der Heimsuchung Mariä, mit der erseine Zielvorstellung vom Ordensleben verwirklichen wollte.

Zur Spiritualität des Ordenslebens (V) liegen einige ,Avis’ für bestimmteAdressaten vor. Ausführlich hat Franz von Sales seine Auffassung von der Voll-kommenheit des Ordenslebens in Ansprachen zu Einkleidungs- und Profeßfei-ern dargelegt, von denen hier Ausschnitte wiedergegeben werden; sie wurdenzwar in der Heimsuchung gehalten, haben aber grundsätzliche und allgemeineBedeutung.

Vom Geist der Heimsuchung (VI) hat ihr Gründer vor allem in den ,Geistli-chen Gesprächen’ sehr konkret gesprochen; auch die Briefe an Frau von Chan-tal (Band 5), an Schwestern der Heimsuchung (Band 7) und an verschiedenePersönlichkeiten im Zusammenhang mit der Gründung der Heimsuchung undmit ihrer Umwandlung in einen Klausurorden (Band 8, bes. 162ff.230ff) gebenAufschluß über seine Vorstellungen und Absichten. Hier folgen noch einigeSchriftstücke, die das Bild abrunden, darunter mehrere ,Avis’ für einzelneSchwestern und für Oberinnen.

Das Geistliche Direktorium (VII), das den Geist der Heimsuchung im Ablaufdes klösterlichen Lebens bestimmt, geht auf Franz von Sales zurück, wurde abernach seinem Tod schriftlich festgelegt.

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I. Selbstzeugnisse

Regeln für den Empfang der heiligen KommunionDie geistliche Kommunion23

Ich werde mich mit allen Mitteln bemühen, sooft es geschehen kann,ehrfürchtig das überaus erhabene und allerheiligste Sakrament desAltares zu empfangen. Ich werde mich erinnern, daß es eingesetztwurde zur Wiederherstellung des ursprünglichen geistlichen Charak-ters unserer Seele und daß es ihr gegeben ist zur Bewahrung und Er-haltung des streitenden geistlichen Lebens, bis man im triumphieren-den geistlichen Leben ist. Und ich werde meine Schwachheit undNichtigkeit eingehend erwägen, die ich so oft erfahren habe, daß ichkeines anderen Beweises bedarf. Folglich werde ich mein Herz oftmit dieser heiligen Speise kräftigen, entsprechend dem Schriftwort(Ps 104,15): Brot, das das Herz des Menschen kräftigt.

2. Wenn ich nicht öfter kann, werde ich nicht versäumen, sie we-nigstens jeden Monat zu empfangen im Gedanken, daß die zwölf Zei-chen des Tierkreises nichts anderes bedeuten und mich auffordern,mich vorzubereiten, damit ich einmal die Höhe dieses himmlischenBrückenkopfes erreichen kann, unter dem der Strom der Verände-rungen dieser Welt fließt, der Eitelkeit heißt. Ich werde auch jedenMonat kommunizieren, um Gott bei jedem Umlauf des Mondes zupreisen und um durch diese Zahl der Universalität mein ganzes Le-ben Gott zu weihen. Und jede Kommunion wird mich erinnern andas Leben und Sterben eines der zwölf heiligen Apostel und an einender zwölf Glaubensartikel.

3. Ich werde nicht jede Art von Unbequemlichkeit als rechtmäßigesHindernis für diese Übung betrachten, sondern einzig diejenige, dieso groß ist, daß man ihretwegen nicht kommunizieren kann. Ich weiß,daß es kein großer Dienst ist, was man aus Unachtsamkeit und nur beiGelegenheit tut, wenn man dafür eine große Bequemlichkeit hat.

4. Falls ich infolge eines rechtmäßigen Hindernisses nicht zum Tischdes Herrn gehen und mich mit dieser heiligen Speise stärken kann,sobald die gewohnte Zeit dafür da ist, werde ich als Ersatz irgendeinaußergewöhnliches gutes Werk tun, wie: irgendeine Beflissenheit imGebet, in leiblicher oder geistiger Barmherzigkeit und ähnliches. Ich

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werde dabei jene nachahmen, die im Winter kein Feuer haben, umsich vor der Kälte zu schützen, und sich darauf verlegen, um so mehrÜbungen und Bewegung zu machen. So werde ich, wenn ich michdem heiligen Sakrament nicht nähern kann, dem Feuer, das UnserHerr auf die Erde zu bringen gekommen ist (Lk 12,49), um so mehrÜbungen und Bewegung in der Tugend machen, damit mich der kalteNordwind (Jer 1,14) nicht innerlich erstarren läßt, von dem allesÜbel kommt, nämlich die Sünde. Vor allem werde ich es wie dieFranzosen machen, die den Hunger durch Singen vertreiben, dennich werde das Fehlen dieses himmlischen Brotes ersetzen, indem ichum so mehr Gebete verrichte.

Ebenso werde ich mich durch die geistliche Kommunion stärken,d. h. durch die Sehnsucht nach dem Sakrament, wie jene, die maneinige Zeit durch den Duft aromatischer und wohlriechender Dingenährt, und ich werde mich am bloßen Duft eines so starken und kräf-tigen Weines berauschen, wie es dieses Sakrament ist. Und wenn ichdie Salbung nicht empfange, werde ich doch nicht unterlassen, demDuft der Salben (Hld 1,3) des Herrn nachzulaufen.

Die Lebensregel von Padua24

1. Die Übung der Vorbereitung

Stets werde ich die Übung der Vorbereitung allem anderen vorzie-hen und ich werde sie wenigstens einmal am Tag machen, d. h. amMorgen; und wenn sich ein außergewöhnlicher Anlaß bietet, werdeich mich ihrer bedienen und ihn zum Gegenstand dieser Übung ma-chen. Und damit die Vorbereitung gleichsam der Quartiermacher füralle unsere Handlungen sei, werde ich mich je nach den verschiede-nen Umständen mit ihnen befassen und mich bemühen, mich mitHilfe der Vorbereitung in die Verfassung zu versetzen, meine Aufga-ben gut und lobenswert zu lösen und zu erfüllen.

Der erste Teil dieser Übung ist die Anrufung. In der Erkenntnis,daß ich unzähligen Gefahren ausgesetzt bin, werde ich daher Gott umseinen Beistand anrufen und sagen:25 Herr, wenn du nicht auf meineSeele achtest, ist es vergeblich, daß ein anderer sich um sie sorgt (Ps127,1). In der Erkenntnis, daß mich der Umgang mit anderen früher

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oft in Unvollkommenheiten und Fehler fallen ließ, werde ich dannausrufen: Meine Seele, sag kühn: Von meiner Jugend an haben siemich hart und sehr oft verfolgt (Ps 129,1); und weiter: Mein Gott, seimein Beschützer, sei mir ein Zufluchtsort; rette mich vor den Nachstel-lungen meiner Feinde (Ps 31,3). Herr, wenn du willst, kannst du michrein machen (Mt 8,2). Mit einem Wort, ich werde ihn bitten, daß ermich würdig mache, den Tag zu verbringen, ohne ihn zu beleidigen.Dazu werde ich mich der Worte aus Psalm 144 bedienen: Ich habemein Herz zu dir erhoben; dafür befreie mich von meinen Feinden,mein Gott; lehre mich, deinen Willen zu tun; dein guter Geist führemich an der Hand auf dem rechten Weg und deine göttliche Majestätschenke mir das wahre Leben durch ihre unüberwindliche Liebe unddurch ihre unermeßliche Güte.

Der zweite Teil ist die Vorstellung, die nichts anderes ist als einVorausschauen und Vermuten, was sich während des Tages ereignenkann. Daher werde ich an die Ereignisse denken, die eintreten kön-nen, an die Begegnungen, die ich möglicherweise haben muß, an dieAufgaben, die sich vielleicht stellen, an die Orte, an die ich michbegeben muß. Auf diese Weise werde ich weise und klug mit der Gna-de Unseres Herrn den Schwierigkeiten und gefährlichen Gelegenhei-ten zuvorkommen, die mich überraschen und überrumpeln könnten.

Der dritte Teil ist die Zurechtlegung. Wenn ich mir umsichtig dieverschiedenen Labyrinthe vorgestellt habe, in denen ich mich leichtverirren und in Gefahr bringen könnte, mich zu verlieren, werde ichsorgfältig überlegen und die besten Mittel suchen, um Fehltritte zuvermeiden. Ich werde mir auch zurechtlegen, was zu tun ratsam ist,die Ordnung und die Art, wie bei der oder jener Sache vorzugehen ist,was ich in Gesellschaft sagen und welches Verhalten ich einnehmen,was ich fliehen oder suchen werde.

Der vierte Teil ist der Entschluß. Darauf werde ich einen festenVorsatz fassen, Gott nie mehr zu beleidigen, besonders nicht an die-sem Tag. Daher werde ich mich der Worte des königlichen ProphetenDavid bedienen: Wohlan meine Seele, willst du nicht gern dem heiligenWillen Gottes gehorchen, zumal von ihm dein Heil abhängt (Ps 62,2)?Ach, wie groß ist die Feigheit, sich gegen die Liebe und das Verlangendes Schöpfers zum bösen Tun überreden und verführen zu lassen, ausFurcht, aus Liebe, aus Verlangen und Haß gegen Geschöpfe, wer im-mer sie seien! Gewiß, der Herr von unendlicher Majestät, den wir

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aller Ehre und jeden Dienstes würdig erkennen, kann nur aus Mangelan Mut verachtet werden. Wozu also seinen gerechten Gesetzen zuwi-derhandeln, um Schaden an Leib, Gütern und Ehre zu vermeiden?Was können uns die Geschöpfe anhaben? Wohlan, trösten und ermu-tigen wir uns alle miteinander mit dem schönen Vers des Psalmisten(Ps 99,1): Mögen mir die Bösewichte das Schlimmste antun, das siekönnen, der Herr ist mächtig, um sie alle königlich zu unterjochen.Mag nur die Welt gegen mich grollen, soviel sie will, ich mache mirnichts daraus, weil er mein Beschützer ist, der über alle himmlischenGeister herrscht.

Der fünfte Teil ist die Empfehlung. Deshalb werde ich mich undalles, was von mir abhängt, den Händen der ewigen Güte übergebenund sie bitten, mich stets ihr empfohlen zu halten. Ich werde ihr dieSorge völlig überlassen für das, was ich bin und nach ihrem Willensein soll. Ich werde von ganzem Herzen sagen: Herr Jesus, um eineshabe ich dich gebeten, und werde dich immer darum bitten, daß ichdeinen liebevollen Willen erfülle alle Tage meines armseligen und hin-fälligen Lebens. In deine Hände, gütiger Herr, empfehle ich meinenGeist (Ps 27,4; 40,9), mein Herz, mein Gedächtnis, meinen Verstandund meinen Willen. Gib doch, daß ich dir mit all dem diene, dichliebe, dir gefalle und dich immer preise.

2. Persönliche Führung, um den Tag gut zu verbringen

1. Artikel. – Wenn ich am Morgen erwache, werde ich meinem Gottsogleich Dank sagen mit den Worten des königlichen Propheten Da-vid: Beim Morgengrauen sollst du der Gegenstand meiner Betrachtungsein, denn du bist mein Schutz gewesen (Ps 63,7f). Dann werde ich anein heiliges Geheimnis denken, besonders an den frommen Eifer derHirten, die beim Morgengrauen kamen, um das göttliche Kind anzu-beten (Lk 2,15f); wie er am Tag seiner glorreichen Auferstehung sei-ner lieben Mutter, Unserer lieben Frau erschien, und an die Emsig-keit der Marien, die sich aus Pietät am frühen Morgen erhoben (Mk16,2), um das Grab des verstorbenen wahren Gottes des Lebens zuverehren. Darauf werde ich erwägen, daß unser liebevoller Erlöserdas Licht der Heiden (Lk 2,32; vgl. 8,12) ist und das Licht, das dieFinsternis der Sünde zerstreut. Hierauf werde ich einen heiligen Ent-schluß für den ganzen Tag fassen und mit David (Ps 5,5) singen: Ichwill mich früh erheben und mich in deine Gegenwart versetzen und

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erwägen, daß du Gott bist, dem die Sünde mißfällt. Daher werde ichsie fliehen, soviel ich kann, als etwas deiner unendlichen Majestätüberaus Mißfälliges.

2. Artikel. – Ich werde nicht versäumen, jeden Tag die heilige Messezu hören; und um diesem unaussprechlichen Geheimnis geziemendbeizuwohnen, werde ich die Fähigkeiten meiner Seele auffordern,dabei ihre Pflicht zu tun, mit dem ausgezeichneten Vers (Ps 46,9):Kommt und seht die Werke des Herrn; kommt und bewundert die Wun-der, die er auf unserer Erde gewirkt hat. Lk 2,15: Laßt uns nach Betle-hem gehen ... Gehen wir zur Kirche, denn dort wird das übererhabeneBrot bereitet durch die heiligen Worte, die Gott zu unserem Trost denPriestern in den Mund gelegt hat.

3. Artikel. – Wie der Körper den Schlaf braucht, um seinen ermüde-ten Gliedern Erholung und Erleichterung zu verschaffen, so hat auchdie Seele eine bestimmte Zeit nötig, um zu schlummern und in denkeuschen Armen ihres himmlischen Bräutigams zu ruhen, um aufdiese Weise die Kraft und die Frische ihrer geistlichen Fähigkeitenzu erneuern, die irgendwie erschlafft und ermüdet sind. Deshalb wer-de ich jeden Tag eine bestimmte Zeit diesem heiligen Schlaf widmen,damit meine Seele nach dem Beispiel des Lieblingsjüngers in vollerSicherheit an der liebevollen Brust (Joh 13,23), ja am liebenden Her-zen des liebevollen Erlösers schlafe.

Wie sich durch den körperlichen Schlaf alle körperlichen Vorgän-ge derart auf den Körper beschränken, daß sie sich überhaupt nichtnach außerhalb von ihm erstrecken, genau so werde ich dafür sorgen,daß sich meine Seele in dieser Zeit ganz in sich selbst zurückziehtund daß sie keine andere Tätigkeit ausübt als jene, die sie treffen undihr eigen sein wird, wenn sie demütig dem Wort des Propheten (Ps127,2) gehorcht: Surgite postquam sederitis, qui manducatis panemdoloris; die ihr bereitwillig das Brot der Schmerzen eßt, sei es imSchmerz über eure Sünden, sei es im Mitleid über die des Nächsten,erhebt euch nicht, geht nicht zu äußeren Tätigkeiten dieses geschäfti-gen Jahrhunderts, wenn ihr nicht vorher hinreichend geruht habt inder Betrachtung ewiger Dinge.

4. Artikel. – Wenn ich aber, wie es oft vorkommt, für diese geistlicheRuhe keine andere Stunde finde, werde ich wenigstens einen Teil derkörperlichen Ruhe stehlen, um sie getreu für einen so wachsamenSchlaf zu verwenden. Das werde ich so machen: entweder werde ichetwas länger als die anderen wachbleiben, selbst im Bett, wenn ich es

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nicht anders machen kann, oder ich werde nach dem ersten Schlafaufwachen, oder auch ich werde vor den anderen aufwachen und michdaran erinnern, was Unser Herr darüber gesagt hat: Wachet und betet(Mt 26,41; 22,40), aus Furcht, daß ihr von der Versuchung überwäl-tigt werdet.

5. Artikel. – Wenn Gott mir die Gnade erweist, nachts aufzuwachen,werde ich sogleich mein Herz ermuntern mit den Worten: Um Mitter-nacht erscholl der Ruf: Der Bräutigam kommt; geht ihm entgegen (Mt25,6). Dann werde ich von der Erwägung der äußeren Finsternis über-gehen zur Erwägung jener meiner Seele und der aller Sünder undwerde das Gebet sprechen: Illuminare qui in tenebris et in umbra mor-tis sedent, ad dirigendos pedes nostros in viam pacis (Lk 1,79). AchHerr, dein herzliches Erbarmen ließ dich vom Himmel auf die Erdeherabsteigen, um uns zu besuchen; erleuchte doch, die in der Finster-nis der Unwissenheit befangen sind und im Schatten des ewigen To-des, das ist der Todsünde. Führe auch sie, wenn es dir gefällt, auf denPfad des inneren Friedens. Ich werde mich auch bemühen, mich an-zuspornen, indem ich die Worte des heiligen königlichen Propheten(Ps 134,2) ausspreche: Erhebt in der Nacht eure Hände, streckt siegegen den Himmel aus und preist den Herrn. Ich werde mir Mühegeben, sein Gebot (Ps 4,5) zu erfüllen: Bereut selbst auf dem Lagerdie Sünden, die ihr allein in Gedanken begeht, um nach dem Beispieldes wohlgefällig büßenden Schwans gebührend das Wort zu erfüllen:Mit meinen Tränen will ich mein Lager benetzen (Ps 6,7).

6. Artikel. – Manchmal werde ich mich an Gott, meinen Erlöserwenden und zu ihm sagen: Nein, du schläfst und schlummerst nicht,der du das Israel unserer Seelen bewachst (Ps 121,4). „Dum mediumsilentium tenerent omnia, et nox in suo cursu medium iter haberet,omnipotens Sermo tuus, Domine, a regalibus sedibus venit“ (Miss-ale): Die dichteste Finsternis der Mitternacht kann deinem göttli-chen Wirken kein Hindernis sein; um diese Stunde wurdest du vonder heiligen Jungfrau, deiner Mutter geboren; um diese Stunde kannstdu auch deine himmlischen Gnaden entstehen lassen und uns mitdeinen teuersten Gunsterweisen erfüllen. Barmherziger Erlöser, er-leuchte mein armes, blindes Herz so mit den schönen Strahlen deinerGnade (vgl. Ps 13,4), daß es nie auf irgendeine Weise im Tod derSünde verbleibt. Ach, ich bitte dich, laß nicht zu, daß meine unsicht-baren Feinde sagen können: wir haben über ihn gesiegt. Und nach-dem ich die Finsternis und die Unvollkommenheiten meiner Seele

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erwogen habe, kann ich wohl die Worte bei Jesaja (21,11f) sagen:Custos, quid de nocte? Custos, quid de nocte? Das heißt: O Wächter,Wächter, bleibt noch viel von der Nacht unserer Unvollkommenhei-ten? Und ich werde hören, wie er mir antwortet: Der Morgen guterEinsprechungen ist gekommen; warum liebst du die Finsternis mehrals das Licht (Joh 3,19)?

7. Artikel. – Die nächtlichen Schrecken verhindern gewöhnlich sol-che Anmutungen. Wenn ich mich zufällig von ihnen ergriffen fühle,werde ich mich deshalb von ihnen befreien durch den Gedanken anmeinen guten Schutzengel und sagen: Mein Herr ist an meiner rech-ten Seite (Ps 16,8), damit ich nichts fürchte. Das haben manche Theo-logen auf den Schutzengel bezogen. Ich werde mich auch an den Vers(Ps 91,5) erinnern: Scuto circumdabit te veritas ejus, non timebis atimore nocturno: Der Schild des Glaubens (Eph 6,16) und des festenVertrauens auf Gott wird mich decken; deshalb brauche ich vor nichtsAngst zu haben. Dann werde ich mich der heiligen Worte Davids (Ps27,1) bedienen: Der Herr ist mein Licht und mein Heil, wen sollte ichfürchten? Das ist, als wenn man sagte: Nicht die Sonne und ihre Strah-len sind mein hauptsächliches Licht, und nicht die Gesellschaft rettetmich, sondern Gott allein, der mir in der Nacht ebenso gnädig ist wieam Tag.

3. Übung des geistlichen Schlafes oder der Ruhe

1. Nachdem ich die geeignete Zeit für diese heilige Ruhe gewählthabe, werde ich mich vor allem bemühen, die Erinnerung aufzufri-schen an alle guten Regungen, Wünsche, Affekte, Entschlüsse, Vor-sätze, Empfindungen und Gefühle, die mir die göttliche Majestät ein-geflößt hat und mich erfahren ließ bei der Erwägung ihrer heiligenGeheimnisse, der Schönheit der Tugend, der Erhabenheit seines Dien-stes und der unzähligen Wohltaten, die sie mir sehr freigebig erwie-sen hat. Ich werde mich auch erinnern an die Verpflichtung, die ichgegen Gott habe dafür, daß er manchmal durch seine heilige Gnademeine Sinne geschwächt hat, indem er bestimmte Krankheiten undGebrechlichkeiten schickte, die sehr nützlich für mich waren. Daraufwerde ich, so sehr ich kann, meinen Willen bestärken und festigen imGuten und im Vorsatz, meinen Schöpfer nie zu beleidigen.

2. Wenn das geschehen ist, werde ich mich ruhig der Erwägung derEitelkeit der Herrlichkeiten, Reichtümer, Ehren, Bequemlichkeiten

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und Vergnügungen dieser unreinen Welt hingeben; ich werde dabeiverweilen, die kurze Dauer dieser Dinge zu erwägen, ihre Unsicher-heit, ihr Ende und ihre Unvereinbarkeit mit der echten und gediege-nen Befriedigung. Folglich wird mein Herz sie geringschätzen, ver-achten, verabscheuen und sagen: Fort, fort, ihr teuflischen Reize,weicht weit von mir, versucht euer Glück anderswo; ich will euchnicht, denn die Freuden, die ihr versprecht, werden Narren und Ab-scheulichen ebensogut zuteil wie weisen und tugendhaften Menschen.

3. Ich werde ganz sanft bei der Erwägung der Häßlichkeit und Ge-meinheit des erbärmlichen Elends verweilen, das mit dem Laster undder Sünde verbunden ist, und der bedauernswerten Seelen, die davonbesessen und eingenommen sind. Ohne mich im geringsten zu beun-ruhigen, werde ich dann sagen: Das Laster, die Sünde ist etwas, daseines Menschen von guter Herkunft, der nach Verdienst strebt, un-würdig ist. Sie bringt nie eine Befriedigung, die wirklich gediegenwäre, sondern nur in der Einbildung; aber welche Dornen, welcheGewissensbisse und Reue, welche Bitterkeit und Unruhe, welche Stra-fen zieht sie nach sich! Und selbst wenn das alles nicht wäre, muß esuns nicht genügen, daß sie Gott mißfällt? O, das muß mehr als hinrei-chend sein, um sie uns über alle Maßen verabscheuen zu lassen.

4. Ich werde sanft schlummern in der Erkenntnis der Köstlichkeitder Tugend; der Tugend, die so schön, so anmutig, so edel, so hoch-herzig, so anziehend und mächtig ist. Sie macht den Menschen inner-lich und auch äußerlich schön; sie macht ihn dem Schöpfer unver-gleichlich wohlgefällig; sie steht ihm überaus gut an und so ist sie fürihn angemessen. Doch welchen Trost, welche Wonnen, welche ehren-haften Freuden gibt sie ihm nicht allzeit! Ach, es ist die christlicheTugend, die ihn heiligt, die ihn in einen Engel verwandelt, die einenkleinen Gott aus ihm macht, die ihm hier auf Erden das Paradiesschenkt.

5. Ich werde bei der Bewunderung der Schönheit des Verstandesverweilen, den Gott dem Menschen gegeben hat, damit er durch sei-nen wunderbaren Glanz erleuchtet und belebt das Laster hasse unddie Tugend liebe. Ach, warum folgen wir dem strahlenden Glanz die-ses Lichtes nicht, da dessen Gebrauch uns gegeben ist, um zu sehen,wohin wir den Fuß setzen müssen! Ach, wenn wir uns von seiner Vor-schrift leiten ließen, würden wir selten straucheln und würden schwer-lich Böses tun.

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6. Ich werde aufmerksam die Strenge der göttlichen Gerechtigkeiterwägen. Sie wird ohne Zweifel denen nicht vergeben, die die Gabender Natur und der Gnade mißbraucht haben. Solche Leute müssengroße Furcht vor den göttlichen Urteilen haben, vor dem Tod, demFegfeuer und der Hölle. Ich werde mich auf diese Weise anspornenund meine Trägheit aufrütteln, indem ich oft die Worte (Gen 25,32)wiederhole: Ich sterbe daran, was nützt mir das Erstgeburtsrecht oderdies alles? Jeden Tag bin ich am Sterben; wozu nützen mir die gegen-wärtigen Dinge und alles, was es an Glänzendem und Auffallendemauf dieser Welt gibt? Es ist viel besser, daß ich sie mutig verachte, inkindlicher Furcht in der Beobachtung der Gebote lebe und in derRuhe des Geistes die Güter des künftigen Lebens erwarte.

7. In dieser Ruhe werde ich die unendliche Weisheit erwägen, dieAllmacht und unbegreifliche Güte Gottes. Besonders werde ich michdamit befassen, wie seine schönen Eigenschaften erstrahlen in denheiligen Geheimnissen des Lebens, des Todes und der Passion unse-res Herren Jesus Christus, in der überragenden Heiligkeit Unsererlieben Frau, der seligsten Jungfrau Maria, und in den nachahmens-werten Vollkommenheiten der treuen Diener Gottes. Von da werdeich zum strahlenden Himmel weitergehen und die Herrlichkeiten desParadieses bewundern, die dauernde Glückseligkeit der englischenGeister und der verherrlichten Seelen; wie die allerheiligste Dreifal-tigkeit sich mächtig, weise und gütig erweist im ewigen Lohn, mitdem sie diese gebenedeite Schar belohnt.

8. Schließlich werde ich entschlummern in der Liebe der einzigenund einmaligen Güte Gottes. Wenn ich kann, werde ich diese gren-zenlose Güte genießen, nicht in ihren Wirkungen, sondern in sichselbst. Ich werde dieses lebendige Wasser (vgl. Joh 4,10.14) trinken,nicht aus Gefäßen oder Bechern von Geschöpfen, sondern aus seinerreinen Quelle. Ich werde verkosten, wie gut diese anbetungswürdigeMajestät in sich selbst ist, gut in sich selbst, gut aus sich selbst; ja, wiesie die Güte selbst ist und wie sie die Allgüte ist; Güte, die ewig ist,unerschöpflich und unbegreiflich. Herr, werde ich sagen, es gibt au-ßer dir nichts Gutes dem Wesen und der Natur nach, du allein bistnotwendigerweise gut. Alle Geschöpfe, die gut sind, sei es durch na-türliche oder übernatürliche Güte, sind es nur durch Teilhaben andeiner liebenswürdigen Güte.

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4. Regeln für Beziehungen und Begegnungen

1. Punkt. – Es besteht ein Unterschied zwischen Begegnung undBeziehung; denn die Begegnung geschieht zufällig und gelegentlich,während die Beziehung gesucht und gewählt wird. Bei der Begegnungist die Beziehung nicht von Dauer, man wird kaum vertraut miteinan-der, man ist nicht sehr mit dem Herzen dabei. Bei der Beziehungdagegen sieht man sich oft, man pflegt vertrauten Umgang, man istausgewählten Menschen gewogen, man trifft sie häufig, um liebens-wert zu leben und sich miteinander zu unterhalten.

2. Punkt. – Ich werde nie jemand mißachten noch den Anscheinerwecken, daß ich die Begegnung ganz fliehe, mit wem es auch sei,denn das bringt einen in den Ruf, stolz, hochmütig, verschlossen, an-maßend, tadelsüchtig, ehrgeizig und überkritisch zu sein. Bei Begeg-nungen werde ich mich sorgfältig hüten, mich mit jemand abzuson-dern, nicht einmal mit Vertrauten, wenn ich einen in der übrigenGesellschaft treffe, denn die das beobachten, könnten es als Leicht-fertigkeit auslegen. Ich werde mir nicht erlauben, etwas zu sagen oderzu tun, was nicht ganz schicklich ist, weil man sagen könnte, ich seiungehobelt und lasse mich zu schnell zu Vertraulichkeiten verleiten.Vor allem werde ich sorgfältig darauf achten, nie jemand zu kritisie-ren, zu reizen oder zu verspotten, denn es ist eine große Torheit, sichohne Abneigung über jemand lustig machen zu wollen, der keine Ver-anlassung hat, uns zu ertragen. Ich werde jeden entsprechend ehren,werde die Bescheidenheit wahren, wenig und nur Gutes sagen, damitdie Gesellschaft sich mehr mit dem Verlangen nach unserer Begeg-nung auflöst, als gelangweilt zu sein. Wenn die Begegnung kurz istund schon jemand das Wort führt, dann wird es das Beste sein, wennich nichts sage als die Begrüßung, mit einer Miene, die weder strengnoch trübsinnig ist, sondern maßvoll und ehrenhaft ungezwungen.

3. Punkt. – Was meine Beziehung betrifft, wird sie nur zu Wenigen,Guten und Ehrenhaften bestehen, denn schwerlich wird man etwasvon vielen gewinnen und nicht die Erfahrung machen, daß man imUmgang mit Schlechten verdorben und nur im Umgang mit ehren-haften Menschen geschätzt wird. Bezüglich der Begegnung und Be-ziehung werde ich besonders die Regel beachten: Freundlich mit al-len, vertraut mit wenigen. Ich muß auch bei allem Verstand und Klug-heit walten lassen, denn es gibt keine allgemeine Regel, von der es

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nicht manchmal eine Ausnahme gäbe, außer der, die Grundlage jederanderen ist: nichts gegen Gott. Daher werde ich im Umgang beschei-den ohne Anmaßung sein, ungezwungen ohne Härte, freundlich ohneZiererei, nachgiebig ohne Widerspruch, außer wenn es die Vernunftverlangt; herzlich ohne Verstellung, denn die Menschen schätzen es,jene zu kennen, mit denen sie es zu tun haben. Jedenfalls muß mansich mehr oder weniger eröffnen, je nach der Gesellschaft.

4. Punkt. – Da man oft gewissermaßen gezwungen ist, mit Personenvon verschiedenem Charakter zu verkehren, muß ich wissen, daß manbestimmten nur Erlesenes bieten darf, anderen nur Gutes und ande-ren nur Gleichgültiges, keinem aber Schlechtes. Höherstehenden anAlter, Stand oder Autorität darf man nur Erlesenes zeigen; Gleichge-stellten Gutes, Untergebenen Gleichgültiges. Was das Schlechte be-trifft, das darf man nie jemandem enthüllen, wer es auch sei, weil es inden Augen dessen, der es sieht, Anstoß erregen kann und den absto-ßend machen, an dem es ist. In der Tat bewundern die Großen undWeisen nur das Erlesene; Gleichgestellte werden es geschraubt nen-nen und die Untergebenen überspannt.

Wohl gibt es bestimmte schwermütige Menschen, die es gern ha-ben, wenn man ihnen die Fehler aufdeckt, die man hat; vor ihnen mußman sie jedenfalls noch mehr verbergen, denn da es sie sehr starkbeeindruckt, werden sie zehn Jahre über die geringste Unvollkom-menheit nachgrübeln und philosophieren. Und dann, wozu die Un-vollkommenheiten aufdecken? Sieht man sie nicht schon genug? Ver-raten sie sich nicht von selbst? Daher ist es keineswegs zweckmäßig,sie zu offenbaren, aber es ist gut, sie zuzugeben und zu gestehen. Trotzdes Gesagten kann man nun im Umgang mit Höheren, Gleichgestell-ten und Untergebenen das Gespräch über das Erlesene, Gute undGleichgültige manchmal mäßigen, vorausgesetzt, daß es taktvoll ge-schieht. Schließlich muß man sich den verschiedenen Gesellschaftenanpassen, ohne jedoch der Tugend irgendwie zu schaden.

5. Punkt. – Wenn es sich trifft, daß ich mit anmaßenden, freimüti-gen oder melancholischen Menschen verkehre, werde ich mich fol-gendermaßen vorsehen: Den Anmaßenden werde ich mich ganz undgar verschließen; wenn die Freimütigen gottesfürchtig sind, werdeich mich ihnen ganz eröffnen und offenherzig mit ihnen sprechen.Den Düsteren und Schwermütigen werde ich mich, wie das Sprich-wort sagt, nur am Fenster zeigen; das heißt, ich werde mich ihnenteilweise erschließen, weil sie darauf aus sind, das Innere der Men-

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schen zu sehen, und wenn man sich zu spröde gibt, werden sie so-gleich mißtrauisch; zum Teil werde ich mich ihnen verschließen, dennwie wir schon gesagt haben, neigen sie dazu, zu viel über die Eigen-schaften derjenigen, mit denen sie verkehren, zu philosophieren undsie zu beobachten.

6. Punkt. – Wenn mich die Notwendigkeit zwingt, mit Großen zuverkehren, werde ich sorgfältig auf der Hut sein, denn zu ihnen mußman sich verhalten wie zum Feuer; das heißt, manchmal ist es gut,sich ihnen zu nähern, aber es darf nicht zu nahe sein. Daher werde ichmich in ihrer Gegenwart mit großer Bescheidenheit verhalten, dietrotzdem mit höflicher Ungezwungenheit verbunden ist. Die großenHerren gefallen sich gewöhnlich darin, geliebt und geachtet zu wer-den. Die Liebe bringt gewiß die Ungezwungenheit hervor, die Ach-tung die Bescheidenheit. Es ist also nicht schlecht, in ihrer Gesell-schaft ein wenig ungezwungen zu sein, vorausgesetzt, daß man dieAchtung nicht vergißt und daß die Achtung größer ist als die Unge-zwungenheit. Unter Gleichgestellten muß man gleichermaßen unge-zwungen und respektvoll sein; Untergebenen gegenüber soll manungezwungener als respektvoll sein; aber mit den Großen und Vorge-setzten muß man respektvoller sein als ungezwungen.

5. Die öftere Kommunion: Vorbereitung und Danksagung

1. Punkt. – Wenn ich eine Kirche nur von ferne sehe, werde ich siemit dem Vers (Ps 87,2) Davids grüßen: Ich grüße dich, heilige Kir-che; Gott hat deine Tore mehr geliebt als alle Zelte Jakobs. Davonwerde ich zur Betrachtung des alttestamentlichen Tempels übergehenund erwägen, wieviel erhabener die kleinste aller unserer Kirchen ist,als der Tempel Salamons war, weil auf unseren Altären das wahreLamm Gottes (Joh 1,29.36) als Versöhnungsopfer für unsere Sündendargebracht wird. Wenn ich nicht in die Kirche eintreten kann, werdeich das allerheiligste Sakrament von ferne grüßen, selbst durch ir-gendeine äußere Handlung, wenn die Kirche in der Nähe ist, indemich meinen Hut abnehme und das Knie beuge, ohne mich darum zukümmern, was meine Begleiter dazu sagen werden.

2. Punkt. – Ich werde kommunizieren, sooft ich nach der Weisungmeines Beichtvaters kann. Zum mindesten werde ich den Sonntagnicht vorübergehen lassen, ohne dieses ungesäuerte Brot (Ex 12,8),das wahre Brot vom Himmel (Joh 6,33) zu essen. Wie könnte denn

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der Sonntag für mich ein Tag des Sabbats und der Ruhe sein, wenn esmir verwehrt ist, den Urheber meiner ewigen Ruhe zu empfangen?

3. Punkt. – Am Vorabend meiner Kommunion werde ich aus mei-nem Haus allen Unrat meiner Sünden entfernen durch eine gewissen-hafte Beichte, auf die ich alle erforderliche Sorgfalt verwenden will,damit ich nicht durch Skrupel verwirrt werde; andererseits werde ichaber die Nutzlosigkeit neugieriger und übertriebener Nachforschun-gen vermeiden.

4. Punkt. – Wenn ich in der Nacht aufwache, werde ich meine Seelefroh machen, und um sie in den nächtlichen Schrecken zu trösten, diemich bedrängen, werde ich sagen: Meine Seele, warum bist du traurig?Warum verwirrst du mich (Ps 43,12)? Sieh, dein Bräutigam, deine Freu-de und dein Heil kommt; gehen wir ihm entgegen (Mt 25,6) in heili-ger Freude und in liebevollem Vertrauen.

5. Punkt. – Wenn der Morgen gekommen ist, werde ich die GrößeGottes und meine Niedrigkeit betrachten und mit einem demütigfro-hen Herzen werde ich mit der heiligen Kirche singen: „O wunderbareSache, der arme und geringe Knecht beherbergt seinen Herrn, emp-fängt und ißt ihn.“ Darauf werde ich verschiedene Akte des Glaubensund des Vertrauens auf die Worte des Evangeliums (Joh 6, 59) erwek-ken: Wenn jemand dieses Brot ißt, wird er ewig leben.

6. Punkt. – Wenn ich das allerheiligste Sakrament empfangen habe,werde ich mich ganz Dem hingeben, der sich mir ganz geschenkt hat.Aus Liebe werde ich allem im Himmel und auf Erden entsagen mitden Worten: Was will ich im Himmel? Was bleibt mir auf Erden zuwünschen, da ich meinen Gott besitze, der mein Alles ist (Ps 73,25f)?Ich werde ihm einfach, ehrfürchtig und vertrauenvoll alles sagen, wasmeine Liebe mir eingeben wird, und ich werde mich entschließen,nach dem heiligen Willen des Herrn zu leben, der mich mit sich selbstnährt.

7. Punkt. – Schließlich, wenn ich mich bei der heiligen Kommuni-on trocken und unfruchtbar fühle, werde ich mich des Beispiels derArmen bedienen, wenn sie frieren; denn wenn sie nichts haben, umFeuer zu machen, gehen sie und machen Übungen, um sich zu erwär-men: ich werde meine Gebete verdoppeln und eine Abhandlung überdas allerheiligste Sakrament lesen, das ich demütig und mit einemfesten Glauben anbete.

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Außergewöhnliche Gnaden

1. Vor den Niederen Weihen26.

Franz, du mußt dich erinnern, daß Gott dir große Barmherzigkeiterwiesen hat am 19. Mai 1593 auf die Fürsprache des glorreichen hl.Cölestin, des Schutzpatrons deiner Retraite zur Vorbereitung auf dieWeihen.

2. Während der Chablais-Mission27.

Amor meus furor meus! Meine Liebe ist meine ganze Leidenschaft.Mir scheint in der Tat, daß sich mein Eifer zu einer Leidenschaftlich-keit für meinen Vielgeliebten gewandelt hat; und ich muß oft diekleinen Verse wiederholen:

Ist es die Liebe oder die Leidenschaft,die mich drängt, göttlicher Erlöser?Ja, mein Gott, es sind alle zwei,denn ich brenne, wenn ich nach dir verlange.

3. Am Fronleichnamsfest28.

Herr, halte die Ströme deiner Gnade zurück! Herr, geh weg vonmir, denn ich kann die Größe deiner Wonnen nicht ertragen und bingezwungen, mich zu Boden zu werfen.

4. Notiz über eine außergewöhnliche Gnade29.

Als ich am Tag der Verkündigung die heilige Eucharistie aus derHand des Papstes empfangen hatte, wurde meine Seele innerlich sehrgetröstet und Gott schenkte mir die Gnade großer Erleuchtungenüber das Geheimnis der Menschwerdung. Er ließ mich auf unaus-sprechliche Weise erkennen, wie das Wort im keuschen Schoß Mariaseinen Leib annahm durch die Macht des Vaters und die Mitwirkungdes Heiligen Geistes, indem Es selbst das sehr wollte, um unter unszu wohnen (Joh 1,14), seit er Mensch geworden ist gleich wie wir(vgl. Eph 2,7).

Dieser Gottmensch hat mir auch eine sehr erhabene und köstlicheErkenntnis über die Transsubstantiation geschenkt, über sein Eintre-ten in meine Seele und über den Dienst der Hirten der Kirche.

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5. Vertrauliche Mitteilungen an Mutter Chantal30.

Der Heilige Geist gibt uns die Gabe des Verstandes zu dreifachemZweck: 1. um uns die Geheimnisse des Glaubens glauben und be-wundern zu lassen, 2. um sie uns ehren und verehren zu lassen, 3. umsie uns lieben und hochschätzen zu lassen.

Ich gestehe, daß mich die göttliche Güte mit einer besonderen Er-leuchtung zum Verständnis seiner heiligen Geheimnisse begnadet hat,und so scheint mir, daß ich die Absicht der Kirche sehr gut verstehebei allem, was sie ihren Kindern vorlegt. Ich habe auch von Gott einezärtliche Liebe zu den Grundsätzen des Evangeliums empfangen undbin überzeugt, daß das eine Folge der Erkenntnis ihrer erhabenenSchönheit ist, die er mir geschenkt hat.

Fragmente über die seligste Jungfrau

I.31

– – – Sehen Sie, wie diese gemeinsame Mutter aller Kinder Gottesallen alles geworden ist (1 Kor 9,22), um alle Seelen an ihren Sohn zuziehen und zu ihm zu führen. Betrachten Sie aber vor allem, wie ruhigdiese junge Prinzessin vom Konvent der Jungfrauen in die Gemein-schaft der Verheirateten überging durch ihre keusche und ganz reineEhe mit dem hl. Josef, dem sie nach dem Brauch der Zeit und nachgöttlichem Ratschluß durch ihre Eltern vermählt wurde. Von da gingsie nach dem Tod des hl. Josef sehr demütig über in die Gemeinschaftder Witwen; und nach der Auffassung der Väter hat die Mutter nachder Himmelfahrt ihres anbetungswürdigen Sohnes noch mehrere Jahreauf Erden gelebt, wie die anderen Witwen und wie viele Gläubige derUrkirche von den Almosen und von der Gütergemeinschaft der ers-ten Christen. – – –

II.32

Es ist eine Wahrheit, daß verloren ist, wer nicht durch Maria geret-tet wird, so wie alles zugrunde ging, was sich außerhalb der Archebefand; nicht als ob Maria die absolute Ursache der Erlösung wäre,

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denn die ist ihr anbetungswürdiger Sohn Jesus, aber sie ist die Mittle-rin, deren sich der Erlöser bedienen wollte, indem er aus ihr seineMenschennatur annahm. Sie war von aller Ewigkeit ausersehen, er-wählt und vorherbestimmt, die Mutter Jesu zu sein. Und als solchewurde sie allein mehr geliebt als alle Menschen und alle Engel zu-sammen.

Maria bedeutet ‚einigende Mutter‘, zumal durch diese Mutter undin ihrem Schoß das Wort sich um unseres Heiles willen hypostatischmit der menschlichen Natur vereinigt hat. Durch Maria ist das WortFleisch geworden (Joh 1,14) und wir können sagen: Jesus, sei mirJesus, d. h. sei mein Erlöser; und wir können auch sagen: Maria, seimir Maria, d. h. sei uns Mutter und vereinige uns mit deinem SohnJesus, damit er unser Bräutigam sei und wir seine Braut seien.

Im Himmel werden alle Jungfrauen dem Lamm folgen (Offb 14,4);doch wie bewundernswert jungfräulich sind auf Erden Maria und Jo-sef, denen das Lamm selbst folgt.

Die Frau im Evangelium (Lk 11,27) rief auf den öffentlichen Plät-zen, wo Jesus vorbeiging: Gepriesen sei der Schoß, der dich getragen,und die Brust, die dich genährt hat. Müssen wir da nicht ewig dasheilige Herz Marias preisen, das Jesus so sehr geliebt hat? GlorreicheJungfrau, du hast das Wort in deinem Herzen empfangen, ehe du ihnin deinem Schoß empfangen hast, und du bist glückseliger, daß du ihnüberaus und ununterbrochen geliebt, als daß du ihn körperlich indeinem Schoß und auf deinen Armen getragen hast. Das wollte UnserHerr uns deutlich machen, als er (Lk 11,28; Mt 12,50) sagte: Seligersind jene, die den Willen meines Vaters tun, der im Himmel ist, d. h. dienur ein Herz und eine Seele mit Gott sind. Maria hatte nur ein Herzund einen Geist mit dem ewigen Vater und seinem einzigen SohnJesus, dem einzigen Gegenstand seines ewigen Wohlgefallens (vgl.Mt 3,17; 2 Petr 1,17).

Ach, die makellose und unvergleichliche Jungfrau und Mutter Got-tes war nie zimperlich und zu spröde, um mit der hl. Magdalena zuverkehren, und das, weil Maria nicht nur vollkommen jungfräulichwar, sondern auch vollkommen demütig. In diesem Geist empfing sieden hl. Paulus und den hl. Dionysius Areopagita, der bekennt, als erMaria sah, hätte er, wäre er nicht im Glauben recht gefestigt gewesen,Maria für eine Gottheit gehalten.

Du Mutter des Lebens, was hast du auf dem traurigen Kalvarienberggetan, der ein Ort der Agonie und des Todes war? Die strenge Liebe

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des ewigen Vaters teilte sich deiner Seele mit, damit du durch denTodesschmerz, den dein Herz gelitten hat, die erste Märtyrerin derjungen Kirche und die erhabene Königin aller Märtyrer werdest.

Der ewige Vater hat die Welt so sehr geliebt, daß er ihr seinen eigenenSohn hingab (Joh 3, 16), diesen Sohn, der sich selbst hingegeben hat(Gal 2,20) in den Tod; und wir können sagen, Maria, die Mutter Got-tes, der gestorben ist, hat das Heil der Welt so sehr geliebt, daß sieihren Sohn willig dem Tod überliefert hat und sich selbst in ihremSohn. Der Sohn ist gestorben durch die Gewalt seines liebevollenLeidens für die Seelen, und Maria durch die mitleidende Liebe.

Ach, heilige Jungfrau, die Tränen deines göttlichen Kindes in derKrippe waren nur sanfte Tautropfen, aber die seines heiligen Leidenssind Ströme und Meere der Bitterkeit. Dein schmerzerfülltes und lie-bevolles Herz brachte die einen und die anderen dem ewigen Vaterdar, denn er wußte wohl, daß sie Tränen eines Gottes waren, die denKindern des Heils ewige Freuden bringen mußten.

... Sie rang nach Luft, ohne in Ohnmacht zu fallen, denn das Höchst-maß des Schmerzes schwächte sie, die Kraft der Liebe hielt sie auf-recht. Die Schrecken des Todes ihres Sohnes sah sie nur in den Selig-keiten seiner Liebe; ihre heilige Seele empfand gleiche Regungen derLiebe und des Schmerzes. Die einen wie die anderen waren für dieNatur unerträglich, und Maria wäre am Fuß des Kreuzes ihres totenSohnes ebenfalls vor Liebe und vor Schmerz gestorben, wenn sie nichtdie Gnade desselben Sohnes aufrecht erhalten hätte.

Die heilige Jungfrau, erhöht zur Rechten ihres Sohnes, ist die Ge-neralin der Heerscharen Gottes, die Statthalterin des Königreichsder Kirche, die Mutter aller heiligen Familien, die Zuflucht allerHerzen. Sagen wir nächst ihrem Sohn zu ihr: Heilige Jungfrau, dieAugen aller Gläubigen sind auf deine Majestät gerichtet; wir erwar-ten den Beistand deiner Gnaden; und wenn du deine freigebigen Hän-de öffnest, werden wir alle mit Segnungen erfüllt (vgl. Ps 95,15f). Oheilige und hochherzige Statthalterin, befiehl im Stand deiner Glo-rie, was du in deinem Stand der Gnade befohlen hast: Tut alles, wasmein Sohn euch sagen wird (Joh 2,5).

Dem göttlichen Bräutigam hat es gefallen, dieser Braut Ohrringeanzuhängen (vgl. Gen 24,30.47), d. h. das Schreien der Armen undNotleidenden (Ps 9,13).

Weiht eure Andacht am Samstag der Mutter Gottes; betrachtet ein-zelne Punkte ihres Lebens und ihrer Tugenden.

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Zwei Gebete zur seligsten Jungfrau33

1.

Ich grüße dich, liebreiche Jungfrau Maria, Mutter Gottes. Du bistmeine Mutter und meine Herrin; deshalb bitte ich dich, mich als deinKind und deinen Diener anzunehmen, weil ich keine Mutter und Her-rin mehr haben will außer dir. Daher bitte ich dich, meine gute, huld-reiche und gütige Mutter, tröste mich gnädig in allen meinen geistli-chen und leiblichen Nöten und Trübsalen.

Liebreiche Jungfrau, gedenke, daß du meine Mutter bist und daßich dein Kind bin, daß du sehr mächtig bist und ich ein armes, gerin-ges und schwaches Geschöpf. Daher bitte ich, meine liebreiche Mut-ter, daß du mich auf allen meinen Wegen und in meinen Handlungenleitest und beschützest, denn ach, ich bin ein armer Hungriger undBettler, der deiner heiligen Fürsprache sehr bedarf. Wohlan denn,seligste Jungfrau, meine gütige Mutter, bewahre und rette meinenLeib und meine Seele aus allen Übeln und Gefahren und laß michgnädig teilhaben an deinen Gütern und Tugenden, vor allem an dei-ner heiligen Demut, an deiner hervorragenden Reinheit und glühen-den Liebe.

Gnadenreiche Jungfrau, sag mir nicht, daß du es nicht kannst, denndein vielgeliebter Sohn hat dir alle Macht gegeben im Himmel wieauf Erden. Sag mir nicht, daß du es nicht mußt, denn du bist diegemeinsame Mutter aller armen Menschen und besonders die meine.Wenn du es nicht könntest, würde ich dich entschuldigen und sagen:Es ist wahr, daß sie meine Mutter ist und mich als ihr Kind liebt, aberder Armut fehlt es an Besitz und an Macht. Wenn du nicht meineMutter wärst, würde ich mich mit Recht gedulden und sagen: Sie istzwar reich genug, um mir beizustehen, aber ach, weil sie nicht meineMutter ist, liebt sie mich nicht.

Liebreichste Jungfrau, weil du also meine Mutter bist und mächtig,wie sollte ich dich entschuldigen, wenn du mich nicht tröstest undmir deine Hilfe und deinen Beistand nicht gewährst? Sieh, meineMutter, wie du gezwungen bist, mir zu gewähren, um was ich dichbitte.

Sei also gepriesen im Himmel und auf Erden, glorreiche Jungfrau,meine erhabene Mutter Maria; ohne auf mein Elend und meine Sün-

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den zu achten, nimm mich um der Ehre und Herrlichkeit deines Soh-nes willen als dein Kind an. Befreie meine Seele und meinen Leib vonallem Übel, gib mir alle Tugenden, vor allem die Demut. Schenke miralle Gaben, Güter und Gnaden, die der heiligsten Dreifaltigkeit wohl-gefällig sind, dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist. Amen.

2.

Allerseligste Jungfrau Maria, würdige Mutter Gottes und treue Aus-spenderin aller Gnaden, die er uns in diesem Leben verleihen will,bei der Liebe deines teuren Sohnes, unseres Erlösers Jesus Christusbitte ich dich, mir von deinem göttlichen Bräutigam, dem HeiligenGeist, eine himmlische Erleuchtung und einen guten Rat zu erwir-ken, um zu erkennen, was ich tun und wie ich mich verhalten muß zurVerherrlichung Gottes und zur Förderung meines Heils.

Heilige Jungfrau, mit deiner Hilfe hoffe ich diese Gnade vom Him-mel zu erlangen, denn nächst Gott habe ich mein ganzes Vertrauenauf dich gesetzt.

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II. Christliches Leben in der Welt

Über die christliche Vollkommenheit34

Jeder ist verpflichtet, nach der Vollkommenheit des christlichenLebens zu streben, denn der Herr verlangt (Mt 5,18), daß wir voll-kommen seien, und auch der hl. Paulus (2 Kor 13,11; Kol 13,12) sagtes wiederholt.

Die Vollkommenheit des christlichen Lebens besteht in der Gleich-förmigkeit unseres Willens mit dem Willen unseres gütigen Gottes,der die oberste Regel und das Gesetz aller Handlungen ist. Um dieVollkommenheit zu erlangen, müssen wir daher stets überlegen undanerkennen, was der Wille Gottes ist in allem, was uns betrifft, damitwir fliehen, was wir nach seinem Willen meiden sollen, und beobach-ten, wovon er will, daß wir es tun.

Es gibt Gelegenheiten, bei denen man nicht zweifeln kann, daß esder Wille Gottes ist, wie in dem, was von den Geboten Gottes undvon den Pflichten unserer Berufung abhängt. Daher müssen wir stetsgut zu befolgen trachten, was Gott allen Christen gebietet, und auchdas, was unsere Berufung von uns persönlich verlangt. Wer das nichtsorgsam tut, kann stets nur eine trügerische Frömmigkeit haben.

Es gibt auch andere Gelegenheiten, bei denen man nicht zweifelnkann, daß Gott sie will, wie Trübsale, Krankheiten und Bedrängnisse.Deshalb muß man sie willig annehmen und unseren Willen dem Wil-len Gottes angleichen, der sie will. Und wer so weit kommen kann,sie nicht nur geduldig zu ertragen, sondern sie auch zu wollen, derkann wohl sagen, daß er einen sehr hohen Grad der Gleichförmigkeiterreicht hat. So geben uns der Tod von Verwandten, ein Verlust, Krank-heiten, Trockenheiten, Zerstreuungen Gelegenheit, uns zu vervoll-kommnen.

Man muß aber weiter gehen und diesen Willen nicht nur in großenHeimsuchungen sehen, sondern sogar in kleinen Widerwärtigkeitenund in den geringsten Bedrängnissen, die uns in diesem armseligenLeben zustoßen können. Darin täuschen sich sehr viele, die sich nurauf große Heimsuchungen vorbereiten und dann wehrlos, kraftlos undohne Widerstandsfähigkeit gegen die kleinen sind. Dabei wäre es er-träglicher, weniger auf die großen vorbereitet zu sein, die nur sehrselten vorkommen, und auf die kleinen gefaßt zu sein, die alltäglich

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sind und sich jeden Augenblick bieten. Ich nenne ein Beispiel für das,was ich sagte: Ich bereite mich darauf vor, den Tod geduldig zu ertra-gen, der mich nur einmal ereilen kann, und bereite mich nicht daraufvor, die Belästigung zu ertragen, die mir die Launen derjenigen berei-ten, mit denen ich zusammenlebe, oder die Belastung des Geistes, diemeine Stellung mit sich bringt, die sich hundertmal am Tag einstellt.Das ist es, was mich unvollkommen macht.

Es gibt andere Handlungen, zu denen ich weder durch die allgemei-nen Gebote Gottes noch durch die persönliche Pflicht meiner Beru-fung verpflichtet bin. Dabei muß ich in der Freiheit des Geistes sorg-sam überlegen, was zur größeren Ehre Gottes gereicht, denn das willGott. Ich habe gesagt: in der Freiheit des Geistes, denn das muß ge-schehen ohne Übereilung und Unruhe, sondern mit einem einfachenBlick auf das Gute, das unsere Handlung bringen soll, wie eine kleineReise nach St. Bernhard zu machen, an dem Tag zu beichten, diesenKranken zu besuchen, eine kleine Summe, etwa einen Taler aus Liebezu Gott zu schenken. Wenn es nicht von großer Bedeutung ist, bedarfes auch keiner großen Sorgfalt, sondern man muß nach kurzer Über-legung entscheiden; und wenn nach der Tat die Entscheidung nichtgut scheint und man sich getäuscht hat, darf man darüber keineswegsbetrübt und verwirrt sein, sondern soll sich demütigen und sich übersich selbst lustig machen.

Wenn aber die Sache von großer Bedeutung ist, wie den Beruf zuwechseln, ewige Gelübde zu machen, große Reisen zu unternehmen,große Summen zu geben, muß man ein wenig darüber nachdenkenund sich dann mit dem geistlichen Vater darüber besprechen, unterdessen Leitung man sich gestellt hat, und in Einfalt nach seiner Wei-sung vorgehen, denn Gott wird ihm beistehen, Sie gut zu beraten.Und wenn durch seinen Fehler die Entscheidung nicht die beste ansich ist, wird sie doch die nützlichste und verdienstlichste für Siesein, denn Gott wird sie fruchtbar machen.

Die großen Mittel, um zur Vollkommenheit zu gelangen, sind vonzweierlei Art. Die erste und wichtigste ist, die innere Gnade Gotteszu haben, die man erlangen muß durch Bitten, Gebete, Opfer, Emp-fang der Sakramente. Die zweite ist die Übung, und die besteht in dreiEntschlüssen, die den Ordensgelübden entsprechen, d. h. Gehorsam,Keuschheit und Armut. – – –

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Worin die Vollkommenheit bestehtStufen des Gehorsams35

Unser Gott gebietet uns (Mt 5,8), vollkommen zu sein; doch worinbesteht die Vollkommenheit? Es ist sicher, daß sie nichts anderes istals die Liebe, die die Liebe Gottes und des Nächsten umfaßt. Trotz-dem nennt man nach der allgemeinen Auffassung nicht alle vollkom-men, die die Liebe haben, sondern nur jene, die sie in einem erhabe-nen und hervorragenden Grad besitzen, d. h. jene, die eine sehr vor-treffliche Liebe zu Gott und zum Nächsten haben.

Da wir nun verpflichtet sind, nach der Vollkommenheit zu streben,ist es erforderlich, die geeigneten Mittel zu kennen, um sie zu erwer-ben, und gleichzeitig die Tätigkeiten, die sie in uns bewirkt, denn dasist dasselbe. Denn wie das Weizenkorn die Pflanze hervorbringt unddie Pflanze das Korn, genau so bewirken die heiligen Übungen dieVollkommenheit, und die Vollkommenheit bringt die heiligen Übun-gen hervor. Da die Vollkommenheit der Seele in der Liebe bestehtund die Liebe die wichtigste Gabe des Heiligen Geistes ist, bestehtdas erste Mittel, um die Vollkommenheit zu erwerben, darin, sie de-mütig, inständig und fortwährend von Gott zu erbitten durch Gebeteund Betrachtungen. Das zweite ist der Empfang der Sakramente, dennsie sind die Kanäle, durch die Gott seine Gnaden, die Liebe und dieVollkommenheit in uns fließen läßt. Das dritte ist die Übung derTugenden im allgemeinen.

Da aber das dritte Mittel so umfangreich ist, will ich es folgender-maßen zusammenfassen: Die drei Tugenden der Ordensleute sind diedrei hervorragendsten Werkzeuge, um die Vollkommenheit zu er-werben, und ihre drei größten Wirkungen. Wenn nun diese drei Tu-genden oder Gelübde beobachtet, wenn auch nicht gelobt werden,machen sie den Menschen vollkommen. Man muß sich daher bemü-hen, sie in allen ihren Graden zu erwerben.

Beispiel des Gehorsams

Der Gehorsam hat drei Stufen, was die Personen betrifft, denen wirgehorchen. Die erste Stufe besteht darin, den Vorgesetzten zu gehor-chen und denen, die Macht über uns haben, wie Väter, Mütter, Gat-ten, Bischöfe. Der Sohn muß also dem Vater mit der gleichen Füg-samkeit gehorchen, wie es ein Novize eines wohlgeordneten Ordens

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seinem Oberen tun wird; und es ist einfältig, sich einzubilden, manwürde dem Oberen eines Ordens, den man gewählt hat, recht gehor-chen, wenn man den Vorgesetzten nicht gehorchen kann, die Gottselbst und die Natur uns gegeben haben.

Die zweite Stufe besteht darin, unseren Gefährten zu gehorchenund denen, die uns gleichgestellt sind. Diesen Grad übt man, indemman sich recht sanft und leicht dem Willen unserer Gefährten fügt.Gegen diesen Grad verstoßen alle eigensinnigen und streitsüchtigenGeister, die an ihrem Willen hängen.

Die dritte Stufe besteht darin, Untergebenen zu gehorchen, indemman sich ihren Wünschen in jeder Weise anpaßt, sofern sie nichtschlecht sind, durch freundliche Nachgiebigkeit. Diesem Grad ist ent-gegengesetzt die herrische und geringschätzige Autorität, die man überUntergebene anwendet. Die Übung dieses Grades macht unser Herzmild, demütig und freundlich gegenüber den Wünschen und Bittender Untergebenen. Das Vorbild dieses Gehorsams ist Jesus Christus,der nicht nur seinem ewigen Vater und seiner heiligen Mutter ge-horcht, sondern auch dem hl. Josef und den Gesetzen und Gebräu-chen der Kirche (vgl. Lk 2,22-24.42). Unsere liebe Frau gehorchtdem hl. Josef und den anderen. Und das ist angeordnet vom Apostel(Röm 13,5), der will, daß wir jedermann aus Liebe zu Gott untertansind.

Derselbe Gehorsam hat drei Stufen nach den Dingen, bei denenman den Gehorsam leisten muß. Die erste ist, den Geboten Gottesund der Vorgesetzten zu gehorchen. Dieser Grad des Gehorsams istfür jeden notwendig, denn wer ihn nicht befolgt, sündigt schwer, wennes sich um eine wichtige Sache handelt. Diesem Grad ist ausdrück-lich der Ungehorsam entgegengesetzt.

Die zweite Stufe ist, den Ratschlägen zu gehorchen, jeder nach sei-ner Berufung: wie, Witwe zu bleiben, wenn man es ist; jenen, der unsbeleidigt hat, durch Zärtlichkeit und Höflichkeit zu gewinnen su-chen; jenen zu helfen, die dessen bedürfen, obwohl sie nicht in großerNot sind. Diesem Grad ist sehr entgegengesetzt die Lässigkeit undTeilnahmslosigkeit.

Die dritte Stufe ist, den inneren Einsprechungen und Regungen zugehorchen, von denen man erkennt, daß sie auf die größere Ehre Got-tes zielen, und das, nachdem man sie geprüft hat oder prüfen ließ.Diesem Grad ist die Unaufmerksamkeit und die Mißachtung unseresInneren entgegengesetzt. Die Übung dieses Grades bewirkt, daß wir

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uns Gott und seinem heiligen Willen gleichförmig machen. Das Vor-bild dafür ist Unser Herr, der sein ganzes Leben lang alles getan hat,was mehr zur Ehre seines ewigen Vaters (Joh 8,50.54), der glorrei-chen Jungfrau, seiner Mutter, und aller Heiligen gereichte.

Der Gehorsam hat noch drei andere Stufen, genommen von derLeichtigkeit oder Schwierigkeit, die wir im Gehorsam haben. Dieerste besteht darin, daß man uns etwas Angenehmes gebietet, wie, anFeiertagen nicht zu arbeiten, zu musizieren oder etwas ähnliches, wasan sich angenehm ist. Darin liegt keine große Tugend, wenn man ge-horcht, aber es ist ein großer Fehler, nicht zu gehorchen.

Die zweite (Stufe) besteht darin, daß man uns etwas Gleichgültigesbefiehlt, d. h. Dinge, die an sich weder angenehm noch unangenehmsind, z. B. spazieren zu gehen, dieses oder jenes Kleid zu tragen. Da-bei ist die Tugend des Gehorsams groß und die Sünde des Ungehor-sams ist ebenfalls recht groß.

Die dritte ist, daß man uns befiehlt, etwas Hartes und Schwierigeszu tun, wie, den Feinden zu verzeihen, Leid geduldig zu ertragen,oder etwas anderes zu tun, was unserer Neigung sehr widerspricht. Daist das Verdienst sehr groß, wenn man gehorcht, und die Sünde weni-ger schwer, wenn man dem nicht gehorcht.

Die Übung dieser drei Grade bewirkt, daß wir vollständig gehor-chen, sei es in großen Dingen, sei es in kleinen. Das Vorbild dafür istUnser Herr, der bei allem gewollt hat, daß der Wille seines Vatersgeschehe (vgl. Joh 4,34; 5,30; 6,38), selbst in der Passion (Mt 26,39.42;Phil 2,8).

Ratschläge für die Baronin von Chantal36

Bei allen Dingen, die auf Sie zukommen, geben Sie sich nicht damitab, die Gründe zu suchen (es genügt, daß Gott sie kennt), sonderndemütigen Sie sich einfach vor Gott und ertragen Sie den Wider-spruch sanft, ohne Überlegungen.

In Zeiten von Trockenheiten demütigen Sie sich, in Zeiten des Emp-findens und beim Anblick Ihrer Armseligkeit versenken Sie sich umso tiefer in den Schoß der göttlichen Barmherzigkeit.

Töten Sie sich in den kleinen Ausbrüchen gegen die Unvollkom-menheiten des Nächsten ab, indem Sie diese im Geist der Milde zu-rechtweisen.

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Haben Sie keine Sorge um sich selbst, nicht mehr als ein Reisender,der sich in gutem Glauben auf ein Schiff begibt; er ist nur daraufbedacht, sich recht auf ihm zu verhalten und zu leben, und überläßtdie Sorge, den Wind zu nützen, die Segel zu setzen und zu segeln, demSteuermann, unter dessen Führung er sich gestellt hat.

Geistliche Ratschläge37

1.

Gerade in schwierigen, mühseligen und unangenehmen Dingen müs-sen wir die Treue gegen Gott üben, die um so vorzüglicher sein wird,je weniger wir die Wahl haben in dem, was uns zur Übung dient. DieEigenliebe gibt sich in Leiden irgendwie zufrieden, wenn sie nachihrer Wahl sind; die Gottesliebe übt sich glücklicher in Dingen, diedie göttliche Vorsehung zuläßt oder ohne uns anordnet, aber über unsund für uns.

Die Heilige Schrift sagt: Was weiß einer, der nicht geprüft ist (Sir34,9.11)? Glücklich ist der Mann, der den Ansturm der Prüfung aus-hält, denn nachdem er vom Geist geprüft wurde, wird er die Krone derGlorie empfangen, die Gott denen verheißen hat, die ihn lieben (Jak1,12). Wenn Ihr Herz die Versuchung mehr als notwendig fürchtet,öffnet es seinen Feinden die Tür; wenn wir dagegen ein kindlichesVertrauen auf Gott haben, uns ihm zuwenden und in seiner Güte Si-cherheit finden, wird sich der Feind fürchten, uns zu versuchen, weiler sieht, daß uns die Versuchung zum Anlaß wird, uns in die ArmeUnseres Herrn zu werfen. In der Regel besteht die beste Methode, derVersuchung zu widerstehen, darin, sich nicht auf einen Streit mit ihreinzulassen, ja sich nicht einmal damit abzugeben, die Gegenständezu betrachten. Vielmehr muß man, sobald man sie fühlt, über etwasanderes mit Unserem Herrn sprechen, mit seiner heiligen Mutter odermit den Engeln und Heiligen oder mit sich selbst. Mit einem Wort,wenn die Versuchung eine Rose ist, muß man von einem Veilchensprechen und sich nicht über die Vielfalt der Gedanken wundern. Esist ja nicht erforderlich, sie einen nach dem anderen zu bekämpfen,sondern sie alle zu überwinden und sie zu mißachten durch eine ein-fache Rückkehr des Herzens zu Gott, zur Majestät, an die man sichwendet durch Gebete. So kann man sich z. B. an ihn wenden mit den

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Worten: Ich bin dein (Ps 119,94); Mein Gott, wie bist du doch lie-benswürdig! Jesus ist gütig; es lebe Jesus!, und ähnliche Worte. Kurz,es ist ein gutes Mittel, den Feind zu besiegen, daß man ihn nicht be-achtet, sondern sich stets dem vielgeliebten himmlischen Freund zu-wendet; und wenn unser Feind auch schreit und tobt, um ihn zurück-zuschlagen, genügt es, ihm nicht zu antworten, sich nicht mit ihmabzugeben und kein Aufsehen um ihn zu machen. Solange man neinsagt, ist man nie besiegt.

Nichts von sich selbst halten, außer einzig, daß wir Gott gehörenund ihm zu eigen sind, und sich selbst tief verdemütigen! Ach, solan-ge die Seelen der Sünde dienen, gibt ihnen der Feind irgendeinenAnschein der Tugend auf einem bestimmten Gebiet, um in ihnen einegewisse Einbildung und eine eitle Selbstgefälligkeit zu nähren, ohnedie man kaum in der Sünde verharren kann; denn wie man schwerlichdie Vollkommenheit fühlen kann ohne Demut, so kann man auchnicht lange in der Sünde bleiben ohne Eitelkeit, d. h. ohne Einbil-dung (....) vertrauen auf dieses große Heil und hoffen, dass Er es zuseiner Zeit vervielfachen wird. Vertrauen wir unsere guten WünscheGott an und seien wir nicht in Sorge, ob sie fruchtbar werden, dennder uns die Blüte des Wunsches verliehen hat, wird uns auch die Fruchtder Erfüllung schenken zu seiner Verherrlichung, wenn wir ein festesund liebevolles Vertrauen zu ihm haben.

Seien Sie ganz Gottes, meine teuerste Tochter, denken Sie an ihn,und er wird an Sie denken. Er hat Sie an sich gezogen, damit Sie ihmgehören, und er wird für Sie Sorge tragen. Fürchten Sie nichts; wennsich die kleinen Küken unter den Fittichen ihrer Mutter sicher füh-len, wie müssen die Kinder Gottes sicher sein unter seinem väterli-chen Schutz! Bleiben Sie daher in Frieden, meine Tochter, weil Siesein Kind sind; bergen Sie Ihr Herz, alle Müdigkeit und Entkräftung,die über Sie kommen, an der heiligen und überaus liebenswerten Brustdes Erlösers, der sich für seine Kinder als Vater erweist durch seineVorsehung und als Mutter durch seine gütige, zärtliche und herzlicheLiebe.

Die Frömmigkeit wird uns eine große Hilfe sein und uns sehr zurwahren Vollkommenheit verhelfen. Wie wir Kranken, wenn wir siebesuchen, dabei helfen, ihr Übel zu tragen, indem wir es bedauernund beklagen, genau so hilft uns die Frömmigkeit, wenn sie schlichtund nach dem Sinn Gottes ist, geduldig die Heimsuchungen und Trüb-sale zu ertragen, wenn sie uns treffen.

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In der Lebensbeschreibung des seligen Amedée lesen wir, daß jene,die ihn in der Andacht sahen, sagten, man müßte kein Herz habenoder vielmehr eines aus Stein, wenn es nicht weich würde, besonders,wenn man ihn bei der Messe und beim Gottesdienst sah, „wo er niemit jemand außer mit Gott sprach. Die Güte seiner Augen und dieTränen, die so sanft über sein engelgleiches Gesicht rollten, die glü-henden Seufzer, die seine unschuldigen Gebete unterbrachen, dieBescheidenheit seiner ganzen Person flößten allen die Frömmigkeitein, die die Ehre hatten, ihn bei dieser heiligen Übung zu sehen“. DieWelt sagte, daß er zu viel weinte. Ja gewiß, aber ich will Ihnen überihn sagen, was der hl. Hieronymus über die hl. Paula sagte: Für einegroße Dame weinte sie zu viel, das ist wahr, „aber die Sünden der hl.Paula wären recht große Tugenden gewesen“ bei jedem anderen. Soweinte der selige Amedée zu viel, gab zu viele Almosen, liebte dieEinsamkeit zu sehr; dem mag so sein, wenn Sie wollen; aber dreimalund dreimal selig zu viel! Heilige Übertreibungen! Diese schwerenFehler wären bei anderen Prinzen große Tugenden gewesen.

„Ein Mensch, der Gott liebt und dessen Herz tief von der Gotteslie-be getroffen ist, findet nichts zu viel“, außer die Sünde, „und er glaubtimmer zu wenig für Gott zu tun, der ein solches Übermaß an Liebeund Schmerzen für uns hatte.“ Aber wir, so wenig wir auch getanhaben, denken noch, „wir hätten zu viel getan und Gott schulde unsdas übrige“. Armselige, die wir sind! Möge Gott nicht zulassen, daßuns dieser Dünkel in den Kopf steigt. Man muß immer recht das Al-lerbeste tun, denn wenn wir die ganze Zeit in Schmerz und Leidenlebten, könnten wir nicht zu viel tun für einen so gütigen Gott, deruns so viele Gnaden und so viel Gutes erwiesen hat. Dienen wir ihmdaher gern in Liebe; eilen wir zu ihm, damit er uns seine Herrlichkeitschenke und den Trost seines Heiligen Geistes (Apg 9,31), der immermitten in unserem Herzen sei. Amen.

2.

Meine teuerste Tochter, Unser Herr wünscht von Ihnen eine großegeistige Einfalt und eine große Klugheit. Die Einfalt ist die Taube, dieKlugheit die Schlange (vgl. Mt 10,16). Nun besteht die Einfalt derTaube darin, nur eines zu wollen, wie es jene Krähe gemacht hat, diein eine weiße Taube verwandelt wurde, ich will sagen, die bekehrte

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Magdalena, die überhaupt nichts suchte als ihren Meister. Alles, wasnicht Gott ist, bedeutet ihr nichts; ihr Herz ist unwandelbar, denn siebegegnet den Engeln und verläßt sie, ohne sich bei ihnen aufzuhalten,um ihren gekreuzigten Vielgeliebten zu suchen (Joh 20,12-16). Ach,was machst du, meine liebe Magdalena? Du verläßt die glorreichenEngel, um einen toten Gekreuzigten zu suchen? Mit einem Wort, siesucht nur ihren Meister.

Meine teuerste Tochter, der erste Punkt der Einfalt der liebendenSeele besteht darin, nur Gott zu suchen und zu wollen. Wenn wir nurdas suchen, wie glücklich werden wir sein, denn wir werden ihn im-mer finden, wenn wir ihn suchen, und wir werden immer nach ihmtrachten, wenn wir ihn gefunden haben. Wir werden von Stunde zuStunde zunehmen im Wunsch, ihn zu finden, und wir werden ihn fin-den in der Beharrlichkeit, uns nach ihm zu sehnen.

Aber, werden Sie mir sagen, wonach habe ich mich denn gesehntaußer nach ihm? – Hören Sie, meine Tochter, und bedenken Sie denersten Punkt der himmlischen Einfalt. Er besteht darin, Gott nur aufdem Weg zu suchen, den er uns bezeichnet hat. Denn wer nicht dagehen will, wo Gott ihn führt, wird ihn nie finden, weil er ihn nicht inEinfalt sucht. – Und was ist der Weg, den Gott Ihnen bezeichnet hat,meine teuerste Tochter? Der, auf dem Sie sich befinden. Und glaubenSie mir, Gott hat die Kinder Israels auf dem Weg der steinigen, dor-nenreichen und rauhen Wüste geführt. Wie glücklich waren diejeni-gen, die nicht murrten, denn nie fehlte ihnen etwas. Wie unglücklichwaren diejenigen, die murrten, denn sie wurden von der Schlange ge-bissen (Num 21,5f) und litten tausend Ängste.

Murren wir nicht in unserem Herzen und sagen wir nicht, unsereLage sei unerträglich. Wie viele Leute wollten gern die ihre gegen dieunsere tauschen! Es ist nicht so sehr unser Übel, was uns zu schaffenmacht, als unsere Eigenliebe, die sich über alles ärgert und beunru-higt, wogegen sie Widerwillen empfindet. Der heilige Mann Ijob (2,7-10) ist weniger friedlos in den unvergleichlichen Peinen auf seinemMisthaufen als der König Ahab auf seinem Lager in seinem Palast (1Kön 21,4) und als die schlechten Israeliten beim Genuß des Manna(Num 11,4-6). Im Winter beklagen wir uns über die Kälte und imSommer über die Hitze; die Mücken beunruhigen uns auf dem Weg.Schließlich ist es nur der einfältige Mensch, der die Fassung nichtverliert, denn er sucht nur Gott auf dem Weg, auf dem er sich befin-

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det. Wir haben viele Tage äußerster Verdrossenheit verbracht zur Zeit,als wir nicht in dem Maß Gott gehörten, wie wir sollten, aber mitseiner Hilfe werden wir dem abhelfen und werden so beginnen:

Vor allem werden Sie sich am Morgen vor seinem Angesicht nie-derwerfen und ihn aus tiefster Seele anbeten; dann werden Sie IhreGedanken auf ihn lenken und seinen ewigen Willen betrachten, daßer von Ihnen geliebt und durch die Liebe mit Ihrem Herzen vereinigtwerden will. Daher werden Sie dieses Herz zu dieser erhabenen Güteerheben und in die liebenswürdigen Arme dieses heiligen Willenswerfen. Sie werden Ihr Herz mit aller Kraft mit ihm vereinigen durchdiese oder ähnliche innere Beteuerungen: Ja, mein Gott, meine Seeleunterwirft sich deinem Willen und will für immer untrennbar mitdeiner Absicht vereinigt und ihr unterworfen sein. Herr, möge ichdaher gerettet sein, weil es so dein Wille ist. Möge ich immer deinenWillen erfüllen, nicht den meinen (Lk 22,42). Du bist der Gott meinesHerzens (Ps 73,26): möge mein Herz für immer dem deinen ergebenund gehorsam sein, mein Gott!

Zweitens: wenn man diesen Akt der Vereinigung mit dem WillenGottes am Morgen gemacht hat, muß man oft den Akt der Wiederver-einigung machen. Ich sage, von Zeit zu Zeit oder vielmehr von Au-genblick zu Augenblick, durch häufige Erhebungen des Herzens zuGott und auf die Art von wiederholten Bekräftigungen der Vereini-gung, die man schon vollzogen hat; so indem man innerlich sagt: Ja,Herr, ich will für immer mit deinem heiligen Willen verbunden undvereinigt sein. Herr, möge doch mein Wille ewig und untrennbar dirgehören. Man kann diesen Akt der Wiedervereinigung sogar machen,ohne etwas zu sagen, indem man das Kreuzzeichen über dem Herzenmacht oder die Augen zum Himmel erhebt oder auch den heiligenNamen Jesus ausruft. Und es scheint auch gut, diesen Akt der Wie-dervereinigung zu Beginn aller Gebete zu machen, die man währenddes Tages verrichtet, wie der heiligen Messe beiwohnen, beim Segenund der Danksagung bei Tisch, beim Ave am Mittag und Abend, nachder Gewissenserforschung und besonders vor der Beichte, weil mansorgfältig darauf achten muß, keinen Akt der Frömmigkeit nachläs-sig zu machen, sondern mit ernsthafter und echter Liebe.

In diesem Zusammenhang ist anzumerken, daß wir nicht unter Tod-sünde, ja nicht einmal unter einer läßlichen Sünde verpflichtet sind,der Messe beizuwohnen, wenn nicht ein Fest oder Sonntag ist, eben-

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sowenig zu den außergewöhnlichen Gebeten am Abend. Wir sind nichtunter Sünde verpflichtet, die Vesper zu hören, den Segen vor und dieDanksagung nach Tisch zu sprechen. Wir sind jedoch verpflichtet,wenn wir die Akte der Religion und der Frömmigkeit machen, sieordentlich und ehrfürchtig zu machen. Es wäre mehr wert, nur einerMesse beizuwohnen und es ehrfürchtig zu tun, als mehreren mit zer-streutem Geist, ohne Aufmerksamkeit und Ehrfurcht beizuwohnen,denn es ist nicht statthaft, bei religiösen Übungen die Ehrfurcht au-ßerachtzulassen. Deshalb rate ich denen, die mit vielen Aufgabenbelastet sind, ihre geistlichen Übungen kurz zu machen, damit siediese aufmerksamer machen können und sich ihnen mit Gleichför-migkeit des Geistes hingeben. Das ist eine der schönsten Zierden deschristlichen Lebens und eines der liebenswertesten Mittel, die GnadeGottes zu gewinnen und zu bewahren und selbst den Nächsten rechtzu erbauen. Es gibt auch nichts, was die gute Verfassung des Herzensso beeinträchtigt und das menschliche Zusammenleben schwierigermacht als die Gereiztheit der Seele.

Es ist eine der tadelnswertesten Verfassungen der Geschöpfe, unab-getötet zu sein, d. h. wechselnden Launen unterworfen zu sein: baldmißmutig, melancholisch, bald jähzornig, bald zum Lachen aufge-legt, bald ernst, bald tadelsüchtig. Dagegen ist es eine unschätzbareVollkommenheit, einen sanften, ausgeglichenen Charakter zu haben,der eine gute Begegnung bewirkt, gleich zu welcher Stunde und zuwelcher Zeit. Es ist wohl wahr, daß es fast unmöglich ist, diese Lehreim Trubel dieses sterblichen Lebens immer genau zu befolgen, aberman muß sich wenigstens bemühen, diesen unvergleichlichen Schatzder Ausgeglichenheit zu erwerben, und wenn man merkt, daß manvon der Bahn der Gemütsruhe abgekommen ist, muß man sich vorallem der Verpflichtung unterziehen, die Laune und die gegenteiligeHandlung zu verbessern, sich vor dem Heiligen Geist demütigen, ihnum seinen Beistand bitten und während der Aufregung wenigstensverhindern, daß sich die Leidenschaft durch die Sprache und durchäußeres Aufbrausen Luft macht.

Der Geist des Friedens und der Gemütsruhe, der Milde und derAusgeglichenheit ist der Geist Gottes und der Erbauung, den ich Ih-nen von ganzem Herzen wünsche und der für immer in Ihnen bleibenmöge.

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Gebet der werdenden Mutter38

Ewiger Gott, unendliche Güte, du hast die Ehe eingesetzt, um dieMenschen hier auf Erden zu vermehren und die himmlische Stadtdroben zu bevölkern; du hast vor allem unser Geschlecht für diesenDienst bestimmt und selbst gewollt, daß unsere Fruchtbarkeit einesder Kennzeichen deines Segens über uns sei: Ich werfe mich vor demAngesicht deiner Majestät nieder, die ich anbete, und sage dir Dankfür die Empfängnis des Kindes; du hast gnädig gewährt, daß es inmeinem Schoß ist. Da es dir aber so gefallen hat, Herr, breite nun dieArme deiner Vorsehung aus bis zur Vollendung des Werkes, das dubegonnen hast: Fördere meine Schwangerschaft durch deine Voll-kommenheit und trage durch deinen ständigen Beistand mit mir dasGeschöpf, das du in mir geschaffen hast, bis es das Licht der Welterblickt. Und dann, Gott meines Lebens, sei mir hilfreich, stütze mitdeiner heiligen Hand meine Schwachheit und nimm die Frucht mei-nes Leibes an. Wie es dir gehört durch die Erschaffung, soll es auchdir gehören durch die Erlösung; so bewahre es, bis es in der Taufe inden Schoß der Kirche, deiner Braut aufgenommen und eingefügt ist.

Erlöser meiner Seele, während deines Erdenlebens hast du diekleinen Kinder so sehr geliebt und sie oft in deine Arme geschlos-sen; ach, nimm dieses an und nimm es in deine heilige Kindschaftauf. Wenn es dich als Vater hat und anruft, werde in ihm dein Namegeheiligt, komme dein Reich (Mt 6,9f). Erlöser der Welt, so weihe,übergebe und bestimme ich es von ganzem Herzen dem Gehorsamgegen deine Gebote, der Liebe zu deinem Dienst und zum Dienstdeiner Liebe.

Dein gerechter Zorn hat die Stammutter der Menschen mit ihrerganzen sündigen Nachkommenschaft vielen Beschwerden undSchmerzen beim Gebären unterworfen; Herr, ich nehme alle Schmer-zen an, die du bei diesem Anlaß über mich kommen lassen willst. Ichbitte dich nur bei der heiligen und freudevollen Niederkunft deinerunschuldigen Mutter, mir armen und geringen Sünderin in der Stun-de meiner schmerzensreichen Niederkunft gnädig zu sein. Segne michmit dem Kind, das du mir gnädig schenken willst, mit dem Segendeiner ewigen Liebe, um den ich dich mit vollem Vertrauen auf deineGüte sehr demütig bitte.

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Und du, allerseligste Jungfrau und Mutter, meine liebe Frau undeinzige Herrin, die einzige Ehre der Frauen, nimm in deine Fürspra-che und in den mütterlichen Schoß deiner unvergleichlichen Gütemeine Wünsche und Bitten auf, damit es der Barmherzigkeit deinesSohnes gefalle, sie zu erhören. Darum bitte ich dich, du liebenswür-digstes aller Geschöpfe, und beschwöre dich bei der jungfräulichenLiebe, die du zu deinem lieben Bräutigam, dem hl. Josef hegtest, beiden unendlichen Verdiensten der Geburt deines Sohnes, beim heili-gen Schoß, der ihn getragen, und bei der heiligen Brust, die ihn ge-nährt hat.

Heilige Engel Gottes, die ihr bestellt seid zu meinem Schutz und zudem des Kindes, das ich trage, beschützt uns, leitet uns, damit wirunter eurem Beistand schließlich zur ewigen Glorie gelangen kön-nen, deren ihr euch erfreut, um mit euch unseren gemeinsamen Herrnund Meister zu loben und zu preisen, der herrscht von Ewigkeit zuEwigkeit. Amen.

Des Geheimnis des Friedens39

Wollen Sie, daß Ihr Leben keinen Widerspruch erregt? Dann ver-langen Sie nicht nach Ruhm und Ehre der Welt.

Hängen Sie sich nicht zu sehr an die menschlichen Tröstungen undFreundschaften.

Lieben Sie nicht Ihr Leben und achten Sie alles gering, was an Ihrennatürlichen Neigungen empfindsam ist.

Ertragen Sie hochherzig die Schmerzen des Körpers und die schwer-sten Krankheiten mit Zustimmung zum Willen Gottes.

Kümmern Sie sich nicht um die menschlichen Urteile. SchweigenSie zu allem, und Sie werden den inneren Frieden besitzen; dennunter uns gesagt, es gibt kein anderes Geheimnis, um diesen Friedenzu erlangen, als die Härte der Urteile der Menschen zu ertragen.

Beunruhigen Sie sich nicht darüber, was die Welt über Sie sagenwird. Warten Sie das Urteil Gottes ab, und Ihre Geduld wird dannüber jene urteilen, die über Sie geurteilt haben. Die den Ring reiten,achten nicht auf die Anwesenheit der Zuschauer, sondern auf denguten Ritt, um ihn zu gewinnen. Bedenken Sie, für wen Sie sich abmü-hen, und diejenigen, die Ihnen Kummer bereiten wollen, werden Siekaum beunruhigen.

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Über die Liebe im Urteilen40

Richtet niemand vor der Zeit (1 Kor 4,5). Es steht nur Gott alleinzu, zu richten; er sieht die Regungen des menschlichen Herzens, derMensch aber sieht nur das Äußere. Wenn aber die Wahrscheinlich-keit einer bestimmten Handlung so stark und die Schlußfolgerung sozwingend ist, daß sich der Verstand des Urteils nicht enthalten kann,dann muß man das der Überraschung zuschreiben, der Übereilung,der Versuchung, oder sich im äußersten Fall des Urteils enthalten,sich die Sache aus dem Kopf schlagen und nicht darüber sprechen,denn:

Eine Wahrheit, die nicht liebenswürdig ist,kommt von einer Liebe, die nicht wahrhaftig ist.Wenn die Menschen wollten, könnten sie in dieser Welt die Glück-

seligkeit der himmlischen Geister genießen und hätten es nicht nötig,sagt ein Weiser des Altertums, ein anderes Paradies zu suchen alsjenes, das sich in der bürgerlichen Gesellschaft findet. Durch die Tu-gend der freundlichen Einheit würde sie nur ein einziges Haus derje-nigen bilden, die in der Welt getrennt sind. Ich versichere Ihnen, daßes kein gewisseres Zeichen einer lasterhaften Seele gibt als die Nei-gung, über seinen Nächsten schlecht zu denken und zu sprechen.

Sobald man das Bildnis des Antigonus sah, das Apelles von schrägvorne gemalt hatte, so daß der Fehler seines verlorenen Auges durcheinen Pinselstrich verdeckt war, wurde er von aller Welt belästigt undgefragt, warum er ihn nicht gemalt habe, wie er war: Wo ist das andereAuge, sagte man zu ihm. Wo ist denn das eure, meine Freunde, ant-wortete er. Welche Verpflichtung habe ich denn, auf meinem Bildeinen Fehler darzustellen, wenn ich ihn verbergen kann, ohne jemandzu beleidigen? Seht ihr, die schlecht über ihren Nächsten urteilenund reden, sind Blutegel, die nur schlechtes Blut zu saugen wissenund das reinste im Körper lassen. Blinde Leute, die gegen die Grau-samkeit Abrahams wettern, wenn sie das gezückte Schwert sehen, undden Engel Gottes nicht wahrnehmen, der ihn lobt und ihm sagt, daßsein Opfer dem Herrn der Heerscharen wohlgefällig ist (Gen 22,10-12). Arglistige Geister, die alle Welt anklagen, das Herz erfüllt vonschlechten Eigenschaften, die sich zwischen die geistige Sicht und dieTatsachen stellen und die meinen, mit Recht zu glauben, daß alleWelt so verdorben sei, wie ihre Gedanken schwarz sind. Welche Un-gerechtigkeit, zu verlangen, daß man von allen Fehlern losgespro-

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chen wird, die man selbst begeht, und die kleinsten der anderen zuverdammen! Ich habe noch niemand gesehen, der sich schlecht vorge-kommen wäre, wenn er Gutes über seinen Nächsten sagt. Wie dieinnere Wärme ist, so ist das Blut in unserem Körper, und die Schön-heit unserer Seele ist wie ihre Liebe zum Nächsten. Wer seinen Nächs-ten nicht heilig, liebevoll und voll Mitleid betrachtet oder mit derAchtung, die ihm als Christ gebührt, der beginnt damit alle Teile sei-ner Seele zu verderben: von da her wird er stolz, anmaßend, mißgün-stig, ungesittet und hat keinen Zug des Ebenbildes Gottes mehr ansich.

Schauen wir auf uns, und wir werden nicht versucht, sagt der heiligeApostel (Gal 6,1). Wenn uns scheint, wir seien besser als jene, überdie wir reden, ist genügend Zeit, um ihnen Platz zu machen, vielleichtwerden sie im Himmel unseren Platz einnehmen. Sie werden unserenSturz überstehen und uns unter ihren alten Ruinen begraben, dennGott hat die Macht, ihnen die Hand zu reichen, wenn sie gefallen sind(vgl. Röm 14,4). Wie viele Räuber gibt es in den Wäldern, die Gottbesser dienen würden als ich, wenn sie dazu ebensoviele Gnadenempfangen hätten? Wie viel Spitzbuben wären religiöser als ich, wennihnen Unser Herr die Möglichkeit gegeben hätte, zu studieren undsich selbst zu erkennen? Betrachten wir den Unterschied, der sichzwischen dem hl. Petrus und Salomo ergab: der eine war ein Sünder,der andere der Weiseste seiner Zeit; der Sünder wurde weise und derWeise wurde zum Toren. Judas besaß die Anfänge einer vollendete-ren Heiligkeit, als man sich in denen vorstellen kann, die man heuteals die Vollkommensten betrachtet. Der hl. Paulus begann sehrschlimm und wurde ein Verfolger der Kirche Jesu Christi (Apg 9,1f;Gal 1,13), grausamer als der wütendste Tyrann unseres Jahrhundertsgegen unsere armen Brüder, die unter den Ungläubigen leben: Jener,der Apostel und einer der teuersten Freunde Gottes war, wurde derUnglücklichste der Welt; und jener, der nichts taugte, wurde zumbesten und glühendsten Verteidiger des Evangeliums.

Glücklich, wer stets in der Furcht lebt (Spr 28,14), wer sich mit derErwägung seiner eigenen Fehler befaßt und die Augen nicht öffnet,um die Fehler der anderen zu betrachten. Die Lebewesen bei Eze-chiel (1,9.12) richteten ihre Augen geradeaus und bewegten sich nurvorwärts; so betrachten auch die guten Menschen nur ihre eigenenUnvollkommenheiten und die Bösen sind nur hinter ihnen her, umder Spur der Handlungen des Nächsten zu folgen. Und ihr könnt be-

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obachten, daß diejenigen, die an den geringsten Fehlern des Nächstenetwas auszusetzen finden, gewöhnlich selbst recht große unterhalten.In Wahrheit ist es eine anerkannte Erfahrung, daß die meisten dieserMenschen nur Splitter in ihren eigenen Augen sehen, weil sie meinen,das Auge ihres Bruders sei durch einen Balken erblindet (vgl. Mt 7,3-5).

Ratschläge gegen Traurigkeit und innere Unruhe41

Die Traurigkeit gebiert die Unruhe und die Unruhe gebiert wieder-um die Traurigkeit. Deshalb muß man beide miteinander behandeln,und die Heilmittel gegen die eine sind nützlich für die andere.

Damit Sie verstehen, wie die Traurigkeit und die Unruhe sich ge-genseitig hervorbringen, müssen Sie wissen, daß die Traurigkeit nichtsanderes ist als der seelische Schmerz über ein Übel, das gegen unse-ren Willen in uns ist, ob nun dieses Übel innerlich oder äußerlich ist,wie Armut, Krankheit, Schande, Verachtung, innerlich wie Unwis-senheit, Trockenheit, schlechte Neigungen, Sünde, Unvollkommen-heit oder Widerwille gegen das Gute.

Wenn also die Seele ein Übel an sich fühlt, mißfällt es ihr vor allem,es zu haben, und das ist die Traurigkeit. 2. möchte und wünschte sie,davon befreit zu werden, und sucht Mittel, es loszuwerden. Soweit istnichts Schlechtes dabei und diese beiden Akte sind lobenswert. Wennaber 3. die Seele nach Mitteln sucht, vom Übel befreit zu werden,kann sie danach suchen aus Gottesliebe oder aus Eigenliebe. Wenn esaus Gottesliebe geschieht, wird sie danach suchen in Geduld, Demutund Sanftmut; sie wird das Gute weniger von sich selbst und vonihrem eigenen Eifer erwarten als von der Barmherzigkeit Gottes.Wenn sie aber aus Eigenliebe danach sucht, wird sie sich ereifern inder Suche nach Mitteln zur Befreiung, als ob dieses Glück mehr vonihr abhinge als von Gott. Ich sage nicht, daß sie das denkt, aber ichsage, daß sie sich ereifert, als ob sie es dächte, und das kommt daher,daß sie in große Unruhe und Ungeduld verfällt, wenn sie nicht aufden ersten Blick Befreiung von ihrem Übel findet. Ist sie nun in Un-ruhe geraten, dann kommt 4. bald darauf äußerste Traurigkeit, weildie Unruhe das Übel nicht behebt, sondern es im Gegenteil verschlim-mert; man verfällt in maßlose Angst, mit einem Verfall der Kraft undso großer Verwirrung des Geistes, daß er meint, er könnte nie davonbefreit werden; und von da her gerät sie in einen Abgrund von Trau-

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rigkeit, die sie alle Hoffnung aufgeben läßt, ebenso das Bemühen, esbesser zu machen.

Sie sehen also, daß die Traurigkeit, die an sich in ihrem Anfangnicht schlecht ist, die Unruhe gebiert, und daß umgekehrt die Unruheeine neue Traurigkeit gebiert, die in sich sehr gefährlich ist.

Von der Unruhe

Über diese Unruhe will ich nur wenig sagen, weil seine Heilmittelfast die gleichen sind wie die, die ich gegen die Traurigkeit angebe,und weil ich Sie außerdem auf die Kapitel 14, 15 und 16 des ‚Geistli-chen Kampfes‘ verweise. Ich will nur diese zwei oder drei Dinge sa-gen:

Die Unruhe, die Mutter der Traurigkeit, ist das größte Übel, daseine Seele außer der Sünde treffen kann; denn es gibt keinen Fehler,der mehr als die Unruhe den Fortschritt in der Tugend und die Über-windung des Lasters hemmt. Wie die Aufstände einen Staat völligzerstören und verhindern, daß man den Feind bekämpfen kann, soverliert unser Herz, wenn es in sich verwirrt ist, die Kraft, die Tugendzu erwerben und die Mittel anzuwenden, die sie gegen die Feindeeinsetzen müßte, die im getrübten Wasser fischen können, wie mansagt.

2. Die Unruhe entspringt dem hitzigen und ungeordneten Wunsch,von dem Übel befreit zu werden, das man im Geist oder im Körperfühlt. Und so sehr diese Unruhe nach Befreiung strebt, führt sie imGegenteil dazu, diese zu verzögern. Was führt denn dazu, daß dieVögel und andere Tiere im Netz gefangen bleiben, als daß sie, sobaldsie hineingeraten sind, kämpfen und sinnlos um sich schlagen, umschnell daraus freizukommen, und sich dadurch um so mehr verfan-gen und behindern. Jene, die sich in Sträuchern und Büschen befin-den und sich beeilen wollen, um rasch zu laufen, stechen und zerkrat-zen sich; wenn sie aber ganz sachte vorgehen und die Dornen einzelnbeiseite biegen, werden sie schneller und ohne Stiche davonkommen.

3. Wenn wir etwas zu heftig begehren, gehen wir oft daran vorbei,ohne es zu sehen, und nie wurde etwas gut gemacht, was man hastigtut. Wenn wir daher in die Netze irgendeiner Unvollkommenheit ge-raten sind, werden wir uns davon nicht durch die Unruhe befreien,sondern uns im Gegenteil immer mehr in sie verstricken. Daher müs-sen wir unseren Geist und unser Urteil beruhigen und dann sachte

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Ordnung in unsere Gedanken bringen. Ich möchte nicht ‚nachlässig‘sagen, sondern ohne Übereilung, Verwirrung und Unruhe. Um das zuerreichen, muß man die Kapitel 14, 15 und 16 des ‚Geistlichen Kamp-fes‘ lesen und wiederholt lesen. Vor allem muß man die Wache hal-ten, von der der ‚Geistliche Kampf‘ spricht; sie wird uns vor allemwarnen, was irgendeine Verwirrung oder Übereilung in unserem Her-zen erregen will, unter welchem Vorwand es auch sei. Diese Wache,die in der Seele errichtet sein muß, kann darunter verstanden werden,daß der Berg Zion in Jerusalem eingeschlossen war, was ,Vision desFriedens‘ bedeutet; und Zion bedeutet nach manchen ‚Schildwache‘und ‚Wachturm‘. Nun, diese Schildwache darf nichts anderes sein alseine besondere Sorgfalt für die Bewahrung der inneren Ruhe, die wirbesonders am Beginn unserer Übungen erneuern müssen, am Abend,am Morgen, mittags.

4. Unser Herr hat nicht gewollt, daß sein Tempel von David gebautwurde, den sehr heiligen aber kriegerischen König, sondern durch denfriedliebenden König Salomo; er wollte auch nicht, daß beim BauenHammer und Eisen verwendet wurden (1 Kön 5-7): das ist ein Zei-chen, daß er nicht will, daß unsere geistige Erbauung anders als ingroßem Frieden und in Ruhe vor sich geht. Darum muß man Gott stetsbitten, wie der König David (Ps 122,6) lehrt mit den Worten: Erbittet,was Jerusalem zum Frieden braucht. Auch Unser Herr entließ die Buß-fertigen stets im Frieden: Geh in Frieden (Lk 7,30), sagte er.

Von der Traurigkeit

Die Traurigkeit kann gut oder schlecht sein, entsprechend dem Wortdes hl. Paulus: Die Traurigkeit nach dem Sinn Gottes bewirkt die Buße,die Traurigkeit der Welt den Tod (2 Kor 7,10).

2. Der böse Feind benützt die Traurigkeit, um seine Versuchungenbei den Guten ins Werk zu setzen; denn wie er sich zu bewirken be-müht, daß die Bösen am Schlechten Freude haben, so versucht erauch zu erreichen, daß die Guten Überdruß am Guten bekommen.Und wie er das Schlechte nur fördern kann, indem er es angenehmerscheinen läßt, so kann er auch vom Guten nur abwendig machen,wenn er erreicht, daß man es unangenehm findet. Außerdem freutsich aber der böse Feind über die Traurigkeit und den Trübsinn, weiler selbst traurig und trübsinnig ist und ewig sein wird; daher möchteer, daß alle seien wie er.

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3. Die Traurigkeit ist in der Regel fast immer schlecht und seltengut; denn nach den Kirchenlehrern bringt der Baum der Traurigkeitacht Äste hervor: Barmherzigkeit, Buße, Angst, Trägheit, Entrüstung,Eifersucht, Neid, Ungeduld. Wie man sieht, sind davon nur die erstenzwei ohne Vorbehalt gut. Das veranlaßt den Weisen, in Jesus Sirach(30,23) zu sagen, daß die Traurigkeit viel Gutes tötet und daß in ihrkein Nutzen ist; denn gegenüber zwei guten Bächen entspringen ausihr sechs schlechte.

Kennzeichen der schlechten Traurigkeit

Die schlechte Traurigkeit verwirrt den Geist, versetzt die Seele inAufregung und Unruhe. Daher beklagt sich der König David nichtnur über die Traurigkeit mit den Worten: Warum bist du traurig, mei-ne Seele (Ps 43,5), sondern auch über die Aufregung und Unruhe,indem er hinzufügt: und warum verwirrst du mich? Die gute Traurig-keit dagegen hinterläßt tiefen Frieden und große Ruhe im Geist. Nach-dem Unser Herr (Joh 16,20.33) seinen Aposteln vorhergesagt hat,Ihr werdet traurig sein, fügt er hinzu: Euer Herz sei nicht verwirrt, habtkeine Angst (Joh 14,1.27). Seht, meine bitterste Betrübnis ist im Frie-den (Jes 38,17).

Die schlechte Traurigkeit kommt wie ein Hagelschlag mit einemunerwarteten Umschwung, mit größtem Schrecken und ungestüm, undmit einem Schlag, ohne daß man sagen könnte, woher sie kommt,denn sie hat kein Fundament und keinen Grund; vielmehr sucht sie,nachdem sie eingetreten ist, von allen Seiten nach Gründen, um sichmit ihnen zu schmücken. Die gute Traurigkeit dagegen kommt sanftüber die Seele wie ein milder Regen, der das hitzige Verlangen nachTröstungen abkühlt; ihr geht ein bestimmter Grund voraus.

Die schlechte Traurigkeit verliert den Mut, wird schläfrig, schläftein und macht unnütz, indem sie Sorgfalt und Werk aufgibt, wie derPsalmist sagt, und wie Hagar (Gen 21,15f), die ihren Sohn unter demBaum zurückließ, um zu weinen. Die gute Traurigkeit gibt Kraft undMut, sie gibt nicht auf und läßt einen guten Plan nicht fallen. So wardie Traurigkeit Unseres Herrn; obwohl sie größer als je eine war,hinderte sie ihn nicht, zu beten und Sorge für seine Apostel zu tragen(Mt 26,38-45; Joh 18,3f). Und als Unsere liebe Frau ihren Sohn ver-loren hatte, wurde sie sehr traurig, aber sie hörte nicht auf, eifrig nachihm zu suchen (Lk 2,44ff); dasselbe tat Magdalena (Mk 16,1-4; Joh

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20,1f), ohne sich dabei aufzuhalten, nutzlos zu jammern und zu wei-nen.

Die schlechte Traurigkeit verdunkelt den Verstand, verekelt das Ge-bet und zerstört das Vertrauen auf die Güte Gottes; die gute dagegenkommt von Gott, macht den Menschen zuversichtlich, vermehrt dasVertrauen auf Gott, bewirkt, daß er betet und sein Erbarmen anruft:Trübsal und Angst haben mich verwirrt, aber ich habe deine Gebotebetrachtet, sagt David (Ps 119,143).

Mit einem Wort, die von der schlechten Traurigkeit befallen sind,haben zahllose Schrecken, Irrtümer und unnütze Ängste, aus Angstund Furcht, von Gott verlassen, in Ungnade zu sein, nicht mehr vorihm erscheinen zu dürfen, um ihn um Vergebung zu bitten; daß allesgegen sie und ihr Heil ist. Sie sind wie Kain, der glaubte, alle, die ihmbegegnen, wollten ihn töten (Gen 4,14). Sie meinen, Gott sei unge-recht gegen sie und in Ewigkeit streng, und das alles besonders gegensie allein, alle anderen seien im Vergleich mit ihnen recht glücklich:Das kommt von einem heimlichen Stolz, der ihnen einredet, sie müß-ten doch eifriger und besser als die anderen sein, vollkommener alsalle. Mit einem Wort, wenn sie es recht bedenken, werden sie finden,daß sie ihr Übel für bedeutender halten, weil sie sich selbst für etwasBesonderes halten.

Die gute Traurigkeit dagegen überlegt so: Ich bin ein armseliges,niedriges und nichtswürdiges Geschöpf, aber Gott wird dennoch sei-ne Barmherzigkeit gegen mich walten lassen, denn die Kraft kommtin der Schwachheit zur Vollendung (2 Kor 12,9); sie ist nicht erstauntdarüber, arm und elend zu sein.

Nun, die Ursache dieser Unterschiede zwischen der guten und derschlechten Traurigkeit liegt darin, daß der Heilige Geist der Urheberder guten Traurigkeit ist; und weil er der einzige Tröster ist (Joh 14,16;16,7), kann sein Wirken nicht vom Trost getrennt sein; weil er daswahre Licht ist, kann es nicht von der Klarheit getrennt sein. Miteinem Wort, weil er das wahre Gut ist, kann sein Wirken nicht vomwahren Gut getrennt sein, denn seine Früchte, sagt der hl. Paulus(Gal 5,22) sind Liebe, Freude, Friede, Geduld, Güte, Langmut. Derböse Geist dagegen, der Urheber der schlechten Traurigkeit (ich spre-che ja nicht von der natürlichen Traurigkeit, die mehr des Arztes alsdes Theologen bedarf), kann wahrhaftig nichts als traurig machen,verdunkeln und behindern; und seine Früchte können nur Haß, Trau-rigkeit, Unruhe, Kummer, Bosheit, Ohnmacht sein. Alle Kennzei-

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chen der schlechten Traurigkeit gelten nun ebenso für die schlechteÄngstlichkeit.

Einige Heilmittel

1. Man muß sie in Geduld annehmen als eine gerechte Strafe fürunsere eitlen Freuden und Vergnügungen; denn wenn der böse Feindsieht, daß wir aus ihr Nutzen ziehen, wird er uns nicht mehr so be-drängen. Wenn man auch diese Geduld nicht haben soll, um davonbefreit zu werden, und man sie um des Wohlgefallens Gottes willenannimmt, wird sie uns doch als Heilmittel dienen.

2. Man muß dem Hang zur Traurigkeit lebhaft entgegenwirken undihre Einflüsterungen bekämpfen. Und obwohl es scheint, daß man indieser Zeit alles traurig verrichtet, darf man es doch nicht zu tununterlassen; denn wenn der böse Feind, der uns durch die Traurigkeitvon guten Werken abzubringen versucht, sieht, daß er keinen Erfolghat, daß unsere Werke im Gegenteil besser sind, weil sie unter Wider-stand verrichtet werden, wird er davon ablassen, uns weiter zu be-drängen.

3. Es ist nicht schlecht, wenn es möglich ist, geistliche Lieder zusingen; denn auf dieses Mittel hin hat der Teufel oft sein Werk aufge-geben, aus welchem Grund auch immer. Ein Beispiel dafür ist derGeist, der Saul aufwiegelte, dessen Ungestüm durch den Psalmenge-sang gemildert wurde (1 Sam 16,23).

4. Es ist gut, sich einer äußeren Tätigkeit zu widmen und sie mög-lichst oft zu wechseln, um den Geist von der ungestümen Beschäfti-gung mit dem traurigen Gegenstand abzulenken, den Geist zu reini-gen und zu erwärmen. Die Traurigkeit ist ja eine Leidenschaft vonkaltem und feuchtem Charakter.

5. Es ist gut, oft äußere Akte des Eifers zu machen, wenn auch ohneGefühl, so das Kreuz umfassen, es an sein Herz und an seine Brustdrücken, dessen Hände und Füße küssen, die Augen zum Himmelerheben mit Vorsätzen der Hoffnung, wie: Mein Vielgeliebter ist meinund ich bin sein (Hld 2,16); Mein Vielgeliebter ist für mich ein Myrr-henbüschel, das an meiner Brust ruht (Hld 1,12); Meine Augen sindauf dich gerichtet, mein Gott, und ich sage: Wann wirst du mich trös-ten? (Ps 119,82); Wenn Gott für mich ist, wer wird dann gegen mich

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sein? (Röm 8,31); Jesus, sei mir Jesus. Es lebe mein Gott, und meineSeele wird leben. Wer wird mich vom Kreuz meines Gottes trennen?(Röm 8,35), und ähnliche.

6. Maßvolle Geißelung ist manchmal gut, denn der freiwillige äuße-re Schmerz bewirkt den Trost für den inneren der Seele. Und wäh-rend man dem Leib äußere Schmerzen zufügt, fühlt man die Stärkeder inneren weniger. Darüber sagte der Psalmist (Ps 35,13): Als siemich bedrängten, habe ich ein Bußgewand angelegt; und eine andereStelle (Ps 23,5) kann sehr gut passen: Deine Rute und dein Stockhaben mich getröstet.

7. Das Gebet ist dabei unübertrefflich, entsprechend dem Rat deshl. Jakobus (5,13): Wer traurig ist, der bete. Ich will nicht sagen, mansollte in dieser Zeit längere Betrachtungen halten, ich will vielmehrsagen, man muß oft wiederholte Bitten an Gott richten. Man mußsich in dieser Zeit stets mit Anrufungen voll Vertrauen an seine gött-liche Güte wenden. Das tut man nicht in der Zeit der Freude undaußerhalb der Traurigkeit, wenn man glauben kann, man hätte es nö-tig, in seinem Herzen mehr Gefühle der Furcht zu erwecken, z. B.diese: Überaus gerechter und schrecklicher Herr, wie sehr muß ichvor deiner erhabenen Majestät zittern, und ähnliche. Aber in der Zeitder Traurigkeit muß man Worte der Milde gebrauchen, z. B.: Gott desErbarmens, überaus gut und gütig, du bist mein Mut, meine Freude,meine Hoffnung, der teure Bräutigam meiner Seele, und ähnliche.Und man muß sie machen, ob es der Traurigkeit paßt oder nicht; ihrdürfen Sie weder Gehör noch Glauben schenken, wenn sie verhin-dern will, daß Sie diese Worte des Vertrauens und der Liebe ausspre-chen und ausstoßen. Und obwohl es scheint, daß es keine Früchtebringt, darf man nicht unterlassen, sie fortzusetzen und den Erfolg zuerwarten, der sich unfehlbar nach einiger Anstrengung zeigen wird.

8. Die häufige Kommunion in dieser Absicht ist vorzüglich, dennsie schenkt uns den Herrn der Tröstungen.

9. Eines der sichersten Heilmittel ist es, sich auszusprechen, undohne dabei etwas zu verheimlichen, sein Herz einem religiösen undklugen Menschen zu eröffnen, ihm alle Gefühle, Gedanken und Ein-fälle darzulegen, die von unserer Traurigkeit kommen, und die Grün-de, durch die wir sie nähren. Das muß man demütig und gewissenhaftmachen.

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Und merken Sie sich: die erste Bedingung, die der Teufel einerSeele auferlegt, die er bedrängen und verführen will, ist das Schwei-gen, wie es die Aufrührer bei Verschwörungen und schlimmen Ereig-nissen machen. Sie verlangen ja vor allem, daß ihre Unternehmungenund Beschlüsse geheim bleiben. Gott dagegen fordert als erste Bedin-gung die Diskretion. Er will wahrhaftig nicht, daß man seine Gnadenund Gunsterweise schwatzhaft enthüllt, wohl aber, daß man sie mitKlugheit und nach den Regeln einer demütigen Diskretion Menschenmit den erforderlichen Eigenschaften mitteilt.

Diese Regeln sind grob und nur dazu gut, um die maßlose Traurig-keit und Unruhe zu bekämpfen. Diejenigen, die mehr Urteilsfähig-keit in geistlichen Dingen haben, können andere Wege führen, dieUnser Herr ihnen eingeben wird. Wenn Ihnen indessen diese dazudienen können, wenden Sie diese sorgsam an und beten Sie für den,der sie Ihnen aufgezeigt hat.

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III. Gebet und religiöse Übungen

Avis, den Tag gut zu verbringen42

Sobald Sie erwachen, trachten Sie, daß sich Ihre Seele sogleich ganzin Gott versenkt durch einen heiligen Gedanken wie diesen: Wie derSchlaf das Bild des Todes ist, so ist das Erwachen das Bild der Aufer-stehung. Ich glaube, daß mein Erlöser lebt und daß ich am JüngstenTag auferstehen werde (Ijob 19,25). Herr, möge es doch zum ewigenLeben sein: Diese Hoffnung ruht in meinem Herzen (Ijob 19,27). Ach,reiche doch deine Rechte dem Werk deiner Hände. Du hast meineSchritte gezählt; aber vergib mir meine Sünden (Ijob 14,15f).

Wenn Sie sehen, daß es Tag wird, dann gehen Sie von der Erwägungdes äußeren Lichtes zum geistlichen über, oder vielmehr vom zeitli-chen zum ewigen, und sagen mit David: Herr, in deinem Licht werdenwir das Licht schauen (Ps 36,10).

Während Sie sich ankleiden, machen Sie das Kreuzzeichen und sa-gen still: Mein Gott, bekleide mich mit dem Mantel der Unschuldund mit dem hochzeitlichen Kleid (Mt 22,11f) der Liebe. Dann befas-sen Sie sich kurz mit dem Gegenstand der Betrachtung.

Wenn Sie in der Kirche eingetroffen sind, um der Messe beizuwoh-nen, dann versetzen Sie sich in die Gegenwart Gottes, während derPriester den Kelch und das Meßbuch vorbereitet. Vom Confiteor biszur Präfation machen Sie das Bekenntnis des Glaubens; nach demSanctus erwägen Sie die Wohltat des Todes und der Passion UnseresHerrn; bei der Elevation beten Sie aus tiefstem Herzen den göttli-chen Erlöser an und bringen ihn Gott, seinem Vater dar; danken Sieihm nach der Elevation sehr demütig für die Einsetzung dieses heili-gen Sakramentes; wenn der Priester das Pater noster spricht, betenSie es im Geist mit aller Andacht; bei der Kommunion kommunizie-ren Sie wirklich oder geistigerweise; nach der Kommunion betrach-ten Sie Unseren Herrn, der in Ihrem Herzen thront, und führen Sieihm nacheinander Ihre Sinne und Ihre Fähigkeiten vor, um seine Be-fehle zu hören und ihm Treue zu versprechen.

Wenn Sie am Morgen aus Ihrem Zimmer gehen wollen, empfehlenSie sich Ihrem Schutzengel und bitten ihn um den Segen. Machen Siewährend des Tages viele Stoßgebete. Wenn die Uhr schlägt, erhebenSie Ihr Herz und sagen: Gott sei gebenedeit, die Ewigkeit rückt nä-

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her. Schauen Sie während der Beschäftigungen oft auf die göttlicheGüte; legen Sie sich einige feurige Worte zurecht, die Ihrer Seele vonZeit zu Zeit als Refrain dienen. Vor dem Abendessen empfehle icheine kleine Sammlung sehr.

Ziehen Sie sich jeden Tag der Woche in eine der Wunden unseresschmerzensreichen und liebevollen Erlösers zurück: am Sonntag indie Seitenwunde, am Montag in die des linken Fußes, am Dienstag indie des rechten Fußes, am Mittwoch in die der linken Hand, am Don-nerstag in die der rechten Hand, am Freitag in die Wundmale seinesanbetungswürdigen Hauptes; am Samstag kehren Sie in seine heiligeSeitenwunde zurück, um damit Ihre Woche zu beginnen und zu be-schließen.

Avis für die Morgenübung43

Trachten Sie, daß sich Ihre Seele beim Erwachen ganz in Gott ver-senkt durch einige heilige Worte wie diese: Wie der Schlaf das Bilddes Todes ist, so ist das Erwachen das Bild der Auferstehung. Erin-nern Sie sich daher an den Ruf, der am Jüngsten Tag erschallen wird:Ihr Toten, steht auf und kommt zum Gericht. Das sind Worte, ausdenen der hl. Hieronymus so großen Nutzen zog. Sie können mit Ijob(19,25.27) das Stoßgebet hinzufügen: Ich glaube, daß mein Erlöserlebt und daß ich am Jüngsten Tag auferstehen werde. Herr, gib, daß eszum ewigen Leben sei; diese Hoffnung ruht in meinem Herzen. OderSie können sich auch manchmal vorstellen, daß Sie die gleiche Stim-me vom Engel (1 Thess 4,15) hörten, und mit Ijob (14,15f) sagen:Herr, an jenem Tag wirst du mich rufen und ich werde antworten: Duwirst deine Rechte dem Werk deiner Hände reichen. Du hast alle meineSchritte gezählt; aber vergib mir meine Sünden.

Wenn Sie sehen, daß es Tag wird, werden Sie ein andermal IhreGedanken vom zeitlichen auf das ewige Licht lenken und mit David(Ps 36,10) sagen: Herr, in deinem Licht werde ich das ewige Lichtsehen. Oder Sie können auch vom inneren Licht zum äußeren überge-hen und sagen: Erleuchte mich, damit ich nicht im Tod entschlafe (Ps13,4). Oder mit dem hl. Paulus (Röm 13,12): Die Nacht ist vergan-gen, der Tag ist angebrochen; auf, laßt uns nicht mehr die Werke derFinsternis tun, sondern die Waffen des Lichtes anlegen. So können Sieheilige Erwägungen anstellen, wie sie Ihnen der Heilige Geist einge-ben wird.

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Während Sie sich ankleiden, machen Sie das Kreuzzeichen und sa-gen: Herr, gib mir den Mantel der Unschuld und das hochzeitlicheKleid (Mt 12,11f) der Liebe.

Es ist gut, die Betrachtung womöglich am Morgen zu machen, be-vor der Geist in andere Dinge verstrickt ist. Wer aber das nicht könn-te, soll wenigstens die folgende kleine Übung machen, die für denganzen Tag gilt und Vorbereitung heißt.

Man dankt Gott, daß er uns diese Nacht bewahrt hat, und bedenkt,daß Gott uns den heutigen Tag schenkt, um ihn zu seiner Ehre und zuunserem Heil zu verwenden; daß die göttliche Majestät die Sündeüberaus haßt und verabscheut, entsprechend dem Ausspruch Davids(Ps 5,5): Mein Gott, am frühen Morgen nahe ich dir und anerkenne,daß du ein Gott bist, der die Sünde nicht liebt.

Man überlege, welche Gelegenheiten sich während des Tages bietenkönnen, Gott zu dienen oder im Gegenteil ihn zu beleidigen, und dasje nach seinem Stand und nach den Geschäften, die man an diesemTag haben kann. Und wenn man sie erkannt hat, wird man den festenEntschluß fassen, die Tugend zu ergreifen und die Sünde zu meiden;dabei muß jeder noch die Unvollkommenheiten berücksichtigen, de-nen er unterworfen ist.

Hernach opfere man Gott sich und alle seine Handlungen auf, undum sie ihm wohlgefällig zu machen, bitte man seinen Sohn Jesus Chris-tus, er möge sie mit seinen Verdiensten und mit seiner Passion verei-nigen.

Schließlich bittet man Gott, uns gnädig zu sein und unsere gutenVorsätze zu stärken; und in der gleichen Absicht ruft man die seligsteJungfrau und die Heiligen an, zu denen man eine besondere Vereh-rung hat, mit allen anderen und besonders unseren Schutzengel. Dannfügt man das Vaterunser, das Ave Maria, das Glaubensbekenntnis undden Lobpreis hinzu.

Hinweis

Wenn man die Betrachtung am Morgen macht, wird man mit ihr dieDanksagung für die Bewahrung in der Nacht mit der Danksagung fürdas Geheimnis (der Betrachtung) verbinden. Bei den Erwägungenwird man sehen, daß man die Tugend ergreifen und die Sünde fliehenmuß. Die Aufopferung seiner selbst wird mit der des Geheimnissesgeschehen, ebenso die Bitte.

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Es bleibt nur die Erwägung der Einteilung und der Geschäfte desTages, die man nicht während der Betrachtung machen soll, weil siesich zu sehr mit den Einzelheiten unserer Aufgaben befaßt, unseresTagewerks, unserer Begegnung mit Personen, mit denen wir zu tunhaben, und mit ihren Eigenschaften; so ob sie cholerisch, verdrieß-lich sind, und ähnliches. Das alles würde uns zu sehr zerstreuen. Da-her muß man diese Überlegungen für sich nach dem Vaterunser ma-chen.

Morgenübung und Übung der Wiedervereinigung44

Morgenübung. – Weil sie kurz, einfach und unmittelbar auf die Verei-nigung unseres Willens mit dem Willen Gottes ausgerichtet ist, kann sievon Leuten gemacht werden, die sich in Trockenheit, Unfruchtbarkeit,Traurigkeit befinden, die körperlich schwach oder mit Aufgaben über-lastet sind.

1. Auf den Knien und tief vor Gott verdemütigt werden Sie seineerhabene und grenzenlose Güte anbeten.

2. Sie werden Ihr Denken aufmerksam auf den überaus gütigen Wil-len Gottes richten, der Sie von Ewigkeit her bei Ihrem Namen ge-nannt und Sie zu retten geplant hat. Er hat unter anderem den heuti-gen Tag dazu bestimmt, damit Sie an ihm Werke des Lebens und desHeiles tun. Glauben Sie, was der Prophet (Jer 31,3) gesagt hat: Mitewiger Liebe habe ich dich geliebt; deshalb habe ich mich deiner er-barmt und dich an mich gezogen. Und bei diesen wahren Gedankenwerden Sie Ihren Willen mit dem des überaus gütigen und barmherzi-gen himmlischen Vaters vereinigen mit folgenden oder ähnlichen herz-lichen Worten: O überaus gütiger Wille meines Gottes, mögest duimmer geschehen! O ewiger Ratschluß des Willens meines Gottes,ich bete dich an, weihe und übergebe dir meinen Willen, um in Ewig-keit immer zu tun, was du von Ewigkeit gewollt hast! Möge ich daherheute und immer in allen Dingen deinen göttlichen Willen tun, meingütiger Schöpfer! Ja, himmlischer Vater, denn so hat es dir gefallen(Mt 11,26; Lk 10,21) von aller Ewigkeit; so sei es. Göttliche Güte,wie du gewollt hast. Ewiger Wille, lebe und herrsche in all meinemWollen und über meinen ganzen Willen, jetzt und immer. Amen.

3. Man rufe den himmlischen Beistand an durch einige fromme,äußere oder innere Anrufe, wie: O Gott, komm mir zu Hilfe (Ps 50, 2)!

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Ich bin dein, rette mich (Ps 119,97). Deine hilfreiche Hand sei übermeinem armen und schwachen Mut. Oder man kann bei diesem drit-ten Punkt sich auch des kleinen Gebetes bedienen, das in der Mor-genübung der ‚Philothea‘ (2,10) steht.

Auf diese Weise werden Sie also eine lebendige und kraftvolle, lie-bevolle Vereinigung Ihres Willens mit dem Willen Gottes vollzie-hen. Dann werden Sie bei allen körperlichen wie geistigen Handlun-gen des Tages oft Akte der Wiedervereinigung machen, d. h. Sie wer-den die Vereinigung, die Sie am Morgen vollzogen haben, erneuernund bekräftigen, indem Sie einen einfachen inneren Blick auf diegöttliche Güte werfen und zustimmend sagen: Ja, Herr, ich will es;mein Gott, für immer, für immer, göttlicher Wille. Oder Sie sageneinfach nur: Ja, Herr, immer, Herr, mein Vater; ich bekräftige, meinGott, ewig. Oder Sie können auch, ohne etwas zu sagen, das Kreuzzei-chen machen oder irgendein Bild küssen, das Sie bei sich tragen;denn das alles will besagen, daß Sie die Vorsehung Gottes über alleswollen, sie anbeten und lieben, sie von ganzem Herzen annehmenund umfangen, daß Sie Ihren Willen untrennbar mit diesem erhabe-nen Willen vereinigen.

Doch diese Herzenserhebungen, diese innerlichen Worte müssensanft und ruhig, fest aber friedlich geschehen, sie müssen sozusagenganz sachte von der Spitze des Geistes träufeln und fließen, wie maneinem Freund ein Wort ins Ohr sagt, das man viel mehr in sein Herzsenken will, ohne daß es jemand vernimmt. Denn auf diese Weisewerden diese heiligen Worte, geflossen und geträufelt durch die Spit-ze unseres Geistes in der Spitze unseres Geistes selbst, diese vielinniger und stärker durchdringen und erweichen, als wenn sie in derForm von Erhebungen, von Stoßgebeten und Ausbrüchen des Geistesgeschehen. Die Erfahrung wird Sie das erkennen lassen, wenn Siedemütig und einfach sind.

Weisung, um der Messe recht beizuwohnen45

Wenn man in der Messe das Evangelium liest, stehen Sie auf, um zubezeugen, daß Sie bereit und willens sind, auf dem Weg der Gebotedes Evangeliums zu wandeln; und um sich dazu anzuspornen, könnenSie beim Aufstehen sprechen: Jesus Christus ist gehorsam gewordenbis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz (Phil 2,8). Und während Sie das

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Kreuzzeichen auf Ihre Stirn, Ihren Mund und Ihre Brust machen,sollen Sie sagen: Gott sei in meinem Geist, in meinem Mund und inmeinem Herzen, damit ich sein heiliges Evangelium annehme.

Beim Credo muß man das Glaubensbekenntnis sprechen und in-nerlich beteuern, daß man im Glauben der Kirche leben und sterbenwill.

Nach dem Sanctus muß man in großer Demut und Ehrfurcht an diegroße Wohltat des Todes und der Passion unseres Erlösers denkenund ihn bitten, er möge sie zum Heil der ganzen Welt gereichen las-sen, insbesondere zu dem unseren, und dem der Kinder seiner Kir-che, zur Ehre und Glückseligkeit aller Heiligen und zur Erleichte-rung der Seelen im Fegefeuer.

Bei der Erhebung des allerheiligsten Sakramentes muß man es mitgroßer Anstrengung des Herzens anbeten und es dann mit dem Pries-ter Gott dem Vater aufopfern zur Vergebung unserer Sünden und je-ner der ganzen Welt und uns selbst aufopfern mit der ganzen Kirche,ebenso unsere Verwandten und unsere Freunde.

Nach der Elevation muß man Jesus Christus danken für seine Passi-on und für die Einsetzung des heiligen Altarssakramentes.

Wenn der Priester das Pater noster spricht, muß man es mit ihmmündlich oder geistigerweise beten, mit großer Demut und Andacht,so als hörte man es Unseren Herrn sprechen, und man spreche es ihmWort für Wort nach.

Wenn man die Kommunion nicht wirklich empfängt, muß man siegeistigerweise empfangen, indem man Unserem Herrn naht durchein heiliges Verlangen, mit ihm vereinigt zu werden und ihn in seinHerz aufzunehmen.

Beim Segen muß man sich vorstellen, daß uns Jesus Christus gleich-zeitig den seinen gibt.

Stoßgebete und Gedanke an den Tod46

Während der Beschäftigungen des Tages muß man so oft als mög-lich auf Unseren Herrn Jesus Christus schauen und sich an den Punktder Betrachtung erinnern, den man besonders verkostet und empfun-den hat. Wenn uns z. B. die Güte seines Blickes gefallen hat, werdenwir uns diesen vorstellen und sagen: Laß niemals zu, mein Erlöser,daß ich etwas tue, was deine Augen beleidigt; und so bei anderen. Es

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ist auch gut, bestimmte feurige Worte zu haben, die unserer Seele alsRefrain dienen, wie: Mein Gott sei gepriesen! Es lebe Jesus! Gottmeines Herzens!

Wenn die Uhr schlägt, ist es gut, daran zu denken, daß so viel vondiesem sterblichen Leben vergangen ist, und an die letzte Stunde zudenken, die für uns schlagen wird. Man könnte das Kreuzzeichen überunserem Herzen machen und sagen: Man muß sterben. Andere Maledaran denken, daß wir auf dem Weg zur Ewigkeit sind, und sagen:Gott sei gepriesen! Gott sei gelobt. Manchmal die nutzlos vergange-nen Stunden bereuen und beten: Gott, gib mir die Gnade, es besser zumachen; andere Male einfach: Jesus, Maria; Gott komme mir zu Hil-fe; Gott sei mit uns.

Gegenstände der geistlichen Einkehr47

Für Ihre geistliche Einkehr können Sie sich der hier angegebenenPunkte bedienen. Sie betreffen die heilige Kindheit unseres Erlösers.

Am Sonntag betrachten Sie ihn im ganz reinen Schoß seiner keu-schesten Mutter und bewundern, wie diese unermeßliche Erhaben-heit sich aus Liebe zu Ihnen erniedrigt hat. Am Montag bewundernSie ihn in der Krippe in äußerster Armut. Am Dienstag sehen Sie ihn,wie er von den Engeln und Hirten angebetet wird; bringen Sie ihmmit ihnen tausendfach innere Ehrenerweise dar. Am Mittwoch erwä-gen Sie, wie er bereits bei der Beschneidung sein Blut vergießt; bittenSie ihn, alles Überflüssige in Ihrer Seele zu beschneiden. Am Don-nerstag beschäftigen Sie sich damit, über die geheimnisvollen Gabenzu meditieren, die ihm die Könige darbringen; bringen Sie ihm sichdar und beten Sie ihn mit ihnen an. Am Freitag betrachten Sie ihn imTempel auf den Armen seiner heiligen Mutter; schenken Sie ihm IhrHerz, auf daß es seine Wohnung und sein heiliger Tempel werde. AmSamstag meditieren Sie über die Flucht nach Ägypten; bitten Sie ihnum die Gnade, alles recht zu fliehen und zu vermeiden, was ihm miß-fallen könnte.

Während einer anderen Woche können Sie sich mit den schmerz-haften Geheimnissen der Passion unseres Erlösers befassen.

Am Sonntag sehen Sie, wie er seinen vielgeliebten Jüngern die Füßewäscht; bitten Sie ihn, er möge Sie von jeder Befleckung durch die

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Sünde reinwaschen und läutern. Am Montag betrachten Sie, wie er imÖlgarten unter heißen Tränen (Hebr 5,7) zum Vater betet; bitten Sieihn demütig um die Gabe des Gebetes. Am Dienstag überlegen Sie,mit welcher Güte und Sanftmut er den Kuß des Verräters Judas emp-fing; bitten Sie ihn um die Liebe und Güte gegen Ihre Feinde. AmMittwoch betrachten Sie, wie er von den Juden gefangen und gebun-den wird; bitten Sie ihn um Geduld in Trübsal. Am Donnerstag be-wundern Sie ihn, wie er sich ohne Widerstand bei Herodes als Narrkleiden läßt; bitten Sie ihn um Demut und Selbstverachtung. Am Frei-tag betrachten Sie, wie er sich freiwillig und mit großem Mut dieschwere Last des Kreuzes auflädt und wie er es so auf seinen Schul-tern bis auf den Kalvarienberg trägt; machen Sie viele Akte des Mit-leids mit seinen unermeßlichen Qualen. Am Samstag erheben SieIhre Augen, sehen Sie ihn der Länge nach ausgestreckt, angenageltund erhöht am Baum des Kreuzes; hören Sie aufmerksam auf seinegütigen Worte; bitten Sie ihn, er möge Ihnen die Gnade verleihen,ganz für ihn zu leben, da er für Sie gestorben ist (2 Kor 5,15).

Die Nachahmung unseres Herrn

Sie können den Beweggrund der heiligen Liebe vorzüglich aus allenHandlungen gewinnen, die der überaus liebenswürdige Jesus im Laufseines ganz heiligen Lebens vollbracht hat, und zwar auf folgendeWeise:

Wenn sich irgendein Anlaß bietet, die Tugend zu üben (und er bie-tet sich jeden Augenblick), dann sehen Sie kurz, wie Unser Herr sieübte, als er hier auf Erden unter den Menschen lebte; dann werdenSie Ihr Herz zu liebevoller Nachahmung anspornen und sagen: Wohl-an, auf, folgen wir dem gütigen Jesus, ahmen wir unseren Meisternach. Wenn Sie z. B. beten müssen, den Armen etwas geben, jemandberaten, einsam sein, eine Gesellschaft aufsuchen, einen Schmerz er-tragen, dann denken Sie daran, wie Unser Herr das alles bei verschie-denen Gelegenheiten getan hat. Und dann ermuntern Sie Ihre Seeleund sagen: Wenn ich keinen anderen Grund hätte, zu beten, Almosenzu geben, Betrübte zu trösten, in der Einsamkeit zu bleiben, diesesLeid anzunehmen, in dieser Gesellschaft zu bleiben, genügt es mirdenn nicht, daß mir mein Meister den Weg dazu gezeigt hat? Und daskann geschehen durch einen einfachen Blick und einen einzigen Seuf-zer: Ja, Herr, ich bin bei dir.

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Weisung für die Abendübung48

Man darf die Gewissenserforschung nie vergessen, wie alle ‚kleinenBücher‘ sie uns lehren.

Während man sich auskleidet, ist es gut, mit Ijob (1,21) zu spre-chen: Nackt bin ich aus dem Schoß meiner Mutter hervorgegangen;nackt werde ich dorthin zurückkehren, und daran denken, daß manalles lassen muß.

Beim Niederlegen soll man an das Grab denken; und wie man sichzur zeitlichen Ruhe niederlegt, muß man an die ewige Ruhe denkenund sagen, was man für uns sagen wird, wenn wir gestorben sind:„Ewige Ruhe“ und „Heilige Maria, Mutter Gottes“.

Ich befürworte es, daß man, soweit es möglich ist, in frommer Hal-tung einschläft, wie die Hände über der Brust gekreuzt oder gefaltet.

Ratschläge zu den vorhergehenden Übungen49

Nach all dem rate ich Ihnen, ohne Skrupel zu leben und Gott mehrmit Liebe als mit Furcht zu dienen. Wenn es daher vorkommt, daß Sieaus einem rechtschaffenen Grund alle diese Übungen unterlassen,oder eine oder zwei, dann beunruhigen Sie sich nicht, sondern neh-men Sie die Übungen am nächsten Tag wieder auf.

Ich wünsche nicht, daß Ihre Betrachtung länger als eine gute halbeStunde oder dreiviertel Stunden dauert. Falls Sie sie nicht am Morgenoder vor dem Mittagessen halten können, möchte ich nicht, daß esfrüher als gute vier Stunden nach dem Essen geschieht, d. h. kurz vordem Abendessen. Man darf sie keinesfalls nach dem Essen halten,sondern nur einige mündliche Gebete mit der Gewissenserforschung.

Bezüglich der Messe wollte ich nicht auf alle ihre Geheimnisse imeinzelnen eingehen, um Sie zu unterweisen, wie man ihnen im einzel-nen durch Gebete und Gedanken entsprechen muß, weil das das Ge-dächtnis so beansprucht, daß der Wille nicht für seine Affekte frei ist.Für die übrige Zeit der Messe, für die ich nicht angegeben habe, wasman tun soll, muß man deshalb entweder die Affekte, die ich Ihnenangegeben habe, der Reihe nach festhalten, z. B. den der Reue biszum Evangelium, das Bekenntnis des Glaubens bis zur Präfation, undso die übrigen. Oder man soll auch ein mündliches Gebet verrichten,

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wie etwa einen Teil des Rosenkranzes oder ähnliche Gebete. Wenn esder Rosenkranz ist, dann unterlassen Sie nicht, wenn Sie ihn beten,fast alles zu tun, was ich angegeben habe; das eine verhindert dasandere nicht. Und wenn Sie es nicht auf einmal tun können, dann tunSie es auf zweimal, ebenso das Offizium Unserer lieben Frau. Darü-ber brauchen Sie sich keine Gewissensbisse zu machen.

So ist es auch überängstlich zu glauben, bei einer berechtigten Un-terbrechung müsse man von vorne anfangen, denn das ist unvernünf-tig und ohne Spur von Pietät. Unser Gott sieht nur auf die Frömmig-keit, mit der man betet, nicht ob es auf zwei- oder dreimal geschieht.Es scheint im Gegenteil besser, oft wenn auch wenig zu beten, als nureinmal viel zu beten; und das haben die alten Väter getan.

Im übrigen dürfen Sie nie ein Gebet beginnen, ohne sich zuerstkurz in die Gegenwart Gottes zu versetzen.

Fragment der Betrachtungsmethode

Über die Erhöhung des Erlösers am Kreuz sind drei ausgeführte Betrachtungenaus dem Jahr 1604 überliefert, die in vielen Passagen wörtlich übereinstimmen:(a) XXVI,173.179, im April 1604 für die Äbtissin Rose Bourgeois von Puits-d’Orbe(b) XXVI,180-184, am Gründonnerstag 1604 deren Schwester, Mme Brulartübergeben;(c) XXVI,194-200, im Oktober 1604, wieder für die Äbtissin von Puits-d’Orbebestimmt.Franz von Sales bezeichnet diese Betrachtung selbst als Beispiel für seine Metho-de (s. Band 6,80), von der hier nur der Schlußteil erhalten, die aber aus der‚Philothea‘ bekannt ist. In seinem Begleitbrief vom 9. 10. 1604 (s. Band 7,255)bezeichnet er sie als „die leichteste und nützlichste ...“Um eine Wiederholung gleichlautender Passagen zu vermeiden, wird im Folgen-den zunächst die erste Fassung wiedergegeben; ergänzt durch Passagen aus denbeiden anderen, die durch (b) und (c) kenntlich gemacht werden.

– – – 4. Frucht der Betrachtung. – Nach all dem muß man die Bitteverrichten und Gott bitten, er möge uns die Gnade schenken, ihmrecht zu dienen und unsere guten Entschlüsse treu auszuführen. Manmuß ihn beschwören beim Verdienst seines Sohnes und besondersbei dem, das in dem Geheimnis herausragte, das wir betrachtet ha-

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ben, durch die Fürbitte der seligsten Jungfrau und der gebenedeitenHeiligen. Man muß ebenfalls bitten für die ganze Kirche, besondersfür den Papst und die Bischöfe, namentlich für den unseren, für denFürsten, unter dem wir leben, für den Vater, die Mutter, für Verwand-te, Freunde, Wohltäter, Feinde.

5. Frucht. – Schließlich muß man sich vollständig Gott aufopfernund erklären, wir wollten, daß wir und unsere Handlungen in reinerAbsicht ganz ihm gehören, ihm alle oben Genannten aufopfern undihn bitten, ihnen gnädig zu sein um der Liebe unseres Erlösers willen,in dessen Namen wir um seinen Segen bitten für uns und für jene, fürdie wir gebetet haben. Dann werden wir das Vaterunser und Ave Ma-ria beten.

6. und letzte Frucht. – Halten wir einen kleinen Rückblick auf unserGebet. Und wie jene, die einen Garten verlassen, vier oder fünf Blu-men pflücken, um sie in der Hand zu halten, während des Tages anihnen zu riechen und sie anzuschauen, so sollen wir zwei oder dreiPunkte auswählen, oder wenigstens einen davon, der uns besonderszugesagt hat, um ihn während des Tages zu verkosten und je nachGelegenheit immer wieder zu erwägen. Dann müssen wir in Friedendazu übergehen, uns ruhig den Aufgaben zu widmen, zu denen Gottuns ruft, wie sie auch beschaffen seien.

Damit Sie mich aber besser verstehen, stelle ich Ihnen eine gestal-tete Betrachtung vor Augen, die sehr breit ausgeführt ist, mit allem,was dazugehört. Daraus werden Sie besser verstehen, was ich Ihnenüber diese heilige Übung zu sagen versucht habe. Ich werde jedochnur einige hauptsächliche Erwägungen anführen, ebenso einige wich-tige Anmutungen, nicht alle, die man machen könnte, denn das wärezu viel.

Betrachtung über die Kreuzigung

Ich habe ein Geheimnis gewählt, das zu den schönsten und frucht-barsten zählt, über das ich jedoch nur recht wenig sagen werde imVergleich zu dem, was man sagen könnte. Es ist das Geheimnis derErhöhung Jesu Christi, der auf dem Kalvarienberg gekreuzigt wurde;ich setze voraus, daß man sie am Freitag hält.

Nachdem ich nun am Vorabend an den Bericht gedacht oder ihngelesen und im Großen die Punkte der Betrachtung vorbereitet habe,

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wie sie unten festgelegt sind, werde ich am Morgen, sobald ich bereitbin, Weihwasser nehmen, das Kreuzzeichen machen, am Ort des Ge-betes niederknien und die Betrachtung folgendermaßen beginnen:

Vergegenwärtigung Gottes

Ich werde mir vorstellen und in meinem Geist die lebhafte Über-zeugung bilden, daß Gott wahrhaftig überall gegenwärtig ist, beson-ders aber in meinem Herzen und in meinem Verstand, wo er gleich-sam das Herz meines Herzens und die Seele meiner Seele ist.

(c) Ich sehe dich mit den Augen meines Geistes, mein Gott, als einMeer der Vollkommenheit und einen Abgrund der Güte, die michnicht nur von allen Seiten umgibt, sondern ganz wesentlich und durcheine wahre Gegenwart auf dem Grund meines armseligen Herzenswohnt und thront; und es gibt keinen Teil in mir, der nicht vollständigvon deiner heiligen Gottheit erhalten und beseelt wäre.

Wenn das geschehen ist, werde ich beginnen, mich zu demütigenund die Anrufung zu machen.

Demütige Anrufung

Dieses Meer der Vollkommenheit, werde ich sagen, dieser Abgrundder Güte umgibt mich nicht nur von allen Seiten, sondern teilt sichdurch eine wahre Gegenwart und ganz wesentlich diesem treulosenHerzen und dieser verräterischen Seele mit. Ach, mein Gott, meinHerr, mir scheint, daß mein Herz, auf diese Weise zutiefst verbundenund in allen Teilen mit deiner göttlichen Gegenwart vereinigt, nichtsanderes ist als eine häßliche giftige Kröte, die in einem Meer überauskostbaren Balsams schwimmt, sich nährt und erhält. Wie kann ein sogeringes Geschöpf leben in diesem unendlichen Wesen und in einerso innigen Gegenwart deiner unermeßlichen Güte?

Da du mich aber in sie aufgenommen hast, Herr, und da ich imInnersten deiner Gegenwart geboren, genährt und bewahrt wurde, omein gütiger Gott, verwirf mich nicht vor deinem heiligen Angesicht(Ps 51,13); erlaube diesem armseligen Herzen, daß es seine unwürdi-gen Gedanken und seine schwachen Affekte in den Schoß deines Er-barmens ergieße und daß es seine Betrübnis vor dir ausbreite (vgl. Ps142,3). Du hast mir geboten, dich anzurufen, und hast versprochen,

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mich zu erhören (Ps 81,8 u. a.). Mein Gott, mein Erlöser, da bin ichunwürdige Magd; mir geschehe nach deinem Wort (Lk 1,38). Laß übermir leuchten dein heiliges Angesicht (Ps 31,17; 119,135) und laß mei-ne Augen auf die deinen gerichtet sein, damit ich deine Wunder (Ps119,18) betrachten und dich dafür loben, preisen und anbeten kann.

Vorstellung des Geheimnisses

Mir scheint, daß ich mich unter der großen Menge Volkes, die ausallen Teilen der Stadt Jerusalem herbeiströmt, um die Kreuzigungmeines Erlösers zu sehen, auf dem Kalvarienberg befinde, an einemPlatz, der etwas von den anderen entfernt ist, aber auch günstiger underhöht, von dem aus ich leichter das traurige Schauspiel der Kreuzi-gung sehen kann. Mein Erlöser liegt bereits mit Dornen gekrönt ganznackt auf dem Holz des Kreuzes und die Henker haben ihn schon anHänden und Füßen auf ihm angenagelt. Sie beginnen mit den dazugeeigneten und bestimmten Vorrichtungen den heiligen Gekreuzig-ten nach und nach aufzurichten, um das Kreuz an dem Ort und in demdazu gegrabenen Loch einzurammen und aufzupflanzen.

Nun glaube ich in der Höhe das obere Ende des Kreuzes und dieheilige Inschrift zu sehen: Jesus von Nazaret, König der Juden (Joh19,19). Darauf entdecke ich plötzlich das dornengekrönte Haupt, des-sen Augen bald mit großer Ehrfurcht zum Himmel blicken, bald inliebevollem Mitleid auf die Umstehenden. Und er scheint mit seinenBlicken das himmlische Erbarmen im Schoß seines Vaters zu schöp-fen, um damit sogar jene zu überschütten, die ihn kreuzigten. SeinMund, ganz entstellt von den Schlägen in der Nacht, wahrt tiefes Schwei-gen und öffnet sich nur, um liebevolle Seufzer über das Volk vor demewigen Vater auszustoßen. Ich sehe nach und nach seinen göttlichenLeib und auf der linken Seite seiner Brust eine ständige Bewegungseines Herzens, das aus Liebe zuckt und schlägt und diese Stelle soentflammt, daß mir diese Stelle hochrot erscheint. Ich entdecke dieeine und die andere angenagelte Hand und auch die beiden Füße, diewie vier Bäche aus ein- und derselben Quelle ständig schönstes, soklares und rotes Blut ausströmen, das es je gab.

Und schließlich das Kreuz, das in die Grube sinkt, in der es einge-rammt werden soll. Das gibt dem Leib, der an ihm hängt, einen Stoß,durch den sich die Wunden vergrößern, so daß einzelne Blutstropfenringsum auf die Umstehenden spritzen, von denen die meisten sie mit

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Entrüstung abwischen und anscheinend nicht schnell genug abwa-schen können.

Das stelle ich mir in vollem Einklang mit dem Bericht vor. (b) Dasist das Geheimnis, im Großen durch die Phantasie vorgestellt. Es hatin meinem Herzen einen geeigneten Platz bekommen, um zu sehenund gut zu betrachten, was geschieht. Die zwei Teile des Geheimnis-ses sind die Aufrichtung und die Einpflanzung dieses heiligen Bau-mes. Es bleibt, die Einzelheiten zu verfolgen und zu erwägen, durchdie mein Wille angeregt werden kann, viele gute, heilige Affekte undEntschlüsse hervorzubringen; das ist die Betrachtung.

Betrachtung

Ich überlege vor allem, wer der ist, der so hangend erhöht ist, undsehe durch die Inschrift, daß es Jesus von Nazaret, der König derJuden, ist. Ist das also, sage ich, der große Jesus, der so viele Wundergewirkt, sein ganzes Leben gepredigt und Akte der Tugend gemachthat? Ist das der Sohn des ewigen Gottes, der der Herr des Himmelsund der Erde ist? Und wieso hängt er nun am Kreuz? Konnte er nichtauf tausend ehrenhaftere Arten sterben, die sanfter und erträglichersind, wenn er schon sterben wollte? Man muß wohl sagen, daß dieserTod eine bestimmte verborgene Schönheit besitzt, da er vom SohnGottes selbst gewählt wurde. Welcher Bewunderung wird oder kanndieses Wunder würdig sein?

Ich betrachte die Haltung des Erlösers, an der ich höchste Güte undSanftmut sehe. Seine Augen sind durch die Schmerzen keineswegsgetrübt und durch die Kränkungen nicht erzürnt. O wie gütig ist die-ses Lamm! Wer wird mir die Gnade geben, daß ich inmitten von Mü-hen und Kränkungen ebenso sein kann?

Ich betrachte das tiefe Schweigen während dieser ganzen Erhöhung.Es kommt nicht von Atemnot, denn er hat genug Atem, um zu seuf-zen. Es fehlt nicht an Gründen, denn es gibt viel, worüber er sichbeklagen könnte. Es fehlt nicht an Zuhörern, denn er ist von ihnenumgeben. Es fehlt nicht an Fragern, denn jeder ruft nach ihm, der einedies, der andere das. Warum also schweigt er, wenn nicht, um seineSanftmut und Güte zu zeigen? Ach, wie bin ich armselig, wegen einerKleinigkeit, die mich trifft, schreie ich, beklage mich, lamentiere end-los; ich begegne keinem, dem ich nicht mein Leid klage.

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Ich betrachte das Herz so voll Liebe selbst zu denen, die ihn kreu-zigten. O wunderbares heiliges Feuer, das du diese Brust entflammst;mein Gott, wie glühst du! Der Wind der Drangsale vergrößert deineFlammen; das Eis deiner Verfolger erhitzt dich, der Strom der Ver-folgung gibt deiner Glut Kraft. Wann wird mein Herz vom Feuerdieser Liebe erfaßt, daß ich meine Feinde liebe? Wie weit bin ich vondieser Flamme entfernt! Ein Wassertropfen der Verleumdung, eineinziger Luftzug einer kleinen Kränkung löscht sogleich meine ganzeFreundlichkeit aus, verwandelt sie in Eis und Schnee.

Ich überlege, warum mein Erlöser so viele Qualen erduldet; dafürfinde ich mehrere Gründe:

1. Um seinem Vater zu gehorchen. Deshalb nennt er ihn in seinemersten Wort Vater (Lk 23,34). O heiliges Kind des Gehorsams,wahrhaftig kindlicher Gehorsam! Wie bin ich doch so anmaßend undverwegen, jenen Vater zu nennen, dem ich nie gut gehorcht habe, undwie könnte ich gehorchen bis zum Tod (Phil 2,8), der ich nicht einmalbis zum Ertragen eines kleinen unfreundlichen Wortes oder einesschiefen Blickes gehorche?

2. Um meine Sünde und meine Missetat zu sühnen (Ps 51,4). MeineMissetat ist also sehr groß, wenn es so vieler Leiden bedarf, um sie zutilgen. Wie schlecht bin ich doch, daß ich mich so oft in sie versenktund in ihr gewälzt habe! Wie erbärmlich bin ich, daß ich davon so vielverschlungen habe, denn ich gehöre wohl zu denen, die nach der Hei-ligen Schrift (Joh 15,16) die Sünden wie Wasser trinken. Dir hat esaber gefallen, meine süße Hoffnung, diese Schmerzen und Peinen zuerleiden, um mich von meinen Missetaten zu reinigen; daher will ichin deiner Güte aufatmen. Ich erwäge meine vergangenen Sünden, Herr,und bitte dich, sie kraft dieser Schmerzen vollständig zu tilgen. Sowie eine zerstreute Wolke die Strahlen der Sonne nicht mehr hindert,die Erde zu erleuchten und zu wärmen, so können meine Sünden dieGüte deines barmherzigen Blickes auf meine arme, schmachtendeSeele nie mehr aufhalten. Und was die schlechten Gewohnheiten undNeigungen betrifft, die meine Seele quälen, erlaube mir zu sagen:Wasche, wasche von neuem mein Herz, das wie ein unreines Gefäßnoch den Geruch der verdorbenen Flüssigkeit der Sünde an sich hat;wasche noch, Herr, und reinige stets (Ps 51,4), bis es von diesemwiderlichen Geruch frei ist.

3. Um mich vor der Hölle zu bewahren. O Gott, wie sehr sind deineLeiden den meinen entgegengesetzt! Du leidest, um mich zu retten,

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und warum habe ich bis jetzt gelitten, als um mich zugrunde zurichten? Ach, wenn ich lief, wenn ich wachte, wenn ich eine bren-nende Sorge hatte, war es nicht aus Eitelkeit, aus Ehrgeiz, aus Rach-sucht? – – –50

(c) 3. Er leidet, um uns seine Liebe zu uns zu bezeugen. Wie groß istdoch seine Liebe! Ach, Herr, ich weiß nicht, ob ich überhaupt Liebehabe. Wenn ich aber eine besitze, dann ist sie so armselig, daß sie miteiner einzigen Träne zufrieden ist und anscheinend genug getan zuhaben glaubt, wenn sie einige Seufzer ausstößt. Gütiger Gott, wiesehr wünsche ich und erkläre, daß ich dich künftig lieben und dirmein ganzes Herz schenken will.

Affekte

(b) Ach, wer wird so vertiert sein, daß er nicht weint, wenn er diesenUnschuldigen, diesen jungen König, den Sohn Gottes, solche Schmer-zen erdulden sieht? Sie sind schon sehr groß und geeignet, alle Men-schen der Welt vor dem Unwillen des ewigen Vaters zu bewahren. Ichbitte euch, meine Freunde, um Gottes willen, richtet dieses Kreuzsachte auf, befestigt es vorsichtig, damit sich seine Wunden nicht ver-größern und der Stoß nicht so hart ist. Es gibt doch keinen, der sounmenschlich wäre, daß er sieht, wie ein Verbrecher gerädert wird,und kein Mitleid mit ihm hätte. Meine Seele, wirst du also kein Mit-leid mit deinem Erlöser haben, der so viel leidet? Wenn du je vonMitleid gerührt wurdest mit der Blöße eines Armen mitten im stren-gen Winter, mußt du nicht mit diesem armen König leiden, der ganznackt an diesem Holz ausgesetzt ist? Wenn dir je ein Armer vollerGeschwüre Erbarmen eingeflößt hat, betrachte doch diesen, an demdu von der Fußsohle bis zum Scheitel (Jes 1,6) keine Stelle findest, dienicht zerschlagen ist. Sieh doch dieses Herz, betrübt über die Mengeder Sünden, die das Volk begeht; und wenn dein Herz nicht mit ihmbetrübt ist, dann muß es nicht aus Fleisch sein, sondern aus Stein undhärter als selbst der Diamant.

Aus dem Mitfühlen oder Mitleid entsteht in der Regel der Wunsch,dem zu Hilfe zu kommen, mit dem wir Mitleid haben; daher füge ichzur vorhergehenden Anmutung die folgende hinzu:

(c) Wer wird mir die Gnade geben, daß ich meinem Erlöser in die-ser Bedrängnis irgendeine Erleichterung verschaffen kann? Ach, daßmir nicht erlaubt ist, ihn mit einem kostbaren Kleid zu bedecken,

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über seine Wunden einen vorzüglichen Balsam auszugießen und inmeinen Armen das Gewicht dieses Leibes zu tragen! Und ihr, die ihrdas Kreuz aufrichtet, geht recht sachte vor, ich bitte euch; und stoßtes nicht so roh in die Grube, damit der Stoß für den armen Leidendennicht so groß ist. Ach, seine Wunden sind schon recht groß und geeig-net, die Sünden der Welt vor dem Unwillen des ewigen Vaters ver-deckt zu halten. O Gott, daß ich nicht irgendein ausgezeichneter underfolgreicher Prediger bin, um wenigstens zu verhindern, daß diesesgöttliche Herz durch so viele Sünden so sehr gekränkt wird! Wie wür-de ich doch sagen: Lebt nicht mehr sündhaft und hebt nicht mehr dieHörner (Ps 75,5) eurer Bosheit, um sie in dieses Herz zu bohren, dasschon so betrübt ist!

Doch, mein Gott, warum gebe ich mich mit diesen Wünschen ab;ich, der ich fast nicht die Kraft habe, einen einzigen davon zu erfül-len? Du verlangst nicht meine Kleider am Kreuz, und ich biete sie diran; du bittest mich um sie in deinen Armen, die deine Glieder sind,und ich verweigere sie dir. Ich habe nie eines davon hergegeben, sogewöhnlich und abgetragen es war; und wie könnte ich dir die kostba-ren geben? Wie könnte ich Balsam auf deine Wunden gießen, da ichso große Mühe habe, ein Glas Wasser (Mt 10,42; Mk 9,40) für deineArmen einzugießen? Ach, was für ein Bußprediger wäre ich, der ichnoch keine Buße getan habe und täglich zu deinem Mißfallen, das dirdie Sünden bereiten, irgendein neues hinzufüge. O eitle, armseligeWünsche, o unnütze Angebote, weil sie nur zum Schein gemacht wer-den und in Wirklichkeit nur ein Hohn sind.

Entschlüsse

(c) Werde ich nicht endlich aufhören, dir untreu zu sein, mein Erlö-ser und mein Gott? O nein, das sollen von jetzt an nicht mehr unnützeWünsche sein, das werden Wirkungen sein; das werden nicht nur Wortesein, das sollen Taten werden. Ich entschließe mich, die Armen zuunterstützen, Buße zu tun, die anderen dazu anzuhalten. Ich werde zumir selbst und dann zu den anderen sagen: Wollt ihr gegen eurenErlöser grausamer sein als die Geier gegen die Tauben? Sie zerflei-schen niemals deren Herz. Wollen wir gegen die heilige Taube, dieauf dem Baum des Kreuzes nistet, so herzlos sein, daß wir mit denunheilvollen Zähnen unserer Gottlosigkeit ihr Herz morden und zer-

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fleischen? Ach, Herr, ach, ich will in Zukunft unerbittlich bei demEntschluß bleiben, den ich gefaßt habe, die Armen zu lieben und zuunterstützen, die deine Glieder sind, für meine Besserung und die deranderen zu sorgen.

(c) Das ist eine recht in die Länge gezogene Betrachtung mit denAffekten und Entschlüssen. Ich will nun bei den anderen flüchtigervorgehen und sie nur andeuten.

(c) Ich erwäge, wie der gütige Erlöser sowohl äußerlich wie inner-lich leidet. Im Äußeren in dem Maß, als man ihn aufrichtet, sein Leibsich neigt und ganz auf seinen angenagelten Füßen und Händen lastetund sich stützt; dadurch vergrößern sich die Wunden und wird derSchmerz unermeßlich. Wenn das Kreuz in das vorbereitete Loch sinkt,erhält der Erlöser einen Stoß und gleichsam einen wippenden Schlag,der seine Wunden und seinen Schmerz von neuem vermehrt; das läßtdas Blut von allen Seiten fließen und tropfen. Wenn er in die Lufterhöht ist und der kalte Wind den ganz mit Wunden bedeckten unddurch die Schläge in der Nacht zerschundenen Leib erfaßt, läßt ihndas fast vergehen und in Ohnmacht fallen.

(b) Seine Ohren hören nur Gotteslästerungen, seine Augen sehennur die Wut derjenigen, die ihn töten. In allen seinen Sinnen erleideter unerträgliche Schmerzen.

(c) Innerlich bricht dieses vor Liebe ganz kranke Herz vor Jammerbeim Anblick einer so großen Verworfenheit der Menschen, vor al-lem derjenigen, die ihn kreuzigen; und mir scheint, er sagt: Ach, soviele Menschen, für deren Leben ich auf diesem Holz sterben will,werden sie ewig verloren sein?

(c) Ich erwäge die Art, wie Unser Herr in diesem Geheimnis leidet.Nach außen: Seht das tiefe Schweigen dieses göttlichen Mundes, dersich nur öffnet, um sanfte und friedliche Seufzer auszustoßen; seinesanften und gütigen Augen blicken manchmal in großer Ehrfurchtzum Himmel, manchmal wenden sie sich dem Volk zu, das sie mitgroßem Mitleid ansehen; und mir scheint, ich sehe auf der linkenSeite seiner Brust sein Herz, das vor Liebe zuckt und bebt, mit sol-cher Glut, daß sich die ganze Seite zu röten scheint. – Innerlich leideter willig, geduldig und liebevoll.

Affekte. – Ich Elender, der ich nicht ein Wort ohne Widerspruchertragen kann, der ich wegen der geringsten Kränkung endlose Kla-gen erhebe und sie in die Ohren aller Welt verbreite. Und wenn ichmanchmal nach außen die Fassung bewahre, was wird aus meinem

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Herzen im Inneren? Es bläht sich auf vor Groll, es entbrennt vorZorn, vor Ungeduld und Rachsucht.

Entschlüsse. – Von jetzt an umfange ich dich also, heiliges Kreuz;ich schwöre dir Treue, gesegnete Tugend der Geduld. Nie, mein Erlö-ser, nein, niemals soll das Wasser des Widerspruchs das Feuer derLiebe auslöschen (Hld 8,7), die ich dem Nächsten schulde.

(c) Ich erwäge noch die besondere Art dieses Geheimnisses, die inder Erhöhung besteht. Warum also meinen Erlöser erhöhen, wennnicht deswegen, weil er die Standarte meiner Seele sein will? Was fürein trauriger und treuloser Soldat bin ich doch! Wie oft habe ich dieseFahne verlassen, um denen der Welt zu folgen. Mein Gott, jetzt schwö-re und verspreche ich dir von neuem Treue.

Danksagung und Anrufung

c) Mein Gott, mein Erlöser, ich danke dir für die Gnade, die du mirerwiesen hast, mir zu erlauben, daß ich in dieser Betrachtung meineAugen zu deiner göttlichen Majestät erhoben habe. Und ich sage dirtausendfachen Dank für die Peinen und Leiden, die du in diesem gan-zen heiligen Geheimnis erduldet hast. Und ich danke dir vor allemfür die Liebe, die dich bewogen hat, sie zu erdulden, und für die über-aus barmherzige Absicht, die du hattest, meiner Seele die Verdienstezuzuwenden, die du dabei erworben hast.

O mein Gott, ich bitte und beschwöre dich bei all diesen Peinen,den Tugenden und den Wundern, die du geübt und gewirkt hast, stär-ke mich in deinem Dienst, lösche in mir meine Eigenliebe aus undgib, daß ich mich in deine Liebe versenke. Mein Gott, laß dein Blutzum Bindemittel werden, um die Affekte und Entschlüsse, die du mirgeschenkt hast, fest mit meiner Seele zu verbinden. Herr, mögest duganz mein sein, wie ich künftig ganz dein sein will.

Ewiger Vater, ich opfere dir auf alle Peinen und Schmerzen deinesSohnes, meines Erlösers, seine Tugenden, seine Verdienste und seinBlut. Und um all dessen willen, durch die Fürbitte seiner Mutter,deines ganzen himmlischen Hofes, seiner Braut, der Kirche, und al-ler deiner Gläubigen, die hier auf Erden kämpfen, bitte ich dich umdeinen heiligen und väterlichen Segen für mein Herz, um deinen be-sonderen Beistand für deine Kirche und ihre Oberhirten, für die christ-lichen Fürsten, für meine Verwandten, Freunde und Wohltäter, fürdie Verirrten, für die Erleichterung der Seelen im Fegefeuer. Herr,

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bekehre die Sünder, stärke die Büßer und vervollkommne die Ge-rechten.

Vater unser, Ave Maria.

Ratschläge für die Betrachtung51

Vor allem weise ich Sie darauf hin, daß es zwar für gewöhnlich gutist, diese Methode einzuhalten, d. h. die Affekte auf die Erwägungenfolgen zu lassen und die Entschlüsse auf die Affekte, so daß die Erwä-gung am Anfang steht; wenn sich aber das Herz nach der Vorstellungdes Geheimnisses hinreichend bewegt fühlt, wie es manchmal vor-kommt, dann muß man ihm trotzdem die Zügel schießen und es ge-währen lassen, denn das ist ein Zeichen, daß uns der Heilige Geist aufdiese Weise anzieht. Und dann, die Erwägung wird ja nur angestellt,um das Herz zu bewegen.

2. Mir scheint, daß es besser ist, die Affekte nach jeder Erwägung zumachen, als damit bis nach allen Erwägungen zu warten, weil man soeinfacher vorgeht. Das war auch die Auffassung des seligen Petrusvon Alcantara, und die Erfahrung lehrt es ebenfalls. Das sage ich, weilich wünsche, daß Sie sich recht oft der Übungen von Bellintani bedie-nen und es dann vielleicht anders machen wollten; das wäre aber vielschwieriger und weniger nützlich für Sie. Ich gebe Ihnen daher alsallgemeine Regel den Rat, bei Ihrer Betrachtung die Affekte nie zu-rückzuhalten, sondern sie immer sich entfalten zu lassen, wenn siesich einstellen, bis zum Ende der für die Betrachtung angesetztenZeit, zu der man zu den Entschlüssen, zur Danksagung, zur Bitte undAufopferung kommen muß.

3. Obwohl es gut ist, die Danksagung, die Bitte und Aufopferung fürden Schluß der Betrachtung aufzuheben, können sie doch, da es sichum drei Affekte handelt, mit den anderen sich bei den Erwägungeneinstellen, und dann muß man ihnen ebenfalls freien Lauf lassen, ohnesie zurückzuhalten.

4. Bei den Affekten und Entschlüssen ist es gut, nicht nur UnserenHerrn, die Engel und die im Geheimnis vorgestellten Personen anzu-sprechen, sondern sich selbst, sein Herz, die Sünder, ja sogar die ge-fühllosen Geschöpfe, wie man es David tun sieht in den Psalmen undden hl. Franziskus in seinen Gebeten. Aber das alles muß in der Ge-

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genwart Gottes geschehen, d. h. kraft der Aufmerksamkeit, die wiruns am Beginn der Betrachtung angeeignet haben.

5. Obwohl Sie mehrere Erwägungen vorbereitet haben, kann es den-noch geschehen, daß eine genügt, um sich während Ihrer halben Stun-de mit ihr zu befassen; dann gehen Sie nicht weiter. Und wenn Sie inder einen nichts finden, um Ihre Affekte anzuregen, dann machen siedie nächsten eine nach der anderen, bis Sie die Ader der Affekte ge-funden haben.

6. Wenn es vorkommt, was Ihnen zweifellos oft geschehen wird, daßSie an den Erwägungen überhaupt keinen Geschmack finden, dannwenden Sie eines der drei folgenden Hilfsmittel an. Das erste ist, denWorten den Lauf zu lassen, indem Sie bei Unserem Herrn über sichselbst klagen, Ihre Unwürdigkeit bekennen und ihn bitten, er mögeIhnen zu Hilfe kommen. Sie können das Kreuz küssen, wenn Sie esbei der Hand haben, und sogar mündlich zum Erlöser sagen: Ich lassenicht von dir, ich halte vor dir aus und werde nicht fortgehen, wenn ichnicht deinen Segen empfangen habe (Gen 32,26). Manchmal wird esgut sein, sich an die Kanaanäerin zu erinnern; als sie von UnseremHerrn zurückgewiesen wurde, der sie eine Hündin nannte, nahm sieihn beim Wort und sagte: Ja wahrhaftig, ich will das wohl, aber dieHunde fressen wenigstens einige Brosamen von der Tafel ihrer Herren(Mt 15,27). Anerkennen Sie auf diese Weise, daß Sie durch die Trüb-sale und die Schwerfälligkeit Ihres Geistes recht arm sind, bedienenSie sich dieses Umstandes mit großem Vertrauen und rufen Sie vorGott aus: Ja, Herr, ich bin armselig, aber wem gilt denn das Erbar-men, wenn nicht den Elenden? Und auf diese Weise werden Sie vonder Betrachtung, die Sie vorbereitet haben, zur Betrachtung Ihres ei-genen Elends übergehen. Daraus werden Sie Affekte der Demut, desVertrauens und ähnliche gewinnen, die sehr nützlich für Sie sind.

Das zweite Hilfsmittel wird darin bestehen, ein Buch in die Handzu nehmen und darin aufmerksam zu lesen, bis Ihr Geist gewecktwird.

Das dritte ist, Ihren Geist anzustacheln durch eine fromme Hal-tung: wie sich zu Boden werfen, die Arme kreuzweise ausbreiten, dieHände gefaltet zum Himmel erheben.

Wenn Sie nach all dem noch in Trockenheit und ohne Trost bleiben,sogar so, daß Sie weder innerlich noch äußerlich ein Wort hervor-bringen können, dann hören Sie deswegen doch nicht auf, eine from-

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me Haltung zu wahren, ohne unruhig und verwirrt zu werden, underinnern Sie sich, daß es hauptsächlich zwei Ziele sind, deretwegenwir uns in die Gegenwart Gottes versetzen und in die Betrachtung:Das eine ist, um unser Herz zur Liebe Gottes anzuregen; und wennunser Herz dazu nicht lebhaft entfacht wird, sagen wir, daß sich unse-re Seele in Trockenheit befindet. Das zweite ist, Gott die Huldigungzu erweisen und zu bekennen, daß er unser erhabener Schöpfer undHerr ist; diese Absicht ist überaus edel, weil darin weniger von unse-rem Eigenwillen ist. Wenn wir daher zur Betrachtung kommen unddas erste nicht tun können, müssen wir uns mit dem zweiten begnü-gen, und das ist immer viel, selbst wenn wir kein Wort zu Gott zusagen vermöchten und wenn es schiene, daß er nicht zu uns spricht.Wie viele Höflinge gibt es, die hundertmal im Jahr in den Audienz-saal des Königs kommen und vor ihm erscheinen, nicht um ihn zusprechen oder ihn zu hören, sondern einfach, um von ihm gesehen zuwerden und durch diese Beharrlichkeit zu bezeugen, daß sie seineDiener sind. So müssen wir zur Betrachtung wie in den Audienzsaalunseres Königs kommen, um mit ihm zu sprechen und ihn zu hörenin seinen Einsprechungen und inneren Anregungen; wenn das ge-schieht, wird es für uns eine überaus kostbare Freude sein. Wenn wirweder mit ihm sprechen noch ihn hören können, wir aber in frommerHaltung vor ihm ausharren, wird er unsere Geduld und unsere Be-harrlichkeit wohlgefällig aufnehmen, und ohne Zweifel wird er unsein andermal bei der Hand nehmen, mit uns sprechen und uns alleWandelwege im Garten des Gebetes zeigen. Doch wenn er es nie täte,dann begnügen wir uns damit, daß es eine zu große Ehre für uns ist,vor ihm und vor seinem Angesicht zu sein.

Für die Zerstreuungen

Wenn Sie zerstreut sind, wird es eine große Erleichterung für Siesein, sich die Andacht und Inbrunst der Engel und Heiligen vorzu-stellen; mit ihrem Gebet werden Sie das Ihre vereinigen, wenn esauch unwürdig ist. Es wird sogar gut sein, sich vorzustellen, daß Sie inder Gesellschaft mehrerer frommer Personen sind, mit denen Sie IhreBetrachtung halten wollen; und wenn Sie solche kennen, können Siesich diese sogar bei ihrem feurigen Gebet vorstellen.

Alle Hilfsmittel gegen die Trockenheit sind auch gut gegen die Zer-streuungen.

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Schließlich darf man sich, was auch kommen mag, niemals von Trau-rigkeit und Unruhe übermannen lassen; vielmehr muß man sich vomGebet, ob es nun gefühlvoll und köstlich war oder trocken und ohneGefühl, immer im Frieden erheben mit der Absicht, Gott den Restunserer Tage stets treu zu dienen.

Meditation über die Geburt Christi52

Stellen Sie sich vor, Sie sehen den hl. Josef und die seligste Jungfrauvor ihrer Entbindung in Betlehem ankommen und überall eine Her-berge suchen, ohne jemand zu finden, der sie aufnehmen wollte (vgl.Lk 2,7). O Gott, welche Verachtung und Ablehnung zeigt die Welthimmlischen Wesen und Heiligen! Und wie willig nehmen diese bei-den Seelen diese Erniedrigung an! Sie machen nichts aus sich, siezeigen nicht ihre Vorzüge, sondern nehmen diese Zurückweisung unddiese Härte ganz schlicht mit unvergleichlicher Sanftmut hin. Ach,so elend ich bin, die kleinste Unterlassung der geringsten Ehre, diemir gebührt oder von der ich mir einbilde, daß sie mir gebühre, störtund beunruhigt mich, erregt meinen Dünkel und Stolz. Überall drän-ge ich mich mit aller Kraft auf die ersten Plätze. Ach, wann werde ichdie Tugend, die Geringschätzung meiner selbst und der Eitelkeitenbesitzen!

Betrachten Sie, wie der hl. Josef und Unsere liebe Frau eintreten inden Eingang und Vorhof, der manchmal als Herberge für Fremdediente, damit dort die glorreiche Geburt des Erlösers geschehe. Wosind die prächtigen Gebäude, die der Ehrgeiz der Welt als Wohnungfür geringe und abscheuliche Sünder errichtet? Ach, welche Verach-tung der Herrlichkeiten der Welt hat uns der göttliche Erlöser ge-lehrt! Wie glücklich sind jene, die die heilige Einfalt und Bescheiden-heit zu lieben verstehen. Elend, wie ich bin, brauche ich einen Palast,und das genügt noch nicht; und mein Erlöser ist unter dem ganz lö-cherigen Dach, arm und kläglich auf Heu gebettet.

Betrachten Sie dieses kleine göttliche Kindlein, nackt geboren undfrierend, in einer Krippe liegend und in Windeln gewickelt (Lk 2,12).Ach, wie arm ist alles, wie gering und verächtlich ist alles bei dieserNiederkunft, und wie verweichlicht und auf unsere Bequemlichkeiterpicht sind wir, wie lieben wir Sinnengenuß! Wir müssen in uns die

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Geringschätzung der Welt sehr wecken und das Verlangen, für Unse-ren Herrn Erniedrigungen, Beschwerden, Armut und Entbehrungenzu ertragen.

Kleine Abhandlung über die heilige Kommunion53

Alle geistlichen Lehrer stimmen darin überein, daß vor der Kom-munion hauptsächlich zwei Dinge erforderlich sind, nämlich die guteVerfassung der Seele und das rechte Verlangen. Da aber das rechteVerlangen ein Teil der guten Verfassung ist, kann man sagen, daß nureines erforderlich ist, nämlich die gute Verfassung der Seele. Sehenwir daher, in welche Verfassung wir unsere Seele versetzen müssen,um würdig zu kommunizieren. Und des Gegenstandes wegen, vondem wir sprechen, betrachten wir die hauptsächlichen Fähigkeitender Seele.

Was den Verstand betrifft, müssen wir ihn von etwas reinigen undmit etwas anderem schmücken. Man muß ihn vor allem von allerNeugierde reinigen, so daß man sich nicht danach erkundigt, wie esgeschehen kann, daß der wirkliche Leib Unseres Herrn mit seinemBlut, mit seiner Seele und seiner Gottheit ganz in der heiligen Hostieund in jedem Teil von ihr enthalten ist; noch wie er, der im Himmelist, auf Erden sein kann; auch nicht, wie es wahr sein kann, daß er, dernur ein einziger Leib ist, trotzdem an so vielen Orten sein kann, aufso vielen Altären und im Mund so vieler. Nein, wir müssen unserenVerstand für solche eitle und törichte neugierige Fragen verschlossenund verhüllt halten, denn wir brauchen nicht zu wissen, wie diesesgöttliche Sakrament gewirkt wird; es genügt zu wissen, daß es ge-schieht, wir brauchen uns damit nicht zu befassen; unsere Sache ist esnur, sorgsam daran zu glauben und unseren Nutzen daraus zu ziehen.

Dieser Punkt gilt für alle Geheimnisse des heiligen Glaubens undfür viele andere Dinge, wie für die Erschaffung der Welt, von der wirnicht sagen könnten, wie Gott es gemacht hat, als er sie erschuf, nochwie er es gemacht hat, als er unsere Seele schuf und sie in unserenLeib gesenkt hat. Wozu ist es also notwendig zu wissen, wie er seinenallerheiligsten Leib, sein Blut und seine Seele in diesem Sakramentbirgt. Es ist seine Sache, es zu tun, und es ist an uns, es zu glauben. AlsSinnbild dafür fiel einst das Manna in der Wüste, nicht am Tag, son-

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dern in der Nacht, so daß niemand gesehen hat, wie es geschah, nochwie es herabfiel; wenn aber der Morgen gekommen war, sah man esganz entstanden und herabgekommen (Ex 16,14; Num 11,9). Ebensoentsteht dieses ganz himmlische und göttliche Manna der Eucharistieauf eine Art und Weise, die für uns ganz geheim und verborgen ist;niemand kann sagen, wie es entsteht und zu uns kommt, aber im Lichtdes Glaubens sehen wir es ganz verwirklicht.

Wenn uns der böse Geist Versuchungen gegen diese Reinheit desVerstandes bereitet, muß man sich dem widersetzen, indem man sichvor der Allmacht Gottes verdemütigt und im Herzen oder mit demMund spricht: Heilige und unermeßliche Allmacht meines Gottes,mein Verstand betet dich an; er ist überaus geehrt, dich anzuerken-nen und dir durch seinen Gehorsam und seine Unterwerfung zu hul-digen. Wie bist du unbegreiflich und wie froh bin ich darüber, daß dues bist! Nein, ich möchte dich nicht begreifen können, denn du wärestzu klein, wenn eine so kleine und winzige Fassungsgabe dich begrei-fen könnte. Dann muß man sich an den eigenen Verstand wenden:Was denn, du kleine Mücke, genährt im Moder meines Fleisches, willstdu dir die Flügel verbrennen in dem unermeßlichen Feuer der göttli-chen Allmacht, das die Serafim verzehren und verschlingen würde,wenn sie sich auf solche Neugierde einlassen wollten? Nein, du klei-ner Schmetterling, dir steht es nur zu, diesen Abgrund anzubeten,nicht ihn zu ergründen. Und manchmal kann man dem Versuchererwidern: Du Unglückseliger, deine Vermessenheit, zu hoch fliegenzu wollen, hat dich in die Hölle gestürzt; mit der Gnade Gottes werdeich mich sehr hüten, einen solchen Flug zu machen. Auf diese Weisehast du die arme Eva getäuscht, als du sie lehren wolltest, so viel wieGott wissen zu wollen; aber mich wirst du nicht überlisten: ich willglauben und nichts wissen.

Manchmal ist es auch gut, diese Tüfteleien und Versuchungen zumißachten und ihnen keine Beachtung zu schenken, diesen Hund kläf-fen und keifen zu lassen und seinen Weg fortzusetzen; denn obwohl erwütend ist, beißt er nur jene, die es wollen. Wenn wir daher den Wil-len standhaft im Glauben halten, mag er bellen, soviel er will, wirhaben nichts zu fürchten.

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Erwägung, mit der wir den Verstand schmücken müssen.

Das ist es, wovon wir den Verstand reinigen müssen. Aber das ge-nügt nicht; denn man muß ihn auch mit etwas schmücken und zieren:man muß ihn mit Erwägungen behängen. Und was muß man erwä-gen? Man darf nicht grübeln, wie dieses Sakrament entstehen kann,denn das hieße sich verirren, aber man muß wohl erwägen, was diesesSakrament ist. Als Vorbild dafür fragten die Israeliten nicht, wie dasManna entstanden ist, sondern als sie es ganz fertig sahen, fragten sie,was es sei: Was ist das, sagten sie: was ist das? (Ex 16,15). Erwägenwir daher, was dieses göttliche Sakrament ist, und wir werden finden,daß es der wahre Leib Unseres Herrn ist, sein Blut, seine Seele, seineGottheit. Es ist das Geheimnis der innigsten Vereinigung, die unserErlöser mit uns haben kann. Es ist die vollkommenste Mitteilungseiner selbst, die er wirken konnte, durch die er sich mit uns auf wun-derbare und ganz liebevolle Weise vereinigt. Schließlich ist diesesSakrament Jesus Christus selbst, der auf unvergleichliche Weise zuuns kommt und uns an sich zieht.

Wie man sein Gedächtnis reinigen muß.

Was das Gedächtnis betrifft, muß man es ebenfalls von etwas reini-gen und mit etwas schmücken. Man muß es reinigen von der Erinne-rung an hinfällige Dinge und weltliche Geschäfte. Als Sinnbild dafürfiel das Manna nur in der Wüste und Einöde (Ex 16,14), fern vomBetrieb der Welt und nicht in Städten und Dörfern; und die das Oster-lamm aßen, schürzten ihre Kleider, damit nichts auf die Erde falleund fliege. Man muß also einige Zeit die materiellen und zeitlichenDinge vergessen, obwohl sie gut und nützlich sind, um sich auf dieheilige Kommunion vorzubereiten. Man muß es machen wie der guteAbraham: als er seinen Sohn opfern wollte, ließ er den Esel und dieDiener am Fuß des Berges zurück, bis es vollbracht war (Gen 22,5).Ebenso muß man nämlich sein Gedächtnis von der Erinnerung anhäusliche und zeitliche Geschäfte bis nach der Kommunion zurück-halten, denn jedes Ding hat seine Zeit (Koh 3,1).

Nach diesem bewußten Vergessen muß man das Gedächtnis schmük-ken mit einer heiligen Erinnerung an alle Wohltaten, mit denen Gottuns beschenkt hat: die Erschaffung, Erhaltung, Erlösung und vieleandere, vor allem aber sein heiliges Leiden, als dessen Gedächtnis er

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uns seinen eigenen Leib in diesem Sakrament hinterlassen wollte, derfür uns gelitten hat, da er uns keine lebendigere und deutlichere Dar-stellung hinterlassen konnte. Wenn man euch fragen sollte (sagt dieHeilige Schrift Ex 12,26f, wo sie von der Beobachtung des Brauchsdes Osterlamms handelt), was ihr tut, dann sagt den Nachkommen, esist das Gedenken daran, daß Gott euch aus Ägypten befreit und euchmitten durch das Rote Meer geführt hat. So müssen wir uns bei die-sem Sakrament an den Tag erinnern, an dem Gott uns durch seinbitteres Leiden aus der Verdammnis befreit hat.

Wie man den Willen reinigen und womit man ihn schmücken muß.

Was den Willen betrifft, muß man auch ihn von etwas reinigen undmit etwas schmücken. Man muß ihn reinigen von ungezügelten undungeordneten Neigungen, selbst zu guten Dingen. Deshalb mußtenjene, die das Osterlamm aßen, Sandalen an den Füßen tragen (Ex12,11), damit sie die Erde nicht mit den Füßen berührten; denn „dieNeigungen sind die Füße unserer Seele“, die sie überallhin tragen,wohin sie geht, sagt der hl. Augustinus. Und diese Neigungen dürfendie Erde nicht berühren und nicht übermäßig sein, sondern müsseneingeschränkt und bedeckt sein beim Genuß des wahren Osterlamms,das das heiligste Sakrament ist. So hat Unser Herr seinen Apostelndie Füße gewaschen, bevor er es einsetzte (Joh 13,5-9), um zu zeigen,daß die Neigungen der Kommunizierenden sehr rein sein müssen.Und das Manna mußte in der Morgenfrische gesammelt werden, vordem Sonnenaufgang, denn die natürliche Hitze, die übermäßige Lie-be und Neigung zu Kindern, Verwandten, Freunden, Gütern und Be-quemlichkeiten sind ein Hindernis, daß man diese himmlische Spei-se empfangen kann. Man muß mit einer frischen Seele und einemWillen kommen, der nicht erhitzt ist und sich für nichts anderes erei-fert als dafür, dieses Manna zu sammeln.

Man muß aber den Willen schmücken mit einer Neigung und mitäußerstem Verlangen nach dieser himmlischen Speise, diesem ver-borgenen Manna. Daher wurde denen, die das Osterlamm aßen, gebo-ten, es hastig und in Eile zu essen (Ex 12,11), und denen, die dasManna sammelten, am frühen Morgen aufzustehen (Ex 16,21). UndUnser Herr selbst hatte großes Verlangen, ehe er dieses Sakramenteinsetzte; er sagte (Lk 22,15): Mit großer Sehnsucht habe ich danachverlangt, dieses Pascha mit euch zu essen.

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Eine Seele, die auf diese Weise ihre drei hauptsächlichen Fähigkei-ten disponiert hat, bringt in der heiligen Kommunion wunderbareFrucht. Weil aber die Vorbereitung in allgemeinen Ausdrücken dar-gestellt wurde, will ich hier besondere Ratschläge zu ihrer Durchfüh-rung geben.

Besondere Ratschläge für die Vorbereitung auf die heilige Kommunion.

1. Wenn Sie nicht von Versuchungen der Neugierde geplagt sind,sollen Sie nicht an das denken, was ich darüber gesagt habe; dennwenn Sie daran denken, könnten Sie ihnen die Tür öffnen, um sie beisich einzulassen. Sie brauchen dagegen nur Gott dafür zu danken, daßer Ihnen die Einfalt des Glaubens schenkt, die eine überaus kostbareund wünschenswerte Gabe ist, und seine göttliche Majestät bitten, sieIhnen zu erhalten.

2. Wenn Sie von diesem Geist der Neugierde heimgesucht sind, tunSie, was ich gesagt habe, aber machen Sie es kurz in der Form einereinfachen Ablehnung und des Absehens. Halten Sie sich nicht dabeiauf, mit dem Feind zu disputieren und zu streiten. Er muß durchVerachtung bekämpft werden, nicht durch Vernunftgründe, nach demBeispiel Unseres Herrn, der ihn durch die bloßen Worte (Mt 4,10.7)in die Flucht schlug: Weiche, Satan, du sollst den Herrn, deinen Gottnicht versuchen.

3. Wenn die Versuchung trotzdem nicht aufhört, dann unterlassenSie es dennoch nicht zu kommunizieren. Denn wenn Sie es deswegenunterließen, hätte Ihr Feind den Kampf gewonnen. Gehen Sie alsomutig, ohne der Versuchung Beachtung zu schenken, und empfangenSie das Brot des Lebens (Joh 6,35.48). Wenn Sie so handeln, werdenSie siegreich über Ihren Feind sein. Wer es aufgibt, verliert es.

4. Um die Neugierde in diesem Punkt zu überwinden, überwindenSie sie in allen Dingen, so klein sie sein mögen. Suchen Sie keineandere Erkenntnis als die der Heiligen, das ist Jesus Christus denGekreuzigten (1 Kor 2,2), und was Sie zu ihm führt.

5. Bezüglich der Erwägung wird es gut sein, wenn Sie am Tag vorder Kommunion zur Stunde Ihres Geistesgebetes oder der SammlungIhren Geist ein wenig auf Unseren Herrn in diesem Sakrament len-ken, und sogar bei der Gewissenserforschung am Ende, und das durchirgendeinen kurzen Gedanken an die Liebe des Erlösers zu Ihnen.

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Und Sie können sogar bestimmte Ausrufe des mündlichen Gebetesgebrauchen, die Sie oft wiederholen, vor allem nach der Vesper, sei esder vom hl. Franziskus: „Wer bin ich, Herr, und wer bist du?“ Oderder von der hl. Elisabet: Woher kommt mir das Glück, daß mein Herrzu mir kommt (Lk 1,43)? Oder der des hl. Johannes Evangelist: Ja,komm, Herr Jesus (Offb 22,20). Oder der von der Braut im Hohelied(1,1): Möge mein Bräutigam mich küssen mit einem Kuß seines Mun-des.

6. Wenn Sie Ihre Betrachtung manchmal am Vortag über die Kom-munion halten wollen, können Sie leicht die Geheimnisse des LebensUnseres Herrn behandeln, die Ihnen in der Abfolge Ihres Geistesge-betes begegnen, und sie anpassen, als geschähen Sie vor Ihnen zurZeit Ihrer Kommunion. Was hindert Sie denn daran, sich vorzustel-len, daß er Ihnen dabei seine Wohltaten erweist, die er gewirkt hat,oder innerlich die Belehrungen gibt, die er gehalten hat? Und aufdiese Weise die übrigen; und es gibt wenige Geheimnisse, die sichdafür nicht eignen.

7. Für das Gedächtnis ist es gut, es soweit als möglich einzurichten,daß Sie sich vor allem nach dem Abendessen weder geistig noch kör-perlich mit etwas beschäftigen, was der Absicht der Kommunion fern-liegt. Sie können vielmehr Ihren Geist und alle Sinne in Ihr Innereszurückziehen, um den Bräutigam mit der Lampe in der Hand zu er-warten, damit das Öl nicht fehlt (Mt 25,1ff). Dazu soll die Erholungnach dem Abendessen etwas frommer und in der Absicht der Liebesein, das Abendessen mäßiger, jedoch ohne Traurigkeit und ohne zugroße Strenge.

8. Um der Gemeinschaft zu helfen, sich der Wohltaten Gottes amTag der Kommunion zu erinnern, würde ich es gutheißen, daß jedeSchwester den Tag ihres Empfangs kennt und den der übrigen beson-deren Gnadenerweise, die sie von Gott empfangen hat. Soweit es dieDemut und die christliche Einfachheit zulassen kann, erinnert sie dieSchwestern am Vorabend zur Stunde der Rekreation daran und bittetsie zum Schluß, mit ihr Gott dafür zu danken. Das ist vom Jahrestagzu verstehen; das trifft nicht immer zu, sondern manchmal.

9. Was die Läuterung des Willens betrifft, muß man ihn immer vonallen ungeordneten Neigungen freihalten, besonders aber, wenn manzur Kommunion geht, und sehen, worauf und auf wen unsere Neigun-gen in dieser Welt gerichtet sind, ob es nicht zu zärtlich und zu heftigist. Und wenn wir darin ein Zuviel sehen, müssen wir es allmählich

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abstellen, damit wir mit David (Ps 73,25f) zu Unserem Herrn sagenkönnen: Was gibt es für mich im Himmel oder was will ich auf Erden,wenn nicht dich? Du bist der Gott meines Herzens und mein ewigesErbteil. Denn in dieser Absicht kommt Unser Herr zu uns, damit wirganz in ihm und für ihn da seien. Das sind wir nicht, wenn wir unge-ordnete Neigungen nähren, selbst zu in sich guten und erlaubten Din-gen. Und was das Verlangen nach dem heiligen Sakrament betrifft,muß man es erwecken aus Liebe zum Bräutigam und durch die Erwä-gung der Ehre und des Glücks, das uns zuteil wird durch sein Kom-men. Dazu werden die Geisteserhebungen dienen, von denen ich obengesprochen habe, und die Erwägungen, die ich unten angeben werde,mit den Vorstellungen, die ich beschreiben werde.

10. Wenn man nachts aufwacht, muß man seinen Mund mit irgend-einer guten Anmutung füllen, so mit den Namen Jesus und Maria, diegeeignet sind, den Mund mit Wohlgeruch zu erfüllen, in den UnserHerr kommen will. Oder mit den Worten der Braut im Hohelied(5,2): Ich schlafe, und mein vielgeliebtes Herz wacht, und ähnliche.

11. Am Morgen muß man sich mit außergewöhnlicher Freude erhe-ben wegen des Glücks, das man an diesem Tag empfangen soll; und somuß man sich auf die Kommunion vorbereiten.

12. Wenn man zur Kommunion geht, soll man es mit gesenktenAugen und in sehr demütiger Haltung tun. Ich bin nicht dafür, daßman zu diesem Zeitpunkt irgendein mündliches Gebet spricht, außerHerr, ich bin nicht würdig (Mt 8,8) und das Confiteor. Ich billige au-ßerdem nicht, in diesem Augenblick zu seufzen, denn das könnteÄrgernis erregen, wenn es die Hostien bewegt, die auf der Pateneoder im Kommuniongefäß sind. Ich billige auch nicht, daß man dieZunge über die Lippen herausstreckt, noch daß man den Mund sowenig öffnet, daß es schwierig ist, die heilige Hostie hineinzulegen,noch daß man sich irgendwie nach vorne bewegt, um sie zu ergreifen,weil eine Unehrerbietigkeit entstehen könnte, wenn jener, der dieHostie reicht, den Mund dessen nicht trifft, der sich bewegt. Dahermuß man den Mund öffnen, den Kopf heben und warten, bis der Pries-ter die Hostie in den Mund legt, ohne eine andere Bewegung zu ma-chen, bis sie hineingelegt ist. Ich billige es, die Hände unter das Tuchzu halten, nicht darüber. Auf gleiche Weise soll man sich zurückzie-hen.

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13. Am Tag, an dem man kommuniziert hat, muß man sich um soliebevoller mit dem heiligen Gast besprechen, den man bei sich auf-genommen hat, und daher von anderen Beschäftigungen absehen; dennin dieser Zeit spricht er gewöhnlich liebevoller zu unserem Herzenund teilt ihm seine Gnaden freigebiger mit durch die wirkliche Ge-genwart seiner Menschheit. Deshalb müssen wir mit ihm sprechenüber unsere Nöte, Schwächen und Unvollkommenheiten; in dieserZeit müssen wir uns mit ihm beraten über unsere Pläne, Absichtenund Ansprüche, die wir an seine Liebe haben, über die Hoffnungen,die wir auf ihn setzen, kurz, wir müssen uns ihm schenken, wie er sichuns geschenkt hat. Das alles muß nun geschehen durch Erhebungendes Herzens und der Stimme, durch innere Blicke auf jenen, den wirbesitzen, und durch das Geistesgebet, je nach der Möglichkeit, diewir haben, es nach der Kommunion zu halten.

14. Nun will ich einige Punkte vorschlagen, deren Sie sich bedienenkönnen, sowohl um zur Kommunion zu gehen, als auch für die Dank-sagung nach ihr.

Bevor man zur Kommunion geht, kann man das Verlangen weckendurch den Vergleich mit dem angeschossenen und übel zugerichtetenHirsch, den David im Psalm 42 anstellt; er ist gut zu lesen, wenn Siedie Psalmen in Französisch haben. Oder durch das Beispiel Magdale-nas, die Jesus überall sucht: bei Simon dem Aussätzigen (Mt 26,6f),im Grab (Mk 14,3; Lk 7,3-38), im Garten; die ihn weinend sucht undzu ihm selbst sagt, er solle ihr den Ort nennen, wohin er ihn gebrachthabe: Wenn du ihn weggebracht hast, sagt sie, sag es mir, und ich willihn zurückholen (Joh 20,11.15). Bald wie der verlorene Sohn, indemwir uns anspornen, uns in die Arme unseres Vaters zu werfen und ihnzu bitten, er möge uns in seinen Dienst nehmen (Lk 15,18f); bald wiedie Kanaanäerin (Mt 15,22-27) uns anregen, ihm nachzulaufen undihn um die Heilung unserer Seele zu bitten; bald wie Rebekka: als siegefragt wurde, ob sie zu Isaak ziehen wolle, um seine Braut zu wer-den, sagt sie ganz kurz: Ich will hingehen (Gen 24,58). Wir müssenauch erwägen, daß wir bei diesem himmlischen Mahl unsere Seeledurch eine unauflösliche Bindung mit Unserem Herrn vereinigen;deshalb sagen wir mit Recht: Vadam; ich will hingehen. So werden wirin uns das Verlangen wecken, die Liebe und das Vertrauen mit großerEhrfurcht.

Nach der Kommunion müssen wir unsere Seele zu einigen Affektendrängen, so z. B. zur Furcht, den heiligen Gast zu betrüben oder zu

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verlieren, wie David getan hat mit den Worten: Herr, geh nicht fort vonmir (Ps 38,22); oder wie die beiden Pilger von Emmaus, die zu ihmsagten: Bleib bei uns, denn es wird Abend (Lk 24,29); zu Vertrauenund Seelenstärke mit David: Ich werde kein Unheil fürchten, weil dubei mir bist, Herr (Ps 23,4); zur Freude des Geistes nach dem Beispielder guten Lea: als sie sah, daß sie ein Kind in ihrem Schoß empfangenhatte, rief sie voll Freude aus: Nun wird mein Gatte mich lieben (Gen29,32); denn wenn wir den Sohn Gottes in uns selbst haben, könnenwir wohl sagen: Jetzt liebt mich Gott Vater; oder wie Sara: als sieIsaak hatte, sagte sie: Gott hat mir eine Freude gemacht, und wer da-von hört, wird sich mit mir freuen (Gen 21,5f). Und es ist auch wahr,daß die Engel ein Freudenfest feiern über dieses heilige Sakramentund jene, die es empfangen haben, wie der hl. Hieronymus sagt. ZurLiebe wie die Braut im Hohelied (2,16; 1,12), die bei dieser Erwä-gung sagte: Mein Vielgeliebter ist mein und ich bin sein; er wird zwi-schen meinen Brüsten weilen, d. h. an meinem Herzen. Ich habe dengefunden, den meine Seele liebt, ich will ihn sorgsam hüten.

Zur Danksagung mit den Worten, die Gott selbst zu Abraham sagte,als er ihm das Opfer seines Sohnes brachte, denn wir können sie anGott Vater richten, der uns seinen eigenen Sohn als Speise gibt: Herr,weil du mir diese große Gnade erwiesen hast, will ich dich mit un-sterblichen Segnungen preisen und will meine Lobsprüche vervielfa-chen wie die Sterne am Himmel (Gen 22, 16f).

Zum Entschluß, ihm zu dienen, mit den Worten Jakobs, nachdemer die Himmelsleiter gesehen hatte: Gott soll mein Gott sein und derStein meines Herzens, vorher so verhärtet, soll sein Haus sein (Gen28,21f). Und so kann man unzählige Affekte aus der Heiligen Schriftgewinnen.

15. Wir müssen uns auch der Einbildungskraft bedienen, um unse-ren Gast recht festlich zu empfangen. Nun können wir verschiedeneVorstellungen erwecken; die nützlichsten sind die von Unserer lie-ben Frau und vom hl. Josef. Welche Wonnen und Tröstungen wäh-rend der Kindheit Unseres Herrn, wenn sie ihn auf ihren Armen tru-gen und an die Brust drückten, wenn sie ihn küßten und er seine gött-lichen Arme liebevoll um ihren Hals schlang! Und dann erwägen,daß wir ihnen durch die Kommunion ähnlich geworden sind, in derUnser Herr sich mit uns viel inniger vereinigt, als wenn er uns küßteund umarmte.

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Und von Unserer lieben Frau stellen wir uns vor, wie groß ihr inne-res Feuer war, ihre Frömmigkeit, ihre Demut, ihr Vertrauen, ihr Mut,als der Engel ihr verkündete: Der Heilige Geist wird über dich kom-men und die Kraft des Allerhöchsten dich überschatten; daher wirddas Kind, das aus dir geboren wird, Sohn Gottes genannt werden; dennbei Gott ist nichts unmöglich (Lk 1,35-37). Man darf nicht daran zwei-feln, daß ihr gebenedeites Herz sich weit öffnete für die Strahlen sei-ner Worte und sich in so viele Segnungen vertiefte. Im Augenblick, daes die Botschaft vernahm, daß ihr Gott sein eigenes Herz schenkte,d.h. seinen Sohn, gab es sich umgekehrt Gott hin; und da ergoß sichihre Seele in Liebe und konnte sagen: Meine Seele ist geschmolzenoder ausgegossen, als mein Vielgeliebter mit mir sprach (Hld 5,6). Nun,was uns betrifft, empfangen wir in der heiligen Kommunion eine eben-solche Gnade, denn nicht ein Engel, vielmehr Jesus Christus selbstversichert uns, daß in ihr der Heilige Geist in uns kommt und diehimmlische Kraft uns überschattet; und der Sohn Gottes kommt wirk-lich in uns, wird sozusagen in uns geboren und wird hier empfangen.

O Gott, welche Wonnen und Freuden! Daher kann die Seele wohlmit Unserer lieben Frau nach dieser Erwägung sagen: Siehe, ich bindie Magd des Herrn, mir geschehe nach deinem Wort (Lk 1,38). Undwelches Wort? Nach dem Wort, das sein heiliger Mund gesprochenhat: Wer ihn ißt, bleibt in ihm und er bleibt in dem, der ihn ißt; werihn ißt, wird leben: für ihn, durch ihn und in ihm, und wird in Ewig-keit nicht sterben (Joh 6,51ff). Deshalb ist es sogar gut, nach derKommunion den Lobgesang Unserer lieben Frau, das Magnificat zusprechen, es gut zu erwägen und zu bedenken; und um das zu tun, istes erforderlich, seine Bedeutung in Französisch zu kennen.

Ich habe nichts gesagt von der Reinigung des Gewissens, die durchdie Beichte geschieht, weil jedermann weiß, daß man sie am Vor-abend oder am Morgen machen muß, und mit großer Sorgfalt undDemut.

Vielleicht werden Sie diese Anleitung auch recht lang finden; Siemüssen aber zweierlei wissen: das eine, daß Sie das alles nicht aufeinmal machen müssen, sondern sich dessen nur bedienen in demMaß, als Sie erkennen, daß Sie dessen bedürfen, und davon nehmen,was Ihnen helfen wird; und das zweite, daß ich Ihnen diese Vorberei-tung so ausführlich unterbreitet habe, damit Sie damit anderen helfenkönnen, die dessen bedürfen.

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Da indessen das größte Mittel, Fortschritte im geistlichen Leben zumachen, die andächtige Kommunion ist, empfehle ich sie Ihnen. Undtragen Sie Sorge, daß keine sie nachlässig oder aus Gewohnheit emp-fange, sondern stets, um Gott in ihr zu verherrlichen und sich mit ihmzu vereinigen, um Kraft zu gewinnen, ihm zu dienen und alle Anfech-tungen und Versuchungen zu ertragen. So sei es.

Und sollte Ihnen irgendein Zweifel aufkommen und sollten Sie nichtgut verstehen, was ich gesagt habe, dann wird es Ihnen Ihr außeror-dentlicher Beichtvater erklären, oder ich, wenn Sie mir das schrei-ben.

Ich habe vergessen, Sie daran zu erinnern, daß uns dieses Sakra-ment nicht nur mit Unserem Herrn vereinigt, sondern auch mit unse-ren Mitmenschen; da wir mit ihnen an der gleichen Speise teilhaben,sind wir dasselbe mit ihnen geworden. Und eine ihrer hauptsächli-chen Früchte ist die gegenseitige Liebe und die Herzensgüte unter-einander. Wir halten uns ja alle an den gleichen Herrn, und in ihmmüssen wir von Herz zu Herz miteinander verkehren.

Meditation vor der Monatskommunion54

Versetzen Sie sich in die Gegenwart Gottes, bitten Sie ihn um seineEinsprechung.

Stellen Sie sich vor, daß Sie eine arme Dienerin Unseres Herrn sindund daß er Sie in diese Welt wie in sein Haus versetzt hat.

1. Fragen Sie ihn demütig, warum er Sie hierher versetzt hat, undüberlegen Sie, daß es nicht geschah, weil er Sie irgendwie gebrauchthätte, sondern um an Ihnen seine Freigebigkeit und Güte auszuüben;denn es geschah, um Ihnen den Himmel zu schenken. Und damit siediesen erlangen können, hat er Ihnen den Verstand gegeben, um ihnzu erkennen, das Gedächtnis, um sich seiner zu erinnern, den Willenund das Herz, um ihn und den Nächsten zu lieben, die Phantasie, umsich ihn und seine Wohltaten vorzustellen; alle Ihre Sinne, um ihm zudienen, die Ohren, um seinen Lobpreis zu hören, die Sprache, um ihnzu preisen, die Augen, um seine Wunder zu betrachten, und so dieübrigen.

2. Bedenken Sie: Da Sie in dieser Absicht geschaffen sind, müssenalle Handlungen strengstens vermieden werden, die im Widerspruch

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dazu stehen, und müssen jene geringgeachtet werden, die dazu nichtsnützen.

3. Überlegen Sie, welches Unglück es ist, auf der Welt zu sehen, daßdie Menschen zum Großteil nicht daran denken, sondern davon über-zeugt sind, sie seien auf der Welt, um Häuser zu bauen, Gärten anzu-legen, Weinberge zu besitzen, Gold anzuhäufen, und ähnliche ver-gängliche Dinge.

4. Vergegenwärtigen Sie sich Ihr Elend, das einige Zeit so groß war,daß Sie zu ihrer Zahl gehörten. Sagen Sie: Ach, was dachte ich, als ichnicht an dich dachte? Herr, woran erinnerte ich mich denn, als ichdich vergessen hatte? War ich nicht erbärmlich, der Eitelkeit zu die-nen statt der Wahrheit? Ach, die Welt, die nur geschaffen ist, um mirzu dienen, beherrschte und regierte meine Wünsche. Ich entsage euch,ihr eitlen Gedanken, unnützen Erinnerungen, treulosen Freundschaf-ten, verlorenen und armseligen Dienste.

Entschließen Sie sich und fassen Sie einen festen Vorsatz, künftigtreu dem zu obliegen, was Gott von Ihnen verlangt, und sagen Sieihm: Du sollst von jetzt an das einzige Licht für meinen Verstandsein; du sollst der Gegenstand meines Gedächtnisses sein, das sichnur mehr damit befassen wird, sich die Größe deiner Güte zu verge-genwärtigen, die du so freundlich hast gegen mich walten lassen; dusollst die einzige Wonne meines Herzens und der einzige Vielgelieb-te meiner Seele sein.

Besondere Anwendung:

Herr, ich habe die und die Gedanken, ich will mich ihrer künftigenthalten; ich erinnere mich zu viel an Ärger und Kränkungen, ichwill es von jetzt an aufgeben; mein Herz hängt noch an dem und dem,was unnütz und hinderlich ist für deinen Dienst und für die Vollkom-menheit der Liebe, die ich dir schulde; mit deiner Gnade will ich eszurückziehen und vollständig davon frei machen, damit ich es ganzdem deinen schenken kann.

Bitten Sie Gott inständig, er möge Ihnen die Gnade dazu geben,und üben Sie sich an diesem Tag selbst in irgendeiner Sache, was sichzu diesem Punkt machen läßt.

Wiederholen Sie oft das Wort des hl. Bernhard, spornen Sie nachseinem Vorbild Ihr Herz an und sprechen Sie: Rose, wozu bist du indiese Welt gekommen? Was machst du? Tust du, was dir dein Meister

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als Aufgabe gegeben hat, wozu er dich in diese Welt versetzt und dichbewahrt hat?

Niemand wird mit Rosen gekrönt werden, der nicht zuerst mit denDornen Unseres Herrn gekrönt wurde.

Das ist jener, der Ihre Vollendung in Gott wünscht, in dessen Her-zen er Ihr sehr demütiger Diener ist,

Franz Bischof von Genf.

Memorandum über die gute Beichte

Die Annecy-Ausgabe (XXVI,244-266) enthält den Entwurf eines Memoran-dums, geschrieben von zwei verschiedenen Sekretären, mit Korrekturen des hl.Franz von Sales. Er hat es dem Herzog Roger de Bellegard im Brief vom 24. 8.1613 angekündigt und sich entschuldigt, daß er es (aus gesundheitlichen Grün-den) nicht selbst geschrieben hat. Der Bischof von Genf hatte auf den leichtle-bigen Herzog im Verlauf der schwierigen Verhandlungen über die Reorganisati-on der katholischen Seelsorge im Gebiet von Gex so tiefen Eindruck gemacht,daß er sich gründlich bekehrte, bei Franz von Sales eine Generalbeichte ablegteund sich unter seine geistliche Leitung stellte. Die erhaltenen geistlichen Briefe(Band 6,246-255) geben einigen Einblick in die Art dieser äußerst klugen Füh-rung. Auch dieses Memorandum ist auf die Situation des Herzogs abgestimmt.

Wenn Sie in der demütigsten Haltung, die Ihnen möglich ist, vorIhrem Beichtvater knien, dann stellen Sie sich vor, daß Sie diese Hand-lung vor unserem gekreuzigten Herrn verrichten, der mit unver-gleichlicher Güte und Barmherzigkeit die Vergebung und Losspre-chung für Sie bereithält. Deshalb werden Sie sich mit heiliger Be-schämung, die dennoch von sehr großem Vertrauen begleitet ist, ge-mäß den folgenden Hinweisen anklagen.

Man muß sich nicht nur der Gattung der Sünde anklagen, die manbegangen hat, sondern auch ihrer Art. Daher genügt es nicht zu sagen,daß man ein Mörder war, ein Unzüchtiger oder Räuber, sondern manmuß auch die Art des Mordes, der Unzucht und des Raubes nennen,die man begangen hat. Wenn man z. B. den Mord an der Person desVaters oder der Mutter begangen hat, muß man das ausdrücklich sa-gen, denn das heißt Elternmord. Wenn der Mord an einem heiligenOrt geschehen ist, dann ist das ein Sakrileg; wenn man eine geweihtePerson getötet hat, ist das ein geistlicher Vatermord. Ebenso gibt esbei der Sünde der Unzucht einen großen Unterschied zwischen ihren

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Arten: denn eine Jungfrau verführen ist eine Schändung; mit einerverheirateten Frau verkehren ist Ehebruch. Dasselbe gilt von anderenSünden.

2. Hinweis. – Man muß sich nicht nur der Art der Sünden anklagen,sondern auch ihrer Zahl, indem man sagt, wie oft man diese oder jeneSünde begangen hat, so genau man es nach seiner Erinnerung kann.Und wenn man sich nicht an die Zahl der Sünden erinnern kann,genügt es zu sagen, wie mehr oder weniger oft ungefähr; wenn mansich auch nicht recht entscheiden kann, wie oft ungefähr, dann genügtes zu sagen, wie lange Zeit man sich in der Sünde aufgehalten hat undob man sich ihr sehr hingegeben hat.

Die Notwendigkeit, so genau wie möglich die Zahl der Todsündenanzugeben, ist wesentlich, um eine gute Beichte zu machen; denn umden Sünder von seinen Sünden loszusprechen, muß man den Zustandseines Gewissens kennen. Man kann aber den Zustand einer Seelenicht erkennen, wenn man nicht annähernd die Zahl der Sünden kennt,die sie begangen hat. Denn welche Wahrscheinlichkeit bestünde, daßman z. B. eine Frau, die nur ein einziges Mal gegen ihren Körpergesündigt hat wie die heilige Büßerin Aglaia, gleich einschätzt wieeine, die vielleicht zehntausendmal gesündigt hat, wie man von derhl. Pelagia, der hl. Maria von Ägypten und der hl. Magdalena anneh-men kann.

3. Hinweis. – Man muß sich auch der verschiedenen Grade ankla-gen, die es in jeder Art der Sünde gibt. Denn wie es in jeder Tugendverschiedene Stufen gibt, auf denen man von einer zur anderen fort-schreitend bis zur heroischen oder engelgleichen Tugend gelangt, eben-so gibt es auch in der Sünde verschiedene Stufen, auf denen man biszur teuflischen Sünde hinabsteigt. Es ist z. B. ein großer Unterschiedzwischen Zürnen und Schmähen, mit der Faust schlagen oder miteinem Stock, oder mit dem Degen und töten; das sind verschiedeneStufen des Zorns. Dasselbe kann man sagen vom unzüchtigen Blick,der unehrbaren Berührung und der fleischlichen Vereinigung; dassind verschiedene Grade ein- und derselben Sünde.

Es ist richtig, daß einer, der eine schlechte Handlung gebeichtethat, nicht nötig hat, die anderen zu beichten, die in der Regel erfor-derlich sind, um diese zu begehen; wer sich also angeklagt hat, einmalEhebruch begangen zu haben, ist nicht verpflichtet, die Küsse undBerührungen anzugeben, die er dabei gemacht hat, denn das versteht

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sich hinreichend, ohne daß man es sagt, und die Anklage über solcheDinge ist enthalten im Bekenntnis der hauptsächlichen Handlung,von der die anderen nur Zusätze sind.

4. Hinweis. – Bei den Graden der Sünde muß man auch noch denbeachten, der die Schwere der Sünde in ein- und derselben Handlungvervielfacht oder verdoppelt. Wer z. B. einen Taler stiehlt, begehteine Sünde; wer deren zwei auf einmal stiehlt, begeht auch nur eineSünde, aber die Schwere dieser zweiten Sünde ist doppelt so groß wiedie der ersten. Ebenso kann es sein, daß man durch schlechtes Bei-spiel einer einzigen Person Ärgernis gibt, und mit einem anderenschlechten Beispiel der gleichen Art gibt man dreißig oder vierzigPersonen Ärgernis; und wer sieht nicht, daß die Schwere der zweitenSünde viel größer ist als die der ersten? So wenn einer ein Mädchentötet und der andere eine schwangere Frau; jeder hat nur einen Schlaggetan, aber der eine hat trotzdem mit einer einzigen Sünde zwei Mor-de begangen, und folglich ist seine Sünde, obwohl es der Handlungnach nur eine Sünde ist, trotzdem doppelt so schwer. Deshalb mußman, soweit es gut möglich ist, die Art des Gegenstandes oder desStoffs genau angeben, durch die die Schwere der Sünde zunehmenoder abnehmen kann. Denn wer eine Flasche Wein vergiftet hätte, fürden genügte es nicht zu sagen, er habe Wein vergiftet, um Menschenzu töten, sondern er müßte sagen, wieviele Menschen; denn obwohldas Vergiften durch eine Handlung geschieht, richtet sie sich auf denTod mehrerer Personen, und obwohl es eine einzige Handlung war,wäre der Schaden sehr groß.

5. Hinweis. – Der Wunsch ist eine Stufe der Sünde und der Ent-schluß zur Ausführung eine andere, und man muß sich dessen ankla-gen, obwohl man dann nicht zur Ausführung kommt; denn wer zusündigen wünscht, und noch mehr, wer sich dazu entschließt, hat dieSünde in seinem Herzen gebildet, entsprechend dem Wort UnseresHerrn: Wer eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat in seinem Her-zen schon Ehebruch begangen (Mt 5,28); und wenn er nicht durch dieTat gesündigt hat, sündigt er durch den Wunsch. Das versteht sichaber von ausdrücklichen Wünschen, nicht von bestimmten innerenRegungen, die plötzlich, unvermutet und ohne unsere Zustimmungin unserem Herzen auftreten; wenn uns jemand – sogar während die-ser Regungen – fragte, ob wir das wollten, wozu uns diese Regungenzu führen scheinen, würden wir ohne Zweifel nein sagen; denn da-

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durch sieht man wohl, daß diese Wünsche Akte unserer Natur sind,nicht unseres freien Willens.

6. Hinweis. – Man muß sich auch schlechter Gedanken anklagen,wenn wir uns mit einem freiwilligen Wohlgefallen an der Sünde darinaufhalten, auch wenn ihnen weder der Wunsch noch der Entschlußfolgt. Wer z. B. Freude daran hat, bei sich zu denken, daß er seinenFeind töte, ruiniere oder mißhandle, obwohl er nicht wünscht, zudessen Ausführung zu kommen, muß sich dessen trotzdem genau an-klagen, wenn er freiwillig und bewußt an diesen Vorstellungen undGedanken Wohlgefallen und Freude hatte; ebenso derjenige, der sichin Gedanken, Phantasien und Vorstellungen der Fleischeslust auf-hält, um Freude daran zu haben, denn er sündigt innerlich gegen dieKeuschheit, zumal er zwar nicht seinen Leib der Sünde hingebenwollte, ihr aber doch sein Herz und seine Seele hingegeben hat. Nunbesteht die Sünde mehr in der Zuwendung des Herzens als des Leibesund es ist in keiner Weise erlaubt, bewußt Wohlgefallen und Befriedi-gung an der Sünde zu haben, weder durch Handlungen des Leibesnoch durch Akte des Herzens.

7. Hinweis. – Um gut zu beichten, muß man noch auf bestimmteHandlungen achten, in denen mehrere Arten von Sünden eine in deranderen enthalten sind. Wer z. B. den Gatten töten ließe, um sich derFrau zu erfreuen, wie David (2 Sam 11), der beginge zugleich dreiGattungen von Sünden, denn er gäbe Ärgernis, beginge Mord undEhebruch. Wer einen Diener prügelt und sich dabei die Freude vor-stellt, die er hätte, den Herrn zu verprügeln, beginge gleichzeitig zweiSünden, die eine innerlich, die andere äußerlich. Und wer sich beimVerkehr mit einem Mädchen, um daran Freude zu haben, eine verhei-ratete Frau vorstellte, die er begehrte, der beginge körperlich eineSchändung und im Herzen einen Ehebruch.

Es gibt auch bestimmte Handlungen, die aus Todsünde und läßli-cher Sünde gemischt zu sein scheinen, wobei man sich manchmalsehr täuscht. Jemand wollte z. B. in heftigem Zorn einem andereneinen schweren Schlag versetzen, der aber auswich und ihm entging;weil sein böser Wille keinen Erfolg hatte, hält er seine Sünde fürgering, obwohl tatsächlich seine Absicht, ihn schwer zu schlagen, sierecht groß macht. So würde derjenige nicht gut beichten, der eineBörse gestohlen hat, in der nur ein halbes Dutzend Spielmünzen war,die er für Taler gehalten hatte, wenn er sich nur anklagte, die Spiel-

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münzen gestohlen zu haben; denn obwohl er nur Spielmünzen ge-stohlen hat, hat er trotzdem in der Absicht Taler gestohlen.

8. Hinweis (über die Zeit, die man in jeder sündhaften Handlungverbrachte) ...55

Von den Sünden gegen das 1. Gebot des Dekalogs.

In diesem ersten Gebot ist uns geboten, Gott nach den Regeln derwahren Religion zu dienen, ihn zu ehren und zu lieben. Die Arten derSünde gegen dieses Gebot sind:

1. die Gotteslästerung, die nichts anderes ist als eine Schmähungder göttlichen Majestät, die in böser Absicht geschieht, so wenn mansagt, Gott sei nicht gut, er sei nicht gerecht, wenn man ihn verleugnet,wenn man ihn verflucht, wenn man ihn herausfordert, und schließlichjedesmal und sooft wir freiwillig und bewußt ungebührlich über Gottsprechen, wie man es macht, wenn man sagt: So wahr Gott existiert;der ist so gemein, wie Gott edel ist; Gott kümmert sich nicht darum,was wir tun; lassen wir Gott im Paradies und bleiben wir hier, undähnliche Unverschämtheiten.

Es ist auch eine Art der Gotteslästerung, die Heiligen zu schmähenoder ungebührlich von ihnen und von heiligen Dingen zu sprechen;so z. B. die Worte der Heiligen Schrift zum Spott und Hohn unanstän-dig zu entehren.

2. Die zweite Art der Sünden gegen dieses Gebot bildet die Gottes-verachtung, die in Handlungen besteht, durch die wir Gott oder heili-ge Dinge verunehren wollen; wie es jene machen, die die Sakramente,das heilige Öl, heilige Worte zu Zaubereien gebrauchen oder sie ausVerachtung zertreten, die Bilder zerbrechen, Altäre, Reliquien undähnliche Dinge zerstören.

3. Die dritte Art ist der Aberglaube, wie es der Götzendienst ist,d.h. etwas als Gott anbeten, was nicht Gott ist; Magie anwenden, d. h.den Teufel für irgendein Unternehmen gebrauchen, sei es, daß manihn offen gebraucht, wie es jene tun, die einen Pakt mit ihm geschlos-sen haben; und Zauberei, sei es, daß man ihn heimlich gebrauchtdurch unbekannte Worte und Zeichen, oder durch bekannte Worteund Zeichen, die aber fälschlich und trügerisch angewendet werden;ebenso zu Wahrsagern gehen und überhaupt etwas tun oder sagen, umirgendetwas vom bösen Geist zu erlangen oder von denen, die vonihm abhängen.

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4. Die Gelübde brechen, die man gemacht hat, oder auch schlechteGelübde machen, z. B. jemand zu töten oder etwas Gutes nicht zu tun.

5. Gott versuchen, d. h. prüfen und versuchen wollen, wie es dieJuden taten, als sie ohne Notwendigkeit und ohne irgendeinen Grundvon Unserem Herrn Wunder verlangten, oder stillschweigend, wie esdiejenigen tun, die ohne Notwendigkeit und Anlaß die gewöhnlichenMittel mißachten, die Gott uns gegeben hat, um etwas zu machen,und verlangen, Gott solle außergewöhnliche dafür beschaffen; auchjene, die sich ohne Notwendigkeit in große Gefahr begeben und an-nehmen, Gott müßte sie daraus befreien.

Auch die folgenden Sünden sind gegen dieses Gebot:

Am Glauben zweifeln. An seinem Heil oder an seiner Besserungund an der Vergebung der Sünden zweifeln; oder aber im Gegenteilannehmen, daß man das Heil erlange, ohne sich zu bessern, oder den-ken, man habe die Besserung ohne Buße, ohne zu beten, sich zu bes-sern und sich zu disponieren, um sie zu haben. Sein Herz in einerWeise an geschaffene Dinge hängen, daß man den Schöpfer vergißt.

Schlechte Reden gegen Gott, die Heiligen und die Kirche führen;neugierig und vorwitzig über Fragen des Glaubens disputieren; be-streiten oder dazu überreden, daß die Gebote Gottes die Menschennicht verpflichten, daß man sich nicht davor fürchten müsse, sie zubrechen, und ähnliches, was junge Leute manchmal tun, um den Geistder Mädchen zu verführen oder sich als Kavaliere auf dem Gebiet derFleischessünde zu geben. Sich über Gott beklagen, Gott lästern, denTeufel für sich oder gegen sich oder gegen die anderen anrufen, wiejene tun, die sagen: Ich wollte, daß mich der Teufel von dieser Krank-heit heilt, oder mir den Hals bricht, oder mir das verschafft; der Teu-fel soll dich holen; der Teufel soll mich holen, und ähnliche Dinge.

Zaubereien anwenden und daran teilnehmen. Die Häretiker bei ih-ren Predigten, Gebeten und Versammlungen hören; ihre Bücher be-sitzen und alle Bücher von Wahrsagern. Unehrerbietigkeiten in derKirche begehen, wie jemand schmeicheln, streicheln, sich spreizen,scherzen, eine ungehörige und anmaßende Haltung einnehmen, dieanderen am Beten hindern und ähnliche geistige Unhöflichkeiten undUngehörigkeiten.

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Außerdem sündigt man gegen dieses Gebot, wenn man aus mensch-licher Rücksicht Gott zu dienen unterläßt, wenn es der Anlaß ver-langt. Durch die Unkenntnis der für einen guten Christen erforderli-chen Dinge wie das Glaubensbekenntnis, das Vaterunser, der Engli-sche Gruß, die Gebote Gottes und der Kirche. Am Morgen und Abendnicht zu Gott beten, heiligen Dingen nicht die gebührende Ehre undAchtung erweisen, den Tischsegen nicht machen oder machen lassen,die Danksagung nach dem Essen nicht machen oder machen lassen.

Sünden gegen das 2. Gebot.

1. Ohne Zurückhaltung schwören beim Namen Gottes oder vonHeiligen und irgendwelcher anderer Geschöpfe, insofern sie von Gottabhängen und in Beziehung zu ihm stehen, wie es jene tun, die beijeder Gelegenheit schwören, bei unbedeutenden Dingen ebenso wiebei solchen von großer Bedeutung. Sie stellen den heiligen NamenGottes bloß und rufen seine göttliche Majestät vergeblich, leichtfer-tig und verächtlich zum Zeugen an, ohne das geringste Urteil undohne Unterschied.

2. Schwören gegen die Gerechtigkeit, d. h. gegen die Vernunft. Dastun jene, die schwören, das Schlechte zu tun oder das Gute nicht zutun. Das heißt doch Gott schwer mißachten, wenn man ihn zum Zeu-gen für eine schlechte Handlung anruft, wie es Herodes tat mit demSchwur, den hl. Johannes den Täufer enthaupten zu lassen (Mt 14,7-9; Mk 6,23-27). Ihm gleichen jene, die schwören, jemand zu schlagen,ihm die Nase abzuschneiden, ihn zu ruinieren, zu töten oder anderes.

3. Die Unwahrheit beschwören, d. h. falsch schwören.4. Andere veranlassen oder ihnen Gelegenheit geben, ohne Not-

wendigkeit, gegen die Vernunft oder falsch zu schwören.

Sünden gegen das 3. Gebot.

1. An Festtagen irgendeine knechtliche Arbeit verrichten oder dieUrsache sein, daß gearbeitet wird, ohne offensichtliche Notwendig-keit und ohne Erlaubnis der kirchlichen Obrigkeit.

2. Es unterlassen, an Sonn- und Feiertagen der heiligen Messe bei-zuwohnen, oder ihr wohl beiwohnen, aber ohne Aufmerksamkeit, ehr-furchtslos und unartig. Keine Sorge tragen, daß die Diener und dieübrigen Angestellten an den genannten Feiertagen der Messe beiwoh-

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nen. An heiligen Orten stoßen, schlagen, Unzüchtiges oder ähnlicheZügellosigkeiten begehen.

Was die Jagd oder erlaubte Wettkämpfe und andere Übungen be-trifft, die hauptsächlich dem Adel vorbehalten sind, so sind sie anFeiertagen nicht als knechtliche Arbeit verboten; daher kann mansich ihnen an den genannten Feiertagen widmen, nachdem man derMesse beigewohnt hat.

Es wäre aber trotzdem eine zu große Pietätlosigkeit, sie an hohenFeiertagen abzuhalten, an denen jeder, soweit es möglich ist, nichtnur an der Messe teilnehmen soll, sondern auch an anderen christli-chen Gottesdiensten. Es wäre auch schlecht und ein Mißbrauch derEinrichtung der Feiertage, die heilige Zeit hauptsächlich und berufs-mäßig für solche Beschäftigungen zu verwenden.

Sünden gegen das 4. Gebot.

Dem leiblichen Vater und der Mutter den Tod oder ein Übel wün-schen, ebenso bürgerlichen und staatlichen Obrigkeiten, die im Staatdie Stelle des Vaters einnehmen, und kirchlichen Oberen, die dieStelle von Vätern in der Kirche innehaben. Sich entschließen, ihnennicht zu gehorchen und Verachtung gegen sie zu zeigen. In seinemHerzen nichts auf sie geben. Vorwitzig über ihr Verhalten und ihreAbsichten urteilen; oder aber im Gegenteil die einen und die anderenso sehr lieben, daß man aus Rücksicht auf sie bereit ist, Gott zu belei-digen. Schlecht über Vater, Mutter, weltliche und geistliche Obrig-keiten sprechen; sie tadeln, kritisieren, sich zu Unrecht über sie be-klagen; ihnen hochfahrende, unfreundliche und freche Antwortengeben; sie absichtlich und bewußt zum Zorn reizen. Gegen sie verär-gert sein. Sie in ihren Nöten im Stich lassen, sie nicht trösten, ihnennicht nach seinem Vermögen zu Hilfe kommen.

Ebenso sündigen gegen dieses Gebot Väter, Mütter, Vorgesetztevon Häusern, Städten und Staaten, die ihre Frauen, Kinder, Dienerund Untergebenen unwürdig und schmählich behandeln; die nichtdarauf bedacht sind, sie in der Tugend zu fördern, die ihnen in erfor-derlichen Dingen nicht nach ihrem Vermögen beistehen; die ihnendurch schlechtes Beispiel Ärgernis geben.

Schließlich die Kinder, Erben und Empfänger von Vermächtnis-sen, die den Willen ihrer Wohltäter nicht erfüllen, der ihnen auferlegtwurde.

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Sünden gegen das 5. Gebot.

Gefallen an Gedanken der Rache haben und sich freiwillig darinaufhalten, um Freude daran zu haben. Dem Nächsten oder sich selbstaus Haß oder Mißgunst den Tod oder ein namhaftes Übel wünschen.(Ich sage, aus Haß, denn es ist keine Sünde, sich oder dem Nächstenden Tod zu wünschen zur Ehre Gottes, zu seinem Heil und aus ähnli-chen guten Anlässen, wenn sich nicht der Haß gegen die Person ein-mischt.) Jemand hassen; sich an ihm zu rächen wünschen; sich überdas Unglück des anderen freuen; über sein Glück betrübt sein; sichgegen ihn empören, und in dieser Absicht nicht mit ihm sprechenwollen. Den Nächsten beschimpfen und beleidigen; ihn verwünschenund verachten, dazu raten oder anstiften, daß ihm Böses zugefügt wird.

Töten oder schlagen; Feindseligkeiten hervorrufen; zu Streitigkei-ten und vor allem zum Duell herausfordern. Sich erzürnen und ingroßen Zorn hineinsteigern. Das Unrecht nicht vergeben und dem dieBeleidigung nicht verzeihen wollen, der bereit ist, Genugtuung zuleisten. Den Nächsten durch Umtriebe, Prozesse oder auf andere Weiseverfolgen. Freude daran haben, zu veranlassen, daß andere einanderprügeln, wie man es oft mit Dienern, Stallburschen und ähnlichenLeuten macht. Armen Leuten und Toren einen Vorwand geben odergeben lassen. Verrückte reizen und quälen, Grausamkeiten gegen sieverüben. Sich waghalsig Gefahren und Ungemach aussetzen. Un-fruchtbarmachung und Abtreibung bei Frauen vornehmen. Hart undgrausam gegen Arme sein; sie zugrundegehen oder große Not leidenlassen, wenn man sie unterstützen kann. Unschuldige der Ungerech-tigkeit überlassen, wenn man sie auf rechtmäßige und gerechte Weisedavor bewahren kann.

Es ist auch eine Sünde gegen dieses Gebot, die Seele des Nächstenzu morden, indem man ihn zur Sünde verleitet oder ihm geistlichenSchaden zufügt, wenn man ihn von guten Werken abbringt und ihnböswillig daran hindert, Gutes zu tun. Es ist auch eine Sünde, ihmnicht zum Guten zu helfen dadurch, daß man ihm dazu rät, ihn er-mahnt und zurechtweist, wenn man es gut machen kann.

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Sünden gegen das 6. Gebot.

Unehrbare Gedanken haben und freiwillig unterhalten, um Freudean der sinnlichen Lust zu haben, die daraus entstehen kann. Unehrba-re Handlungen wünschen. Unzüchtige Worte sagen oder Lieder sin-gen, vor allem, wenn es in schlechter Absicht geschieht. Sich der Sün-de des Fleisches rühmen, aufschneiden und sich darauf etwas zugutetun; Worte zu ihren Gunsten sagen, sie entschuldigen und ihre Schwereherunterspielen. Unzüchtige Bücher und Bilder haben.

Personen unzüchtig anschauen. Geschenke senden, Versprechun-gen machen, Liebesbriefe schreiben, Botschaften schicken, ein Stell-dichein geben oder annehmen und alle Arten von Bestrebungen, diein unzüchtiger Absicht unternommen werden. Umwerben, liebko-sen, den Hof machen und alle Arten der Liebelei, obwohl die Absichtam Anfang nicht ganz fleischlich zu sein scheint.

Unehrbare Berührungen bei sich oder anderen machen mit der Ab-sicht der sinnlichen Lust. Sich selbst oder andere zur Pollution reizen;Unzucht treiben, d. h. Verkehr mit Frauen haben, die nicht jungfräu-lich, nicht verheiratet, nicht geweiht und nicht verwandt sind. Ehe-bruch begehen, der geschieht, wenn einer der Partner oder beide ver-heiratet sind. Schändung begehen, d. h. eine Jungfrau verführen, dieeinwilligt. Vergewaltigung begehen, d. h. eine Frau oder ein Mädchenmit Gewalt nehmen. Inzucht begehen, d. h. Verkehr haben mit einerVerwandten oder Verschwägerten, sowohl geistig als natürlich; ich sagegeistig wegen Gevatter und Gevatterin, Paten und Patin, Patensohnund Patentochter. Ein Sakrileg begehen, d. h. Verkehr mit gottgeweih-ten Personen haben, wie Priester, Ordensmänner und Ordensfrauen,oder eine unzüchtige Ausschweifung an heiligem Ort begehen. Dasabscheuliche Laster der Sodomie begehen, d. h. den fleischlichen Aktmit einer Person des eigenen Geschlechts vollziehen oder auch miteiner Person des anderen Geschlechts, aber an nicht zur Zeugung be-stimmten Stellen. Schließlich entweder Tiere oder den Teufel gebrau-chen; das sind die schrecklichsten Ausschweifungen.

Dieses Gebot erstreckt sich auch darauf, daß die Eheleute einandertreu die eheliche Pflicht leisten, indem sie den von Gott gesegnetenAkt zugunsten der Ehe und nach der Vernunft gebrauchen, sowohlzur Zeugung als auch zur Erhaltung der zwischen Eheleuten erfor-derlichen Freundschaft und Gefälligkeit. Sie sollen daran denken,daß sie vernunftbegabte Menschen und Christen sind und daß einer

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den anderen in Heiligkeit und Ehrbarkeit besitzen soll (1 Thess 4,4),in Zuneigung und Liebe, und immer in den Grenzen, die die Naturvorgeschrieben hat.

Sünden gegen das 7. Gebot.

Das Gut des Nächsten stehlen; es zu Unrecht zurückbehalten. BeimKaufen und Verkaufen, ja sogar beim Spielen betrügen, Wucher trei-ben; ungerechte Verträge schließen. Benefizien kaufen oder verkau-fen. Die Kirche um Zehnten und Erstlingsgaben betrügen oder umdie Erstlingsgaben von Tributen und gerechten Zöllen. Ungerechter-weise Prozesse führen. Den Lohn der Diener, Taglöhner, Handwer-ker, Arbeiter und Soldaten vorenthalten. Ungerecht und gegen dieVernunft Zölle, Steuern, Kontributionen und Beschlagnahmungenauferlegen. Schulden nicht zahlen, wenn man es tun kann. Übermäßi-ge Schulden machen, für die man nicht zahlungsfähig ist oder die nurschwer zu zahlen sind. Leute, die zu Unrecht das Gut des Nächstenbesitzen, gegen das gerechte Vorgehen der wahren Besitzer und Her-ren begünstigen. Diebstahl, Erpressung und andere Schädigungen desNächsten nicht verhindern. Und allgemein dem Nächsten ohne Grunddas Gut, die Ehre und die Bequemlichkeit nehmen oder vorenthal-ten; ebenso auch Verschwendung und übertriebene Ausgaben machen,für die man Anleihen macht und sich der Mittel begibt, dem Armenbeizustehen, und seiner Familie Leid zufügt.

Sünden gegen das 8. Gebot.

Schlecht und leichtfertig über das Gewissen und die Handlungendes Nächsten urteilen. Nun, leichtfertig urteilt man, wenn es ohnerechtmäßige Grundlage geschieht. Schlechtes über den Nächsten sa-gen oder bewirken, daß schlecht über ihn gesprochen wird; das ge-schieht auf verschiedene Weise:

Erstens durch Lug und Trug. Das ist nichts anderes, als jemand einVergehen oder ein Laster anlasten, das er nicht hat; durch Vergröße-rung des Lasters oder der Sünde, die jemand hat; durch Enthüllungder geheimen Schuld eines anderen; durch schlechte Auslegung derAbsicht, indem man die guten Handlungen des Nächsten in schlech-tem Sinn auslegt, indem man leugnet, daß an einem Menschen etwas

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Gutes ist, das er hat, oder die berechtigte Achtung herabsetzt, dieman vor einem Menschen haben muß; indem man schweigt, wennman gerechterweise einen Menschen gegen einen Vorwurf verteidi-gen kann.

Item: Auf irgendeine Weise lügen, besonders wenn die Lüge demNächsten Schaden bringt. Schmähschriften lesen lassen, besitzen, vor-tragen, die nicht öffentlich bekannt sind. Die Wahrheit verheimli-chen oder die Unwahrheit bei Gericht sagen. Streitigkeiten entfa-chen. Beschuldigungen, Verleumdungen, Übertreibungen in Prozes-sen und anderen wichtigen Auseinandersetzungen gebrauchen. Freu-de daran haben, wenn man üble Nachreden und Verleumdungen hört.

Sünden gegen das 9. Gebot.

Die Frau des Nächsten begehren oder seine Tochter oder anderePersonen, die zu ihm gehören, um sie zu haben und fleischlich zugebrauchen; denn wie das 6. Gebot die Unzucht im Effekt verbietet,so verbietet sie das 9. im Affekt.

Gegen das 10. Gebot.

Das Gut des Nächsten begehren, auf welche Weise es auch sei, umes ungerechter Weise und zum Nachteil des Nächsten zu besitzen,denn wie das 7. Gebot den Diebstahl in der Tat verbietet, so verwehrtihn das 10. dem Wunsch nach.

Prüfung über die Hauptsünden.

Über den Stolz. – Der Stolz ist nichts anderes als der übermäßigeWunsch nach einer Größe, die im Mißverhältnis zu dem steht, der siewill. Daher besteht die Sünde des Stolzes darin, das Gute, das manvon einem anderen hat, sich zuzuschreiben, als hätte man es aus sichselbst; zu denken, man verdiene die Güter und Gaben, die man hat,obwohl dem nicht so ist; sich Güter und Gaben zuzuschreiben, dieman nicht hat; sich über andere erhaben dünken in Dingen, in denenman sich nicht überheben darf. Nun ist der Stolz eine Todsünde, wennman nicht anerkennen will, daß von Gott kommt, was man hat; wennman bereit ist, gegen die Gebote Gottes zu verstoßen, um sein eitles

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Ansehen zu wahren, und wenn man den Nächsten in einer bedeuten-den Sache herabsetzt und verachtet, um sich zu überheben.

Der Stolz ist mit dem eitlen Ruhm verbunden, der darin besteht,sich dessen zu rühmen, was man nicht hat, oder solcher Dinge, diedessen nicht wert sind, oder solcher, die uns nicht gehören, oderschlechter Dinge; oder darin, den Ruhm für das Gute, das man hat,ohne Anerkennung Gottes haben zu wollen, von dem es kommt.

Mit dem eitlen Ruhm hängt die Prahlerei zusammen; sie bestehtdarin, daß man sich einer schlechten Sache rühmt oder einer guten,aber mehr, als man darf, oder mit Verachtung des Nächsten, so wennman sich rühmt, mehr zu sein als die anderen; oder zum Schaden desNächsten, so wenn man sich rühmt, diese oder jene Krankheit heilenzu können, und wenn die Menschen darauf eingehen und getäuschtwerden.

Die Scheinheiligkeit ist ebenfalls ein Zweig des Stolzes; sie bestehtdarin, den Anschein zu erwecken, daß man heilig oder tugendhaft ist,um den Nächsten hinzuhalten oder zu täuschen. Daraus ergibt sichdie Rechthaberei, die nichts anderes ist als ein Streit mit Worten ge-gen die Wahrheit. Darauf folgt die Zwietracht, die nichts anderes istals ein übertriebener Widerspruch gegen den Willen des Nächsten,der seinen Gipfel erreicht, wenn der Eigensinn dazukommt, durchden man fest auf seiner Meinung beharrt, wenn auch ohne gute Grund-lage.

Die Neugierde gehört ebenfalls zum Stolz; sie ist nichts anderes alsein maßloses Verlangen, die Dinge zu wissen und zu kennen, die nichtvon unserem Fach sind oder die gefährlich oder verboten sind.

Darauf folgt das Trachten nach dem Ungewöhnlichen in der Klei-dung, im Reden und in den Auffassungen und schließlich der Unge-horsam und die Verachtung der Gesetze und der Obrigkeit.

Aus all dem geht die Vermessenheit hervor, durch die man es unter-nimmt, mehr zu tun, zu sagen, zu scheinen und zu sein, als uns zu-steht; so wenn man über Dinge sprechen will, die man nicht versteht,eine Kunst auszunützen, die man nicht beherrscht, oder mehr zu schei-nen, als man ist, oder mehr sein zu wollen, als man kann. Und diesesLetzte führt zur Ruhmsucht, die nichts anderes ist als ein übertriebe-nes Streben nach Ehren und Würden.

Über den Geiz. – Der Geiz ist nichts anderes als der maßlose Wunsch,zeitliche Güter unrechtmäßig zu besitzen, und von ihm kommen alle

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Sünden gegen das 7. Gebot; so auch die Herzenshärte, die nichts an-deres ist als eine übergroße Sorge, den Besitz, den man hat, zu erhal-ten, selbst so weit, daß man kein Mitleid mit Elenden hat. Ebenso dieUnruhe, die die Sorge und die übertriebene Gier nach zeitlichenGütern in unserem Geist hervorruft. Daraus entstehen sehr oft Täu-schung, Betrügereien, Meineid, Gewalttaten und Verrat.

Über die Unkeuschheit. – Die Unkeuschheit ist nichts anderes alsdie zügellose Begierde nach der Fleischeslust. Nun ist das Verlangenungeordnet, weil man die Lust mit einer Person genießen will, die unsnicht gehört, wie es bei der Unzucht und beim Ehebruch geschieht,oder weil man sie genießen will gegen die von der Natur aufgestellteOrdnung; oder weil man sie genießen will gegen das Ziel und dieAbsicht, für die diese Lust bestimmt ist. Nun, von der Unkeuschheithängen alle Sünden gegen das 6. Gebot ab, die den Geist fahrig, düs-ter, leichtfertig, unbeständig, irdisch und roh machen.

Über den Zorn. – Der Zorn ist nichts anderes als das Verlangen nachRache und bringt alle Sünden hervor, die wir beim 5. Gebot ange-führt haben; sie führen zu folgenden Sünden: 1. die Empörung, diedarin besteht, den Nächsten als nichtswürdig zurückzuweisen. 2. dieAufgeblasenheit des Herzens, die nichts anderes ist als eine Ansamm-lung von Gedanken und Regungen, die das Herz zur Rache drängen.3. die Verrohung der Stimme und der Sprache. 4. Beleidigungen. 5.Schmähungen. 6. Zänkereien und Streitigkeiten.

Über die Unmäßigkeit. – Die Unmäßigkeit ist nichts anders als eineungeordnete Begierde zu trinken und zu essen. Die Unordnung be-steht nun entweder darin, Verlangen nach allzu erlesenen Speisenund Getränken zu haben, oder sie in zu großer Menge zu genießen,oder sie besonders seltsam zubereiten zu lassen, oder sich daran allzuköstlich zu ergötzen, oder sie außer der Zeit zu genießen.

Die Unmäßigkeit hat zwei Äste: die Gefräßigkeit, die sich auf dieSpeisen bezieht, und die Trunksucht, die Getränke betrifft. Sie ver-blödet den Verstand, führt zur Auflösung, verwirrt die Sprache, besu-delt den Leib und schändet das ganze Leben.

Über den Neid. – Der Neid ist nichts anderes als die Betrübnis, diewir über den Besitz des anderen empfinden, insofern er den unserenzu vermindern scheint, denn man kann über den Besitz eines anderenbetrübt sein, nicht nur ohne zu sündigen, sondern aus Liebe; so wennman betrübt ist, daß die Unwürdigen bevorzugt werden und die Fein-de des Staates Erfolg haben.

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Aus dem Neid entstehen Eifersucht, Konkurrenz, Haß, Murren, Her-absetzung, Freude über das Unglück des anderen und tausenderleiÜbel.

Über die Trägheit. – Die Trägheit ist nichts anderes als eine bestimmteTrübseligkeit, die man empfindet, das geistlich Gute zu wirken. Siekommt von einer großen Liebe zu zeitlichen Dingen und von zu gro-ßem Genuß an sinnlichen Dingen; es verdrießt uns, sie aufzugeben,um die Tugend zu üben. Sie kommt auch von der Scheu vor der An-strengung und Mühe, die es kostet, die guten Werke zu vollbringen.

Sie führt zur Mutlosigkeit, durch die man das Gute nicht zu unter-nehmen wagt, das uns vorgeschlagen wird; zur Betäubung des Geis-tes, durch die man gehindert wird, sich aufzuraffen, das Gute zu tun;zur böswilligen Verbitterung, durch die man die christliche Vollkom-menheit haßt; zu Groll und Abneigung gegen geistliche Personen,weil sie uns zum Guten auffordern; zur Unachtsamkeit auf gute Din-ge, zur Hoffnungslosigkeit, als ob es unmöglich wäre, die GeboteGottes zu beobachten und gerettet zu werden.

Sünden gegen die Gebote der Kirche.

Gegen das 1. Gebot der Kirche sündigt man, wenn man die Fasten-zeit nicht hält, die Freitage, Samstage, Vigilien und Quatembertage,was den Genuß verbotener Speisen betrifft, oder aber nicht fastet.Das versteht sich, wenn man nicht durch einen rechtmäßigen Um-stand verhindert ist.

Gegen das 2. Gebot sündigt man, wenn man an Sonn- und Feierta-gen nicht der ganzen Messe beiwohnt, außer man ist ebenfalls durcheinen rechtmäßigen Grund entschuldigt. Wenn man nun zwar nichtgenau der ganzen aber fast der ganzen Messe beigewohnt hat, gilt dasfür das Hören der ganzen Messe: so wenn einer während der Episteleintrifft und dem ganzen Rest der Messe beiwohnt, der hat dem Ge-bot entsprochen, weil die Kirche nicht die Absicht hat, strenger als sozu verpflichten.

Gegen das 3. Gebot sündigt man, wenn man es unterläßt, an Osternzu beichten, oder wenn man bei einem beichtet, der keine Vollmachthat.

Gegen das 4. Gebot sündigt man, wenn man zu Ostern die Kommu-nion nicht empfängt. Nun gilt als Kommunion zu Ostern, wenn man

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sie in den acht Tagen vor oder in den acht Tagen nach dem Osterfestempfängt.

Gegen das 5. Gebot sündigt man, wenn man den Zehnten und ande-re Verpflichtungen nicht entrichtet, die man der Kirche schuldet.

Zur Unterscheidung von Todsünde und läßlicher Sünde.

Das ganze Gesetz Gottes besteht aus diesen zwei Geboten: Du sollstGott über alles lieben und deinen Nächsten wie dich selbst (Mt 22,37-40; Mk 12,30f). Deshalb muß man alles als Todsünde betrachten, wasim Widerspruch zur Gottesliebe und zur Nächstenliebe steht, wennder Gegensatz vollständig ist; ist der Gegensatz nicht vollständig undvollendet, sondern unvollständig und unvollendet, dann ist es nur eineläßliche Sünde.

Nun wird der Gegensatz zur Gottesliebe und zur Nächstenliebe aufdreifache Weise als unvollständig betrachtet:

1. Von der Seite unseres Willens, wenn unsere Freiheit nicht voll-ständig ist und folglich unser Wille nicht mit voller Überlegung undmit dem vollen Gebrauch seiner freien Entscheidung handelt. So ge-schieht es manchmal, daß wir jemand ein Schimpfwort sagen durcheinen so plötzlichen Ausbruch des Zorns, daß wir es sagten, bevor wires überlegten. Denn obwohl die Beleidigung des Nächsten in der Re-gel eine Todsünde ist, ist sie in diesem Fall, weil der Willensakt sehrunvollkommen und unüberlegt war, dennoch nur eine läßliche Sün-de, denn der Widerspruch zur Gottesliebe war in diesem Willensaktkein voller und vollendeter Gegensatz, sondern ein Widerspruch, derdurch Überraschung und Unaufmerksamkeit entstanden ist und weilder Wille nicht ganz bei sich war.

2. Der Widerspruch zur Gottes- und Nächstenliebe ist manchmalunvollkommen, weil der Gegenstand, durch den er hervorgerufen wur-de, geringfügig war. So ist z. B. das Stehlen eine Todsünde, weil derDiebstahl ein Widerspruch zur Nächstenliebe ist; wenn aber das, wasman stiehlt, so geringfügig ist, daß der Schaden, der dem Nächstendadurch entsteht, äußerst gering und nicht nennenswert ist, dann istfolglich der Widerspruch dieser Handlung zur Nächstenliebe keinvollständiger Gegensatz, sondern eher ein Anfang des Gegensatzes.Wer also einen Apfel, eine Birne, einen Pfennig stiehlt, begeht nureine läßliche Sünde, weil er nur sehr wenig gegen den Nächsten fehltund folglich nicht vollständig gegen die Liebe verstößt, die ihm ge-

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bührt. Ebenso werden nicht als Todsünde betrachtet der leichte Zorn-ausbruch, der kleine Verdruß und irgendeine oberflächliche und un-vollkommene Liebkosung der Frau des Nächsten.

3. Der Widerspruch zur Gottes- und Nächstenliebe ist unvollkom-men wegen der Natur der Handlung selbst, die wir vollbringen, die ansich nicht vollkommen schlecht ist, sondern nur durch irgendeinenMangel in sich. Dieser Mangel bewirkt keinen Widerspruch zur Got-tes- und Nächstenliebe, sondern nur zur Vollkommenheit der Liebe.So z. B. eine Lüge im Scherz, oder um jemand zu entschuldigen: Dasist eine Handlung, die nicht im Widerspruch zur Gottes- und Nächs-tenliebe steht, oder wenn sie ihr widerspricht, dann durch einen sehrunvollkommenen Gegensatz, der eher die Vollkommenheit der Lie-be betrifft als die Liebe selbst. Denn obwohl der Nächste die kleinenLügen für die Wahrheit hält, fügt ihm das keinerlei Schaden zu.

Nun sage ich dennoch, daß die Vollkommenheit der Liebe beein-trächtigt wird, weil die Vollkommenheit der Liebe nicht nur verlangt,daß wir dem Nächsten nicht schaden, sondern auch, daß wir ihn inseinen berechtigten Erwartungen nicht enttäuschen und daß wir unsselbst nicht widersprechen. Nun wünscht naturgemäß jeder die Wahr-heit über die Dinge zu erfahren, die ihm vorgestellt werden, und wirwidersprechen uns selbst, wenn wir das Gegenteil unserer Gedankensagen. Ebenso ist es nicht lobenswert, länger zu spielen, als es zurErholung erforderlich ist, aber es ist an sich kein Widerspruch zurGottes- und Nächstenliebe, denn offenkundig liegt darin keine Bös-artigkeit, sondern es ist nur unnötig.

Mittel, um die Großen von der Fleischessünde abzubringen.

Die Großen begehen diese Sünde in der Regel nur durch Vermitt-lung irgendwelcher vertrauter Boten und Werber. Wenn sie es dahermit Vorbedacht unternehmen, sich von dieser Sünde zu bessern, müs-sen sie aus ihrem Gefolge Leute dieser Art entfernen, denn auf dieseWeise verlieren sie die leichte Möglichkeit, wieder ins Unglück zugeraten. Diese Entfernung kann nun unter vielen guten Vorwändengeschehen.

Soweit es die Umstände der Aufgaben zulassen, sollen sie außer-dem ihre Frauen bei sich haben; die Ehe ist ja nicht nur zur Zeugung

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von Kindern eingesetzt, sondern auch als Heilmittel gegen die Be-gierlichkeit.

Es ist immer sehr nützlich, eine bestimmte Art von Leuten, sei esAdelige oder andere, um sich zu haben, die sehr gottesfürchtig sind.Denn wie die Gegenwart von Bösen die Zustimmung zum Schlechtenerleichtert, so erleichtert auch die Gegenwart von Guten den Wider-stand dagegen. Das war einer der heiligen Kunstgriffe des glorreichenhl. Ludwig, der in seiner Nähe immer irgendeinen Mann von großerFrömmigkeit hatte; der Umgang mit ihm stärkte und tröstete ihn sehr.Wenn daher die Großen einen von diesen Leuten in ihrer Nähe haben,werden sie dadurch bewundernswert vom Bösen abgelenkt und gegendie Versuchungen gefestigt.

Wenn man sich mit Vorbedacht entschlossen hat, dieses Laster auf-zugeben, ist es gut, sich darüber den Leuten unserer engsten Umge-bung zu erklären, um uns durch unser eigenes Wort und die Erklä-rung im Zaum zu halten.

Es ist auch gut, beim Morgen- und Abendgebet einen besonderenEntschluß gegen diese Sünde zu fassen und diesen Entschluß Gottaufzuopfern, bald zu Ehren seiner Passion, bald zu Ehren seiner Ge-burt, bald zu Ehren seines Begräbnisses; manchmal zu Ehren derglorreichen Jungfrau Maria, seiner Mutter, dann wieder zu Ehrenunseres Schutzengels; und so abwechselnd zu Ehren der Heiligen, diewir besonders verehren, indem wir erklären, daß wir aus Liebe zuihnen an unserem Entschluß festhalten. Und wer zum Gebet zumgleichen Zweck irgendein Almosen hinzufügt, macht es noch besser.

Es ist auch gut, für den Fall, daß man rückfällig wird, sich einebestimmte Buße aufzuerlegen, selbst durch ein Gelübde; eine solchewäre, bestimmte Gebete kniend zu verrichten, zu fasten und ähnli-che. Vor allem aber ist das vorzüglichste Heilmittel gegen dieses Übel,oft zu beichten und zu kommunizieren. Nun, wenn es auch in diesenHeilmitteln einige Schwierigkeiten gibt, wird sich doch derjenigeleicht dazu entschließen, sie anzuwenden, der daran denkt, daß manentweder mit allen Mitteln diese Sünde aufgeben oder die GnadeGottes verlieren und ewig verloren sein muß.

Gebet vor der Beichte

Herr, gib, daß ich die Menge und die Größe meiner Sünden sehe,damit ich sie verabscheue und mich in die Größe meines Elends vertie-

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fe; aber laß mich auch die Grenzenlosigkeit deiner Güte sehen, damitich sie bekenne. Und wie ich vor dir und dem Himmel demütig be-kenne, daß ich schlecht bin, ja die Schlechtigkeit selbst, weil ich dichso oft beleidigt habe, will ich auch laut bekennen, wie du gütig bist, jadie Güte selbst, weil du mir so barmherzig verzeihst. Erhabene Güte,gewähre diesem elenden Sünder Vergebung, der in diesem sterbli-chen Leben seine Sünden bekennt und beichtet, in der Hoffnung, imewigen Leben deine Barmherzigkeit zu bekennen und zu preisen durchdie Verdienste des Todes und der Passion deines Sohnes, der mit dirund dem Heiligen Geist ein einziger Gott ist, der du lebst und re-gierst von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

Über das Kreuzzeichen56

Wenn du das Kreuzzeichen machst, sollst du dir vorstellen, daß duden gekreuzigten Jesus Christus ergreifst als einen Schild gegen alleFeinde, als Baum des Lebens, als Säule der Sicherheit.

Stell dir manchmal vor, dein Herz sei ein Garten, und wenn du dasKreuzzeichen machst, du pflanzest in ihm den kostbaren Baum desKreuzes ein; oder es sei eine Festung, auf der du diese Standarte auf-richtest; oder es sei wie ein fürstliches Gemach, das du mit diesemSchlüssel verschließest; oder es sei wie ein Brief, den du mit diesemSiegel verschließest, damit er nicht den Blicken der Feinde ausge-setzt werde, entsprechend dem Wunsch der Braut des Hoheliedes(8,6), die sagt: Setze mich wie ein Siegel auf dein Herz, oder wie eineStandarte. Und davon wirst du den Vorsatz ableiten, die Festung nurdem zu übergeben, dem diese Standarte gehört, und das Gemach nurdem zu öffnen, der den Schlüssel hat.

Methode des Rosenkranzgebetes57

Nachdem Sie Ihren Rosenkranz beim Kreuz genommen und es ge-küßt haben, werden Sie mit ihm das Kreuzzeichen über sich machenund sich in die Gegenwart Gottes versetzen, ihm Ihre Seele aufopfernmit allen ihren Fähigkeiten, vor allem Ihren Verstand und Willen,mit großem Verlangen, aufmerksam die Geheimnisse unseres Glau-bens zu betrachten und aus ihnen das heilige Verlangen zu gewinnen,

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die Tugenden nachzuahmen, die unser Erlöser uns gelehrt hat, undandere Akte der Gottesliebe zu machen, der Bewunderung seiner gren-zenlosen Vollkommenheiten, der Danksagung für seine Wohltaten,der Reue über Ihre Sünden, heiliger Vorsätze, sich zu bessern, IhreLeidenschaften zu überwinden, in der Tugend Fortschritte zu machen.Danach werden Sie Gott bitten, bei den Verdiensten des Lebens, desTodes und der Passion unseres Erlösers, auf die Fürsprache der glor-reichen Jungfrau und Ihres Schutzengels, Ihre schwachen Gebete an-zunehmen für jene Lebenden und Verstorbenen, für die Sie sich zubeten vorgenommen haben.

Darauf werden Sie mit großem Glauben das Credo beten, und umsich vorzubereiten, den Rosenkranz andächtig zu beten, werden Sieum den göttlichen Beistand bitten mit den Worten: Deus, in adjutori-um meum intende: Domine, ad adjuvandum me festina; und Sie wer-den hinzufügen: Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto,58 und dies,um mit großem Verlangen die heiligste Dreifaltigkeit zu verherrli-chen. Schließlich werden Sie den frommen Hymnus ‚Memento salu-tis auctor‘ hinzufügen mit dem Versikel ‚Dignare me laudare te, Vir-go sacrata‘.59

Nach dieser Vorbereitung werden Sie den Rosenkranz beginnenund bei den drei kleinen Perlen um die Fürsprache der glorreichenJungfrau bitten, damit Sie ihn gut beten und daraus irgendeine geist-liche Frucht gewinnen können. In dieser Absicht werden Sie bei derersten der drei kleinen Perlen Unsere liebe Frau grüßen als die teuer-ste Tochter des ewigen Vaters; bei der zweiten werden Sie sie grüßenals Mutter des vielgeliebten Sohnes Gottes, unseres Erlösers; und beider dritten werden Sie sie grüßen als vielgeliebte Braut des HeiligenGeistes.

Darauf werden Sie die Geheimnisse des Rosenkranzes zu meditie-ren beginnen, indem Sie entweder die freudenreichen oder dieschmerzhaften oder die glorreichen nehmen oder sogar irgendeinenanderen frommen Gegenstand, den Gott Ihnen eingeben wird, indemSie sich mit seiner Betrachtung befassen, während Sie die erste Deka-de beten. Und mir scheint es noch nützlicher zu sein, sich damit einwenig zu befassen, bevor Sie beginnen. Dann werden Sie das Vaterun-ser beten, mit dem alle unsere Gebete beginnen müssen, da es dasvorzüglichste ist, das wir verrichten können. Dann werden Sie diezehn Ave Maria beten und auf diese Weise fortfahren, die fünf Deka-den eines Teiles des Rosenkranzes zu beten.

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Am Schluß werden Sie die große Perle wieder aufnehmen, die sicham Anfang des Rosenkranzes befindet, und Gott danken für die Gna-de, die er Ihnen erwiesen hat, indem er Ihnen den Rosenkranz zubeten gewährte. Sie werden ihn um den Beistand seiner Gnade bitten,um die guten Vorsätze verwirklichen zu können, die er Ihnen geschenkthat. Und indem Sie zu den folgenden drei kleinen Perlen weiterge-hen, werden Sie die seligste Jungfrau grüßen und sie bei der erstenbitten, Ihren Verstand dem ewigen Vater aufzuopfern, damit Sie im-mer seine Erbarmungen erwägen können; bei der zweiten werden Siesie bitten, Ihr Gedächtnis dem Sohn aufzuopfern, damit Sie für im-mer die Erinnerung an seine Passion bewahren; bei der dritten wer-den Sie sie bitten, Ihren Willen dem Heiligen Geist darzubringen,damit Sie für immer von seiner heiligen Liebe entflammt sein kön-nen.

Bei der großen Perle schließlich, die sich ganz am Ende befindet,werden Sie einen geistlichen Blumenstrauß der Zusammenfassungmachen, alle guten Vorsätze und Entschlüsse erneuern, die Sie beider Meditation dieser fünf Geheimnisse gefaßt haben. Sie werden diegöttliche Majestät bitten, daß sie Ihre Gebete annehme und bestimmezu seiner Ehre und Verherrlichung, zum Wohl seiner Kirche, in de-ren Glauben und Einheit alle Verirrten zurückzuführen Sie seine Gütebitten werden, indem Sie, wie Sie begonnen haben, schließen mit demBekenntnis des Glaubens, indem Sie das Credo beten.

Machen Sie dann das Kreuzzeichen, küssen Sie das Kreuz und tra-gen Sie Ihren Rosenkranz am Gürtel als ein heiliges Kennzeichen,durch das Sie bekennen wollen, daß Sie ein dem Dienst des Erlösersganz hingegebener Diener sein wollen, indem Sie ganz andächtig dieWorte Davids (Ps 116,16) sprechen: Servus tuus sum ego, et filiusancillae tuae.60

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IV. Leichenrede für den Herzog de Mercour

Der Fürst Philipp Emmanuel von Lothringen, Herzog de Mercoeur, war nacheiner glanzvollen militärischen Laufbahn, zuletzt in den Türkenkriegen, am 19.Februar 1602 im Alter von 43 Jahren in Nürnberg an Scharlach gestorben. SeineWitwe lud Franz von Sales, der damals in diplomatischer Mission in Paris weil-te, ein, die Leichenrede für ihn zu halten; sie fand am 27. April 1602 in derKathedrale Notre Dame von Paris vor dem Hof und dem Adel statt. Auf Wunschder einzigen Tochter des Verstorbenen, der Prinzessin Franziska von Lothringen(vgl. Band 8,73), ließ er sie drucken und schickte ihr eine Widmung an diePrinzessin voraus. Die Annecy-Ausgabe veröffentlicht sie unter den Predigten:VII,400-435.

Diese Leichenrede findet, abgesehen vom historischen und biographischenInteresse, hier ihren Platz, weil Franz von Sales nach seinen eigenen Worten im‚Brief über die Predigt‘ (s. A/II) in ihr ein Bild des christlichen Lebens in derWelt gezeichnet und die Lebenstüchtigkeit eines aufrechten Christen darge-stellt hat, wie er es später in der ‚Philothea‘ anstrebte.

Widmung an die Prinzessin

Mademoiselle,ich hatte erwartet, die Leichenrede gedruckt zu sehen, die bei der

großartigen Leichenfeier in Lothringen mit solchem Glanz vorgetra-gen wurde, um das Begräbnis Ihres Herrn Vaters zu ehren, und hatteerwartet, auf diese Weise leichter entschuldigt zu werden, diese hiernicht drucken zu lassen. Diese Hoffnung ging aber nicht in Erfüllung,und da ich es nicht länger hinausschieben konnte, jener zu gehorchen,die die Macht hat, mir zu befehlen, hoffe ich wenigstens um so eherauf Nachsicht, daß ich diese so schlecht geschliffene Rede mit sovielen Fehlern veröffentliche, wenn man bedenkt, daß es aus demüti-gem Gehorsam geschieht. Sie wurde so freundlich aufgenommen, alsich sie vortrug vor so vielen großen Prinzen und Prinzessinnen, inGegenwart der ältesten Tochter der französischen Astrée, ich willsagen, des großen Orakels von Frankreich, des Parlaments von Paris,dem Hof der Pairs und dem ersten der Parlamente Frankreichs, dergeschlossen teilnahm, wie auch der übrigen Kammern und oberstenGerichtshöfe, damit Paris, nein ganz Frankreich erkenne, und damitman wisse, daß es anerkennt, was die ganz Christenheit seinem An-denken schuldet.

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Ich weiß wohl, daß mir dieses Glück zuteil wurde durch den Ge-genstand, den ich behandelte, zu dem ich nur aus Anhänglichkeit bei-tragen konnte. An ihr konnte es mir nicht mangeln, denn ich habe siegeerbt, weil mein Vater, mein Großvater und Urgroßvater die Ehrehatten, als Pagen und fast ihr ganzes Leben im Haus der erlauchtenFürsten von Martigues erzogen zu werden und gelebt zu haben, beimVater, Großvater und Urgroßvater Ihrer Frau Mutter; in deren Dienstbegegnete ihre Treue stets großer Gunst.

Wie ich daher diese Rede gehalten habe, um Ihrer Frau Mutter zugehorchen, so veröffentliche ich sie jetzt, um Ihrem Wunsch zu ent-sprechen, und bitte Sie: Bedienen Sie sich ihrer, um auf alle Gründezu antworten, die Ihr Verlust Ihnen gegen den Trost einflößen könn-te; denn in dieser Absicht wurde sie verfaßt. Sie werden in ihr sehen,daß das Leben Ihres Herrn Vaters eines der schönsten und vollendet-sten unter den Fürsten dieses Jahrhunderts war und vergleichbar demder hervorragendsten des Altertums. Die Rede wird Sie daran erin-nern, daß Sie die Tochter eines so großen Fürsten sind, seine einzigeTochter, seine liebe Tochter; sie fügt aber hinzu, daß Sie die Tochterseines Geistes und seines Glaubens mehr als seines Leibes sind, weiler Sie von Gott auf die Fürbitte des großen hl. Franziskus erhaltenhat, dessen Namen Sie auch tragen. Deshalb sind Sie auch mehr ver-pflichtet, sich über das Leben und den Ruhm seines Geistes zu freu-en, als den Tod seines Leibes zu betrauern. Sie werden auch sehen,selbst wenn ihn Gott uns noch länger gelassen hätte, Sie hätten sichtrotzdem kaum des Glücks seiner Gegenwart erfreut, denn er hatteeine so große Liebe, daß er seiner Gemahlin und seiner Tochter stetsdiese Befriedigung entzogen hätte, um nicht die Kirche, seine Mutterund die Braut Gottes, seines Beistands zu berauben.

Mit einem Wort, diese Rede führt Ihnen die schönen Taten IhresHerrn Vaters nur vor Augen, um Sie zu trösten. Preisen Sie daher dieGüte Gottes, ich bitte Sie, daß er Sie von einem so guten Vater ab-stammen ließ und Ihnen zu Ihrer Leitung eine so tugendhafte Groß-mutter und eine so große Mutter gelassen hat. Und ich will seinegöttliche Majestät bitten, Ihnen die Segnungen zu schenken, die Ih-nen Ihr Herr Vater gewünscht hat, damit Sie ihn droben im Himmelsehen, nachdem Sie den Lauf dieses Lebens glücklich vollendet ha-ben, in dem ich Sie untertänigst mir gewogen zu sein bitte, Mademoi-selle, Ihr sehr demütiger und sehr gehorsamer Diener

Franz von Sales.

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LeichenredeZum Heimgang des hohen und erlauchten Fürsten

Philipp Emmanuel von LothringenHerzog de Mercoeur und de Penthevre, Pair von Frankreich,

Prinz des heiligen Reiches und von Martigues, etc.Generalleutnant des Kaisers in seinen Armeen in Ungarn.

Verfaßt und vorgetragen in der Kathedrale Notre Dame von Parisam 27. April 1602 von Franz von Sales,

Koadjutor und erwählter Bischof von Genf.

Hätte Gott mir so viel Geist zum Reden gegeben und so viel Kraft,um gut zu sprechen, wie ich jetzt wünschte für den Dienst dieses öf-fentlichen Aktes, den wir feiern, um das Andenken des großen Phi-lipp Emmanuel von Lothringen zu ehren, des Herzogs de Mercoeur,Generalleutnant des Kaisers in seinen Armeen in Ungarn, ich könnteund müßte euch trotzdem nicht schildern, erlauchte und christlicheVersammlung, wie gerechtfertigt unsere Trauer über seinen Heim-gang ist. Ich könnte es nicht, weil der Verlust, den wir mit der ganzenKirche erleiden, so groß ist, daß er äußerst empfindlich und daher umso unbeschreiblicher ist; es ist auch sehr schwierig, genügend Glut zufinden, um eine so tiefe Trauer auszudrücken. Die kleinen Schmerzenschreien, beklagen sich und jammern; die großen aber erstaunen, be-täuben, verlieren und verwirren das Wort, die Stimme und die Rede.Ich müßte es auch nicht; denn wenn ich die Größe des Verlustes aus-drücken müßte, den die ganze Christenheit dadurch erleidet, würdeich über euer Gesicht, meine Herren, wie ein zweiter Timanthes61

den Schleier des Schweigens breiten, weil ich in dieser ganzen trau-ernden Gemeinde nur seine liebsten und treuesten Freunde sehe oderseine engsten und ergebendsten Diener. Und ich müßte mich gewißsehr schämen, wenn ich mich angesichts eines so beklagenswertenAnlasses als einziger sicher fühlte, anders als unter Tränen undSchluchzen sprechen zu können.

Daher habe ich es nicht nötig, euch zu bewegen, daß ihr diesenFürsten betrauert, weil ihr vor allem daran Anteil nehmt und feinfüh-liger für die Anhänglichkeit des Volkes den Verlust zu gut kennt, denwir erlitten haben. Es ist nicht nötig, scheint mir, euer Herz zu rüh-ren, weil es darüber den größten Schmerz empfindet. Ist es nicht vielbesser, aufzuhören, jene zu betrüben, die betrübt sind, und sich zu

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bemühen, eure Tränen abzuwischen, als sie hervorzurufen? Wenn ichvor mir und rings um mich das Feuer so vieler brennender Kerzensehe, gewöhnlich das Sinnbild der Unsterblichkeit, und wenn ich michweiß gekleidet finde, der Farbe und des Kennzeichens der Glorie,dann erkenne ich auch, daß es jetzt nicht meine Aufgabe ist (und ichbitte euch, meine Herren, das nicht von mir zu verlangen), euch dieGründe darzulegen, die wir hatten, zu trauern und zu klagen, sondernvielmehr die Gründe, die wir haben, unsere Klagen zu beenden undanzufangen, an das Glück zu denken, das der große Fürst durch sei-nen Heimgang genießt, damit der Grund, den wir haben, froh zu wer-den, die Heftigkeit unseres Schmerzes über diesen großen Verlustmildere und vermindere, obwohl ich weiß, daß man der Pietät etwaszugestehen muß, selbst gegen die Pflicht, und daß es im größten Leidein Teil des Schmerzes ist, Trostworte zu hören.

Erlaubt mir bitte, da ebenso die Tränen, die wir über unsere Freun-de vergießen, viel mehr uns zu ihnen führen, als sie uns wiederbrin-gen, und da die Tränen nach dem Tod späte Erweise der Freundschaftsind, erlaubt mir, sage ich, meine Herren, daß ich euren Geist lieberan den Trost erinnere, als ihn zu größerem Schmerz aufzufordern.Dabei werde ich jedoch nichts gegen die berechtigte Befürchtung desMangels an Rednergabe und Beredsamkeit unternehmen, die ich inmir fühle. Denn der Trost, den ich euch spenden kann, hängt vomgleichen Prinzip ab, aus dem die Ursache eures Schmerzes hervor-geht. Ist es nicht die hervorragende Güte, Größe und Tugend des ver-storbenen Fürsten, die unseren Verlust unvergleichlich macht? Undist es nicht die gleiche Güte, Größe und Tugend, was uns verpflichtet,den Trost anzunehmen?

Ob ich nun meine Augen auf sein Glück richte, um uns zu trösten,oder auf unser Unglück, um uns zu betrüben, ich kann den Abgrundseiner Tugenden nicht übersehen, deren Größe und Glanz für meineschwachen Augen unerträglich ist. Wenn man im übrigen nicht lieberdie Befehle der Großen in Demut annehmen müßte, als deren Beweg-gründe zu erforschen, könnte ich mich zu Recht darüber wundern,daß man mich gewählt hat, aus diesem Anlaß, vor dieser Versamm-lung und an diesem Ort zu sprechen. Aus diesem Anlaß, den ich fürebenso würdig einer großen Beredsamkeit halte wie keinen anderen,der sich in diesem Jahrhundert bieten mag; vor dieser Versammlung,die fast die ganze Blüte dieses Königreichs darstellt; und an diesemOrt, an dem sich unzählige große Geister bemüht haben, ihre ganze

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Kunst und Erfahrung der guten Rede zu zeigen und tausend schöneBlüten der Beredsamkeit über den Stoff eines so reichen Gegenstandszu entfalten.

Doch was weiß ich, ob ich vielleicht dem Grund dieser Wahl ent-sprochen habe? Die Farben der Beredsamkeit, die Blumen der Worte,der Glanz der Sentenzen ist womöglich nicht angebracht bei der Trau-er und Leichenfeier: „Non est conveniens luctibus iste color“ (Ovid).Feierliche Reden, geschliffene Ausführungen, wohlgesetzte Worte sindnach meiner Auffassung dabei nicht geeignet: Musik in der Trauer isteine unangebrachte Rede (Sir 22,6). Da dem so ist, bin ich voll Eifer,Einfalt und Treue, um den Bericht über die Tugenden des verstorbe-nen Fürsten zu unternehmen, den ich guten Mutes an seine Seele rich-te, d. h. an diesen Geist, von dem ich hoffe, nein glaube, daß er imHimmel ist, und an den, der – obwohl auf Erden – doch nur eine Seelemit ihm ist, wie sie durch die Ehe hier unten nur ein Leib waren.Wenn dieser Bericht spärlich ausgeschmückt ist, dann deswegen, umdem Fürsten, den er feiert, mehr Ehre und Hochachtung zu erweisen,wie manche Völker der Neuen Welt ihre Abgesandten in möglichstgeringer Equipage zu ihrem König schicken, um ihre Niedrigkeit undUnterwürfigkeit im Vergleich zur Ehre und Majestät ihres Königs umso mehr zu betonen.

Überdies erwarte ich von euch, meine Herren, so viel Wohlwollengegen mich, als ich Vertrauen auf eure Güte habe. Durch das Wenige,das ich zu sagen weiß über ein so schönes Leben, wie das des Fürstenwar, werdet ihr bald über seinen Tod getröstet sein. Freude am Lobder Guten haben, heißt an ihrem Ruhm teilhaben.

Wenn wir doch die Wahrheiten begreifen könnten, die wir durchden Glauben empfangen, wie leicht wären wir getröstet über den Todderjenigen, gegen die wir eine bestimmte Verpflichtung der Freund-schaft oder der Verehrung haben! Unter Vollkommenen künden wirWeisheit (1 Kor 2,6). Wir stellen uns vor, daß sie gestorben und totsind, und sie sind es nicht mehr; sie waren es nur im letzten Augen-blick dieses sterblichen Lebens. Solche Gedanken ziemen uns nicht,wenn wir nicht zu denen gehören wollen, denen der Weise den Namenvon Törichten gibt: In den Augen der Toren sind sie gestorben (Weish3,2). Wir gleichen denen, die auf dem See vom Ankerplatz das Uferentlang segeln: sie meinen, daß die Bäume sie verlassen und sich vonihnen entfernen, daß aber das Schiff, das sie trägt, ganz unbeweglichsei und die Stellung nicht ändere; wir meinen ja, die aus dieser Welt

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geschieden sind, seien immer im Tod und wir seien im Leben. Aberach, wie täuschen wir uns! Sie sind im Frieden (Weish 3,3) und in derRuhe des wahren und dauerhaften Lebens, und wir sind viel eher imTod, in den wir immer mehr versinken, bis wir ihn durchschrittenhaben.

Wir alle sterben, sagte eine weise Frau (2 Sam 14,14); sie hätte gutsagen können: Immer sterben wir, wie später der Apostel (1 Kor15,31) sagte: Jeden Tag sterbe ich. Wir sterben jeden Tag und unserLeben entflieht Stück für Stück, wie jenes Tier der Inder, das vonNatur ein Landtier ist, allmählich und Stück für Stück seine natürli-che Beschaffenheit verliert und vollständig zum Fisch wird; dennebenso verändern wir Stück für Stück dieses sterbliche Leben, bis wirdurch eine völlige und endgültige Verwandlung, die wir Tod nennen,vollständig ein unsterbliches Leben erworben haben.

Und gewiß, wie die Ratten des Nil sich allmählich bilden und dasLeben nicht in allen ihren Gliedern gleichzeitig empfangen, so stim-men auch die Philosophen darin überein, daß wir nicht auf einenSchlag leben und nicht in einem Augenblick sterben, denn sie sagen,das Herz ist das erste Organ in uns, das lebt, und das letzte, das stirbt.Aber ich bitte euch, sagte nicht Gott zum ersten Menschen, daß er desTodes sterben werde an dem Tag, an dem er von der verbotenen Fruchtißt (Gen 2,17)? Und trotzdem, wenn wir nach der allgemeinen Auf-fassung sprechen, ist er mehrere hundert Jahre nach der Übertretunggestorben; die Wahrheit ist dennoch, daß er zu sterben begann an demTag, als er sündigte, und es fortsetzte bis zu seinem letzten Tag.

Wie sehr täuschen wir uns doch, wenn wir jene Tote nennen, die ausdiesem sterblichen Leben geschieden sind, und Lebende jene, die nochin ihm wandeln! Wir nennen Lebende jene, die sterben, weil sie dasSterben noch nicht vollendet haben; und die das Sterben vollbrachthaben, nennen wir Tote. Wir machen es wie die Maler, die die Engelnur mit einem Leib darstellen können, weil man sie sonst nie sähe.Denn so nennen wir die Verstorbenen Tote, weil wir sie nie andersgesehen haben als im Tod dieses Lebens oder im Leben dieses Todes.Wenn wir sie aber jetzt sehen könnten, da sie davon befreit sind, meinGott, wie wären wir beschämt, daß wir sie als Tote bezeichnet haben,und wie wären wir verlegen, passende Worte zu finden, um die Vor-trefflichkeit des Lebens auszudrücken, in das sie gelangt sind! So nenntsie auch unsere französische Sprache nicht Tote, sondern Heimge-

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gangene (trépassés); damit drückt sie deutlich genug aus, daß der Todnur ein Übergang oder eine Überfahrt ist, jenseits dessen der Sitz derHerrlichkeit ist.

Der große Herzog de Mercoeur ist daher nicht tot; er ist lediglichheimgegangen. Wenn wir nicht so schwache Augen hätten, sähen wirihn recht weit jenseits des Todes im himmlischen Garten, wo er sichewiger Tröstungen erfreut. Er ist uns nicht so fern, wie wir denken; erist nach der gewöhnlichen Vorstellung der Menschen in einem Au-genblick hingegangen, denn nach ihrer Meinung dauert der Tod nichtlänger; aber nach Auffassung der Weisen hat er für diese Reise 43Jahre gebraucht.

Ach, wie kurz ist diese Zeitspanne! Die meisten von uns haben schonmehr Jahre darauf verwendet; die einen gehen nicht so schnell dahinwie die anderen, aber fast alle gehen stets schneller dahin, als siemöchten. Wir haben tausend Plagen und Mühen, um dahin zu gelan-gen, wo er ist; warum sollte es uns verdrießen, daß er dort angelangtist? Warum sollten wir den Heimgang dieses Fürsten so beweinen?Wäre er noch im Tal der Tränen, er würde mit viel größerem Rechtdie Verzögerung unseres Heimgangs beklagen, als wir die Beschleu-nigung des seinen beweint haben. Ich will euch nicht im Unklarenlassen über die Verstorbenen, damit ihr nicht trauert wie die anderen,die keine Hoffnung haben (1 Thess 4,12).

Dieser Trost, den ich euch anbiete, beruht aber auf der sicherenHoffnung, die wir haben, daß unser Heimgegangener in der rechtenHand seines Gottes aufgenommen wurde mit allen Gerechten. DieSeelen der Gerechten sind in der Hand Gottes (Weish 3,1). Daher bitteich euch, sehen wir, welchen Grund wir für eine solche Gewißheithaben. Die Astrologen und die Theologen haben das eine gemeinsam,daß sie zukünftige Dinge vorhersagen, diese immer mit der Wahrheit,jene sehr oft mit der Einbildung. Ihr Vorgehen und ihre Beobachtun-gen sind jedoch sehr verschieden und gegensätzlich; denn die Astro-logen sagen voraus, was sich auf Erden ereignen soll, auf Grund derBeobachtung von Begegnungen und verschiedenen Bewegungen, dieam Himmel geschehen; unsere Theologen dagegen sagen voraus, wasim Himmel geschieht, auf Grund der Erwägung der Werke, die manauf Erden tut. Wenn ihr auf Erden Barmherzigkeit übt, sagen sie,wird man euch im Himmel Barmherzigkeit erweisen; wenn ihr hierunten die Betrübten tröstet, werdet ihr droben getröstet sein; wennihr die Unwissenden in der Nacht dieser Welt belehrt, werdet ihr die

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Klarheit der Anschauung Gottes am hellen Mittag der anderen ha-ben; wenn ihr auf Erden für Gott streitet, werdet ihr im Himmelgekrönt. Mit einem Wort, nach der Höhe und Breite der Taten, die wirhier unten vollbringen, bemessen sie den Umfang und die Ausdeh-nung der Glorie, die wir auf jenem hohen himmlischen Berg besitzenwerden: Wie jeder in seinem leiblichen Leben gehandelt hat, ob gutoder schlecht (2 Kor 5,10).

Wenn wir daher wissen, wie die Taten der Seele dieses großen Fürs-ten beschaffen waren, solange sie in dieser Welt war und mit seinemLeib verbunden uns das Glück ihres Umgangs gewährte, werden wirdurch diese Beobachtung die Gewißheit dessen erlangen, was im Him-mel ist. Wenn uns das geringste Verlangen bleibt, nach diesem Sitzder Glorie zu streben, werden wir ein kostbares Vorbild und einenGegenstand der Nachahmung haben. Ich bitte euch jedoch, denkt nicht,ich wollte mich unterfangen, euch Blume für Blume und Stück fürStück den Glanz eines so schönen Lebens vorzuführen: Die Vollkom-menheit dieses Fürsten kann man eher bewundern als nachahmen,eher ersehnen als erhoffen, eher begehren als erwerben. Deshalb fürch-te ich, gegen sein Andenken zu verstoßen, wenn ich zu wenig darübersage, was man nicht genug loben kann. Wenn ich einige seiner Tugen-den aufzähle, dann wird es nicht geschehen, um der Sonne Licht zugeben, wie man sagt, noch weil ich voraussetze, sie würdig preisen zukönnen, sondern einzig, um alle Welt erkennen zu lassen, daß manmit vollem Recht mit so außerordentlichen Tränen um ihn trauert,sein Andenken so ehrt und eine so feste Hoffnung hat, daß er jetzt inder Herrlichkeit seines Gottes ist.

Daher will ich die Kosmographen nachahmen, die auf ihren Land-karten nur Punkte für die Städte einzeichnen und Linien für die Ge-birge, und der Einbildungskraft die Aufgabe überlassen, sich das üb-rige vorzustellen. Ich werde von den edlen Taten und schönen Eigen-schaften dieses großen Fürsten nur die nennen, die mir die Zeit zunennen erlauben wird, auf die meine Rede beschränkt sein muß. Vorallem aber bitte ich euch zu glauben, daß ich auf dieser Kanzel und indiesem Gewand stets mit großer Aufrichtigkeit und Gewissenhaftig-keit sprechen werde; und da die Wahrheit nackt und einfach ist, glaubteich außerdem ungerecht gegen meinen wahrhaftigen Bericht zu han-deln, wenn ich ihn durch Kunstgriffe entstellte.

O heiliger und himmlischer Geist, schöner Engel des Lichts unddes Friedens, die ihr diesem Fürsten als Beschützer seiner Seele bei-

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gesellt wurdet, die ihr treue Zeugen der guten Taten gewesen seid, dieGott ihm eingegeben hat und die ihr erbeten habt, ich bin euer demü-tiger und ergebener Diener. Gebt meinem schwachen Gedächtnis ein,was ihr der Ehre und der Nachahmung für wert erachtet.

Immer ist Gott es, der all unser Heil in uns wirkt; er ist dessengroßer Architekt. Er geht aber in seinen Gnadenerweisen auf ver-schiedene Weise vor; denn er gibt uns verschiedene Güter ohne uns,andere durch Vermittlung unserer Wünsche und Mühen und unseresWollens. Der Fürst Philipp Emmanuel, Herzog de Mercoeur, hat inreicher Fülle Güter der ersten Art empfangen, auf denen er ein groß-artiges Gebäude der Vollkommenheit jener der zweiten Art errichte-te. Denn was die erste Art betrifft, ließ Gott ihn von zwei der erlauch-testen, ältesten und katholischen Häuser abstammen, die es unter denFürsten Europas gibt. Es ist etwas Großes, die Frucht eines gutenBaums zu sein, Metall aus einem guten Bergwerk, der Bach aus einerguten Quelle.

In väterlicher Linie, die in der bürgerlichen Betrachtung den erstenPlatz einnimmt, stammte er vom Königshaus von Lothringen ab, des-sen Ursprung sehr alt ist und über dessen Anfänge sich die Geschichts-schreiber noch nicht einigen konnten, weil sie in unvordenklicherZeit liegen, so wie sich die Bewohner Ägyptens über den Ursprungdes Nils nicht schlüssig werden können. Aber alle sind sich darineinig, daß es eine üppige und fruchtbare Pflanzschule einer großenZahl von Kaisern und Königen und der adeligen Fürsten der ganzenChristenheit war und daß es keinen gab, dem nicht glücklich die Öl-bäume und Palmen seiner Größe und seiner Frömmigkeit einge-pflanzt worden wären.

Ich will nicht davon sprechen, was dieses Haus in Frankreich undin Deutschland gewirkt hat; das ist euch auch zu bekannt. Wenn wiraber nach Spanien gehen, werdet ihr dort Heinrich sehen, den Bruderdes Herzogs Wilhelm von Lothringen. Nachdem er unter König Al-phons von Kastilien treu und tapfer für die Religion gekämpft hattein dem Krieg, den er damals gegen die Mauren und Sarazenen führte,heiratete er zum Lohn dessen Tochter, die ihm als Mitgift die Provinzbrachte, die später zum Königreich unter dem Namen Portugal erho-ben wurde. Dort regierte das Geschlecht dieses ersten Heinrich sehrchristlich und edel bis zum letzten Heinrich, dem in unserer Zeitverstorbenen Kardinal.

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Gehen wir nach Italien, und wir werden dort das reiche und frucht-bare Königreich Sizilien sehen. Doch wer weiß nicht, daß die zweiHerzöge von Lothringen, Rene I. und René II., dessen Könige waren?Und gehen wir von da weiter über das Meer, und wir sehen das geseg-nete Palästina, wo unsere Erlösung gewirkt wurde. Hier betrachtenwir den dreifach großen Gottfried von Bouillon; er verließ sein Landund seine Güter, verkaufte sogar sein Herzogtum Bouillon, um dieUngläubigen aus dem Heiligen Land zu vertreiben. Er zog dorthinmit dem Eifer für die Religion, tapfer und erobernd, und wie einzweiter Josua begründete er unter Einsatz seines Lebens den Glau-ben an dem Ort, wo der Erlöser den seinen verbreitet hatte, um ihneinzupflanzen und das Heil der Menschen wirken zu lassen. Betrach-tet diesen bewundernswerten König von Jerusalem, der die goldeneKrone zurückweist in einem Königreich, wo sein Erlöser mit Dornengekrönt wurde. Das ist ein goldener König, mit Holz gekrönt, vielbesser als hölzerne Könige, die mit Gold gekrönt sind; er regiert wieein zweiter David auf dem Berg Zion (Ps 2,6), predigt und verkündetden Glauben seines Gottes. – Das ist die väterliche Abstammung desgroßen Herzogs de Mercoeur.

Doch welche Mutter könnte man finden für den Sohn solcher Vä-ter? Würdiges und schönes Zusammentreffen, damit seine Abstam-mung von allen Seiten glanzvoll sei. Das Haus von Sachsen, eines dermächtigsten und ältesten von ganz Deutschland, das dem Reich meh-rere große Kaiser, Kurfürsten, Verteidiger und Heerführer gestellthat, brachte vor mehreren Jahrhunderten den Prinzen Berard hervor,sehr tapfer und ganz katholisch, der das erlauchteste Haus Savoyenbegründete, das von Generation zu Generation bis jetzt so hochher-zig und standhaft in der Religion blieb. Aus ihm sind mehrere Amées,Louis, Humberts, Pierres, Philiberts und andere große Fürsten her-vorgegangen, darunter einer der Amés, der durch seine Kraft und Tap-ferkeit die Insel Rhodos von der Knechtschaft der Ungläubigen be-freite und für die Christenheit in den Händen der Ritter des hl. Jo-hannes von Jerusalem sicherte. Sie wünschten, daß die Nachkom-menschaft ihres Protektors künftig irgendein Zeichen ihrer Verpflich-tung gegen ihn erhalte, und überließen dem ganzen Haus Savoyen ihrKriegswappen, das aus Rot in einem silbernen Kreuz besteht. Dieseshat es liebevoll beibehalten, nicht so sehr als Andenken an die Bedeu-tung dieses Ahnen denn als ein geheiligtes Zeichen, das als bleiben-des Bekenntnis dienen kann, daß dieses Geschlecht ganz der Vertei-

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digung der Ehre des Kreuzes geweiht ist, wie es das getan hat in Mo-rea, auf Zypern und an mehreren anderen Orten, wo es nicht wenigeraus Frömmigkeit als um die Macht Krieg geführt hat.

Aus dieser klaren Quelle, die außer anderen gegenseitigen Allian-zen, die sie mit allen Potentaten der Welt, selbst mit dieser aller-christlichsten Krone einging, unlängst dem großen König Franz eineMutter gegeben hat; aus diesem erlauchten Haus, sage ich, ging einesehr tugendhafte Prinzessin Johanna von Savoyen hervor, die Tochterdes Herzogs Philipp und Schwester des Herzogs Jakob von Genf undNemours, zwei ebenso tapferen tugendhaften Fürsten, wie unser Jahr-hundert sonst keine hatte. Mit dem berühmten Fürsten Nikolaus vonLothringen, Genf und Vaudemont vermählt, hatte diese Prinzessinmit ihm mehrere Kinder, deren ältestes der Herzog de Mercoeur war.

Er wurde geboren im Marquisat von Nomeny, das sein Vater damalsbesaß und ihm später als Herrschaftstitel überlassen hat. Er wurdegeboren, sage ich, zum Ruhm der Waffen und zur Zierde der Kirche,der verstorbene Fürst, der würdige Sproß aus zwei so großen Ge-schlechtern, von denen er, wie er das Blut empfing, auch die Tugen-den erbte. Und wie zwei Bäche, die sich vereinigen, einen großen undansehnlichen Fluß bilden, so haben die zwei Häuser der väterlichenund mütterlichen Ahnen dieses Fürsten ihre schönen Eigenschaftenzusammen in seine Seele gesenkt und ihn vollendet in allen Gabender Natur gemacht. Daher konnte er wohl mit dem Weisen (Weish8,19) sagen: Ich war ein begabter Knabe und habe eine gute Seelegeerbt. Das war ein gutes Zusammentreffen für seine Tugend, daß siein einem so fähigen Menschen war; und es war ein großer Vorteil fürseine Begabung, mit solcher Tugend zusammenzutreffen.

Und aus dem lebhaften Wunsch, diese seine natürlichen Werte sei-ner Nachkommenschaft zu erhalten, wählte er zur Gattin Maria, dieeinzige Tochter des großen und beherzten Fürsten de Martigues, derim Dienst der Religion und des Königs zu Saint Jean d’Angeli dieFeinde der Kirche bekämpfend mit seinem Blut und seinem Tod denFortschritt eines sehr christlichen Lebens besiegelte, würdig des gro-ßen Hauses von Luxemburg, dem er angehörte, aus dem so viele großeund edelmütige Kaiser hervorgegangen sind.

Ich hätte mich wahrhaftig nicht dabei aufgehalten, euch den Ruhmseiner Vorfahren in Erinnerung zu rufen, der nach meiner Überzeu-

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gung der geringste Teil seines eigenen ist, wenn er nicht selbst großenWert darauf gelegt hätte, um sich zur Tugend anzuspornen. Denn alser den Entschluß faßte, nach Ungarn zu ziehen, führte er unter ande-ren Gründen den an, daß ihm seine väterlichen und mütterlichen Vor-fahren diese heilige Absicht als Erbe hinterlassen und ihn durch ihrBeispiel gleichsam an der Hand auf dieser heiligen Reise geführt ha-ben. Daher hielt ich es für geziemend, von seiner Abstammung zusprechen, obwohl manche meinen, der Adel sei etwas außerhalb vonuns, einzig unsere Taten gehörten uns. In Wahrheit dient er zu vielemund hat große Macht über unsere Entschlüsse, sogar über unsere Hand-lungen selbst, sei es aus Sympathie für die Neigungen, die wir oft vonunseren Vorfahren übernehmen, sei es wegen des Andenkens, das wirihren Heldentaten bewahren, sei es auch wegen der guten und sorgsa-men Erziehung, die wir von ihnen erhalten haben.

Der Herzog de Mercoeur erwog daher, daß der Unterschied zwi-schen Tugend und Adel derselbe ist wie zwischen Licht und Glanz,wobei das eine aus sich leuchtet, der andere abgeleitet. Er lobte Gott,daß er die Möglichkeit hatte, seine Taten vorbildlicher zu machen,und achtete sorgsam darauf, nichts zu tun, was den großen Glanz desEdelmutes verdunkeln oder vermindern könnte, den ihm seine Vor-fahren erworben hatten, und soviel er konnte, hat er ihn nicht nurbewahrt, sondern noch vermehrt.

Der hl. Paulus teilt die Pflicht eines Christen in drei Tugenden ein:die Nüchternheit, die wir Mäßigung nennen, die Gerechtigkeit unddie Frömmigkeit: auf daß wir nüchtern, gerecht und fromm leben,sagt er (Tit 2,12); die Mäßigkeit uns selbst gegenüber, die Gerechtig-keit gegen den Nächsten und die Frömmigkeit in dem, was den DienstGottes betrifft.

Was die Mäßigkeit betrifft, die nichts anderes ist als die Unterdrük-kung der Freuden und Genüsse dieser Welt, besaß sie dieser Fürst inhohem Grad. Ihm war auch nicht unbekannt, daß uns die sinnlichenGenüsse nur umfangen, um uns zu erwürgen, und daß deshalb unsereSeele unseren Leib nicht anders betrachten darf denn als Fesseln ih-rer Gefangenschaft. Er war daher lebenslang einer der Mäßigsten,indem er nur aus Notwendigkeit aß und fast nur Wasser trank. Er warnicht weniger mäßig in den anderen leiblichen Genüssen, deren Ge-brauch er auf die Gesetze einer keuschen Ehe beschränkte und aufdie Verpflichtung der Fürsten, auf Erden Nachkommen zu hinterlas-sen; eine seltene Tugend in einem so verderbten Jahrhundert und in

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einem so kraftvollen Alter, in einem so schönen und vollendeten Leibund bei den Gelegenheiten, die ihm der Hof und dessen weiblicheReize boten. Ich halte meinerseits dafür, daß es nicht schwieriger ist,daß sich ein Fluß ins Meer ergießt, ohne salzig zu werden, als am Hofzu leben, ohne dort verdorbene Sitten kennenzulernen und zu üben.Er hat trotzdem mitten im Tumult in Ruhe gelebt, inmitten von La-stern mit sehr großen Tugenden.

Dieser Fürst hat sich stets als genügsam erwiesen im Besitz derunermeßlichen Würden und Gunsterweise, mit denen der Himmelihn überhäufte, und hat sie nie mißbraucht; denn weder sein großesAnsehen noch die Tatsache, der Schwager des Königs zu sein, nochdie seltenen Gaben, die er besaß, oder die glücklichen Erfolge seinerWaffen und Unternehmungen ließen ihn je die Grenzen der Beschei-denheit übertreten, noch die Schicklichkeit einer bescheidenen Wür-de aufgeben, durch die er Kleinen und Großen gleicherweise leichtund freundlich Zugang gewährte. Er war genügsam in seiner Erho-lung und im Zeitvertreib, die er mit den Pflichten seines Amtes inEinklang brachte und ihnen anpaßte. Die übrigen nutzlosen Gesell-schaften schätzte er sehr gering.

Mit einem Wort, er berührte die Erde nur mit den Füßen, wie sichdie Perlmutter auf dem Grund des Meeres makellos und rein erhältund nie ihre Schale verläßt, außer um ihre Nahrung vom Tau desHimmels zu empfangen. Auf diese Weise verwendete er die Zeit, dieihm zu seinem Vergnügen blieb, zum Teil für das Gebet, zum Teilzum Lesen guter Bücher. Dadurch hatte er sich die Kenntnis von dreiWissenschaften erworben, die für die Vollkommenheit eines christli-chen Fürsten nicht nur schicklich, sondern fast notwendig sind. Erbesaß nämlich eine gediegene Kenntnis und Übung der Mathematik,die ihn der berühmte Bressius lehrte. Er hatte auch Übung in derBeredsamkeit und die Gabe, seine schönen Gedanken gut auszudrü-cken, nicht nur in unserer französischen Sprache, sondern sogar inDeutsch, Italienisch und Spanisch, die er weit mehr als nur mittelmä-ßig beherrschte; und trotzdem gebrauchte er seine schöne Sprachenie zu eitlen Dingen, oder besser gesagt, er wollte dieses schöne Ta-lent nicht mißbrauchen, das Gott ihm so freigebig zugeteilt hatte,sondern gebrauchte es, um zu nützlichen, lobenswerten und tugend-haften Dingen zu überreden. Und was ich am meisten schätze, er warsehr gut unterrichtet in dem Teil der Moraltheologie, der uns die Re-geln lehrt, das Gewissen recht zu bilden. Diese Beschäftigungen wa-

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ren seine kleinen Freuden. Kleine Freuden, wie groß seid ihr gewor-den, da ihr diesem Fürsten die Freude der Unsterblichkeit erworbenhabt!

Nun, was könnte man von solcher Mäßigung, die ihm naturgemäßwar, anderes erwarten als „einen beständigen Willen, niemand zu krän-ken und jedem zu geben, was ihm gebührt“? Das nennen wir Gerech-tigkeit. Wann wollte er je jemand schlecht behandeln oder beleidi-gen? Seine Bediensteten bezeugen, daß er die Güte und Geduld selbstwar. Wer seinen Bediensteten gegenüber gütig ist, der ist es noch vielmehr gegen andere. In der Tat gebrauchte er seinen Zorn nie, außerim Krieg, oder um den Respekt und die Ehre aufrechtzuerhalten, dieer nötig hatte, um die großen Dienste zu leisten, die die Christenheitvon ihm erwartete; darin ahmte er die Bienen nach, die den Honig fürdie Freunde bereiten und ihre Feinde sehr empfindlich stechen.

Er fürchtete nichts so sehr, als in seine Kasse etwas durch unge-bührliche Erpressung kommen zu sehen, unrecht erworbenes Geldoder Gold vom Heiligtum. Er entnahm ihr im Gegenteil viele an-sehnliche und schöne Almosen für die Armen und sehr freigebigeGeschenke für die anderen. Von seinem Reichtum nahm er nichts fürsich in Anspruch als die Macht, ihn zu verteilen, denn er wußte, daßder Glanz des Goldes und des Schwertes uns nicht blenden dürfen,eines so wenig wie das andere.

Was Ehre und Achtung betrifft, erwies er sie sorgsam jedem in demMaß, wie es ihm nach seiner Kenntnis zukam, und schadete darinkeinem im geringsten, weder durch Verleumdung noch durch Über-treibung. Mit einem Wort, er erwies der Kirche größte Hochachtung,dem König viel Ehre und Gehorsam, seiner Gemahlin große Treueund Freundschaft, den Fürsten einen offenen und angenehmen Um-gang, den Geringsten große Freundlichkeit und Güte, seiner Familiegroße Liebe mit bewundernswertem Frieden und in Gemütsruhe.

Was die Ehrerbietung gegen unseren gütigen Gott betrifft, das höchs-te Gut unserer Seele, so war er der Treffpunkt aller seiner Gedankenund der Mittelpunkt all seiner Vorstellungen. Diesem heiligen Altarder Religion hat er seine Seele geweiht, seinen Leib übergeben, seinganzes Vermögen gewidmet; er konnte wohl mit dem großen Königsagen: Gott, du hast mich von meiner Jugend an gelehrt (Ps 71,17).Vom Mutterleib an bin ich auf dich ausgerichtet (Ps 22,11). Denn wenn

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wir die Wünsche seiner Jugend betrachten, sind sie nichts als dieBlüten der Früchte, die er in seinem Mannesalter zeigte.

Der Ruhm, damals sehr christlich erzogen worden zu sein, gebührtihm nicht im besonderen, sondern ist ihm gemeinsam mit allen Prin-zen und Prinzessinnen, seinen Brüdern und Schwestern. Ein Beweisdafür sind die Jahre der Jungfräulichkeit, der Ehe und Witwenschaftder Luise von Lothringen, der sehr christlichen und sehr frommenKönigin von Frankreich und Polen seligen Angedenkens. Sie war einSpiegel der Frömmigkeit und ein Vorbild der Prinzessinnen unsererZeit. Ich habe gesehen, Paris, daß du ihre Gottesfurcht, Demut undLiebe einmütig bewundert hast. Ein Beweis ist auch der sehr tugend-hafte Kardinal de Vaudemont, dessen Leben nichts anderes war alseine Sammlung von Tugenden, die man in einem so großen Prälatenerwarten kann. Ihm könnte ich den Bischof von Verdun an die Seitestellen, wenn das Lob Lebender, so berechtigt es sein mag, nicht demVerdacht von Eigennutz oder Schmeichelei ausgesetzt wäre. Ein Be-weis ist auch der Graf von Chaligny, der den Frühling seiner schön-sten Jahre der Frömmigkeit weihte und bald darauf die Frucht einessehr heiligen Todes brachte nach der Rückkehr von vielen tapferenTaten, die er im heiligen Krieg in Ungarn unter der Führung und nachdem Beispiel dieses Bruders vollbrachte.

Doch der Ruhm, seine ersten Neigungen zur Tugend inmitten sovieler Begegnungen und Gelegenheiten so gut gepflegt zu haben, mußbei diesem Fürsten sehr beachtet werden. Denn wie wir gesehen ha-ben, konnten weder der Hof noch der Krieg, geschworene Feinde derFrömmigkeit, obwohl sie von den geheimen Lockungen der Jugendunterstützt wurden, durch die Schönheit und das angenehme Wesendieses vorzüglichen Fürsten, nie Gewalt über seine Seele gewinnen,die er inmitten so vieler Anstrengungen stets rein bewahrte. Es ist inder Tat bewundernswert, daß er keinen Tag vergehen ließ, ohne derheiligen Messe beizuwohnen, außer wenn ihn höchste Notwendigkeitdaran hinderte, ohne das Offizium Unserer lieben Frau und seinenRosenkranz zu beten, ohne am Abend und am Morgen seine Gewis-senserforschung zu halten und als großer Feldherr, der er war, derSchildwache seiner Seele Befehle zu geben, um sie vor der Überrum-pelung durch ihre Feinde zu bewahren.

Ich hätte ihn aber nach dieser Übung gern sehen wollen, wenn ersich die Unausweichlichkeit des Todes vor Augen hielt und mehr-mals die Erde küßte, als erwiese er ihr Ehre, die er dann unter den

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Umständen des Krieges herausforderte, mißachtete und mit Füßentrat. Diese täglichen Übungen dienten ihm als ständige Vorbereitungauf die Kommunion, aber er vergaß nicht, an hohen Festen eine voll-ständige Überprüfung aller seiner Handlungen vorzunehmen, um sichselbst zu prüfen (1 Kor 11,28), mit äußerster Strenge, mit dem Ziel,das allerheiligste Sakrament der Eucharistie würdiger zu empfangen.Zu ihm hatte er eine unbeschreibliche Verehrung und er glaubte desSieges im Krieg viel sicherer zu sein, wenn er mit den Feinden derKirche am Donnerstag zusammenstieß und kämpfte, dem Tag, denunsere Väter zur Verehrung Unserer lieben Frau bestimmt haben.

Ich übergehe die Beichte und Kommunion, die er hielt, wenn er inden Krieg zog, weil jene, die sich gemeinhin der Todesgefahr ausset-zen, verpflichtet sind, zu beichten und sich in gute Verfassung zu ver-setzen, wenn sie nicht wollen, daß auf den zeitlichen Tod der ewigefolgt. Außerdem wollte er, daß heilige Dinge, vor allem die Worte derHeiligen Schrift, mit Respekt und Ehrfurcht behandelt werden, under kränkte sich nie so sehr, als wenn er hörte, daß man die Worte, dieder Heilige Geist zu unserer Heiligung bestimmt hat, in profanerWeise gebrauchte. Ihm war es unerträglich, fluchen und den heiligenNamen Gottes lästern zu hören. Mit einem Wort, er konnte wohl mitjenem anderen Fürsten sagen: Und meine Seele wird für ihn leben (Ps22,31). Meine Seele hängt an dir (Ps 63,9).

Doch wohin gerate ich? Weiß ich denn nicht, in welche Gefahr desSchiffbruchs ich mich stürze, wenn ich mich solcher Lobeserhebun-gen erkühne? Ich laufe wohl noch größere Gefahr, wenn ich in die-sem grund- und uferlosen Meer der Tugenden und hochherzigen Tu-genden dieses Fürsten segle. Wenn ich sozusagen nach deinen endlo-sen Lobeserhebungen steuern wollte, großer Herzog, könnte ich wohldas französische Segel hissen und suchte vergeblich Land. Ich binauch so eifersüchtig auf deinen Ruhm bedacht, daß ich sehr betrübtwäre, wenn man im Lob deiner Verdienste ein Ende finden könnte.

Da ihr erwartet, daß ich fortfahre, meine Herren, und da es notwen-dig ist, will ich von seinen zeitlichen Gütern sagen, daß sie ganz demDienst der katholischen Religion gewidmet waren. Zeugen dafür sinddie Errichtung von Kirchen, Klöstern und Kapellen, von gegründetenund fundierten Diensten, teils zu Ehren des heiligen Sakramentes,teils zu Ehren der seligsten Jungfrau; sie vermehrte er so sehr, daß ernie in seiner Nähe eine Kirche oder Kapelle wußte, die dieser Schatz-meisterin der Gnaden geweiht war, ohne sie zu besuchen und ein

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großzügiges Almosen zu geben. Auf seine Kosten erbaute er die Klös-ter der Kapuziner und Minimi in Nantes als großer Verehrer des Hei-ligen Franz, durch die er viele auffallende Gnaden erlangte, nament-lich sein Fräulein Tochter, die ihm auf die Fürsprache des hl. Franzvon Assisi geschenkt wurde. Er hat sich die Bretagne sehr verpflichtetdadurch, daß er diese zwei Pflanzschulen der Heiligkeit und Fröm-migkeit errichtete. Während aber das vor aller Augen geschah, wieauch die öffentlichen Almosen, die die Großen als gutes Beispiel ge-ben, das sie den Geringeren schulden, hat er viele andere Almosen imGeheimen gegeben von dem Geld, das er durch seine geringen Vergnü-gungen ersparte. Mit der gleichen Frömmigkeit, alle seine Güter demDienst Gottes zu weihen, hat er bei seiner ersten Reise nach Ungarneine gute Zahl von Reitern auf seine Kosten unterhalten.

Daher sage ich: so jung er war, begleitet und begabt mit den genann-ten Tugenden, hat er stets ein großes Unterpfand seiner künftigenFrömmigkeit und Klugheit erkennen und feststellen lassen: der Klug-heit, die für einen Befehlshaber im Krieg so notwendig ist, wie jederweiß, zumal sie die Erinnerung an die Vergangenheit, die Beurteilungder Zukunft und die Anordnung der Gegenwart ist.

Was bleibt also diesem Fürsten, um es Gott zu weihen, als sein Leibund sein Leben? Das tat er durch den ständigen Wunsch, den er vonzarter Jugend an hatte, Krieg gegen die Ungläubigen zu führen. Gottverlieh ihm die Gnade, diesen Wunsch ruhmreich zu erfüllen, wieUngarn und die ganze Christenheit weiß und bezeugt. Sobald es ihmdas Alter erlaubte, ließ er indessen keine Gelegenheit ungenützt, sichden Waffen zu widmen, die er nicht ohne viel Ehre und Verdienstergriff, so beim Angriff gegen die Reiterei bei Dormans, in Brouage,in Lafêre und überall sonst, selbst bei der Belagerung von Issoire, woer als Kommandant einer der Batterien ein sehr sicheres Zeichenseiner künftigen Größe im Kriegshandwerk gab. Von da an, bis erneuen Lorbeer sogar in einem Winkel des Nordens suchte, befand ersich je nach den verschiedenen Gelegenheiten bei mehreren Belage-rungen, im Angriff und in der Verteidigung in verschiedenen Armeen,Kämpfen und Schlachten, wobei Gott ihn dermaßen begünstigte, daßer keinen Krieg führte, ohne daß ihm ein glücklicher Sieg folgte. Da-rüber hätte ich viel mehr von ihm zu berichten, als die mir gesetzteZeit, ja die Lebenszeit eines Menschen genügte, um es zu berichten.Ich kann jedoch nur grob das Idealbild eines hochherzigen christli-chen Fürsten entwerfen und planen, das der große Herzog de Mer-

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coeur in sich selbst ausgeprägt hat durch so viele Tugenden und tapfe-re Kriegstaten, die er vollbracht hat.

Und obwohl ich hier in allgemeinen Ausdrücken und in einemAtemzug sagen könnte, daß er in allen Lebensabschnitten alle Eigen-schaften gezeigt hat, die man sich in einem großen Fürsten wünschenkann, um ihn vollkommen zu machen, wird es für mich doch vorteil-hafter sein, deutlicher zu sprechen und euch nicht länger auf die Schil-derung jenes Teils warten zu lassen, der, so wie er der letzte seinesLebens war, auch der ruhmreichste für ihn, der schönste für sein An-denken und der nützlichste für die christliche Gemeinschaft gewesenist. In ihr werdet ihr wie in einem reichen Bildteppich so viele Kriegs-taten und Tugenden gewoben sehen, wie sie euer geistiges Auge nurwünschen kann.

Der Halbmond Mohammeds nahm in Ungarn so stark zu, daß esschien, als wollte er zum Vollmond werden, und unter seinem unheil-vollen Einfluß ließ er unsere Kräfte und fast auch unseren Mut schwin-den. Man sprach nur noch von den Fortschritten des türkischen Hee-res und von seinem Krummsäbel, als die wahre Sonne der Gerechtig-keit (Mal 4,2) diesen tapferen und hochherzigen Fürsten erweckte,der gern und freiwillig, ich sage: nicht nur in der Freude, sondernauch in der Frömmigkeit des Herzens sein Land verließ und sichanfangs Oktober 1599 wie ein zweiter Makkabäus zum christlichenHeer begab. Da er wußte, daß der Feind mit einem Heer von 150.000Mann heranrückte, um Gran, eine sehr wichtige Stadt, zu belagern,suchte er sie sofort auf und bestärkte sie durch seine Anwesenheit,durch sein Anerbieten, sich dort einzuschließen, und durch seinenBefehl zur Erhaltung der Festungswerke, die man aufzugeben im Be-griff war. Als die Feinde von seiner Ankunft und Entschlossenheiterfuhren, änderten sie ihren Plan und zogen geradewegs gegen unserHeer, an dessen Spitze sie alsbald diesen großen Fürsten fanden. Erhätte sie die Folgen seiner Gegenwart fühlen lassen, wenn er so vielMacht und Befehlsgewalt im christlichen Heer besessen hätte, wie erspäter hatte; das erkannte man durch die ungenützten Gelegenheiten,die man nach seiner Auffassung hätte ergreifen müssen.

Der Kaiser, der davon gut unterrichtet war, wünschte ihn zu sehen,so daß er ihn bat, auf der Rückreise den Weg über Prag zu nehmen, woer ihm einen großen Empfang bereitete. Als er aus dieser ersten Pro-be die außerordentliche Tüchtigkeit und Klugheit dieses Fürsten er-kannte, ernannte er ihn zu seinem Generalleutnant und sandte ihm

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das Ernennungsdekret bis in diese Stadt Paris, wo er sich nach derRückkehr von seiner ersten Reise aufhielt. Bevor er es annahm, legteer es dem König vor, gegen den er sich mit solchem Eifer zum Gehor-sam und Dienst verpflichtet hatte, daß er nichts als ehrenvoll erachtethätte, was nicht durch seinen Befehl autorisiert wurde. Da Seine Ma-jestät sehr christlich ist, erlaubte sie ihm, diese so schöne und desfranzösischen Namens so würdige Stellung anzunehmen.

Unser neuer General ging also zum zweitenmal nach Ungarn, nahmden Weg direkt nach Wien und von dort nach Raab, wo das christlicheHeer stand, das nur aus ungefähr 13.000 Mann bestand. Dort wurde erals Generalleutnant des Kaisers empfangen und anerkannt und durchErzherzog Matthias, den Bruder des Kaisers, in sein Amt eingeführt.Glücklicher Tag für Ungarn und für die ganze Christenheit!

Kaum war er angekommen, da sah er, daß Kanischa durch 120.000bis 140.000 Türken belagert wurde. Er ordnete sorgsam alles an, waser für seinen Plan als zweckmäßig erachtete, und erhielt vor allemvon den Fürsten und Herren des Landes das Versprechen der notwen-digen Verpflegung für den Unterhalt seiner Armee. Dann erhob ersein Haupt im Vertrauen, das er auf Gott hatte, und senkte es gegenden Feind und rückte gegen diese mächtige Armee vor. Beim erstenAngriff überrannte er einen Teil von ihr, die ihn mit starkem Ge-schützfeuer auf Straßen und Wegen empfing, in einem für den Feindsehr günstigen Gelände, in dem er sich sehr gut verschanzt hatte. DasSchlachtfeld, die Geschütze und die Fahnen fielen trotzdem den Un-seren in die Hände zum Willkomm dieses großen Generals. Der Tür-ke war erstaunt, sich von einer so geringen Zahl von Christen geschla-gen zu sehen, und hätte ohne Zweifel sogleich die Belagerung aufge-geben, wenn nicht die Nacht mit ihrer Dunkelheit das Vorrücken derArmee dieses großen Feldherrn verhindert hätte.

Am folgenden Tag wollte der Türke zurückerobern, was er verlorenhatte, vergrößerte aber nur seine Schande durch den Verlust von 7000weiteren Türken und eines Forts, in dem man weitere 13 Geschützefand, die dann gegen den Feind eingesetzt wurden, volle sieben Tagelang, in denen unser General das Schlachtfeld hielt, das er eroberthatte. Er hätte es länger gehalten, wenn nicht Mangel an Verpflegungaufgetreten wäre durch die Schuld der Herren des Landes, die ihrVersprechen nicht hielten. Das veranlaßte die Leute vom kaiserli-chen Rat und die ganze Armee, ihn zu drängen, ja durch ihre Auf-dringlichkeit zum Rückzug zu zwingen. Er wollte es dennoch nicht

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tun, wenn sie ihm nicht den schriftlichen Befehl gegeben hätten. Sokann man wohl sagen, wenn diejenigen, die dazu verpflichtet waren,diesem großen General mit Verpflegung zu Hilfe gekommen wären,wie er mit seinen Waffen der Stadt zu Hilfe kam, wäre sie ohne Zwei-fel erhalten geblieben: „Et nunc, Troja stares, Priamique arx alta ma-neres.“62 Die ganze Zeit, während unser Heer auf dem Schlachtfeldstand (das nicht weiter als die Reichweite eines Geschützes von derStadt und eines Gewehres vom Lager und der Verschanzung des Fein-des entfernt war), wurde ja kein einziger Angriff gegen die Stadt un-ternommen und kein Kanonenschuß gegen sie abgegeben.

Mein Gott, wie wohl tut es, diesen großen General beim Rest seinerArmee zu sehen, die ihre anderen Führer fast alle verloren hatte undauf 6000 oder 7000 Mann zusammengeschrumpft war, als der Hun-ger die anderen zum Rückzug zwang. Er hielt den Türken durch Schar-mützel hin, während sich die Armee sechs oder sieben Meilen zu-rückzog und eine Reihe schwieriger Übergänge vollständig bewältig-te. Bald zu Fuß, bald zu Pferd kämpfend war er einmal an der Spitzeder Vorhut, einmal am Schluß der Nachhut, erfüllte nicht nur dieAufgabe des Generals, sondern auch des Feldmeisters, des Generalsder Artillerie, des Feldwebels, des Obersten, mit einem Wort, aufseinen Schultern lag die Bürde und die Aufgabe dieses so gefahrvol-len und so bewundernswerten Rückzugs. Dabei geriet er mehrmals inein Handgemenge, wenn er den Seinen zu Hilfe kam, namentlich beieiner sehr bemerkenswerten Unterstützung seiner Nachhut, die ganzzerschlagen durch einen schrecklichen Angriff von 50.000 türkischenReitern zurückwich, obwohl diese tapfer bekämpft wurden durch denGrafen de Chaligny unter der glücklichen Führung seines Brudersund Generals, der ihm schließlich so glücklich zu Hilfe kam, daß dieTürken bekämpft und zurückgeschlagen als erste einen so schmach-vollen Rückzug machten, wie der unseres Heeres glorreich war, weiler mit einer Handvoll Leute erreicht wurde, die unser General retteteund glücklich vor dem Ansturm einer solchen Übermacht bewahrte,mit einigen erbeuteten Geschützen.

Als er nach dieser Heldentat im November nach Wien kam, hieltihn der Kaiser den ganzen Winter zurück und vereitelte seinen Plan,die Seinen in Paris zu besuchen. Er wollte mit seiner Hilfe die Ent-schlüsse fassen für das, was im kommenden Jahr zu unternehmen sei.Ungefähr im August führte der Fürst seine Armee ins Feld, die aus17.000 bis 18.000 Mann bestehen mochte, und zog gegen Komor.

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Bald darauf verbreitete er das Gerücht, er ziehe gegen Buda, um es zubelagern, und nach einigen gelungenen Kriegslisten setzte er sichschließlich vor der neuen Stadt fest und eine Geschützweite von Kö-niggrätz, der Hauptstadt des unteren Ungarn. Er besetzte alle Stra-ßen, verschanzte sich dort und stellte seine Batterien auf. Dann griffer sie von allen Seiten heftig an, setzte sich mit 50 leichten französi-schen Reitern selbst an die Spitze eines Infanterieregiments, so gün-stig und so tapfer, indem er zugleich die Aufgabe des Feldherrn unddes Soldaten erfüllte, daß die Feinde, nachdem sie lange Zeit gekämpfthatten, schließlich in dem Maß den Mut verloren, als ihn unser Gene-ral den Seinen gab, die ihn an ihrer Spitze sahen, den Feind angriffenund bis an das Tor der Altstadt zurückdrängten. Nachdem er selbstderen Mauern erkundet hatte, ließ er sie so lange beschießen, bis einebeachtliche Bresche geschlagen war, und befahl den Angriff, dem dieBelagerten tapfer standhielten, bis sich der Fürst mit seinen allseitsbewaffneten Edelleuten an die Spitze des Angriffs stellte. Er feuertedie Belagerer so sehr an, daß der Feind gezwungen war, die Brescheaufzugeben, und sich so bedrängt sah, daß eine große Menge Türkensich in die Gräben stürzte. Der andere Teil zog sich in die Häuserzurück, wo ihre Munition lagerte, an die sie aus Verzweiflung Feuerlegten, so daß viele der Unseren mit ihnen starben. Der kommandie-rende Pascha, der sich in der gleichen Absicht in den Palast zurück-zog, bat für sich und die Seinen um das Leben; es wurde ihm gewährtund er blieb Gefangener. Auf gleiche Weise erhielten viele Christen,die in der Stadt gefangen waren, die Freiheit durch diesen tapferenSieger. Nachdem er die Lage in dieser Stadt gesichert hatte, ließ erden deutschen Oberst Starhemberg in ihr zurück und entfernte sicheine oder zwei Meilen von ihr, um seine Armee aufzufrischen und diedes Feindes zu erwarten, der heranrückte, um ihn anzugreifen oderdie Stadt zurückzuerobern.

Dieser große Krieger, meine Herren, der ebenso den Beinamen Marswie Merkur verdient, unternahm also nicht, was leicht war, sondernmachte möglich, was er unternahm. Das sage ich wegen der Bedeu-tung und Größe von Königgrätz, wo früher die Könige von Ungarngekrönt und bestattet wurden. Die Stadt war so bedeutend, daß dergroße Soliman persönlich mit 200.000 Mann anrückte, um sie zu er-obern, und sie erst nach einer Belagerung von drei Monaten und durcheinen Vergleich in seine Gewalt bekam. Das war vor etwa 60 Jahren,und in dieser Zeit war sie derart befestigt worden, daß drei Belage-

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rungen durch christliche Heere lange Zeit nichts einbrachten als Ver-luste und Schaden, bis unser Verstorbener kam. Er gehörte zum Ge-schlecht derjenigen, von denen so oft das Heil in Israel kam, wie esvon den Makkabäern (1 Makk 5,62) heißt. Sein Degen, sein Mut undseine Klugheit führten dazu, daß er sich in weniger als zwölf Tagender Stadt bemächtigte. Gott hatte ihm diese Eroberung vorbehaltenund die Befreiung der Gebeine und der Gräber der früheren Königevon Ungarn, mit denen ihm die Abstammung vom großen Haus vonSachsen gemeinsam war.

Der Feind rückte also heran und ließ erkennen, daß er gegen König-grätz zog, um es zurückzuerobern, wie er Befehl hatte. Er meinte dasleicht zu können, zumal die Kriegsmunition und die Verpflegungdurch das Feuer verzehrt waren und ein großer Teil der Mauern durchdie Artillerie der Unseren wie durch die Minen der Seinen zerstörtwar. Doch unser General erkannte die Absicht und ließ seinerseitsseine Armee heranrücken. Mit ungefähr 120 französischen Reiternbegab er sich in die Stadt, für die zu sorgen er nicht unterlassen konn-te, um sie zu besuchen und zu bestärken. Doch er war kaum dort, dawurde er von 8000 Reitern angegriffen, denen das Gros von 120.000Mann folgte. Unser General konnte zwar mehrere Ausfälle machen,bei denen viele Türken gefangen wurden; inzwischen setzte sich aberdieses ungeheure Heer zwischen der Stadt und unserer Armee fest,die fast nur noch einem Körper ohne Seele glich, da sie der Gegen-wart ihres Generals beraubt war, der sie aber kaum in diesem Zu-stand ließ. Denn nachdem er die Dinge in der Stadt gut geordnet hat-te, verließ er sie im Schutz der Nacht und begab sich zu seiner teurenTruppe, von der er mit unsäglicher Freude empfangen wurde, nament-lich vom Erzherzog Matthias, der ebenfalls mutige und ausgezeich-nete Taten vollbrachte.

Es wäre mir wahrhaftig unmöglich, auch in Worten die Tüchtigkeitund die Klugheit zu schildern, mit der dieser Fürst die Gefechte mitder Armee der Feinde schlug, indem er jene entlastete, die sich manch-mal vergeblich einsetzten, die Orte und kleinen Forts zurückzuer-obern, die von den Türken besetzt wurden. So zeigte er in vollen 17Tagen, während denen die beiden Heere fast ständig im Kampf lagen,eine vollkommene Verbindung aller Eigenschaften, die für einen gro-ßen Feldherrn erforderlich sind, vor allem an drei großen Tagen, andenen er so glücklich kämpfte, daß er mehrere Geschütze eroberteund eines der glänzendsten Gemetzel unserer Zeit unter den Türken

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anrichtete. Dabei fanden unter anderen Anführern der Pascha Mech-met Kiaia von Buda und der Pascha von Caiai den Tod. Ihre Köpfewurden den Türken im Austausch gegen viele Christen geschickt. Nachdieser Großtat blieb unser Heer noch sechs Tage im Feld; und dergroße Herzog de Mercoeur, der ringsum keinen Feind mehr sah, kamnach Wien mit dem Verdienst von tausend Palmen und ebensovielenLorbeerkränzen. Dort wurde er mit der größten Freude empfangen,die man sich denken kann, mit Beifall und Segenswünschen und mitso viel Prunk, wie man im gleichen Fall für den Kaiser entfaltet hätte.

Doch nach dem Sieg über so viele Feinde wurde dieser große Fürstdoch nicht vom Stolz besiegt, der sehr oft siegreich über andere Sie-ger ist. Er wußte, daß die Frucht schöner und heiliger Taten darinbesteht, sie vollbracht zu haben, und daß außer der Tugend kein Preisihrer würdig ist. Deshalb wünschte er nichts anderes als die Verherr-lichung Gottes. Das zeigte er sehr deutlich in den Briefen, die er anseine Frau Gemahlin schrieb; denn er war so sehr bestrebt, den gan-zen Ruhm ob der glücklichen Erfolge seiner Waffen Gott zuzuschrei-ben, so daß er selbst anscheinend nur als ein Werkzeug dazu betrach-tet werden wollte: ein sicheres Zeichen echter, nicht gekünstelterDemut, weil er sie jener gegenüber übte, die sein zweites Ich war.

Das ist also einiges darüber, was dieser große General in Ungarnvollbracht hat; denn weder die Zeit noch meine Stimme und der Orterlauben mir, alles sagen zu wollen. Das wird die Aufgabe eines gro-ßen Meisters sein, der sehr ruhmvoll durch die glückliche Begegnungmit einem so reichen Stoff wie ein zweiter Maron am Anfang seinesWerkes wird sagen können: „Arma virumque cano.“63

Indessen bitte ich euch, stellt euch einen ausländischen Fürsten ineinem fernen Land vor, in einem Heer, das aus den verschiedenstenNationen zusammengesetzt ist, in dem der kleinste Teil Franzosenwaren. Bedenkt auch das Ansehen, das er gewonnen hat. Seht denErzherzog, einen Bruder des Kaisers, unter seiner Führung; denkt andie großen Waffentaten, die er in so kurzer Zeit vollbracht hat; erin-nert euch an die Stärke des Feindes, den er geschlagen hat, an dieUngleichheit seiner Streitkräfte gegenüber der ungeheuren Masse derTürken, und ihr werdet die unermeßlichen Verdienste dieses Fürstenbewundern, oder vielmehr das große Wunder, für das wir wohl alledem großen Gott der Heerscharen danken müssen, der seine Feinde

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durch die Arme dieses Fürsten schlagen wollte, der die gerechte Sa-che in die Hand nahm.

Überlegt, wie er mit 13.000 Mann 150.000 Türken angegriffen undbesiegt hat. So erneuerte er die Wundertaten der alten HeerführerJosua, Gideon, David, der Makkabäer, des Gottfried, des hl. Ludwig,Skanderbegs und des guten Grafen de Montfort. Dieser Fürst erneu-erte auch die christliche Art, in die Schlacht zu ziehen; denn er ließsich stets erst in den Kampf ein, nachdem er den Beistand dessenerbeten hatte, dessen Heere er führte, dem er stets heilige Gelöbnissemachte, die er nach dem Erfolg sehr fromm erfüllte. Er hatte in sei-nem Heer immer Kapuzinerpatres, die ein sehr großes Kreuz trugenund nicht nur die Soldaten anfeuerten, sondern auch nach der allge-meinen Beichte, die alle Katholiken als Zeichen ihrer Reue machten,ihnen den heiligen Segen gaben. Vor allem war es aber schön zu se-hen, wie dieser General seine Hauptleute zur Standhaftigkeit ermun-terte und ihnen vor Augen hielt, wenn sie sterben sollten, geschehe esmit dem Verdienst des Märtyrers; wie er mit jedem in seiner eigenenSprache redete: französisch, deutsch, italienisch. Was Wunder, wennsolche Heere große Erfolge haben? In der Tat sagt Wilhelm von Ty-rus, daß die Heldentaten Gottfrieds ganz ähnlich waren und aus einergleichartigen Führung hervorgingen.

Gott hat diesem Fürsten ein Herz voll Tapferkeit, einen unüber-windlichen Mut geschenkt. Aus Furcht, dieser Mut könnte durch dieRuhe erschlaffen, hielt er ihn seit seiner Kindheit bis ans Ende inÜbung durch ständige Anstrengungen und Gefahren, immerhin mitdem Erfolg, daß alle die waghalsigen Erschütterungen für ihn nureine Schule der Tugend und eine Gelegenheit zum Ruhm wurden.Angesichts des Fortschritts seines Lebens scheint es sicher, daß Gottihn ausdrücklich zu diesen Übungen angeregt und am Ende so ver-schiedene Nationen zu Zeugen berufen hat, damit sie das Schauspielhöchster Tapferkeit und größten Glücks erlebten.

Wie tüchtig sind doch die Franzosen, wenn sie Gott auf ihrer Seitehaben! Wie tapfer sind sie, wenn sie gottesfürchtig sind! Wie glück-lich sind sie, gegen die Ungläubigen zu kämpfen! „Leo qui omnibusinsultat animalibus, solos pertimet gallos“, sagen die Naturkundigen.64

Es ist etwas Großartiges, daß die Gegenwart dieses französischen Heer-führers den Zug der türkischen Heere aufzuhalten vermochte unddaß sich bei seinem Anblick ihr Halbmond verfinsterte. Ich freuemich mit dir, großes Frankreich, und unser Gott sei gepriesen, daß

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aus deinem Arsenal ein so tapferer Degen hervorging, daß das Reichauf der Suche nach einem Generalleutnant an den Hof dieses großenKönigs kam, dessen großer Ruhm darin liegt, der oberste Kriegsherreines Königreichs zu sein, aus dem Fürsten hervorgehen, die von derübrigen Welt als die größten geschätzt und betrachtet werden. Someinen auch viele, daß es einer deiner Könige sein wird, Frankreich,der dieser Sekte des großen Betrügers Mohammed den letzten Schlagversetzen und den Garaus machen wird.

Nachdem dieser große Fürst so viele Anstrengungen für den Glau-ben auf sich genommen und seinem Feind so großen Schaden zuge-fügt hatte, reiste er schließlich von Wien nach Prag, wo er vom KaiserUrlaub nahm, weil er nach Frankreich zurückzukehren und die teu-ren Unterpfänder zu besuchen wünschte, die er hier zurückgelassenhatte. Als er aber in Nürnberg war, wurde er von einem giftigen Fie-ber befallen, das rote Flecken hervorrief und ihn am dritten Tag er-kennen ließ, daß er seine Anstrengungen und Mühen beenden mußteund die Krankheit ihm als Barke dienen sollte, um die Überfahrt ausdieser Sterblichkeit zu machen. Weil aber das Leben wie ein Bild seinmuß, in dem alle Teile schön sein sollen, und weil der Schluß derwichtigste Teil des Werkes ist, laßt uns doch kurz sehen, welches Endeein so schönes Leben nahm.

Es ist wahrhaftig eine allzu unnatürliche Täuschung, absichtlichdiesen Übergang zu vergessen, weil die Natur keinen von seinerNotwendigkeit ausnimmt. Deshalb richtet der kluge Mensch jedenTag so ein, als wäre er der letzte seines Lebens, das nur eine ständigeBereitschaft sein soll, diesen Übergang zu erleichtern. Als ihn dergroße Fürst nahe bevorstehen sah, nachdem er ihn so oft erwartethatte, bereitete es ihm keine große Schwierigkeit, sich dazu zu ent-schließen und sich vollständig zu ergeben; denn da er nicht wußte, woihn diese Stunde erwartete, erwartete er sie überall. Und als er sienahe bevorstehen sah, sagte er: Wohlan, mein Gott und mein Schöp-fer sei ewig gepriesen auf Erden wie im Himmel. Durch seine großeBarmherzigkeit bin ich am Ende dieses sterblichen Lebens angelangt;seine Allgüte will nicht, daß ich noch länger in so vielen Trübsalenbleibe. Ich hatte ihm das Gelübde gemacht, sein heiliges Haus inLoreto aufzusuchen, um dort die Größe seiner Mutter zu verehren;weil es ihm so gefällt, ändere ich den Plan meiner Reise, um jene imHimmel zu verehren, die ich auf Erden verehren wollte. Und er sagtedarüber viele schöne und fromme Worte. Dann dachte er daran, daß

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er seiner Frau Gemahlin eine junge Prinzessin, seine einzige Tochter,hinterließ, voll natürlicher Güte und mit allen Merkmalen, die einehervorragende Tugend erwarten lassen können. Das tröstete ihn sehrund er war in seinem Herzen froh, daß er ihr dieses Unterpfand ihrerheiligen Ehe hinterließ und daß er umgekehrt seiner Tochter eineHerrin und Mutter hinterließ, unter deren milder und tugendhafterLeitung sie nur hoffen konnte, den Hafen zu erreichen, nach dem sieverlangte.

Nach diesen oder ähnlichen Erwägungen verlangte er, der heiligenMesse beiwohnen zu können. Weil es aber in Nürnberg überhauptkeinen katholischen Gottesdienst gab, verweigerte man ihm diesesletzte Glück, nach dem er sich mehr als nach allem anderen sehnte.Das tat man allerdings mit tausend Beteuerungen und Entschuldigun-gen, unter anderem damit, daß man dasselbe der Königin Elisabethverweigerte, als sie nach Frankreich kam. Um jedoch die Hochach-tung zu bezeugen, die ihm seine Verdienste bei allen erworben haben,die sich Christen nennen, erlaubte man seinem Beichtvater, das aller-heiligste Sakrament zu bringen; dies vor allem deswegen, weil er ent-schlossen war, sich aus der Stadt bringen zu lassen, um es zu empfan-gen, selbst wenn er dadurch seinen Tod beschleunigt hätte, so sehrverlangte er danach, mit dieser himmlischen und göttlichen Speisegestärkt zu werden. Der Beichtvater holte also dieses Unterpfandunserer Erlösung im nächstgelegenen Ort und brachte es dem kran-ken Fürsten, der es mit Andacht und unaussprechlichen Seufzern er-wartete. Kaum erblickte er es, da warf er sich zu Boden, körperlichganz matt und schwach, aber geistig fest und stark, mit den Worten:„Mehr vom Glauben als vom Leben.“ Er betete seinen Erlöser unterTränen an, mit andächtigen Worten und frommen Regungen; er botihm seine Seele dar und weihte ihm sein Herz, dann empfing er ihnmit aller Demut und mit der Glut, die ihm sein großer Glaube beidieser Gelegenheit seiner letzten Reise eingeben konnte. Und wieman sieht, daß die natürliche Bewegung am Ende immer stärker istals am Anfang, so bot auch seine Andacht und Frömmigkeit bei die-ser letzten Handlung alle Kraft seiner heiligen Regungen auf. Er leb-te noch bis zum dreizehnten Tag, an dem er seinen Geist aufgab undihn im Frieden seinem Gott zurückgab, unmittelbar nachdem er dieheiligen Worte ausgesprochen hatte: In deine Hände, Herr, empfehleich meinen Geist; du hast mich erlöst, Herr, Gott der Wahrheit (Ps31,6).

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Wenn ich sage, der Herzog de Mercoeur ist gestorben, dann sage ichauch, ein großer Herzog und ein großer Fürst; aber was mehr ist alsdas alles, was die Welt nicht erreichen kann, ich sage gleichzeitig, einGroßer vor Gott, groß an Glauben und Frömmigkeit, groß an Tugendund Rechtschaffenheit, groß an Güte und Milde, groß an Verdienstenund guten Werken, groß an Klugheit und Rat, groß an Ansehen undEhre vor Gott und vor den Menschen, groß auf jede Art und Weise.Der Herzog de Mercoeur, sage ich, eines der Bollwerke der Christen-heit, eine der Prachtstraßen der Kirche, einer der Beschützer des Glau-bens, ein Bannerträger des Gekreuzigten, ein Schrecken der Musel-manen und Mohammedaner, eine Stütze der Betrübten, ein Vorbildder Nächstenliebe, kurz der Segen seines Jahrhunderts. Tod, wie gro-ßer Dinge beraubst du uns! Wenn wir dem Wunsch der Seinen, ja allerguten Menschen glauben, hat dieser Fürst viel zu kurz gelebt; wennwir die Größe seiner Taten ermessen, hat er lange genug gelebt; wennwir das Elend der Zeit ermessen, hat er zu lange gelebt; wenn wir dasAndenken seiner schönen Taten bedenken, wird er ewig leben.

Glückliches Ende ob des Zusammentreffens aller genannten Tu-genden, die wie wahre Freunde alle zusammenkommen, um ihm die-sen letzten Dienst zu erweisen, wenn die Kräfte der Natur, alle Größeund alle Dinge ihn verlassen haben, die ihm bei Bedarf nicht fehlten.Und wie es bei einem großen Fluß geschieht, dessen Mündung eng ist,daß er sich mit um so größerem Ungestüm ins Meer ergießt, und beieinem Baum, der absterben will, daß er zum letzten mal mehr Fruchtals gewöhnlich trägt, so sind die Tugenden, die vorher, solange er inder Welt lebte, ihre Funktion getrennt erfüllten, hier miteinandervereinigt, um ihn mit dem hl. Paulus sagen zu lassen: Wenn ich schwachbin, bin ich mächtig (2 Kor 12,10), um vor ihm herzugehen, um alsFanal im Dunkel des Todes zu dienen. Sie bewirken, daß dieser Baum,in dessen Ästen so viele Vögel nisteten (Mt 13, 32), in dessen Schattensich so viele Tiere erquickten, wenn er nach Süden fällt, d. h. imStand der Gnade und der Ehre, da ewig bleibt (Koh 11,3). Glückli-cher Tausch, die Ewigkeit durch den Verlust so weniger Jahre zu ge-winnen!

Was denken Sie nun, meine Herren, über das Leben und Sterbendieses Fürsten? Verdient sein Leben nicht, durch unsterbliche Lobes-erhebungen gefeiert zu werden? Meint ihr, daß man über das Sterbendessen trauern muß, der so gut gelebt hat? Er hat den Tod bereitwillig

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angenommen, und ihr wollt über die Nachricht davon traurig sein?Nein, nein, wer immer euch sagt, er sei tot, der betrügt euch. Die sogut gelebt haben, sterben niemals. Laßt David über den Tod seinesAbschalom weinen, der verworfen gestorben ist; aber tröstet euchüber das Hinscheiden dieses Fürsten, der nicht tot ist, sondern vordem Tod gerettet. Denkt nicht mehr an sein Leben, um seinen Tod zubetrauern, sondern denkt lieber an seinen Tod, um sein Leben nach-zuahmen; wenn ihr ein bleibendes Bild von ihm vor Augen haben undein kurzes Merkwort behalten wollt, dann erinnert euch an seine De-vise: „Plus fidei quam vitae.“

Er hat in Wahrheit „mehr vom Glauben als vom Leben“; denn seinGlaube war stets Herr über sein Leben. Er lebte nur aus dem Glauben(Röm 1,17). Seine Seele war das Leben seines Leibes, sein Glaubedas Leben seiner Seele. Seht, wie er nur in dem Maß lebte, wie es seinGlaube ihm erlaubte: nüchtern, gerecht und fromm (Tit 2,12). Seht,daß er nur Krieg führte in dem Maß, wie es der Glaube ihm eingab,für die Religion und für die Kirche, auf Grund von Gelöbnissen undaus Gottesfurcht. Er hat uns aber diese heilige Devise hinterlassen,die er in dieser Welt so sehr schätzte, als er in die andere aufstieg;denn das Wort ist gut, um den Übergang zum Himmel zu haben, dennman kann es nicht sagen, wenn man dorthin gelangt ist. Erinnert eseuch nicht an den guten Elija? Der feurige Wagen hob ihn hinweg undführte ihn in den Himmel, aber er ließ seinen Mantel für seinen Schü-ler Elischa fallen (2 Kön 2,11-13). Wer in die himmlischen Wohnun-gen der Glückseligkeit eingetreten ist, kann den Mantel des Glaubensnicht mehr tragen, denn alles ist enthüllt (1 Kor 13,12): dort ist dieKlarheit so groß, daß man nicht glauben kann, weil man dort allesschaut. Statt daß dieser Fürst also, während er hier war, sagte: „Mehrvom Glauben als vom Leben“, singt er jetzt den Lobgesang: Allesvom Leben, nichts vom Glauben.

Das ist also die Devise dieses tapferen und hochherzigen Fürsten,die er uns hienieden hinterlassen hat. Ach, wer wird der beherzteElischa sein, der sie aufnimmt? Wer wird der tapfere Fürst sein, derin den Fußstapfen dieses großen Feldherrn mit „mehr vom Glaubenals vom Leben“ die Siege gegen die Feinde des Kreuzes fortsetzt, dieer so gut begonnen hat? Erlaubt mir, daß ich euch einen Gedankenvon mir vortrage. Wenn der Geist dieses Fürsten irgendwie Sorge füruns trägt, woran man nicht zweifeln kann, dann glaube ich, vor allemseines Wunsches wegen, daß ihm irgendeiner nachfolge, der wie er

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die Devise annehmen kann: „Mehr vom Glauben als vom Leben.“Denn welche Sorge könnte er im übrigen haben für das, was in derWelt ist? Für seine Frau Gemahlin? Wie denn? Weiß er denn nicht,daß sie, tugendhaft und fromm, wie sie ist, wohl Trost in Gott zufinden weiß? Für sein Fräulein Tochter? Wie denn? Weiß er nicht,daß sie eine Herrin und Mutter hat, die den Verlust des Vaters zuersetzen vermag? Für die Ehre seines Hauses? Aber er hinterläßt soviele große Prinzen, die sie recht zu erhalten, ja selbst zu vermehrenwissen, in der Gunst dieses großen Königs, der ihm so viel Anerken-nung für seine Verdienste zu seinen Lebzeiten erwiesen hat und ein soehrendes Andenken nach seinem Tod. Nein, glaubt mir, ich bitte euch,er hat keine größere Sorge als die, von der ich gesprochen habe.

Ich meine ihn zu sehen, wie er uns mit himmlischer Huld etwa mitden Worten überreden will: Wer wird an meiner Statt aufstehen gegendie Bösen? Wer wird sich mit mir gegen die Übeltäter stellen? (Ps 94,16)?Ich befinde mich jetzt in dem glückseligen Leben, wohin der Glaubenicht gelangt, wo es keine Hoffnung mehr gibt, denn die Klarheit hatden Glauben verdrängt, der Genuß die Hoffnung verbannt. Ich schaue,was ich geglaubt habe, ich besitze, was ich erhofft habe; aber die Lie-be begleitet mich. Sie läßt mich stets die Erhöhung der Kirche unddie Vernichtung ihrer Feinde wünschen. Ach, wird sich keiner fin-den, der es unternehmen will, für die Ehre meines Gottes zu kämp-fen, und der mit mutiger Seele in meine Fußstapfen treten will zurFortsetzung eines so heiligen Unternehmens?

Mir scheint auch, daß er mit Ihnen, Madame, seiner teuersten Wit-we, und mit euch, seinen Herren Verwandten spricht und die Wortesagt: Seht, wo ich bin, ich bitte euch. Ich bin an dem Ort, nach demich mich so sehr gesehnt, mit dem ich mich getröstet habe in denvergangenen Mühsalen, die mir die gegenwärtige Herrlichkeit erwor-ben haben; warum tröstet ihr euch nicht mit mir? Als ich bei euchwar, habt ihr euch bemüht, euch mit mir über alle meine Tröstungenzu freuen, selbst über hinfällige und trügerische; bin ich denn nichtimmer der gleiche? Warum betrübt ihr euch also über meinen Heim-gang, da er mir so viel Herrlichkeit gebracht hat? Nein, ich wünscheetwas anderes als Trauer; wenn ihr Tränen habt, dann spart sie, umeure Sünden zu beweinen und das Unglück eures Jahrhunderts.

Was mich betrifft, ich betrachte ihn als in diesem Zustand befind-lich; denn wenn ich mir auch vorstelle, daß dieser Fürst ein Sünderwar, wenigstens wie jene sind, die siebenmal am Tag fallen (Spr 24,6),

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und daß er nach dem strengen und gerechten Urteil Gottes vielleichtder Läuterung bedarf, wenn ich jedoch andererseits sein vorzüglichesLeben betrachte, dann sage ich: Ist es denn möglich, daß derjenigenoch des Genusses der vollen und triumphierenden Freiheit beraubtsein soll, dessen Gott sich bedient hat, um so viele Seelen aus derGefangenschaft der Ungläubigen zu befreien?

Wenn das unerforschliche Geheimnis Gottes dich trotzdem nochfür einige Zeit am Ort der Läuterung festhielte, du frommer und hoch-herziger Geist, sieh, wir schenken dir unsere Fürbitten und Gebete,unser Fasten und Nachtwachen und alles, was wir können, vor allemdie heiligen Opfer, damit sie dir zugewendet werden. Wir schenkendir alle unsere Gelöbnisse und Wünsche. Möge Gott dich in seineheiligen Wohnungen aufnehmen, du schöne Seele. Möge Gott dieGebete der ganzen Christenheit erhören, die ihre Wünsche mit denunseren vereinigt und in den Ruf für dich einstimmt: Gott schenkedem seinen Frieden, der so viel gekämpft hat, um den unseren zuverteidigen; Gott schenke sein Paradies dem, der die Häuser so vielerChristen erhalten hat; Gott schenke seinen himmlischen Tempel dem,der so viele Kirchen auf Erden beschützt hat; Gott nehme den in dieStadt des triumphierenden Jerusalem auf, der so viel für die streiten-de gekämpft hat. Und Gott schenke allen, die solche Gebete für dieSeele dieses großen Fürsten verrichten, die Gnade seines heiligenFriedens und seinen ewigen Trost. So sei es.

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V. Zur Spiritualität des Ordenslebens

Pflichten durch Profeß und Amt65

1. Sie haben zwei Eigenschaften, denn Sie sind Ordensfrau und Siesind Äbtissin. Sie müssen Gott in der einen und in der anderen die-nen, und darauf müssen alle Ihre Absichten, Übungen und Regungenausgerichtet sein.

2. Denken Sie daran, daß es nichts so Glückliches gibt wie einefromme Ordensfrau und nichts so Unglückliches wie eine Ordens-frau ohne Frömmigkeit.

3. Die Frömmigkeit ist nichts anderes als die Behendigkeit, derEifer, die Neigung und Bewegung, die man im Dienst Gottes hat. Esist ein Unterschied zwischen einem guten Menschen und einem from-men Menschen, denn ein guter Mensch ist, wer die Gebote Gotteshält, auch wenn es nicht mit großer Behendigkeit noch mit Eifer ge-schieht; doch fromm ist derjenige, der sie nicht nur beobachtet, son-dern sie gern, behende und mit großem Mut befolgt.

4. Die wahre Ordensfrau muß fromm sein und bestrebt, große Be-hendigkeit und Eifer zu haben. Um das zu erreichen, muß man vorallem darauf achten, daß das Gewissen nicht mit irgendeiner Sündebelastet ist, denn die Sünde ist eine so schwere Last, daß einer, der sieträgt, nicht bergsteigen kann. Deshalb muß man oft beichten und darfdie Sünde niemals in unserer Brust schlafen lassen. Zweitens mußman alles ablegen, was ‚die Füße‘ unserer Seele behindern kann, dassind ‚die Neigungen‘, die man von allen Gegenständen zurückziehenund wegnehmen muß, nicht nur von schlechten, sondern auch vonsolchen, die nicht ganz gut sind; denn ein gefesseltes oder falsch be-schlagenes Pferd kann nicht laufen.

5. Außerdem muß man Unseren Herrn um diese Behendigkeit bit-ten, und deshalb muß man sich im Gebet und in der Betrachtung übenund darf keinen Tag vergehen lassen, ohne es eine kleine Stunde langzu tun.

Und was das Gebet betrifft, weise ich Sie darauf hin, daß Sie 1.niemals unterlassen dürfen, das tägliche Offizium zu verrichten, dasvon der Kirche vorgeschrieben ist; eher müßte man alle anderen Ge-bete auslassen. 2. Nach dem Offizium muß man die Betrachtung allen

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anderen Gebeten vorziehen, denn sie wird für Sie nützlicher und Gottwohlgefälliger sein. 3. Machen Sie Stoßgebete; sie sind Seufzer derLiebe, die man zu Gott schickt, um seine Hilfe und seinen Beistandzu erlangen. Dabei wird Ihnen sehr helfen, wenn Sie in Ihrer Vorstel-lung den Punkt der Betrachtung festhalten, der Ihnen am meistenzugesagt hat, um ihn während des Tages wiederzukauen, wie man esmit Tabletten für den Körper macht. Dazu kann Ihnen auch ein Kreuzoder ein frommes Bild dienen, das Sie am Hals tragen, oder der Ro-senkranz, den Sie zur Hand haben und oft küssen zur Ehre dessen,den er darstellt. Und wenn die Uhr schlägt, ein kleines Wort des Her-zens oder mit dem Mund zu sprechen, etwa: Es lebe Jesus! Oder auch:Das ist die Stunde, sich zum Guten zu ermuntern; meine Stunde naht,und ähnliche. 4. Wenn es möglich ist, lassen Sie keinen Tag vergehen,ohne ein wenig in einem geistlichen Buch zu lesen, selbst vor derBetrachtung, um den geistlichen Appetit in sich zu wecken.

Gewöhnen Sie sich daran, sich vor der Nachtruhe in die GegenwartGottes zu versetzen und ihm dafür zu danken, daß er Sie bewahrt hat,und die Gewissenserforschung zu machen, wie es Sie die geistlichenBücher lehren werden. Machen Sie dasselbe am Morgen und bereitenSie sich darauf vor, Gott während des Tages zu dienen, opfern Sie sichseiner Liebe auf und bringen Sie ihm die Ihre dar. Ich bin der An-sicht, daß Ihre Betrachtung am Morgen geschieht und daß Sie amVorabend bei Granada, Bellintani oder einem ähnlichen Autor denPunkt lesen, den Sie betrachten wollen.

6. Um die heilige Bereitschaft zu gutem Handeln zu erwerben, las-sen Sie keinen Tag vergehen, ohne eine bestimmte Handlung in dieserAbsicht zu verrichten; denn die Übung dient wunderbar dazu, sichleicht zu jeder Art von Werken auf den Weg zu machen.

7. Versäumen Sie nicht, jeden ersten Sonntag des Monats zu kom-munizieren, abgesehen von den großen Festen. Beichten Sie am Vor-abend und erwecken Sie in sich eine heilige Ehrfurcht und geistlicheFreude, daß Sie so glücklich sein dürfen, Ihren gütigen Erlöser zuempfangen. Dann fassen Sie von neuem den Entschluß, ihm eifrig zudienen; wenn man ihn empfangen hat, muß man ihn bekräftigen, zwarnicht durch ein Gelübde, aber durch einen guten und festen Vorsatz.Verhalten Sie sich am Tag Ihrer Kommunion, so fromm Sie können,indem Sie nach dem seufzen, der in Ihnen sein wird, und blicken Sieihn ständig mit dem inneren Auge an, der in Ihrem eigenen Herzen

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ruht oder wie auf einem Thron sitzt. Führen Sie ihm Ihre Fähigkeitenund Sinne nacheinander vor, um seine Befehle zu hören und ihm Treuezu versprechen. Das soll nach der Kommunion in einer kleinen Be-trachtung von einer halben Stunde geschehen.

8. Hüten Sie sich davor, sich gegen Ihre Umgebung melancholischoder verdrießlich zu verhalten, aus Furcht, man könnte das der Fröm-migkeit zuschreiben und sie verachten. Verschaffen Sie ihnen im Ge-genteil Trost und Befriedigung, damit sie das veranlaßt, die Fröm-migkeit zu ehren und hochzuschätzen und nach ihr zu verlangen.

Schaffen Sie in sich den Geist der Milde, Freude und Demut, dieder Frömmigkeit am meisten eigenen Tugenden; ebenso die Gemüts-ruhe, ohne sich über dies und jenes zu ereifern, sondern gehen Sie denWeg Ihrer Frömmigkeit mit vollem Vertrauen auf die Barmherzig-keit Gottes, der Sie an der Hand ins himmlische Land führen wird;und hüten Sie sich folglich vor Verdruß und Streitigkeiten.

Was Ihre Eigenschaft als Äbtissin, d. h. als Mutter des Klostersbetrifft, diese verpflichtet Sie, allen Ihren Ordensfrauen das Gute fürdie Vollkommenheit ihrer Seele zu verschaffen und folglich ihre Sit-ten und das ganze Haus zu reformieren.

Die Methode, das zu erreichen, muß bei diesem Anfang mild, freund-lich und erfreulich sein, ohne mit Rügen für Dinge zu beginnen, diebis jetzt geduldet wurden. Vielmehr müssen Sie ihnen, ohne ihnen einWort zu sagen, selbst das genaue Gegenteil zeigen in Ihrem Lebenund Umgang, indem Sie sich vor ihren Augen mit heiligen Übungenbefassen. Solche wären etwa, manchmal in der Kirche Gebete zu ver-richten oder selbst die Betrachtung, den Rosenkranz zu beten, eingeistliches Buch lesen zu lassen, während Sie Ihre Nadelarbeit ma-chen, sie freundlicher und bescheidener als je zu behandeln. Schlie-ßen Sie besondere Freundschaft mit jenen, die sich der Frömmigkeitanschließen, unterlassen Sie jedoch nicht, die anderen recht freund-lich zu behandeln, um sie für den gleichen Weg zu gewinnen undanzuziehen.

Fassen Sie sich bei weltlichen Gesprächen kurz und lassen Sie sowenig wie möglich zu, daß sie in Ihrem Privatzimmer stattfinden, umallmählich zu erreichen, daß der Schlafraum der Damen davon voll-ständig ausgenommen ist; denn das wäre sehr notwendig, und Ihr Bei-spiel ist eine große Hilfe dazu.

Sorgen Sie dafür, daß bei Tisch ein schönes geistliches Buch gele-sen wird, wie Granada ‚Die Eitelkeit der Welt‘, Gerson, Bellintani

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und ähnliche; machen Sie es zur Gewohnheit, daß es jeden Tag ge-schieht.

Beim Chorgebet soll Ihre fromme Haltung allen Ordensfrauen alsGesetz der Bescheidenheit und Ehrfurcht dienen. Das können Sieleicht tun, wenn Sie sich am Beginn des Chorgebets jedesmal in dieGegenwart Gottes versetzen. Ich schätze, daß die Einführung des Bre-viers des Konzils von Trient eine nützliche und vortreffliche Sachesein wird.

Seien Sie am Anfang nicht zu streng; seien Sie vielmehr freundlichzu allen, ausgenommen gegen weltliche Personen, mit denen man kurzund zurückhaltend sein muß.

Es wird gut sein, wenn Sie eine Ihrer Ordensfrauen einsetzen, umIhnen bei der Führung der zeitlichen Dinge zu helfen, damit Sie umso mehr Möglichkeit haben, sich dem Geistlichen und den Liebes-diensten zu widmen.

Schließlich, übereilen Sie sich nicht bei diesem Beginn, sondernmachen Sie alles, was Sie tun, so freundlich und mit solcher Güte,daß alle Ihre Töchter Anlaß haben, die Frömmigkeit zu ergreifen.Ganz allmählich und wenn Sie sehen, daß sie sich in ihr eingeschiffthaben, wird man gründlicher an der Wiederherstellung der Vollkom-menheit und der Regel arbeiten müssen. Das wird der größte Dienstsein, den Sie Unserem Herrn leisten können; aber das alles muß sichnicht so sehr aus Ihrer Autorität als aus Ihrem Beispiel und Ihrermilden Führung ergeben.

Gott ruft Sie zu all diesen heiligen Aufgaben; hören Sie auf ihn undgehorchen Sie ihm. Glauben Sie nie, Sie hätten zu viel Mühe undGeduld in der Sorge für ein so großes Gut angewendet. Wie glücklichwerden Sie sein, wenn Sie am Ende Ihrer Tage wie Unser Herr (Joh17,4) sagen können: Ich habe das Werk vollbracht und vollendet, dasdu in meine Hand gelegt hast. Wünschen Sie es, sorgen Sie dafür,denken Sie daran, beten Sie dafür; und Gott, der Ihnen den Willengegeben hat, es zu wünschen, wird Ihnen die Kraft geben, es gut zumachen.

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Meditation zur Standeswahl66

Wie gut ist Gott für sein Israel! Wie gut ist er zu denen, die geradenHerzens sind (Ps 73,1)!

Erwägen Sie erstens, daß Unser Herr seine Geschöpfe zu allen Ar-ten von Diensten und zum Gehorsam gegen ihn verpflichten konnte,daß er es dennoch nicht tun wollte, sondern sich damit begnügte, unszur Beobachtung seiner Gebote zu verpflichten. Wenn es ihm alsogefallen hätte, anzuordnen, daß wir unser ganzes Leben fasten, daßwir das ganze Leben als Einsiedler, als Kartäuser, als Kapuziner ver-bringen, so wäre das noch nichts im Vergleich mit der großen Ver-pflichtung, die wir ihm gegenüber haben; und trotzdem hat er sichdamit begnügt, daß wir einfach seine Gebote halten.

Erwägen Sie zweitens: Obwohl er uns zu keinem größeren Dienstverpflichtet hat als zu dem, den wir ihm leisten, indem wir seine Ge-bote halten, so hat er uns doch eingeladen und geraten, ein vollkom-menes Leben zu führen und den vollkommenen Verzicht auf die Ei-telkeiten und Gelüste der Welt zu leisten.

Erwägen Sie drittens: Ob wir nun die Räte Unseres Herrn ergreifenund uns einem strengeren Leben unterziehen oder ob wir im gewöhn-lichen Leben und in der bloßen Beobachtung der Gebote bleiben, wirwerden in beiden Fällen Schwierigkeiten haben: denn wenn wir unsvon der Welt zurückziehen, werden wir Mühe haben, unsere Begier-den stets im Zaum und unterworfen zu halten, uns selbst zu verleug-nen, auf unseren eigenen Willen zu verzichten und in vollständigerUnterwerfung unter die Gesetze des Gehorsams, der Keuschheit undder Armut zu leben. Wenn wir auf dem gewöhnlichen Weg bleiben,werden wir ständig Mühe haben, gegen die Welt zu kämpfen, die unsumgeben wird, um den häufigen Gelegenheiten zur Sünde zu wider-stehen, die uns begegnen werden, und unsere Barke inmitten so vielerStürme zu retten.

Erwägen Sie viertens: Wenn wir in der einen oder in der anderenLebensweise Unserem Herrn gut dienen, werden wir tausend Trö-stungen haben. Fern der Welt wiegt allein die Befriedigung, alles fürGott aufgegeben zu haben, mehr als tausend Welten. Das Glück, durchden Gehorsam geführt zu werden, durch die Gesetze behütet und vorden größten Fallstricken gesichert zu sein, sind jene Köstlichkeiten,ganz abgesehen vom Frieden und der Ruhe, die man dort findet, vonder Freude, Tag und Nacht mit dem Gebet und göttlichen Dingen

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beschäftigt zu sein, und tausend ähnlichen Freuden. Und was das ge-wöhnliche Leben betrifft, die Freiheit, die Vielfalt des Dienstes, denman Unserem Herrn leisten kann, die Ungezwungenheit, daß mannur die Gebote Gottes zu befolgen hat, und tausend ähnliche Überle-gungen machen es recht köstlich.

Nach all dem werden Sie zu Gott sagen: Ach Herr, in welchemStand soll ich dir dienen? Meine Seele, du wirst Gott da treu sein,wohin er dich ruft: aber was dünkt dir, auf welcher Seite du es bessermachen wirst? Prüfen Sie Ihren Geist ein wenig, ob er nicht irgend-wie mehr Neigung nach der einen Seite fühlt als nach der anderen,und wenn Sie es herausgefunden haben, fassen Sie noch keinen Ent-schluß, sondern warten Sie, bis man es Ihnen sagt.

Das Geheimnis der Berufung67

Selig sind jene, die das Wort Gottes hören und es bewahren (Lk 11,28). – Ich werde meine Ansprache in drei Punkte gliedern: Im erstenwerden wir sehen, was es heißt, das Wort Gottes zu hören; im zwei-ten, wie man es bewahren soll; im dritten, wie jene glücklich sind, diees hören und es bewahren.

Was das erste betrifft, lehrt Gott uns seinen Willen und läßt seinWort gewöhnlich auf dreierlei Weise hören; auf die erste durch Men-schen, die das Verständnis und die Kenntnis der Heiligen Schrift be-sitzen, wie die Theologen und Prediger, die uns täglich predigen unddas göttliche Wort, die Häßlichkeit des Lasters und die Schönheit derTugend verkünden. Wir müssen gewiß mit großer Ehrfurcht und Auf-merksamkeit auf sie hören wie auch auf die Oberen und alle Men-schen, die vom Geist Gottes inspiriert und erleuchtet sind, durch dieer uns seinen Willen und sein Wohlgefallen bekannt gibt. Obwohldiese Worte von Gott inspiriert sind, sind es doch Worte von Men-schen und sie bleiben gewöhnlich nicht im Herzen oder doch nursehr wenig. Er ist nicht so, daß man die Mahnungen, die uns von denPredigern wie von den Oberen gegeben werden, nicht recht hörte;man ist von ihnen manchmal sogar gerührt, aber bei den meisten Chris-ten gehen diese Lehren bei einem Ohr hinein und beim anderen hin-aus ...

Gott hat noch eine andere Art, zu seinen Geschöpfen zu sprechen:durch den Dienst der Engel. Diese ist erhabener und hinterläßt wun-

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dervolle Wirkungen in den Seelen. Die ganze Heilige Schrift ist vollvon Beispielen dafür ...

Doch die dritte Art, wie Gott sich den Menschen zu verstehen gibt,ist sehr bewundernswert und vertraut; ihre Wirkungen sind ganz an-ders, denn er spricht innerlich (vgl. Hos 2,16) ... Mein Gott, wie be-wundernswert ist doch dieses göttliche Wort! Es ergießt sich ganzsanft in die Seele, es durchdringt sie, es entflammt sie und bleibt inihr. Es ist gewiß sehr wahr, daß der Grund des Herzens Gott alleinvorbehalten ist und daß nur er zu ihm vordringen kann. Es sind dieseLehren, die Unser Herr an hundert Stellen der Heiligen Schrift ver-kündet hat: Geh, verkauf alles, was du hast, und folge mir (Mt 19,21);und an anderer Stelle: Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst,nehme sein Kreuz auf sich und folge mir (Mt 16,24). Dann noch ananderen Stellen: Selig die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmel-reich. Selig die Sanftmütigen, denn sie werden das Land besitzen (Mt5,3f); und viele solcher Lehren aus dem göttlichen Mund unseres teu-ren Erlösers, die von vielen Menschen gehört wurden, brachten undbringen noch heute wunderbare Wirkungen hervor. Sie sind auf denGrund ihres Herzens gedrungen und haben ihn ausgelotet; sie be-wirkten, daß sie alles aufgaben, was sie besaßen, um Unserem Herrnzu folgen, wohin er sie rief; und das geschah gegen den Geist und dieAuffassung der Welt, die den Namen ‚Glückselige‘ den Unser Herrden Armen im Geiste gibt, verwirft und für verrückt erklärt. Seligsind jene, die das Wort Gottes hören und es bewahren ...

Nun zum zweiten Punkt. Viele hören dieses göttliche Wort, dochdas genügt nicht, man muß es bewahren, und um es zu bewahren, mußman es kauen und schlucken. Was heißt aber ‚kauen‘ anderes als esbetrachten? Im Lateinischen bedeutet meditieren nichts anderes alskauen; der Unterschied besteht nur darin, daß das Wort ‚kauen‘ fürkörperliche Dinge gebraucht wird, das Wort ‚meditieren‘ für geistige.Um körperliche Speisen zu essen, muß man sie in den Mund nehmen,sie dann kauen und schlucken; ebenso muß man bei dieser geistigenNahrung die Speise, die die Seele nährt, annehmen, sie kauen, d. h. siemeditieren, um sie dann zu schlucken und sie in sich selbst umzuwan-deln. Und was ist diese geistige Speise anderes als das Wort Gottes?Es ist die wahre Weide der Seele, wie Er selbst an so und so vielenStellen der Heiligen Schrift erklärt hat (Mt 4,4). Man muß es alsoannehmen; und wie? Im Mund unserer Seele, der nichts anderes istals die leiblichen Ohren, durch die es uns erreicht. Denn genau so,

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wie man körperliche Speisen nicht zu essen vermöchte, ohne sie zu-erst in den Mund zu nehmen, so könnten wir auch das Wort Gottesnicht kauen, d. h. meditieren, ohne es recht gehört zu haben. Deshalbsagt Unser Herr: Selig sind jene, die das Wort Gottes hören, denn dasist schon ein gutes Zeichen, daß sie es bewahren werden.

Dieses göttliche Wort recht zu erwägen, ist so wichtig, daß der Herrim Alten Testament (Lev 11,1-26; Dtn 14,6-8) zu seinem Opfer keineTiere annehmen wollte, die nicht wiederkäuen ... O Gott, wenn mandie Bedeutung dieses Punktes doch verstünde! Es gibt viele Menschen,die das Wort Gottes hören, aber was tun sie anderes als es zu ver-schlingen wie Raben, Bären und Löwen, ohne es zu überlegen. Daherkommt es, daß so viele verlorengehen (Jer 9,21); daher werden sieUnreine genannt und sind nicht für das Opfer geeignet. Sie nehmen inden Mund der Seele, d. h. hören mit den leiblichen Ohren, was manihnen vom Schrecken der Hölle, von der Schönheit des Paradiesesund von ähnlichen Dingen sagt; aber sie verschlingen es, und weil siees nicht kauen, können sie es nicht verdauen und keine Nahrung dar-aus gewinnen; sie begreifen es nicht.

Es genügt nicht, das Wort Gottes recht zu hören und zu erwägen,man muß es auch verdauen und in sich selbst umwandeln ... Wir müs-sen also gut verdauen, was wir betrachten, daraus gute Wünsche, guteNeigungen und Entschlüsse ziehen, die wir dann in einem Winkelunseres Herzens aufbewahren, damit wir uns ihrer bei Gelegenheitbedienen und sie bei jedem Anlaß verwirklichen können, so daß wirnicht mehr wir selbst sind, sondern daß die Affekte und Entschlüsse,die wir im betrachtenden Gebet gewonnen haben, in unserem ganzenLeben sichtbar werden ...

O Gott, wie glücklich wären wir, wenn wir die Vortrefflichkeit ei-ner Berufung, die wir empfangen haben, so gut erwägen und verdauenwürden, daß wir durch die Hochschätzung, die wir für sie haben, unddurch die große Liebe, mit der wir unsere Regeln und Konstitutionenbefolgen, so weit kommen, sie in unser eigenes Wesen umzuwandeln,so daß wir zu sein aufhören, was wir sind, und unsere Berufung selbstwerden. Wie glückselig sind jene, die das Wort Gottes hören und esbefolgen!

Wie glücklich seid ihr, meine lieben Töchter, denn ihr gehört zurZahl derjenigen, die das göttliche Wort dessen gehört haben, der al-

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lein die Herzen durchdringen kann. Er hat euch ein Wort im Gehei-men gesagt, und ihr habt ihm gehorcht; denn er allein kann zum Her-zen sprechen und euch seine Gnade schenken, das zu tun, was er vomMenschen verlangt. Man soll nicht denken, daß die Berufungen vonanderen als von Gott kommen könnten. O nein, gewiß nicht, mögenuns auch die Menschen dazu ermuntern. Mögen sie alles tun, was siekönnen, mögen sie ihre ganze Beredsamkeit und Philosophie aufwen-den, um eine Seele zum Eintritt in den Orden, zur Wahl einer Beru-fung zu überreden, ihre ganze Mühe wäre vergeblich; es ist notwen-dig, daß Gott das Herz rührt und zu ihm spricht. Ich weiß wohl, daßmanche (ich möchte sagen: einige) durch Menschen zum Eintritt inden Orden gedrängt oder gezwungen werden; sie sind wahrhaftig nichtvom Geist Gottes bewegt. Dabei kommt es auch oft zu großem Un-glück, und wenn nicht die göttliche Barmherzigkeit diese armen Her-zen berührt, gelangen sie nicht dahin, sich zu bekehren und sich inihre Berufung umzuwandeln, sondern sie zu verderben. Wenn sie nunim Orden ein liederliches Leben führen, was müssen sie dann erwar-ten als die Verdammnis? O Gott, wieviel besser wären sie in der Weltgeblieben, um sich dort zu retten, denn das kann man tun, indem mandie Gebote Gottes hält.

Doch diese Mädchen sind gekommen, weil Gott sie berufen hat,denn er rührt jene, die ihm beliebt, um sie zu führen, wohin er will.Was bleibt euch noch zu tun, als das göttliche Wort recht zu hörenund zu bewahren, d. h. eure Regeln und Konstitutionen, und euch indem Maß in sie umzuwandeln, daß ihr künftig eure Berufung selbstseid? Ordensfrauen dürfen keine andere Sorge haben als diese, da siein ihren Regeln und Konstitutionen den Willen Gottes sehen, derihnen angibt und zeigt, was sie zu tun haben, um zur Vollkommenheitund zur Vereinigung mit seiner göttlichen Majestät zu gelangen. Umdas zu erreichen, müssen wir unseren Willen dem seinen angleichen.Ihr seht, wenn man zwei Stücke Holz zusammenfügen will, legt mandas Lineal an, schneidet das Überflüssige weg und dann fügt man siezusammen; ebenso bei Steinen, die man behaut, um sie für ein Bau-werk zu verwenden, und dann sagt man: Seht, wie gut es zusammen-paßt. Unser Lineal ist nichts anderes als der Wille Gottes, dem wirden unseren anpassen müssen, indem wir ihn verleugnen und abtöten.Das geht nicht ohne Anstrengung, aber es gibt keine Rosen ohne Dor-nen, und wir dürfen keine Angst haben, uns zu stechen, um dieseschönen Rosen unter Schwierigkeiten zu pflücken, denn dann entfal-

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ten und verbreiten sie einen Duft, der das ganze Herz erfreut. Wennwir uns während dieses Lebens treu bemühen, das Wort Gottes zuhören und zu bewahren, wie wir gesagt haben, dann werden wir schließ-lich nicht nur in ihm glückselig sein, sondern noch viel mehr im an-deren Leben, zu dem uns führen mögen der Vater und der Sohn undder Heilige Geist. Amen, so sei es.

Die Perle der Vollkommenheit68

Der Kaufmann im heutigen Evangelium (Mt 13,45f) suchte Perlen;er stellt alle Christen dar. Was aber sind diese Perlen, wenn nicht dieTugenden und guten Werke, die wie Perlen und kostbare Steine sind?– Die Tugenden als diese Edelsteine haben von sich aus einen großenWert wegen ihres Glanzes, der sie in den Augen der Menschen anzie-hend und begehrenswert macht. Sie sind ja sehr schön, und alles Schöneist kostbar. Trotzdem hängt ihr höchster Wert nicht von dieser Schön-heit ab, sondern von der Wertschätzung, die sie vor Gott haben. Ermißt ihnen so großen Wert bei, daß er ihnen die Glückseligkeit, d. h.das ewige Leben verheißen hat. Und damit nicht zufrieden, ist er aufdiese Erde herabgekommen wie ein göttlicher Kaufmann, um diesekostbaren Steine zu suchen, widmete sich der Übung der Tugendenund verlieh ihnen dadurch einen noch schöneren Glanz in der Ab-sicht, sie uns liebenswert zu machen, damit wir sie suchen und unsbemühen, sie zu erwerben, um dadurch das ewige Leben zu gewinnen,das ihnen vorbehalten ist. Es wird ja den Tugenden und guten Werkenverliehen (Röm 2,6f); deshalb suchen sie alle Christen.

Wenn manche sie nicht finden, dann deswegen, weil sie sie suchenund zu finden glauben, wo sie nicht sind, nämlich in den Reichtü-mern, in Ehren und Vergnügungen. So täuschen sie sich in der Regel,denn in diesen Dingen sind die Tugenden nicht enthalten; hier begeg-net man ihnen schwerlich. Außerdem bringen diese Reichtümer, Eh-ren und Vergnügungen nur Bitterkeit, Verdruß und Ärger ... Die Chris-ten sind also auf der Suche nach Perlen und kostbaren Steinen; siesuchen deren viele; sie bemühen sich, verschiedene gute Werke zutun. Doch ach, armselig, wie wir sind, nach viel Mühe und Anstren-gung, die Tugenden zu finden und gute Werke zu tun, finden wir keineund üben sie gewöhnlich nicht, weil wir sie nicht da suchen, wo sie

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sind, und weil wir unsere guten Werke nicht in der erforderlichenWeise tun, um sie wertvoll und verdienstlich zu machen. Daher kommtes, daß viele die Glückseligkeit nicht erlangen, obwohl unser Herzfür sie geschaffen ist und nach ihr strebt, weil sie nicht das tun, was siezu ihr führen kann.

Obwohl unser Kaufmann viele Perlen suchte, fand er jedoch nureine, die so schön war, daß er alles verkaufte, was er besaß, um sie zuerwerben. Gewiß sind alle Perlen einzigartig, denn wenn man auchviele besitzt, so sind sie doch alle voneinander verschieden und esgibt keine zwei, die sich völlig gleichen. Was ist nun diese einzigarti-ge Perle, wenn nicht die christliche Vollkommenheit? Denn obwohlsie sich in vielen Formen darstellt, ist doch jede von ihnen so ver-schieden von den anderen, daß man sie einmalig nennen kann. Allesind schön aber so verschieden voneinander, daß man nicht zweiMenschen begegnet, die auf gleiche Weise zur Vollkommenheit ge-langen. Alle streben nach ihr und viele erreichen sie, aber jeder aufandere Weise. Gerade diese Vielfalt macht die Vollkommenheit soschön und anziehend. Und was ist diese einzigartige Perle, welcheVollkommenheit ist diese einmalige? Keine andere als die Vollkom-menheit nach dem Evangelium. Man muß nach den Worten UnseresHerrn (Mt 19,21) alles verkaufen, was man hat, um sie zu erwerben:Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und folge mir.

Obwohl nun alle Christen diese Perle suchen und alles verkaufenmüssen, was sie haben, um sie zu erwerben, jeder seiner Berufungentsprechend, sind die Ordensleute und die Unserem Herrn geweih-ten Personen dazu durch eine strengere und besondere Verpflichtunggehalten. Das geschieht beim Eintritt in den Orden durch den voll-ständigen und bedingungslosen Verzicht auf allen Besitz, indem mandas Böse zurückweist und das Gute umfängt. Das sind die zwei Haupt-punkte der christlichen Vollkommenheit (Ps 34,15; Am 5,14f). Ob-wohl die christliche Vollkommenheit diese Perle ist, können wir nochrichtiger sagen, daß die Vollkommenheit des Ordenslebens die wahreevangelische Perle ist. Um sie zu erwerben, muß man alles aufgeben,und auf eine viel speziellere Weise als für die christliche Vollkom-menheit. Diese kann man ja erwerben, indem man die Gebote hält;für die Vollkommenheit des Ordenslebens aber muß man nicht nurdie Gebote halten, sondern auch die Räte, die geheimen Einspre-chungen und inneren Anregungen. Das tut man, wenn man ins Klos-

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ter kommt, durch einen vollständigen Verzicht auf alle Eitelkeitender Welt und auf alles, was man besessen hat; denn man muß allesaufgeben, ohne sich irgendetwas vorzubehalten, so klein es auch seinmag.

Deshalb verzichtet man in den gut reformierten Orden durch dieProfeß vollständig auf alles Eigentum. Wenn man sich den Besitzirgendeiner Sache vorbehielte, so klein sie auch sein mag, wäre dasein großer Frevel ... Wenn ihr irgendeinen Vorbehalt machen wolltet,müßtet ihr in der Welt bleiben. Dasselbe müßten wir denen sagen, diein den Orden eintreten: Wenn ihr irgendein Eigentum behalten wollt,dann bleibt in der Welt; dort könnt ihr gut leben und gerettet werden,indem ihr die Gebote haltet, ohne ins Kloster zu kommen, um etwaszurückzubehalten, indem ihr noch eure Freiheit und euren Willengebrauchen wollt. Man hat euch nicht gebeten, ins Kloster einzutre-ten; so braucht ihr nicht zu kommen, wenn ihr nicht auf alles verzich-tet: alles, denn irgendeine Ausnahme machen, das hieße den HeiligenGeist belügen. Nun, so darf man es nicht machen, zumal Gott nichtgetäuscht werden kann; es würde euch so ergehen wie Hananias undseiner Frau (Apg 5,1-11). Wenn ihr Gott zu täuschen glaubtet, würdetihr euch selbst getäuscht sehen. Man muß also alles aufgeben, um dieevangelische Perle zu erwerben.

Die hl. Brigida hat das in bewundernswerter Vollkommenheit ge-tan ... So verzichtete sie auf alle Ehren, Reichtümer und Vergnügun-gen, die ihr die Welt anbot, und auf die Glücksgüter, d. h. auf diezukünftigen Güter, auf die zu verzichten so schwierig ist. Es ist vielgeschehen, wenn man die Ansprüche und Erwartungen aufgegebenhat; das ist sogar schwieriger, als sich von den Gütern zu trennen, dieman besitzt. Es gibt in der Tat viele, die wenig besitzen, aber sie habengroße Ansprüche und schöne Hoffnungen, auf die sie schwer verzich-ten können ... Um der Anziehungskraft der Gnade zu folgen, wies(die hl. Brigida) das Vergnügen und die Wonnen zurück, die ihr sol-che Dinge bereiten könnten, obwohl sie gut sah, daß sie im Sinn derWelt, wenn sie diese annahm, das glücklichste Mädchen wäre, dasman finden kann.

Das hieß wahrhaftig auf mächtige Lockungen verzichten; aber siebegnügte sich damit nicht, sondern ging so weit, auch auf natürlicheGaben zu verzichten, das sind u. a. die Schönheit, die Kraft und dieGesundheit ... Aber die hl. Brigida ging noch weiter, denn sie glaubte

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wenig getan zu haben, wenn sie nicht auch auf sich selbst verzichtete.Deshalb entsagte sie ihrem Willen, ihrem Urteil und der Freiheit; sowurde sie eine vollkommene Ordensfrau, glänzte durch den hervor-ragendsten Gehorsam, den man sich denken kann, und wurde äußersteinfach; mit einem Wort, sie war in allen Tugenden vollendet.

Was die Verleugnung des eigenen Willens betrifft, pflege ich stetszu sagen, daß sie der wichtigste Teil unserer Selbstverleugnung ist.Mit ihr muß man beginnen und enden, denn der Eigenwille ist nichtsanderes als ein Ameisenhaufen kleiner Wünsche, Neigungen und Lau-nen, die man alle dem Gehorsam und der Vernunft unterwerfen muß,sonst bewirken sie Unordnung und Auflehnung gegen das Gesetz undden Willen Gottes wie gegen den der Oberen. Nun genügt es im Or-den nicht, den Geboten Gottes zu gehorchen, sondern auch seinenbesonderen und allgemeinen Einsprechungen, die in den Statuten,Regeln und Konstitutionen angegeben sind. Um sie zu befolgen, mußman notwendigerweise seinen eigenen Willen verleugnen. Aber dasist nicht alles, es gibt noch einen anderen Teil, auf den zu verzichtenebenso schwierig ist wie auf den ersten: das ist das eigene Urteil.Solche, die sich vom eigenen Willen lossagen, gibt es noch, aber die-jenigen, die ihr eigenes Urteil vollständig verleugnen, sind sehr sel-ten. Man will wohl dem Wohlgefallen Gottes folgen, aber nicht inallem, sondern in dem, was mit dem unseren übereinstimmt. Ich wer-de diese Sache wohl tun, aber ich sehe, daß es anders besser wäre.Mein Gott, man sagt mir, ich soll es so machen, ich sehe jedoch, daßich viel größeren Nutzen davon hätte, wenn ich es auf diese Weisetäte. Eine solche Übung wäre für meinen Fortschritt viel nützlicherals jene andere. Mit einem Wort, es ist sehr schwierig, dieses eigeneUrteil sterben zu lassen und seine Freiheit nicht länger zu gebrau-chen.

Gewiß, wenn man das eigene Urteil und den eigenen Willen ver-leugnet hat, ist alles getan; aber man muß sich recht anstrengen, umso weit zu kommen, und darf sich nicht wundern über Schwierigkei-ten oder die Mühe, die man damit hat, sowohl um sie abzubauen alsauch um die Tugenden zu erwerben, denn man kann sie nicht ohneAnstrengung haben. Zu meinen, man könnte zu diesem Punkt derVollkommenheit gelangen ohne Mühe und die Tugenden ohne Schwie-rigkeit erwerben, das ist eher eine Irrlehre als etwas anderes. Dieheilige Kirche hat ja erklärt, und das ist eine unfehlbare Wahrheit,daß der Mensch sein Leben lang Leidenschaften, Veränderungen und

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Wechselfällen unterworfen ist. Um daher gegen die Leidenschaftenvorzugehen, inmitten der Veränderungen fest und unwandelbar zubleiben und mit der Spitze des Geistes und der Vernunft vorzugehen,dazu muß man notwendig Mühen und Anstrengungen auf sich neh-men. Das wollte uns der große Apostel zu verstehen geben, als er(Röm 7,23f) sagte: Ich fühle in mir zwei Gesetze, das Gesetz desFleisches und das des Geistes, die einander ganz entgegengesetzt sind;das läßt mich oft seufzen und ausrufen: Ich Elender, wer wird michbefreien von diesem Todesleib? Denn ich fühle in meinem Fleisch einVerlangen, das nach dem Bösen trachtet, das mein Geist verabscheut.Aus diesen Worten können wir den heftigen Kampf ermessen, den derApostel in seinem Fleisch ertrug, das wider den Geist stritt.

So also hat die große hl. Brigida die Ehren, Güter, Reichtümer undVergnügungen, die Glücksgüter, die natürlichen Gaben und sich selbstverlassen, indem sie ihre Freiheit und ihren Willen für immer demder anderen unterwarf, um diese einzigartige Perle zu finden und zubesitzen, die Vereinigung ihrer Seele mit Gott in der Zeit, um imanderen Leben zur ewigen Vereinigung zu gelangen. Wann verkaufendenn wir alles, was wir besitzen, um diese Perle zu erwerben, wennnicht dann, wenn wir uns dem Dienst Gottes weihen? Wenn man dasOrdenskleid nimmt, beginnt man alles abzulegen; man gibt den Be-sitz auf, die Ehren, die Verwandten; das sind für manche recht schwerzu leistende Verzichte. Und trotzdem sind die Liebe und die Freund-schaft der Nächsten recht schwach und seicht, denn wenn sie keinanderes Fundament haben als die Natur, gehen sie wegen des gering-sten Vorfalls zugrunde. Aber man geht noch viel weiter und beginntsogar sich selbst zu verlassen, sich der Leitung eines anderen zu un-terwerfen, seinen eigenen Willen und sein Urteil zu verleugnen, d. h.seine eigene Meinung, seinen eigenen Geist; man unterwirft sich derZurechtweisung und dem Tadel; das ist die letzte und wichtigste Pro-be der Vollkommenheit des Ordenslebens.

Deshalb herrscht die Zurechtweisung in jedem gut reformierten Or-den und wird dort ständig gehandhabt. Daher kommt die gute Ord-nung, die man dort findet, da man durch sie alles abstellt, reinigt undzurechtrückt, was nicht gut oder im geringsten unvollkommen ist.Uns Menschen in der Welt weist niemand zurecht; wir ziehen auf dengroßen Straßen dieser Welt dahin mit ganz schmutzigen Kleidern,und keiner sagt uns ein Wort oder sucht uns zu reinigen. Man läßt unsunseren Weg gehen, ohne etwas zu sagen; daher kommt es, daß wir

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immer ganz mit Kot bespritzt sind. Im Orden daher ist es nicht so,sondern hier erduldet man ständig Zurechtweisungen.

Nun, obwohl sich das zu verwirklichen beginnt, wenn man sich demDienst Gottes weiht, so geschieht es doch viel vollständiger, wennman die Gelübde ablegt. Da unternimmt man es nicht nur, alles zuverlassen, sondern man gibt tatsächlich alles auf und verpflichtet sich,nicht mehr in seiner Freiheit und nach seinem Willen zu leben, son-dern in Gehorsam und Unterwürfigkeit. Man verzichtet auf das, wasunnütz ist, und begnügt sich mit dem zur Erhaltung des Lebens Not-wendigen. Man nimmt die heilige Genügsamkeit an, die den Über-fluß beschneidet und gibt, wessen man bedarf, ohne zuzulassen, daßman daran irgendwie großen Mangel leidet. Denn wenn man irgend-wo findet, was zur Erhaltung dieses armseligen Lebens erforderlichist, dann sicher im Orden, wo man sich mehr als überall sonst aufgibt.Selbst wenn wir übrigens einen großen Besitz aufgeben, um im Klos-ter alle Entbehrungen und Unbequemlichkeiten zu ertragen, wie siedie Armut mit sich bringt, wie wenig ist das im Vergleich mit dem,was Unser Herr für uns getan hat! Denn da er im Himmel nicht armsein konnte, wo man an nichts Mangel hat noch haben kann, ist er indiese Welt gekommen, um die größte Armut in den zum Gebrauchseines Lebens notwendigen Dingen zu ertragen, und das, um uns reichzu machen und uns Beweise seiner Liebe zu geben (2 Kor 8,9).

Wie glücklich werden Sie sein, meine liebe Tochter, wenn Sie heu-te, da Sie sich Gott weihen wollen, sich ihm ganz und ohne jedenVorbehalt schenken; wenn Sie nach dem Vorbild der hl. Brigida allesverlassen und verleugnen, um diese einzigartige Perle der Vollkom-menheit des Ordenslebens zu erwerben! Sie werden glücklich sein,wenn Sie guten Mutes den wahren Frieden und die Ruhe des Geistesin diesem Haus suchen kommen. Diese besteht nicht und findet sichnicht in den Tröstungen und Zärtlichkeiten, wie manche irrtümlichmeinen, sondern in der vollständigen und bedingungslosen Verleug-nung Ihres eigenen Willens und Urteils, in der Unterordnung undUnterwerfung Ihrer Freiheit, indem Sie sich von anderen führen undleiten lassen. So werden Sie dem Beispiel der hl. Brigida folgen, diewie eine Wachskugel in den Händen ihrer Oberen war und alle Ein-drücke aufnahm, die man ihr geben wollte, und sich ohne Widerstandnach deren Gutdünken formen ließ. Ich sage Ihnen noch einmal, Siewerden glücklich sein, meine liebe Tochter, wenn Sie sich Gott in

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dem Maß hingeben, daß Sie von jetzt an nicht mehr nach Ihren Lau-nen und Einbildungen leben, sondern nach den Regeln und Konstitu-tionen und nach dem Willen jener, die Sie leiten werden ...

Wie glücklich werden Sie sein, meine liebe Tochter, wenn Sie aufalles verzichten, um alles zu besitzen, wenn Sie auf diese Weise diewahre Abtötung Ihrer Sinne und Leidenschaften ergreifen, daß Siedurch die Verachtung aller zeitlichen und vergänglichen Dinge dieewigen und dauerhaften Güter suchen! Wenn Sie sich ganz Gott über-lassen und ihm alles geben, was er von Ihnen verlangt, wird er Ihnenalles gewähren, d. h. sich selbst, und er wird Ihnen nichts verweigern,was Sie von ihm erbitten werden. Sie geben das Nichts auf, um ohneEnde alles zu besitzen. Sie werden in den Himmel kommen, um sichder Seligkeit zu erfreuen, nach der unser Herz ständig strebt. Dortwerden wir in dieser unauflöslichen und ewigen Einheit vereinigt seindurch alle Ewigkeit. Gott schenke uns die Gnade dazu. Amen.

Absicht und Erwartungen beim Eintritt69

1.

Die heilige Kirche hat bestimmte Zeiten, um ihre Kinder zu erfreu-en, unter anderen diesen Tag, an dem sie uns das Evangelium (Joh6,1-15) von der Speisung der fünftausend Menschen mit fünf Ger-stenbroten und zwei Fischen lesen läßt. Meine teuersten Töchter, ihrhabt einen günstigen Tag gewählt, um der Welt zu entsagen und euchUnserem Herrn zu schenken, denn es ist ein Tag für die Gläubigen.Ihr tut auch etwas sehr Erfreuliches, indem ihr das Getriebe dieserZeit verlaßt, um euch Unserem Herrn besser zu weihen.

Im heiligen Evangelium heißt es, der gute Meister begab sich mitder Volksmenge, die ihm folgte, vom galiläischen See auf den Berg, aneinen abgelegenen und einsamen Ort. Das galiläische Meer versinn-bildet die Welt mit ihrem Getriebe und ihrer Unruhe, wo man großeMühe hat, Unseren Herrn zu verstehen, d. h. seine Einsprechungen,wenn man nicht auf dem Berg ist und sich in das Haus Gottes zurück-zieht. Denn warum kann man denn in den Straßen von Lyon nichtleise sprechen, wenn nicht deswegen, weil man zu viel Lärm macht?So kann man auch schwerlich die Worte verstehen, die Unser Herrmitten in solchem Gedränge auf dem Grund unseres Herzens spricht.

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Doch, meine lieben Töchter, Gott hat euch so sehr geliebt, daß ereuch seine heiligen Einsprechungen trotz des Getümmels verstehenließ, obwohl ihr taube Ohren für ihn hattet und möglichst nicht darangedacht habt.

Galiläa bedeutet auch Auswanderung. Ihr müßt wissen, daß wir alleals Kinder des Zorns (Eph 2,3) und des Verderbens geboren werden,aber durch die Taufe sind wir in den Stand der Gnade versetzt (Kol1,13). Indessen bleibt der Großteil der Menschen kaum in diesemStand, denn alsbald fallen sie in Sünden, aus denen sie sich jedochdurch die Beichte wieder erheben können. Gott ist gegen uns so gütig,daß er in seiner Kirche die Sakramente für jede Art von Berufungeingesetzt hat, und seine Vorsehung hat gewollt, daß es in allen Stän-den Heilige gibt: Könige, Kaiser, Fürsten, Bischöfe, Eheleute, Wit-wen, Geistliche, Ordensleute. Alle können gerettet werden, indemsie die Gebote halten; und trotzdem gibt es in der Christenheit sowenige, die sich der wahren Tugend hingeben! Dank Gott gibt es über-all Christen: in Frankreich, in Europa, in Asien, in Afrika und schließ-lich in allen Ländern der Erde; aber das Unglück ist, daß es so wenigegibt, die sich angelegen sein lassen, wahre Christen zu sein; das istjammerschade. Sie glauben viel zu tun, wenn sie sich vor großen Sün-den hüten, wie zu stehlen, zu töten und ähnliche; und man sagt: Dasist ein guter Mensch. Trotzdem kümmern sie sich nicht um die Rat-schläge, die Unser Herr gibt: Wer mir nachfolgen will, der verleugnesich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach (Mt 16,24),und so viele andere schöne Lehren, die uns zur Vollkommenheit ge-langen lassen können. Meine lieben Töchter, ihr habt es besser ge-macht als sie alle, denn obwohl jeder seiner Berufung entsprechendgerettet werden kann, wenn auch unter großer Anstrengung, sind siedoch so in der Erde verwurzelt, in den Reichtümern und Eitelkeiten,daß sie schwerlich ihren Pflichten gegen Gott gerecht werden; siesind trotzdem selig, wenn sie unter so vielen Schwierigkeiten Unse-rem Herrn nach ihren Fähigkeiten folgen.

Gehen wir zur zweiten Erwägung über, denn ich will nicht langesprechen, damit ihr besser euren Nutzen aus dieser kleinen Anspra-che ziehen könnt. Als Unser Herr die Volksmenge sah, die ihm stetsdurch die Berge und diese Einöde auf einem rauhen und unebenenWeg gefolgt war, da hatte er Mitleid mit ihr und kam ihrer Not zuHilfe. Wenn wir wollen, daß Unser Herr Sorge für uns trägt, müssenwir ihm mitten in Kreuzen und Dornen folgen. Was mich betrifft,

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pflege ich bei diesen Gelegenheiten nicht zu schmeicheln; ich sageganz offen, daß man nicht in den Orden eintreten darf, um Tröstungenzu haben. Ich sage auch nicht, daß ihr keine haben werdet, weil ichlügen würde, denn ich weiß wohl, daß ihr welche haben werdet. Mandarf aber trotzdem nicht in dieser Absicht kommen, meine liebenTöchter, sondern um den Willen Gottes zu erfüllen und ihm, wennauch noch so wenig, besser zu gefallen.

Wisset, daß ihr eure äußeren und inneren Sinne abtöten müßt. Ihrdürft euer Gedächtnis nur noch mit dem befassen, was dem Gehor-sam entspricht, indem ihr vergeßt, was ihr in der Welt gewußt habt,auch wenn es gut war, um das zu lernen, was man wünschen wird.Euren Willen müßt ihr dem eurer Vorgesetzten anpassen. Es wirdeuch nicht mehr erlaubt sein, Unnützes zu hören, nicht einmal das,was ihr in der Welt gut hören könntet; denn im Orden muß man allesaufgeben, um sich ausschließlich der größeren Ehre Gottes zu wid-men. So werdet ihr eure Hände nicht mehr in den Muff stecken, ihrwerdet nicht mehr so viel Mühe haben, sie zu pflegen, sondern ihrwerdet sie zu allem gebrauchen, was der Gehorsam anordnen wird.Eure Augen, eure Ohren werden gebändigt sein, um eitle Dinge wieZeitvertreib weder zu sehen noch zu hören, sondern ihr werdet denBlick gesenkt halten. Ebenso die anderen Sinne, indem ihr sie abtö-tet, wie man euch lehren wird. Ihr werdet weiter keine Sorge haben,um euch selbst zu erhalten, sondern werdet alle Sorge für euch selbstfallen lassen. Schließlich, meine lieben Töchter, müßt ihr euch alledem Wohlgefallen Gottes anpassen, nicht euren Neigungen.

Prüft euch gut, ob ihr den Mut habt, zu unternehmen, was wir eucheben gesagt haben. Ihr habt euren freien Willen, um zu tun, was ihrwollt: fortgehen oder bleiben. Aber denkt daran, als Unser Herr dieVolksmenge sah, die ihm unter so viel Mühe gefolgt war, hatte erMitleid mit ihr und bereitete ihr ein Mahl. Wenn ihr recht treu seid,ihm zu folgen in Anfechtungen wie in Tröstungen, meine lieben Töch-ter, dann wird er euch ebenso im Himmel droben ein Festmahl berei-ten, denn in diesem Leben muß man ihm folgen in Leiden und unterVersuchungen.

Nun, diese Volksmenge folgte dem Erlöser aus verschiedenen Grün-den; das ist die letzte Erwägung, mit der ich schließen will. Die einenfolgten ihm, um belehrt zu werden; andere um geheilt zu werden; einanderer Teil folgte ihm, um sich zu festigen, jeder schließlich, umnach seinem Bedürfnis erleichtert zu werden. Ebenso gibt es in der

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heiligen Kirche mehrere Sakramente, um jeden auf den Weg zur Voll-kommenheit zu bringen: das Sakrament der Taufe, um uns von allenSünden reinzuwaschen, das der Firmung, um uns zu stärken, und sodie übrigen; jenes der Weihe, um uns zu belehren, und das der Ehe,um die Zahl der Gläubigen zu vermehren.

Es gibt aber noch eine andere Lebensweise, die vollkommener istals das alles; sie ist eine Schule der Vollkommenheit, in der manUnserem Herrn ausschließlicher und leichter gehört: das ist das klö-sterliche und Ordensleben, das ihr gewählt habt, um euch seiner gött-lichen Majestät wohlgefälliger zu machen, denn man darf keine ande-re Absicht haben. Ihr werdet glücklich sein, wenn ihr darin ausharrtund wenn ihr alle Dinge für ein wahres Nichts erachtet (vgl. Phil3,7f). Und erinnert euch: was ihr aufgegeben habt, ist nichts im Ver-gleich mit dem, was ihr besitzt. Macht es, wie Unser Herr zur hl.Katharina von Siena sagte: „Meine Tochter, denk an mich, und ichwerde daran denken, Sorge für dich zu tragen.“ Denkt recht daran,ihm zu gefallen, und seid ohne Furcht, denn er denkt an das, was ihrnötig habt, wenn ihr euch bemüht, aus eurem Herzen alles zu entfer-nen, was nicht Er ist. Man darf es nicht machen wie die Kohlenträger:obwohl sie ganz geschwärzt und beschmiert sind, kümmern sie sichnicht darum und begnügen sich damit, Augen und eine Nase zu habenund wie Menschen auszusehen. Ebenso glauben die Weltmenschengenug zu tun, wenn sie große Sünden meiden. Aber die Höflinge desKönigs sind im Gegenteil stets darauf aus, sich zu putzen und in denSpiegel zu schauen, um zu sehen, ob sie nichts Unordentliches ansich haben. So muß man, um Unserem Herrn zu gefallen, große Sorgedarauf verwenden, nichts in unserer Seele aufkommen zu lassen, wassie beflecken und entstellen könnte, denn der Bräutigam ist so eifer-süchtig auf unser Herz, daß er nicht duldet, daß etwas anderes eseinnimmt als Er. Er ist selbst die Tröstung, und ohne ihn gibt es nurBitterkeit. Wenn ihr ihm treu seid, werden die Regeln für euch zuHonig, die Konstitutionen zu Zucker und die Abtötungen zu Rosen.Der Gehorsam wird euch zur süßen Erholung und ihr werdet als wah-re Bräute des gekreuzigten Jesus Christus leben. Wie man die Ge-mahlin des Königs Königin nennt, wird man euch Gekreuzigte nen-nen, weil euer Bräutigam in diesem Leben der gekreuzigte Jesus Chris-tus ist, im anderen aber wird er der Verherrlichte sein. Im Namen desVaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. So sei es. Gott segneeuch. Amen.

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2.

Die hl. Magdalena kann sich mit gutem Recht die Königin allerChristen nennen in dem Sinn, wie wir gezeigt haben. Wie glücklichwerdet ihr sein, meine Lieben, wenn ihr sie nachahmt. Sie gibt ja allenein gutes Beispiel, besonders aber den Ordensfrauen, um in dieserStunde nur von ihnen zu sprechen. Sie lehrt diese, was sie tun müssen,um in den Orden einzutreten, d. h. zu welchem Zweck sie eintretensollen, nämlich einzig, um Gott zu lieben. Alle Christen müssen ihnlieben und alles, was sie tun, aus Liebe zu ihm tun; und wenn es schonnicht mit solcher Reinheit geschieht, dann wenigstens mit einer ge-wissen eigennützigen Liebe; denn notwendigerweise muß man Gottund den Nächsten lieben, um gerettet zu werden und in den Himmelzu kommen; andernfalls wird man in die Hölle kommen.

Da aber das Getümmel der Welt die Liebe abkühlt und gefährdet,tritt man in einen Orden ein. Und warum? Etwa, um Gott zu lieben?O nein, sondern um ihn besser zu lieben. Und um gerettet zu werden?Nein, sondern um besser gerettet zu werden; nicht um Gott zu gefal-len, sondern um ihm besser zu gefallen. Auch nicht, um Ekstasen,Offenbarungen, Schwebezustände und ähnliches zu haben, gewiß nicht.So viele Regungen, Erleuchtungen, fühlbare Empfindungen, die fastallgemein von allen ersehnt werden, sind nicht zu unserem Heil not-wendig und nicht erforderlich, um unsere Liebe zu erhalten und zuvervollkommnen. Im Himmel gibt es große Heilige, auf sehr hohenStufen der Glorie, die nie Visionen und Offenbarungen hatten, wiees umgekehrt in der Hölle manche gibt, die solche Gefühle undaußergewöhnliche Erscheinungen hatten. Nicht das ist es, meine lie-ben Töchter, was man im Ordensleben suchen muß, sondern nachdem Beispiel der großen Magdalena muß man kommen, um hiergering, klein und stets zu Füßen Unseres Herrn als unserer einzigenZuflucht zu sein. Darin war diese Heilige bewundernswert, dennvon ihrer Bekehrung bis zum Tod ließ sie die Füße ihres guten Mei-sters nicht los ...

O Gott, welcher Irrtum und welche Täuschung wäre es in unsererZeit, wenn jemand sich nach einigen Jahren im Orden für einen voll-kommenen Professen halten wollte! Ein großer Diener Gottes fragteeines Tages einen guten Ordensmann, was er sein ganzes Leben langsein möchte; der antwortete ihm, er wünschte sich immer wie ein

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Novize zu verhalten, so klein, untergeordnet und abgetötet, ständigenRügen, Zurechtweisungen und Abtötungen ausgesetzt; mit einemWort, er wollte um nichts in der Welt die Füße Unseres Herrn loslas-sen. Wie glücklich war er doch! Und wie glücklich werdet ihr sein,meine lieben Töchter, wenn ihr euer ganzes Leben lang für nichts,was es auch sei, seine heiligen Füße loslaßt, wenn ihr in Demut undUnterordnung lebt nach dem Vorbild eurer Königin und noch mehrder Königin aller Königinnen, der heiligen Jungfrau, unserer teurenHerrin, der die hl. Magdalena so ergeben war, daß sie sie niemalsverließ ...

Kommt also nicht ins Kloster, um getröstet zu werden, sondern umeuch als Opfer darzubringen ... Wie glücklich werdet ihr sein, wennihr der göttlichen Majestät das Ganzopfer euer selbst darbringt, wennihr euch nicht den Gebrauch irgendeiner Sache vorbehaltet, so kleinsie auch sei. Gott verlangt das von euch ... Im Gesetz des Alten Bun-des (vgl. Mt 5,38) war einer, der dem Nächsten eine Ohrfeige gab,verpflichtet, ebenso eine hinzunehmen; wer seinem Bruder einenZahn ausschlug, dem wurde ebenfalls einer ausgeschlagen. Obwohlnun dieses Gesetz bei den Menschen völlig abgeschafft ist, gilt esdoch heute noch zwischen Unserem Herrn und jenen, die sich ihmweihen. Er stellt die gleichen Forderungen, d. h. daß man ihm sovielals möglich Genugtuung für die begangenen Fehler leiste; das heißt,er will, daß wir ebensoviel für ihn tun, wie wir für die Welt getanhaben. Das ist nicht zu viel verlangt, denn wenn wir so viel für dieWelt getan haben und uns von ihren eitlen Lockungen mitreißen lie-ßen, was müssen wir dann nicht tun für die Lockungen der Gnade, dieso sanft und lieblich sind? Es ist gewiß kein Unrecht, das von uns zuverlangen; und wie man sein Herz, seine Seele, seine Neigungen, sei-ne Augen, seine Haare für die Welt eingesetzt hat, so muß man siedeshalb auch einsetzen und dem Dienst der heiligen Liebe weihen.

Es gibt wohl solche, die ihre Haare hingeben, aber ihre Augen ge-ben sie nicht her; andere geben auch ihre Augen her, aber auf keinenFall ihre Worte; wieder andere geben alle drei miteinander, nichtaber ihr Parfüm. Da ihr der Welt alles gegeben habt, müßt ihr Gottalles geben und dürft euch nichts vorbehalten.

Was sind denn die Haare? Sie sind das Gewöhnlichste und Niedrig-ste am menschlichen Körper, Auswüchse der Natur, etwas Überflüs-siges und Wertloses. Man mißt ihnen keine Bedeutung bei, nicht ein-mal denen von Königen; denn man tritt sie mit Füßen, weil sie keinen

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Wert haben; und trotzdem stützt der menschliche Geist seinen Ruhmauf sie. Unser Herr verlangt also die Haare. Nun, was versinnbildensie uns denn, wenn nicht die Gedanken, uzw. nicht nur die schlech-ten, sondern auch unnütze, die man beschneiden und stutzen muß.Daran sollen diese Mädchen denken, wenn man ihnen die Haare ab-schneidet; denn was meint ihr, warum man sie den Ordensfrauen ab-schneidet? Man sagt, das sei gesund; das glaube ich, aber das ist nichtder Hauptgrund. Sie sollen vielmehr begreifen, wie sie sich von Din-gen zurückgezogen haben, die schlechte Gedanken in ihnen weckenkönnten, so dürfen sie sich auch nicht mehr mit eitlen und weltlichenDingen beschäftigen, die sie aufgegeben haben, sondern müssen allesvergessen, um sich ganz Gott zu widmen. Für sie ist es leicht, sichsündhafter Gedanken zu enthalten; da sie dazu keine Gelegenheitmehr gegenwärtig haben und sich an einem Ort befinden, wo sie nurErbauliches sehen, wo sie nur gute Bücher lesen, wo sie nur von Gottund geistlichen Dingen sprechen hören, können sie leichter davonfrei sein.

Aber das ist noch nichts, man muß außerdem seine Augen opfern.Was glaubt ihr, wozu man euch einen Schleier aufs Haupt gesetzt hat,wenn nicht dazu, um euch zu lehren, eure Augen künftig nur noch zugebrauchen, um zu sehen und zu weinen, wenn euch die Gnade dazuanregt, nicht aber wegen Albernheiten und Zimperlichkeiten, deret-wegen die Frauen Tränen vergießen? Törichte und eitle Tränen, ge-wiß. Ich möchte das wohl tun, aber ich kann nicht. Was kann man datun? O, man muß weinen; und warum? Ach Gott, weil ich nicht ma-che, was ich will. Man widerspricht mir, man weist mich zurecht, mantötet mich ab; die Abhilfe ist, daß man weinen muß. Welch großeErbärmlichkeit ist das ... Alle diese und ähnliche Tränen sind unnütz;man darf sich ihrer nicht bedienen, sondern muß diese zimperlicheSelbstverzärtelung überwinden. Es ist wahr, die Natur ist ein wenigentschuldbar. Ihr seht z. B. ein Mädchen, das sehr melancholisch ist;wer wird es nicht entschuldigen? Eine andere ist sehr fröhlich undwird deshalb manchmal übertrieben lachen; das ist erträglich. Eineandere kann noch zum Weinen veranlagt sein; das ist noch verzeih-lich, wenn man die Unvollkommenheiten nicht nährt, sondern sieabtötet, um die Übernatur zu beleben.

An den Augen und an den Worten erkennt man, wie der Seelenzu-stand eines Menschen ist. Die Augen sind für die Seele dasselbe wiedas Zifferblatt für die Uhr; durch die Augen und durch die Haare,

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sagt der Bräutigam im Hohelied (4,9), hat seine Braut ihm das Herzgerührt. Trotzdem drücken die Worte, die aus dem Mund hervorge-hen, noch besser als die Augen die inneren Regungen und Empfin-dungen aus. Man ist manchmal gekränkt, weil man glaubt, daß manuns scheel ansehe; dabei täuscht man sich sehr oft ... Aber in diesenFällen zeigt die Sprache, wie es um die Regungen des Herzens steht;sie sagt: Ach, du hast diesen Eindruck von meinem Blick; ich versi-chere dir trotzdem, daß ich an nichts weniger als daran gedacht habe.Es ist wahr, die Sprache drückt Zorn und Groll besser aus als dieAugen.

Man muß also seine Haare, seine Worte und seine Augen Gott zumOpfer bringen und sich ihrer nicht für Albernheiten bedienen ... Zu-gleich mit ihnen muß man auch das Parfüm opfern. Was ist das Par-füm? Es ist etwas Besonderes; so fühlt sich auch, wer parfümiert ist,als etwas Besonderes. In der Welt wird der Moschus von Spanien sehrgeschätzt. Nun denn, das Parfüm, das man Unserem Herrn opfernmuß, ist die hohe Meinung von uns selbst, ein so verbreitetes Parfüm,daß es niemand gibt, der sich davon frei nennen könnte. In der Tat istes eines der größten Übel des menschlichen Geistes, daß jeder sichdavon aufblähen läßt, und ihr könnt euch nicht vorstellen, wie schweres ist, sich von diesem Parfüm zu trennen. Man erinnert sich an dieHäuser, an die Herkunft, man forscht nach, ob nicht der Urgroßvatervom Geschlecht Abrahams abstammt. Welche Torheit ist das doch!Dann überhebt man sich über die anderen und versteigt sich dazu zusagen: Ich bin aus solchem Hause, sie aus solchem ...

Meine lieben Töchter, ihr müßt also dieses vollkommene Brandop-fer eurer Seele, eures Herzens, eurer Augen, eurer Haare, eurer Wor-te und eures Parfüms darbringen. Ihr tretet heute in das Noviziat ein,nachdem ihr die Probezeit beendet habt. Wie glücklich werdet ihrsein, wenn ihr dieses Ganzopfer bringt und euch eurer Gedanken,eurer Worte, eurer Augen und eures Parfüms nur mehr „für den Dienstder Liebe“ zu eurem Bräutigam bedient (Konst. 44). Was die hoheMeinung von euch selbst betrifft, ach, denkt nicht mehr daran, woherihr stammt, sondern an die Worte: Höre, meine Tochter, leih mir deinOhr; vergiß das Haus deines Vaters, dein Vaterland und deine Abstam-mung, und der König wird nach deiner Schönheit begehren (Ps 45,11f).Ihr müßt also eintreten mit dem Entschluß, „euch selbst zu sterben,um für Gott zu leben“ (Coutumier), indem ihr das Kreuz des Erlö-sers umfangt und euch vollkommen verleugnet. Tragt euer Kreuz und

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folgt mir nach, sagt er. Seht ihr, das Ordensleben ist ein „Kalvarien-berg“; man hat euch hier nicht aufgenommen, um euch hier Tröstun-gen zu geben; o gewiß nicht, denn man verlangt von euch nichts Ge-ringeres, als daß ihr gekreuzigt seid. Im Ordensleben läßt man dieNatur sterben, man geht gegen die Leidenschaften und Neigungenvor, um die Gnade herrschen zu lassen. Mit einem Wort, man ziehteuch den alten Adam aus, um euch den neuen Adam anzuziehen (Eph4,22-24; Kol 3,9f), und das geht nicht ohne Schmerzen ab.

Man verheimlicht euch nicht, daß man die Vollkommenheit nichtohne Schwierigkeiten erwirbt. Man muß also Mut haben bei einem sohohen Unterfangen, das man am Fest einer so tapferen Kämpferinbeginnt. Wenn ihr auch nicht ihren Namen tragen werdet, wird siedoch nicht verfehlen, eure Fürsprecherin zu sein ... Und sagt nicht: OGott, immer hier leben! Wie ist das möglich? (Vielleicht kommt euchdas nicht während eures Noviziates in den Sinn, aber später könntensolche Hirngespinste auftauchen und euch erschrecken.) Erinnerteuch an die Worte des hl. Paulus (Gal 2,18f; 6,16): Ich habe die Weltso sehr verachtet, die ich wie ein Gehenkter betrachte und die michfür einen Galgenstrick hielt. Ich bin der Welt gekreuzigt und die Weltist mir gekreuzigt; ich habe kein Leben für mich, noch einen Kopf fürdie Welt; denn obwohl ich lebe, lebe nicht ich, sondern Jesus Christuslebt in mir. Erwägt diese Worte des großen Apostels gut und seht, wiesie immer mehr an Bedeutung zunehmen. Er sagt, daß die Welt ihmgekreuzigt ist, dann als Folgerung daraus: Ich lebe, aber nicht mehrich lebe, sondern Jesus Christus lebt in mir. Ich lebe vom Tod; und esist der Tod meines Ichs, der bewirkt, daß mein Erlöser in mir lebt.Wie glücklich werdet ihr sein, wenn ihr des Todes des hl. Paulus ster-ben werdet, um sein Leben zu leben; wenn ihr euch selbst sterbt, aufdaß Jesus Christus in euch lebe.

Absage an Welt, Fleisch und Eigenwillen70

Daß die christliche Vollkommenheit nichts anderes ist als eine Ab-sage an die Welt, das Fleisch und an den Eigenwillen, ist eine Wahr-heit, die so oft von der Heiligen Schrift genannt wird, daß es nichtmehr nötig erscheint, sie zu wiederholen. Wo der große Vater desgeistlichen Lebens, Cassian, von dieser Vollkommenheit spricht, sagt

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er, daß ihre Grundlage und ihr Fundament nichts anderes ist als dievollständige Verleugnung aller menschlichen Wünsche. Und wo derhl. Augustinus von denen spricht, die sich Gott weihen, um nach die-ser Vollkommenheit zu streben, schreibt er: Was sind diese Leute daanderes als eine Versammlung von Menschen, die in Waffen in denKrieg und zum Kampf gegen die Welt, das Fleisch und gegen sichselbst ziehen? – – –

Nun hat es die göttliche Vorsehung zugelassen, daß diese Mädchennoch innerhalb der Oktav der Geburt der seligsten Jungfrau gebetenhaben, die eine, das Ordenskleid zu empfangen, die andere, zur Pro-feß zugelassen zu werden. Groß ist ihr Unterfangen, denn es ist einKampf und ein ständiger Krieg, den sie unter der Fahne und im Schutzunserer teuersten Herrin gegen die Welt, gegen das Fleisch und gegensich selbst führen. Deshalb müssen wir sehen, wie diese heilige Jung-frau tapfer über diese drei Feinde triumphiert hat bei ihrem erstenEintritt in dieses Leben oder bei ihrer heiligen Geburt. Diese glorrei-che Frau war gewiß ein Spiegel und Inbegriff der christlichen Voll-kommenheit; aber obwohl Gott sie durch alle Stände und Stufen ge-hen ließ, um allen Menschen als Vorbild zu dienen, ist sie doch dasbesondere Vorbild des Ordenslebens.

Zunächst war sie ihrer Mutter untertan ... In ihrer Jugend wurde sieim Tempel dargestellt ... Sie war auch ein Vorbild für die Mädchen,die sich der göttlichen Majestät weihen. Dann wurde sie vermählt, umein Spiegel der Eheleute zu sein, und schließlich Witwe. Die göttli-che Vorsehung ließ sie also durch alle Stände gehen, damit alle Ge-schöpfe aus ihr wie aus einem Meer der Gnade schöpfen können,wessen sie bedürfen, um sich in ihrem Stand recht zu bilden und zuschulen.

Es ist dennoch wahr, daß sie, wie ich gesagt habe, insbesondere derSpiegel des Ordenslebens war; denn bei ihrer Geburt hat sie ganzausgezeichnet diese vollständige Verleugnung der Welt, des Fleischesund ihrer selbst verwirklicht, in der die christliche Vollkommenheitbesteht. Was die Welt betrifft, hat die seligste Jungfrau ihr die voll-kommenste und vollständigste Absage erteilt, die man machen kann.Was ist denn die Welt, wenn nicht die ungeordnete Liebe, die man hatzu den Gütern, zum Leben, zu den Ehren, Würden und Vorrechten,zur hohen Meinung von sich und ähnlichen belanglosen Dingen, de-nen die Weltleute nachlaufen und die sie zu Götzen machen? Ichweiß nicht, wie das gekommen ist, aber die Welt ist so sehr in das

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Herz des Menschen eingedrungen, daß der Mensch gleichsam zur Weltgeworden ist und die Welt zum Menschen. Die alten Philosophenwollten das anscheinend sagen, als sie den Menschen einen Mikro-kosmos nannten, d. h. eine kleine Welt. Und der hl. Augustinus sagtvon der Welt: Was ist denn die Welt? Sie ist nichts anderes als derMensch; und was ist der Mensch anderes als die Welt? Als wollte ersagen: Der Mensch hat seine Neigungen so sehr an die Welt mit ihrenEhren, Reichtümern, Würden, Vorrechten und der Selbstüberschät-zung gehängt und gebunden, daß er dadurch den Namen Mensch ver-loren und den der Welt dafür erhalten hat. Und die Welt hat so sehrdie Neigungen und Wünsche des Menschen auf sich gezogen, daß sienicht mehr Welt, sondern Mensch heißt.

Von dieser Welt oder von diesem Menschen spricht der große Apo-stel, wenn er (Joh 1,10) schreibt: Die Welt hat Gott nicht erkannt unddeshalb hat sie ihn nicht aufgenommen, seine Gesetze nicht hörenund noch weniger sie befolgen wollen, weil sie den ihren ganz entge-gengesetzt sind. Und Unser Herr sagt (Joh 17,9) dazu selbst: Ich bittemeinen Vater nicht für die Welt, denn die Welt kennt mich nicht undich kenne sie nicht. O Gott, wie schwer ist es, sich von der Welt ganzfrei zu machen! Unsere Neigungen sind so sehr in ihr verhaftet undunser Herz ist von ihr so sehr befleckt, daß es großer Sorgfalt bedarf,um es gut zu waschen und zu reinigen, wenn wir nicht wollen, daß esimmer befleckt und entstellt bleibt. Manche meinen, in der Übungdes Verzichts und der Verleugnung der Welt schon viel getan zu ha-ben, aber ach, sie täuschen sich darin sehr. Wenn man nur etwas näherhinschaut, sieht man, daß man noch ein blutiger Anfänger ist und daßalles, was man getan hat, nichts ist im Vergleich mit dem, was mangetan haben müßte und was man tun muß.

Deshalb haben alle Oberen und Gründer von religiösen Orden, indenen der Geist Gottes am Werk war, der sie leitete und führte, damitbegonnen. Als der hl. Franziskus eine Kirche betrat, hörte er die Wortedes Evangeliums: Geh hin, verkaufe alles, was du hast, gib es denArmen und folge mir nach (Mt 19,21); er gehorchte und begann seineRegel mit diesem Verzicht. Auch der hl. Antonius hörte die gleichenWorte, verließ alles und tat, was sie von ihm verlangten ...

Es ist wahr, daß es viel bedeutet, die Welt zu verlassen und sich ausihrem Trubel zurückzuziehen, um in einen Orden einzutreten, wie esdiese Mädchen hier tun. Aber gewiß muß man sich nicht nur mit demKörper zurückziehen, sondern auch mit dem Herzen. Viele treten in

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Klöster ein mit ihrer Liebe zu Ehren, Würden und Vorrechten, mitder Selbstüberschätzung und Weltfreude; und was sie nicht wirklichbesitzen können, das besitzen sie dem Herzen und der Sehnsucht nach.Das ist ein großes Unglück ...

Die zweite Absage ist die an das Fleisch. Es besteht kein Zweifeldarüber, daß sie noch schwieriger ist als die erste; sie steht auch aufeiner höheren Stufe. Viele verlassen die Welt und ziehen auch ihreNeigungen aus ihr zurück; sie haben aber große Mühe, sich vomFleisch freizumachen. Darüber sagt der große Apostel (Röm 7,23;Gal 5,16f): Hütet euch vor diesem Todfeind, der euch stets begleitet,und gebt acht, daß er euch nicht verführe. Wer ist dieser Feind, vondem der hl. Paulus spricht? Es ist das Fleisch, das wir stets mit unstragen. Ob wir essen, trinken oder schlafen, immer begleitet uns dasFleisch und versucht uns zu hintergehen. Denn seht, es ist der unred-lichste, verräterischste und treuloseste Feind, den es gibt. Zudem istes sehr schwierig, es ständig zu verleugnen. Man muß viel Mut haben,um diesen Kampf zu führen; doch um uns dazu zu ermutigen, werfenwir einen Blick auf unseren höchsten Feldherrn und die heilige Jung-frau.

Unser Herr hat diese Verleugnung des Fleisches ganz ausgezeich-net gemacht; sein ganzes heiliges Leben war eine ständige Verleug-nung und Abtötung des Fleisches. Und obwohl sein heiliger Leib demGeist ganz unterworfen war und sich nie gegen ihn empörte, hat er esdoch nicht unterlassen, ihn abzutöten, um uns ein Beispiel zu gebenund uns zu lehren, wie wir unser Fleisch behandeln müssen, das ge-gen den Geist streitet. Die Lektion, die unser teurer Meister uns daringibt, heißt, wir dürfen unseren Geist nicht in Fleisch umwandeln, umdann tierisch und nicht menschlich zu leben; vielmehr sollen wirunseren Leib vergeistigen, um ein geistiges und göttliches Leben zuführen. Dazu kommt man durch seine Abtötung und ständige Ver-leugnung. O Gott, wenn Unser Herr sein heiligstes Fleisch so hartbehandelte, das keine schlechte Neigung besaß, sollen dann wir, diewir ein so unlauteres, verräterisches und bösartiges Fleisch besitzen,uns weigern und nachlässig darin sein, es abzutöten, um es dem Geistzu unterwerfen (vgl. 1 Petr 3,18)? Und könnten wir feige und mutloseSoldaten sein, wenn wir sehen, was unser höchster Feldherr tut?

Die heilige Jungfrau hat diese Verleugnung des Fleisches in ihrerWiege ganz vollkommen geübt. Es ist wahr, daß die kleinen Kindertausend Akte des Verzichtes machen, ... aber die seligste Jungfrau hat

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diese Abtötungen und Widersprüche in ihrer Kindheit bereitwilligertragen und diesen zweiten Verzicht geleistet ... Das übt man imOrden, in den man eintritt, um sein Fleisch und seine Sinne zu kreu-zigen; und man lehrt es diese Mädchen, wenn sie eintreten. Man sagtihnen, daß man seine Augen kreuzigen muß, um nichts zu sehen, sei-ne Ohren, um nichts zu hören, seine Zunge, um nicht zu reden. Undihr seht, daß man ihnen einen Schleier aufs Haupt setzt, nicht nur, umsie zu lehren, daß sie für die Welt und ihre Eitelkeit tot sind, sondernauch, damit sie sich daran erinnern, daß sie von jetzt an die Augengesenkt halten müssen und die Erde anschauen sollen, aus der siegebildet sind, und um ihnen zu zeigen, daß sie gekommen sind, um imGeist der Demut voranzugehen.

Obwohl diese Mädchen nach dem Himmel streben als nach demOrt, der das einzige Ziel ihres Herzens ist, läßt man sie doch dieAugen nicht erheben, um ihn zu schauen, wohl aber sollen sie dieErde anschauen, wo sie nicht bleiben sollen. Darin folgen sie Fähr-leuten und Ruderern; um ihr Schiff zu steuern, schauen sie nicht nachdem Ort, wo sie anlegen wollen, sie wenden ihm vielmehr den Rü-cken zu, und indem sie so ihr Schiff steuern, landen sie sicher imHafen. Genau so ist es mit diesen Seelen; indem sie zur Erde blicken,um sich zu demütigen, erreichen sie den sicheren Hafen des Him-mels. Man läßt auch ihre Ohren nicht sehen, um sie zu lehren, daß siediese nur zu gebrauchen haben, um die Worte des heiligen Bräuti-gams (Ps 45,11) zu vernehmen: Merke auf, meine Tochter; blicke herund leih mir dein Ohr. Und was sagt er? Vergiß dein Volk und das Hausdeines Vaters. Und was soll das Schweigen bedeuten, das sie wahren,wenn nicht dies, daß sie ihre Sprache nur noch haben dürfen, um mitMose das Lied vom Erbarmen Gottes zu singen, der sie nicht nur wiedie Israeliten aus der Tyrannei des Pharao befreit hat, nämlich desTeufels, der sie in Sklaverei und Knechtschaft hielt, sondern der auchnicht zuließ, daß sie wegen ihrer Sünden von den Fluten des RotenMeeres verschlungen wurden.

Der dritte Verzicht, der wichtigste von allen, nämlich die Selbstver-leugnung, ist viel schwieriger als die beiden anderen. Mit den zweianderen wird man noch fertig, aber bei diesem, wo es darum geht,sich selbst zu verlassen, d. h. seinen eigenen Geist, seine eigene Seele,sein eigenes Urteil, selbst in guten Dingen, die sogar besser scheinenals das, was man uns befiehlt, um sich in allem der Führung durchandere unterzuordnen, da dauert es schon länger. Trotzdem zielt man

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im Ordensleben darauf ab, denn darin besteht die christliche Voll-kommenheit, sich auf diese Weise selbst abzusterben, so daß man mitdem Apostel sagen kann: Ich lebe, aber nicht mehr ich lebe, sondernJesus Christus lebt in mir (Gal 2,20).

Dieser Verzicht nun muß ständig geleistet werden, denn ihr werdetimmer etwas finden, worin ihr euch selbst verleugnen könnt. Unddieser Verzicht wird um so besser sein, je größer der Eifer ist, mitdem ihr ihn leistet. Mit der Verleugnung des eigenen Willens mußman das geistliche Leben beginnen und vollenden. Täuscht euch alsonicht darüber; denn wenn ihr ins Kloster kommt mit eurem eigenenGeist, werdet ihr sehr bald in Zwiespalt geraten, weil ihr hier einenGeist findet, der dem euren ganz entgegengesetzt ist und der ihm stetswiderstreben wird, bis er euch vollständig von ihm losgelöst hat. Trotz-dem muß man guten Mutes sein und mit diesem Entschluß eintreten;wenn ihr auch einiges ertragen müßt, wundert euch nicht darüber,denn anders kann es nicht sein.

Der hl. Paulus spricht ganz bewunderswert von diesem Verzicht,wenn er sagt: ich lebe, doch nicht mehr ich, sondern Jesus Christus lebtin mir. Das heißt: Obwohl ich ein Mensch von Fleisch und Blut bin,lebe ich nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist (vgl. Röm8,12f); und nicht nach dem eigenen Geist, sondern nach dem GeistJesu Christi, der in mir lebt und herrscht. Nun ist dieser große Apo-stel zu dieser vollkommenen Selbstverleugnung nicht gekommen, ohneviele Nöte und Kämpfe in seinem Geist erduldet zu haben; das bestä-tigt uns die Heilige Schrift (2 Kor 12,7.9f). Seht, dieser Verzicht be-steht darin, seine Seele, seinen Geist aufzugeben, um sich dem desanderen zu unterwerfen. Die Engel wurden Teufel und stürzten in dieHölle, weil sie sich Gott nicht unterordnen wollten. Denn wenn sieauch keine menschliche Seele hatten, besaßen sie doch ihren eigenenGeist, den sie nicht verleugnen wollten, um ihn ihrem Schöpfer zuunterwerfen; so gingen sie elend verloren. Es ist wahr, daß unser gan-zes Glück in dieser Unterwerfung unseres eigenen Geistes besteht,genau so wie unser ganzes Unglück vom Mangel an ihr kommt.

Die Frommen in der Welt leisten irgendwie die beiden ersten Ver-zichte, von denen wir gesprochen haben; doch dieser letzte wird nurim Ordensleben geübt. Die Weltleute entsagen zwar der Welt unddem Fleisch und unterwerfen sich in gewissem Maße, aber sie behal-ten sich doch stets etwas zurück; und alle gebrauchen mindestens diefreie Wahl in den geistlichen Übungen. Im Ordensleben aber verzich-

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tet man auf alles und man unterwirft sich in allem, denn da man seineFreiheit aufgegeben hat, verzichtet man vollständig auf seine Wahl inden Übungen der Frömmigkeit, um der Gangart der Gemeinschaft zufolgen.

Die allerseligste Jungfrau hat diesen letzten Verzicht bei ihrer Ge-burt in einer Weise geleistet, daß sie nie von ihrer Freiheit Gebrauchmachte. Betrachtet den ganzen Verlauf ihres Lebens, und ihr werdetnichts anderes sehen als eine ständige Unterwerfung ... Unser teuer-ster Erlöser und oberster Feldherr hat diesen vollkommenen Ver-zicht auf sich selbst am Kreuz geleistet. An dieses Kreuz haben sichalle Heiligen geheftet; dieses Leiden machten sie zum besonderenGegenstand ihrer Gebete. Und der echte Religiose muß gewiß immerdas Kreuz und den Gekreuzigten vor Augen haben, um von ihm zulernen, in rechter Weise auf sich selbst zu verzichten und sich selbstzu verleugnen. Und wenn auch die Güte Unseres Herrn so groß ist,manchmal die Wonne seiner Gottheit verkosten zu lassen, indem erden Seelen eine bestimmte Gnade und Gunst gewährt, so darf mandarüber nicht die Bitterkeiten vergessen, die er in seiner Menschheitfür uns erduldet hat. Denn ich habe es schon gesagt und ich werdenicht müde, es zu wiederholen: das Ordensleben ist ein Kalvarien-berg, wo man sich mit unserem Herrn und Meister kreuzigen muß,um mit ihm zu herrschen (Konst. 44) ...

Wie glücklich seid ihr, meine lieben Töchter, wenn ihr diesen voll-ständigen Verzicht auf die Welt, auf das Fleisch und auf euch selbstleistet und wenn ihr von nun an in der genauen Befolgung der Regelnund Konstitutionen lebt, die euch von Gott gegeben sind. Wenn ihrdas tut, werdet ihr ohne Zweifel die gleiche Gnade erlangen, die derhl. Nikolaus von Tolentino von Unserem Herrn, Unserer lieben Frauund vom hl. Augustinus empfing, da ihr Töchter des gleichen Vatersund der gleichen Mutter seid wie er. Wenn ihr eure Regeln getreubeobachtet, wird der Erlöser zusammen mit der seligsten Jungfraugewiß kommen, euch in eurer Todesstunde zu empfangen, zwar nichtsichtbar, denn das darf man nicht wünschen, aber wenigstens unsicht-bar, um euch in das ewige Leben zu führen, wohin uns der Vater, derSohn und der Heilige Geist geleiten mögen. Amen.

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Das Vorbild des Erlösers: die evangelischen Räte71

Das Leben Unseres Herrn ist das vollkommenste Vorbild für alleMenschen, besonders aber für jene, die dem Stand der Vollkommen-heit angehören wie die Ordensleute und die Bischöfe. Dieser Standmuß in zweifachem Sinn betrachtet werden: für die Ordensleute ist esder geeignete Stand, um sich zu vervollkommnen; bei den Bischöfensetzt er die bereits erworbene Vollkommenheit voraus. So müssenauch im Leben des Erlösers zwei Abschnitte unterschieden werden.Der erste ist das Vorbild und Modell für die Ordensleute; das ist dieZeit seiner Kindheit bis zum Beginn seiner Predigttätigkeit, denn derEvangelist (Lk 2,51) sagt ausdrücklich, daß er seinen Eltern untertanwar. Nachdem er zu lehren und zu predigen begonnen hatte, erfüllteer alle Aufgaben, die den Bischöfen zukommen. Er setzte die Sakra-mente ein; am Stamm des Kreuzes brachte er dann das blutige Opferseiner selbst dar; vorher setzte er beim Abendmahl, das er mit seinenAposteln feierte, das allerheiligste Sakrament des Altares als das un-blutige Opfer ein.

Kommen wir auf unseren Anlaß zurück und zum Gegenstand, denich im Auge habe: das wahre Vorbild des Ordenslebens. Mit den Kir-chenvätern können wir sagen, daß die ganze klösterliche Disziplinauf das Wort Selbstverleugnung zurückgeführt werden kann. Sehenwir daher, wie Unser Herr die Selbstverleugnung während der ganzenZeit seiner Kindheit in bewundernswerter Weise geübt hat. Um esaber besser zu verstehen, stellen wir darin drei Punkte fest, die ich aufdrei Tugenden anwenden werde, die alle Ordensleute geloben, näm-lich die Armut, die Keuschheit und den Gehorsam.

An erster Stelle: Kann man eine ärmere Armut finden oder sichvorstellen als die des Erlösers? Seht, wie er auf das Haus seines Vatersund seiner Mutter verzichtet, selbst vor seiner Geburt. Er kommt jazur Welt in einer Stadt, die ihm zwar in gewissem Sinn gehörte, da eraus dem Geschlecht Davids (Lk 2,4) stammte; er verzichtet dennochso vollkommen darauf, daß er in einem Stall verborgen zur Weltkommt. Welche Entbehrungen, meint ihr, hat er auf der Reise nachÄgypten ertragen, denn er weiß, daß die Stiefväter nicht verpflichtetsind, die Kinder ihrer Frau zu ernähren; und trotzdem wurde UnserHerr ernährt durch die Arbeit seines Nährvaters und seiner Mutter,die ihren Lebensunterhalt im Schweiß ihres Angesichts (Gen 3,19)

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erwarben. So empfing dieses göttliche Kind, das seinen Lebensunter-halt nicht erwerben konnte, vom hl. Josef das Almosen ... Die Liebezur Armut ließ unseren teuren Meister außerdem den Namen vonNazaret annehmen (Mt 2,23; Mk 16,6) und immer beibehalten, weildas eine kleine verachtete Stadt war und so zurückgesetzt, daß mannicht glaubte, wie sogar Natanael (Joh 1,46) sagte, daß in Nazaretetwas Gutes zu finden wäre. Er hätte sich gut nach Betlehem oderauch nach Jerusalem nennen können, aber er wollte es nicht, sowohlaus diesem Grund als auch aus anderen, die wir gleich nennen wer-den.

Gehen wir zum zweiten Punkt über, dem vollkommenen Verzichtauf alle sinnlichen Freuden. Unser Herr besaß eine stets unvergleich-liche Reinheit; aber seht ein wenig, wie er von seinem Eintritt in dieWelt an seinen Sinnen jede Art von Befriedigung versagte. Vor allemempfand er im Tastsinn äußerste Kälte. Ohne Zweifel kennt ihr dieOffenbarung, die die hl. Birgitta über die Geburt des göttlichen Hei-lands hatte. Sie sagte, daß Unsere liebe Frau in einer großen Entrük-kung war und ihn plötzlich auf der Erde liegen sah, ganz nackt; daßsie ihn sogleich nahm und ihn in die Windeln legte. Was den Ge-ruchsinn betrifft, bei Gott, welche Süßigkeit, welch angenehme Düf-te, glaubt ihr, konnte es in einem Stall geben? Wenn die Kinder dergroßen Könige geboren werden, obwohl sie auch nur armselige Men-schen sind, verwendet man so viele Wohlgerüche, macht man solcheZeremonien; und für unseren Erlöser, der nicht nur Mensch, sondernzugleich Gott ist, geschieht nichts von all dem! Welche Musik, umsein Gehör zu ergötzen? Ein Ochs und ein Esel, die singen, um dieGeburt des himmlischen Königs zu preisen. Schließlich gibt es nichtsin ihm, was Befriedigung fände, außer ein wenig der Geschmack, wenner die hochheilige Milch empfing, die vom Himmel gekommen ist,die ihn seine hochgebenedeite Mutter aus ihren Brüsten trinken ließ,denn man muß zugeben, daß sie besser als der köstlichste Wein (Hld1,1) war; aber das dauerte nur, bis sie durch den Schlund gelaufenwar.

Was den dritten Punkt betrifft, die Selbstverleugnung, wer konnte jezu einer so vollständigen Entäußerung kommen, um sich nach demWillen der Vorgesetzten leiten zu lassen? Bei Gott, in diesem Punkthat sich das göttliche Kind wohl als echter Religiose erwiesen! Derhl. Josef und Unsere liebe Frau sind seine Oberen, sie führen ihn, sietragen ihn von einem Ort zum anderen, und er läßt es sie tun, ohne

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jemals ein einziges Wort zu sagen. Er war selbst der Natur gehorsam,er wollte nicht anders wachsen noch sprechen als die übrigen Kinder.O unerhörte Selbstverleugnung; obwohl es in seiner Macht stand,Wunder zu wirken, wirkte er keines ... Doch war es nicht ein sehrgroßes Wunder, daß dieses hochheilige Kind solchen Verzicht undsolche Selbstverleugnung leistete, daß es sich nach dem Willen seinerVorgesetzten führen ließ und daß es nicht nur kein Wörtlein sagenwollte, um den Aufbruch (nach Ägypten) zu beschleunigen? Eine ge-wiß sehr bewundernswerte Lehre: Unser Herr ist erfüllt von allemWissen (Kol 2,3), er ist ja die Wissenschaft und Weisheit selbst; trotz-dem bewahrt er ständiges Schweigen, obwohl man die Menschen inder Welt, wenn sie eine Unze Wissen besitzen, nicht am Reden hin-dern kann, so sehr sind sie darauf aus, sich für Gelehrte halten zulassen.

Da also Unser Herr gekommen ist, um ein vollkommenes Beispieldes klösterlichen Lebens zu geben, ist es sehr vernünftig, daß mansich anschickt, ihn nachzuahmen, um dieses Leben zu ergreifen, dasihm so wohlgefällig ist. Deshalb finden sich diese Mädchen heute ein,um Ordensfrauen zu werden. Sie haben sich nämlich folgendes über-legt: Wenn mein Herr und mein Gott aus Liebe zur Armut auf dieReichtümer verzichten wollte, auf seine Heimat und auf das Hausseiner Eltern, warum sollte ich dann nicht nach seinem Vorbild dasgleiche tun? Und wenn er allen Freuden entsagte, ja sich selbst, umsich aus Liebe zu mir zu unterwerfen und mir zu zeigen, wie wohlge-fällig ihm das Ordensleben ist, in dem das alles geübt wird, warumsollte ich es nicht tun, um ihm zu gefallen? Nein, sagen sie, wir verlas-sen die Welt nicht, um den Himmel zu gewinnen; denn die in ihrleben, können ihn gewinnen, indem sie im Gehorsam gegen die Ge-bote Gottes leben; wir tun es, um unsere Liebe und liebende Hingabean die göttliche Güte zu vermehren, und sei es auch nur ein wenig.

Unser Herr nahm den Beinamen Nazarener außer dem Grund, denwir genannt haben, auch deswegen an, weil dieses Wort ‚Blume‘ blü-hend, bedeutet. Diese Mädchen kommen daher zum Duft dieser Blu-me (Hld 1,3) ... Er selbst erklärt im Hohelied (2,1), welche Blume erist: Ich bin die Blume des Feldes und die Lilie der Täler ... Man kannnicht daran zweifeln, daß er Lilie genannt wird, deren Weiße her-vorragend ist, da er durch eine unvergleichliche Reinheit stets weißwar. Die Lilie kann ebenso wie die Rose ohne Pflege wachsen, wie

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man in bestimmten Gegenden sieht. Das zeigt uns die Liebe, die Un-ser Herr zur Einfachheit hatte, denn er will nicht von den Gartenblu-men seinen Namen bekommen, die mit so viel Sorgfalt und Kunstgepflegt werden. Er wählte außerdem die Rose unter den anderenBlumen aus seiner Liebe zur heiligen Armut, weil es nichts Ärmeresgibt als die Rose; sie hat nichts als Dornen und verlangt nicht, wie wirgesagt haben, daß man sich um sie bemüht, um sie zu pflegen. Trotz-dem strömt sie unablässig einen lieblichen Duft aus. Ebenso verbrei-tete Unser Herr, obwohl er bei seinem Tod und Leiden und währendseiner ganzen Lebenszeit von Kreuz, Dornen und Bedrängnissen je-der Art umgeben war, unablässig einen bestimmten Duft voll Lieb-lichkeit aus. Von daher müssen wir die Bedrängnisse, inneren Dun-kelheiten und die Verdrossenheit des Geistes verstehen, die manch-mal bei den geistlichen Personen, die sich der Frömmigkeit beflei-ßen, so groß sind, daß es ihnen fast scheint, sie seien ganz von Gottverlassen, die sie aber doch nie bis zum Äußersten kommen lassen,daß sie nicht stets vor der göttlichen Majestät den Duft heiliger Un-terwerfung unter seinen hochheiligen Willen und des ständigen Ver-sprechens verbreiten, ihn nicht beleidigen zu wollen.

Man täuscht die Menschen nie, die sich einfinden, um der göttli-chen Güte dargebracht und geopfert zu werden. Man verspricht ihnenja, daß sie sich der Reichtümer der ewigen Seligkeit erfreuen werden,aber unter der Bedingung, daß sie zuvor auf die irdischen und ver-gänglichen Reichtümer verzichten. Man sagt ihnen, daß man die Hei-mat und sein Elternhaus tatsächlich und der Anhänglichkeit nachverlassen muß, um nur mehr die Anhänglichkeit zu Unserem Herrnzu haben, das ist zum Orden, in den sie eintreten. Man versprichtihnen die Tröstungen, die Gott gewöhnlich denen gibt, die ihm treudienen, Tröstungen, die sehr groß sind, selbst in diesem Leben, aberunter der Bedingung, daß sie auf alle sinnlichen Freuden verzichten,so erlaubt sie auch sein mögen. Man versichert ihnen, daß sie mit dergöttlichen Majestät ewig vereint sein werden, aber nachdem sie sichselbst vollständig verleugnet haben, alle ihre Leidenschaften, Anhäng-lichkeiten und Neigungen, wenn sie eine vollständige Auswanderungvollzogen haben; denn wir sagen ihnen: Wenn ihr gern nach euremWillen gelebt und eine hohe Meinung von eurem eigenen Urteil ge-habt habt, dürft ihr es von jetzt an nicht mehr, sondern sollt nichtshöher schätzen als Gehorsam und Unterwerfung; ihr müßt eure Lei-denschaften soviel als möglich zunichte machen, um nicht mehr nach

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ihnen zu leben, sondern nach der Vollkommenheit, die man euchlehren wird.

Wir setzen ihnen einen Schleier aufs Haupt, um ihnen zu zeigen,daß sie den Augen der Welt verborgen sein werden. Und wenn sie esin der Vergangenheit geschätzt haben, bekannt und geachtet zu sein,wird man von jetzt an keinerlei Erwägung mehr von ihnen machen.Der Schleier wird nicht erkennen lassen, ob sie schön, von anmuti-gem oder angenehmem Äußeren sind; folglich müssen sie auf die An-hänglichkeit verzichten, die sie an all das haben könnten. Wir ändernihre Kleidung, um ihnen zu verstehen zu geben, daß sie ihre Gewohn-heiten vollständig ändern müssen. Wir sagen ihnen, daß sie wahrhaf-tig berufen sind, sich der Glückseligkeit des Erlösers auf dem BergTabor zu erfreuen, aber nachdem sie mit ihm auf dem Kalvarienberggekreuzigt worden sind durch eine beständige Abtötung ihrer selbstund durch bereitwillige, wahllose Annahme der Abtötungen, die ih-nen bereitet werden. Und schließlich versprechen wir ihnen nicht,daß sie Bräute unseres verherrlichten Herrn sein werden, außer nach-dem sie die unseres gekreuzigten Herrn gewesen sind; ebensowenigbieten wir ihnen die goldene Krone, außer nachdem sie die Dornen-krone angenommen haben.

Und schließlich sagen wir ihnen, daß das Ordensleben ein Kalvari-enberg ist, wo sich die Liebhaber des Kreuzes aufhalten und nieder-lassen. Die Bienen weisen alle fremden Gerüche zurück und verab-scheuen sie, d. h. solche, die nicht von Blumen stammen, aus denensie ihren Honig sammeln (um zu sehen, daß dem so ist, legt ihnenMoschus oder Zibeth vor, und ihr werdet sehen, daß sie sich sogleichzurückziehen und diesen Geruch fliehen, weil er von Fleisch stammt),ich will sagen, irdische und weltliche Tröstungen, die ihnen der Teu-fel, die Welt und das Fleisch anbieten, um nie mehr einen anderenDuft einzuatmen als den, der vom Kreuz stammt, von den Dornen,den Ruten und der Lanze Unseres Herrn. Das alles ist der Schmuckund das Geschmeide, das der Bräutigam seiner Braut schenkt, denndas sind die wertvollsten Stücke seiner Schatzkammer. Der irdischeBräutigam schenkt seiner Braut Ketten, Armbänder, Ringe, Samt,Atlas und ähnliche Nichtigkeiten; außerdem veranstaltet er zu seinerHochzeit ein Festmahl. Unser Herr macht es ebenso; aber wißt ihr,was er anstelle von Fasan und Rebhuhn anbietet? Abtötungen, Demü-tigungen, Geringschätzung, Schmerzen und innere Peinen, die uns

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fast zweifeln lassen, ob wir nicht ganz und gar von seiner Güte verlas-sen sind.

Ich muß noch von einer bewundernswerten Eigenschaft der Bienensprechen. Sie sind ihrer Königin so treu, daß sie, wenn diese stirbt,sich um ihren Leib scharen und eher sterben, als sie zu verlassen.Wenn nicht der Imker käme, um sie zu vertreiben, würden sie sichohne Zweifel nie von ihr trennen. Die Leiter der geistlichen Bienenmachen es genau umgekehrt; denn wie der Imker sich bemüht, sie zuentfernen, weil er fürchtet, daß sie rings um ihre Königin sterben, sosind sie sehr darauf bedacht, daß die Seelen um den Leib ihres Kö-nigs, der gestorben ist, geschart bleiben, d. h. um Unseren Herrn, deram Kreuz gestorben ist. Bei ihm müssen wir unser Leben lang treuausharren, um die Liebe zu betrachten, die er zu uns hegt, die ihn füruns sterben ließ, damit wir durch seine Liebe und in seiner Liebeleben (vgl. 2 Kor 5,15). So sei es.

Fragmente über Armut und Gehorsam72

1.

Die vollkommene innerliche Armut besteht darin, das Herz losge-löst und getrennt von allen Dingen zu haben, die man gebraucht, sienur als geliehen zu betrachten und bereit zu sein, sie jedesmal ohneVerstimmung abzugeben, sobald es die Oberen anordnen. So sindjene, die die wahre Liebe haben, mit dem Notwendigen zufrieden;und sie sind von den Dingen nicht nur im Herzen losgelöst, sondernauch in der Ausdrucksweise, indem sie dafür nicht das Wort ‚mein‘gebrauchen, sondern ‚unser‘. Mit der gleichen Mäßigung muß manden Besitz der Gemeinschaft lieben, indem man ihn nicht mit derGesinnung des Eigentümers betrachtet, die uns den Frieden des Her-zens raubt oder uns in den Ansprüchen, in seiner Erhaltung oder Ver-teilung falsch handeln läßt; man muß ihn vielmehr in religiösem Geistals etwas Gott Geweihtes betrachten, das man nur im Sinn des Herrnlieben darf, dem er geweiht ist.

Die klösterliche Armut führt zu armer Tafel, armem Bett, armerKleidung und armer Zelle. Das muß notwendig erscheinen, weil wires nicht gut entbehren können. Alles andere muß eingeschränkt wer-den, soviel wir können. Man muß auch manchmal selbst auf notwen-

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dige Dinge verzichten, vor allem aber in Liebe jeden Mangel an not-wendigen Dingen annehmen, der uns trifft, von welcher Seite er auchkommt, und gern auch arme Dinge annehmen, die uns zukommen,worin es auch sei.

Über alle Armut hinaus müssen wir die des Herzens haben, die unsbescheiden und klein in unseren Augen macht. Die geistliche Armutbesteht im Aufgeben aller Dinge, in der Verachtung seiner selbst, imVerzicht auf alle Dinge und auf den eigenen Willen in allem: diesedrei Stufen sind die Lehren des wahren Ordenslebens. Sich niemalsdessen rühmen, was man in der Welt war, dafür nicht gelobt und ge-schätzt werden wollen; davor soviel als möglich fliehen aus Furcht,daß deswegen unsere Armut höher geschätzt werde, d. h. die erhabeneDemut Unseres Herrn nachahmen. Man muß alles fliehen, was rüh-menswert ist.

Die große und heilige Armut besteht darin, anzuerkennen, daß wirnichts haben und aus uns selbst nichts vermögen als Armseliges. Ichbin ein Bettler und arm; mein Gott, komm mir zu Hilfe (Ps 40,18;50,6). Es ist gut, unsere Niedrigkeit im Vergleich mit der Heiligkeitder Heiligen zu erwägen, die sich für ein Nichts hielten.

Die höchste Armut ist die vollständige Verleugnung des eigenenWillens, indem man sich in allem dem des Nächsten anpaßt und nichtswill als Gott und die Erfüllung seines Wohlgefallens.

Glückselig der Arme, denn er wird im Schoß Gottes geborgen sein.Habt Vertrauen auf Gott (Sir 2,8), bergt euch in seiner Hut, richteteuer Denken auf ihn, und er wird euch ernähren (Ps 55,23; 1 Petr5,7). Damit ihr gläubig sagen könnt: Gott trägt Sorge für mich (Ps40,18), werft eure ganze Sorge auf ihn, denn er sorgt für euch.

Auf sich selbst vertrauen ist nicht dem Glauben eigen, sondern derTreulosigkeit. Wahrhaft treu ist, wer nicht auf sich vertraut und keineZuversicht auf sich hat, der wie ein zerbrochenes Gefäß geworden istund seine Seele in dem Maß verliert, daß er sie für das ewige Lebenbewahren will (Mt 10,39; Lk 9,24; 17,33). Einzig die Demut bewirkt,daß die Seele nicht auf sich selbst vertraut, sondern sie im Verzichthält, sich in die Wüste zurückzieht und sich ganz auf ihren Vielge-liebten stützt (vgl. Hld 8,5).

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2.

Der hl. Petrus sagt: Unterwerft euch allen menschlichen Geschöpfenaus Liebe zu Gott (1 Petr 2,13). Der Ordensgehorsam ist ein Brand-opfer, das man Gott darbringt, ohne etwas von seinem eigenen Willenzurückzubehalten. Der Gehorsam ist die höchste und einmalige Tu-gend. Der hl. Bernhard sagt: „Der Obere befehle nicht nach seinemBelieben, sondern nach der Regel; ... er vermehre nicht die Gelübdeohne den Willen der Untergebenen, er vermindere sie auch nicht ohneNotwendigkeit.“ Aber „der Untergebene soll wissen, daß der Gehor-sam unvollkommen ist, der sich auf die Grenzen der Gelübde be-schränkt, denn der vollkommene Gehorsam erstreckt sich auf alles,worin sich die Liebe findet.“ Der hl. Bernhard sagt auch: „Den wiranstelle Gottes als Oberen haben, den müssen wir wie Gott hören inallem, was nicht offenkundig gegen Gott ist.“

Man muß gehorchen durch die Unterwerfung des Urteils. EigenesUrteil nennt man jenes, das vom Sinn der Kirche, der Bischöfe undOberen abweicht; eines, das vom Sinn der Kirche, der Bischöfe undOberen abweicht, befindet sich im Irrtum.

Der Gleichmut besteht darin, nicht mehr nach einer Seite als nachder anderen zu neigen. Obwohl der vollkommene Gehorsam ent-schlossen ist, alles zu erfüllen, was von den Geboten, der Regel undden Anordnungen verlangt wird, ist er allem gegenüber gleichmütigund sagt stets im Herzen und mit dem Mund: Herr, was willst du, daßich tue (Apg 9,6)?

Der Preis der reinen Liebe73

Das Himmelreich, sagt der Herr (Mt 13,45f), gleicht einem Kauf-mann, der alles verkauft, was er besitzt, um die unschätzbare Perle,die er gefunden hat, zu erwerben. Diese kostbare Perle, die die Kauf-leute des Himmels finden, ist die reine Gottesliebe. Um sie zu erwer-ben, verkaufen sie alles, was sie haben. Die ersten Christen begnügtensich nicht damit, die Gebote Gottes zu befolgen, sondern befaßtensich auch mit der genauen Übung der Räte. So sehen wir, daß sie nurein Herz und eine Seele hatten, denn das Wort von Mein und Dein warbei ihnen nie zu hören ... Die Ordensmänner und Ordensfrauen wur-

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den wegen dieses Verzichts auf alle Dinge zu allen Zeiten sehr gelobt,doch sehen wir von den Ordensmännern ab und sprechen wir nur vonden Ordensfrauen, denn das entspricht meinem Vorhaben besser.

Der große hl. Augustinus wirft den Manichäern vor, daß sie in ihrerReligion nichts Vergleichbares haben und nichts, was im geringstender Tugend der Jungfrauen gliche, die in den Klöstern eingeschlossenleben. Sie sind rein wie die Tauben und machen das Gelübde dauern-der Keuschheit. Vor allem aber rühmt er ihren Verzicht auf alles undsagt, sie haben allen Besitz so vollständig aufgegeben, daß sie nichtsfür sich persönlich besitzen und daß die schädlichen Worte ‚mein‘und ‚dein‘ bei ihnen nicht zu hören sind. Der glückselige hl. Ignatiusempfiehlt einem seiner Freunde in einem Brief ausdrücklich die Jung-frauen und Witwen, die in den Klöstern vereinigt leben; die Jungfrau-en als Opfergaben für Gott, die Witwen gleichsam als Altar. Er emp-fiehlt sowohl die einen als auch die anderen wegen des großen Ver-zichts, den sie auf alles in der Welt geleistet haben, sowohl auf das,was sie besaßen, als auch auf die Ansprüche, die sie stellen könnten,wie auch wegen ihrer vollständigen Selbstverleugnung.

Zu diesem vollständigen Verzicht seid ihr nun berufen, meine teu-ersten Töchter. Es ist ein sehr hoher Anspruch, die reine Gottesliebezu erwerben; sie ist die kostbare Perle, die ihr sucht und die ihr gefun-den habt. Man kann sie aber nur um den Preis aller Dinge erwerben.Es liegt in eurer Macht, wenn ihr sie besitzen wollt, man muß aberauch den vollständigen Verzicht auf alles leisten, und was noch mehrist, ihr müßt euch selbst verlassen, denn die reine Gottesliebe kannkeinen Genossen vertragen. Sie will nicht nur ohne Rivalen sein, son-dern sie will allein in unserem Herzen sein und hier friedlich herr-schen. Denn wenn sie aufhört zu herrschen, hört sie gleichzeitig aufzu sein.

Wir haben zwei Ich, die wir verleugnen, denen wir vollständig undohne Vorbehalt entsagen müssen, um wahre Ordensleute zu sein. Wirhaben das äußere Ich, das der hl. Paulus (Röm 6,6) den alten Men-schen nennt; wir haben noch das andere Ich, unser eigenes Urteil undunseren Eigenwillen, und in diesem liegt die entscheidende Aufgabe.Man muß wahrlich den Leib recht verleugnen und abtöten, aber dasgenügt nicht; man muß vor allem den Geist abtöten. Hört die Brautim Hohelied (8,7); sie sagt, wenn jemand seine ganze Habe für Gotthingibt für seine reine Liebe, wird er das für nichts erachten und glau-

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ben, daß er fast nichts für seine so kostbare Perle gegeben habe. AlleOrdensleute nehmen sich nichts Geringeres vor, als sich ganz in Gottumzugestalten, ein Anspruch, der gewiß eines großmütigen Herzenswürdig ist, ein Anspruch auch, den wir alle erheben müssen. Abererinnern wir uns, daß jene, die es unternehmen, Eisen in Gold umzu-schmelzen oder umzuformen, große Mühe aufwenden und sehr großeSorgfalt walten lassen müssen, obwohl ich nicht weiß, ob sie es kön-nen oder nicht ...

So müssen die Seelen, die das hochherzige Unterfangen eingegan-gen sind, sich ganz in Gott umzugestalten, nichts anderes tun, als sichvernichten, sich demütigen und sich verlassen, bis sie so geläutertsind, daß nichts in ihnen bleibt als einzig der himmlische Schmelz-fluß, der in ihnen ist, d. h. das Bild und Gleichnis der göttlichenMajestät. Seht, was der hl. Paulus tat, um in Wahrheit sagen zu kön-nen: Nicht mehr ich lebe, sondern Jesus Christus lebt in mir (Gal 2,20).Welche Verfolgungen, welche Abtötungen, welche Erniedrigungenaller Art, der Peinen und Schmerzen hat er doch ertragen! Hört, waser (1 Kor 4,11-13) schreibt: Bis zur Stunde werden wir geschmäht,maßlos verfolgt, beleidigt, verachtet, so sehr, daß wir für den Kehrichtdieser Welt gehalten und erachtet werden. Jeder weiß, daß es in einemHaus nichts Minderwertigeres gibt als den Kehricht, so daß man nurauf den Augenblick wartet, bis er hinausgeschafft wird. Ebenso, sagtder hl. Paulus, kann man die Stunde nicht erwarten, daß man uns derWelt aus den Augen schafft, so sehr sind wir ihnen ein Greuel. Dannfügt er hinzu: Wir werden eingeschätzt wie die Schale des Apfels;denn wenn die Welt ein Apfel ist, werden wir für deren Schale gehal-ten, die man wegwirft wie ein Nichts.

Um also die Umgestaltung zu erfahren, die wir uns vorgenommenhaben, wird es notwendig sein, daß auch wir auf ein Nichts zurückge-führt werden, erniedrigt, verachtet und abgetötet wie der Auswurf derWelt. Ihr habt auf die äußeren Güter verzichtet; es ist aber sehr schwie-rig und recht mühsam, euer eigenes Urteil zu unterwerfen, euren Ver-stand dem einer Oberin unterzuordnen, euren eigenen Willen so sehrzu verleugnen, daß er nur noch ihren Anordnungen unterworfen undgehorsam erscheint. Um das zu tun, braucht es großen Mut. Das istwahr, meine lieben Töchter, doch wenn euch die Schwierigkeit er-schreckt, will ich euch drei Überlegungen vorschlagen, die euch zei-gen, daß das Unterfangen leichter ist, als ihr denkt; sie sollen euch alsBeruhigung dienen.

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Die erste ist, daß Er, der euch beruft, seine ganz reine Liebe zu ge-winnen, stark genug ist, euch zu helfen (1 Thess 5,24; 2 Tim 1,12).Sagt kühn zu ihm: „Herr, befiehl unseren Seelen alles, was dir gefal-len mag, und verleih uns, daß wir es tun können“ (Augustinus). Gibuns das Verlangen, zu dir zu gelangen, alles zu tun, was deiner Gütewohlgefällig ist, und erfülle dieses Verlangen (vgl. Phil 2,13). Du rufstuns; bewirke durch deine Gnade, daß wir folgen. Du hast das Werkunserer Vollkommenheit begonnen; wir wollen nie daran zweifeln,daß du es vollenden wirst (Phil 1,16).

Die zweite Überlegung, die euren Mut heben wird, ist die Erkennt-nis, worin der Mut besteht. Ich habe euch gesagt, daß ihr große Hoch-herzigkeit braucht, um an das Ziel dieses Unterfangens zu gelangen.Aber was meint ihr, worin diese Hochherzigkeit eures Mutes besteht?Gewiß darin, daß der Mut klein ist. Ihr werdet um so mehr Mut ha-ben, je kleiner ihr vor euch selbst seid. Erinnert euch an das Wort, dasUnser Herr dem Herzen seiner Apostel so wunderbar eingeprägt hat:Wenn ihr nicht werdet wie die kleinen Kinder, könnt ihr nicht in dasHimmelreich eingehen (Mt 18,3). Wir müssen den kleinen Kindernan Mut gleichen, d. h. demütig sein wie sie. Beachtet aber, ich bitteeuch, daß der Erlöser die Größe seines Mutes erwiesen hat in demhöchsten Akt der Liebe, die er uns erwiesen hat in seinem Tod undLeiden. Seht, er tut nichts, als alles mit sich geschehen zu lassen, wasman will. Die Hochherzigkeit seines Mutes besteht darin, sich nachjedermanns Gutdünken behandeln zu lassen. Ebenso muß unser Mutsich nicht so sehr im Handeln erweisen als darin, in uns und mit unsgeschehen zu lassen, was man will. Wir müssen uns nicht nur gegenUnseren Herrn gefügig zeigen, sondern auch unseren Oberen gegen-über, biegsam und demütig wie kleine Kinder, denn unsere Größeliegt in unserem Kleinsein, unsere Erhöhung in unserer Erniedri-gung.

Die dritte Überlegung, die euch zu großem Trost gereichen kann,betrifft die Ehre für euch, daß ihr eure Hingabe darzubringen kommtunter dem Schutz der glorreichen Mutter, der allerseligsten Gottes-mutter. Wie eine Perle des Meeres bleibt sie im Meer dieser Welt,ohne einen Tropfen Salzwasser aufzunehmen, ich will sagen, ohne imgeringsten benetzt zu werden von den eitlen Freuden der Welt; viel-mehr lebte sie stets ganz heilig in der Übung jeder Art von Tugend.Zweifelt nicht daran, daß sie euch unter ihre Obhut nimmt, wenn ihreure Opfergabe in Demut und Einfalt des Herzens darbringt. Das

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sind ja die Tugenden, die während ihres Lebens am meisten an ihrleuchteten im Verein mit jener, treu den himmlischen Anregungenund Einsprechungen zu entsprechen. Das sind die Tugenden, durchdie sie ohne Zweifel verdiente, nächst ihrer allerseligsten Tochtermehr als jede andere Frau mit Gnaden überhäuft zu werden, vor al-lem mit jener, der allerheiligsten Menschheit unseres gütigen Erlö-sers und Meisters so nahe zu stehen. – – –

Die hochheilige Demut74

Alle alten Väter geben mehrere Methoden an, die Vollkommenheitzu erwerben; sie sagen, es gibt den Weg der Reinigung, der Erleuch-tung und der Vereinigung. Um es kürzer zu machen, pflege ich stetszu sagen, wir müssen uns von unseren Unvollkommenheiten reini-gen, denn unfehlbar wird sich die Tugend einstellen, wenn wir dasLaster in uns ausrotten. Wir müssen also großen Mut haben, um beidieser Arbeit nicht müde zu werden, und große Geduld mit uns selbst,weil wir immer etwas zu tun und in uns zu beschneiden haben wer-den. Gewiß, wir werden nie vollständig geheilt sein, bis wir im Him-mel sind; denn wenn wir jetzt einen Fehler verbessern, gibt es gleicheinen anderen zu verbessern, und dann werden andere drankom-men. Wir müssen unser Herz sanft zurechtweisen und es liebevollalle Mittel zu unserem Fortschritt ergreifen lassen; wir müssen unsbemühen, uns mit schönen Gewohnheiten zu schmücken, um vorunserem himmlischen Bräutigam zu erscheinen und ihm zu gefal-len. Die Gewohnheiten sind für den Geist, was die Kleider aus Stofffür den Leib sind ...

Sprechen wir ein wenig von der Armut des Geistes. Was meint ihr,was das ist, die Armut des Geistes? Das ist nichts anderes als diehochheilige Demut, denn der Reichtum des Geistes besteht in Eitel-keit, Stolz und Anmaßung; sie bewirken, daß wir uns für reich haltenund uns aufblähen, während wir in Wirklichkeit sehr arm sind (vgl.Offb 3,17). Die Demut brauchen wir so notwendig, daß wir ohne sieGott nicht gefallen noch irgendeine andere Tugend besitzen können,nicht einmal die Liebe, die alles vollkommen macht. Sie ist ja mit derDemut so eng verbunden, daß man diese beiden Tugenden nicht von-einander trennen kann. Sie haben eine so große Verwandtschaft mit-

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einander, daß es die eine nicht ohne die andere gibt. Wenn ihr mirsagt, daß ihr Liebe habt, habt aber die Demut nicht, dann antworteich, daß ihr lügt. Und wenn ihr versichert, daß ihr die Demut habt,nicht aber die Liebe, dann sagt ihr nichts, was gilt. Die Demut ist einekleine Tugend und scheinbar die geringste von allen; sie neigt sichihrer Natur nach stets zu Boden, weil sie sich auf dem Grund derErde und des Nichts verbirgt und erniedrigt. Die Liebe ist die erste,die hervorragendste und erhabenste Tugend, denn sie umfängt Gott;und doch will sie sich mit der Demut vereinigen, mit der sie vermähltist.

Wenn die Weltleute einen frommen Menschen sehen, sagen sie so-gleich: Er ist heilig. Und wenn ihr sie fragt: Warum ist er heilig?,dann werden sie antworten: weil er viel Zeit in den Kirchen verbringt,weil er viele Rosenkränze betet und viele Messen hört. Das ist gut;aber warum noch ist er heilig? Weil er so oft die Kommunion emp-fängt. Ja, das ist gut; aber warum noch ist er heilig? Weil er im Gebetso viele Tränen vergießt. Das ist gut, wenn Gott sie schenkt. Was abertut er noch, um so heilig zu sein, wie ihr sagt? Er gibt so oft Almosen.Gut, das alles ist gut; aber besitzt er Liebe und Demut? Wenn er sienämlich nicht besitzt, gebe ich auf alles andere nicht viel; seine Tu-genden sind Trugbilder, nicht echte und gediegene Tugenden. Sehtden Bischof in der Geheimen Offenbarung (3,17), der bei sich sagte:Ich bin reich und gelehrt, ich bin beredt und von hoher Würde. UnserHerr sieht seine Überheblichkeit und läßt ihm einen kurzen Briefschreiben, durch den er ihn ermahnt: Du hältst dich für reich, aber dubist sehr arm, du bist elend. (Es gibt Arme, die nicht elend sind, weilsie gesund, stark und munter sind, so daß sie ihren Lebensunterhaltverdienen können.)

Viele werden am Tag des Gerichts zu Unserem Herrn sagen: Herr,wir haben in deinem Namen Wunder gewirkt, wir haben in deinemNamen Kranke geheilt, wir haben in deinem Namen Tote auferweckt;und Unser Herr wird ihnen antworten: Ich kenne euch nicht, ihr Übel-täter (Mt 7,22; Lk 13,27); ihr habt das alles tatsächlich in meinemNamen getan, aber nicht meinem Namen gemäß; deshalb kenne icheuch nicht. Ihr werdet keinen Lohn empfangen und keinen Teil an mirhaben (Joh 13,8). Schließlich seht ihr, meine lieben Schwestern, daßwir ohne die Liebe nichts sind. Jener Bischof besaß wirklich großeTalente und innere Reichtümer; weil er aber diese beiden Tugenden

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nicht besaß und in sich aufgeblasen war in Stolz und Eitelkeit, des-halb ist er vor Gott arm und alles Guten entblößt. Wenn ihr die Liebeohne die Demut zu besitzen glaubtet, würdet ihr euch täuschen; dashieße, es machen wie einer, der das Dach auf ein Haus setzen wollte,ohne vorher das Fundament und die Mauern gebaut zu haben; derwäre gewiß ein großer Narr. Die Liebe ist das Dach des ganzen Ge-bäudes der christlichen Vollkommenheit, die Demut sein Fundament;daher zieht sie vor der Liebe in die Seele ein, um ihr die Wohnung zubereiten.

Die heilige und echte Demut bewirkt, daß sich die Seele für sehrgering vor Gott erachtet; aber nicht nur vor Gott (für eine Mücke istes leicht, sich im Vergleich mit einem Elefanten für nichts zu halten),sondern auch vor den Geschöpfen. Sie hält sich für das geringste undunvollkommenste von allen, sie demütigt und erniedrigt sich, hältsich für gering, verächtlich und bar alles Guten. Das anerkennt sienicht nur vor sich selbst, sondern, was noch vollkommener ist, siewill, daß alle Welt sie als das ansieht und behandelt, ja sie verlangtdanach und freut sich darüber. Es gibt noch manche, die sich fürelend, unvollkommen, gering und verächtlich halten, aber selten sinddiejenigen, die als solche behandelt werden wollen. Diese Demut ließdie Ordensleute der Welt entfliehen, um sich im heiligen Ordensle-ben zu verbergen. Da sie an sich nichts sahen, was einen Wert hätteund von der Welt beachtet zu werden verdient, zogen sie sich zurück,um von ihr für gering und verächtlich gehalten zu werden.

Wißt ihr nicht, was der große hl. Paulus (1 Kor 4,13) sagt? Weil erund die anderen Apostel ihrem Meister dienten und die Welt verach-teten, wurden sie von den Weltleuten für den Auswurf der Welt, fürKehricht und Apfelschalen gehalten; das sind so wertlose Dinge, daßman sie wegwirft. Hört den Apostel Gottes (Phil 3,8) sagen: Ich habealles für Kot und Unrat erachtet, um Jesus Christus zu gewinnen undseine Gunst. Nach dem Vorbild dieses Gefäßes der Auserwählung (Apg9,15) haben auch die Ordensleute alles in der Welt für Kot und Unraterachtet, denn sie haben alles verlassen: ihre Eltern, ihren Reichtumund die Befriedigung, die sie erwarten konnten, um sich in das Klos-ter zurückzuziehen, damit sie Unseren Herrn gewinnen und seineGunst, indem sie sich der Übung der heiligen Demut widmen. Da-durch machen sie sich würdig, die Gunsterweise ihres göttlichen Bräu-tigams zu empfangen.

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Sie ist gewiß die erste Tugend, die man besitzen muß, wenn man inden Orden eintritt, sonst wird man hier keine Zufriedenheit finden.Man muß sich für gering, arm und bar alles Guten halten und hierherkommen in dem Glauben, daß man nichts ist, daß man nichts gilt.Deshalb verbirgt man sich, weil man nicht verdient, von Gott und denGeschöpfen beachtet zu werden. Wenn eine hochgestellte Persönlich-keit in ein achtbares Haus kommt, verstecken sich die Mädchen desHauses, das eine da, das andere dort, weil sie nicht ihrem Wunschgemäß geputzt sind. So flüchten sich auch diese Ordensleute in dasKloster aus Furcht, gesehen zu werden, weil sie nichts zu besitzenglauben, was beachtet und geschätzt zu werden verdiente. Sie haltenden Blick fast immer gesenkt, um zu sehen, woher sie gekommensind, um sich zu erniedrigen und zu verdemütigen. Sie sind das ge-naue Gegenteil der Mädchen in der Welt: um sich der Welt rechtanzupassen, sind diese aufgeblasen von Stolz und Eitelkeit, habenden Kopf erhoben, die Augen offen und möchten von den Weltleutenbeachtet werden.

Wenn ich sehe, wie der Großteil der Menschen nach nichts wenigerals nach Demut trachtet, wie sie vor ihr fliehen, um nach Ehren, höhe-ren Stellungen und großen Würden zu streben, wie sie voll Anma-ßung und Stolz sind, mein Gott, das ist für mich unerträglich! Undwißt ihr Weltmenschen nicht, daß der reiche Prasser (Lk 16,19-22),weil er von Hochmut aufgebläht war, wie er durch die Verachtung desarmen Lazarus bewiesen hat, jetzt für die ganze Ewigkeit in der Hölleist? Wenn aber diese Leute von Welt ein wenig in die Kirche gehen,um die heilige Messe zu hören, wenn sie zu Ostern die Kommunionempfangen und irgendein Almosen geben, meinen sie, deswegen schonHeilige zu sein, so daß man sie nur heiligzusprechen und zur Ehreder Altäre zu erheben braucht. Arme Menschen, wißt ihr nicht, daßdas alles nichts ist (1 Kor 13,2f), wenn ihr die Liebe und die Demutnicht habt?

Was meint ihr, woher die Laxheit und Unordnung in bestimmtenOrdenshäusern kommt? Gewiß daher, weil es dort keine Demut gibt.Und warum, glaubt ihr, gibt es dort keine Demut? Deshalb, weil mandort das unselige Wort von Mein und Dein nicht verbannt hat. Dennsobald die Gemeinsamkeit und die Armut nicht mehr beachtet wer-den, kehren sogleich Anmaßung und Hochmut ein. Nichts bläht unsja so auf wie Reichtum, von dem wir ‚mein‘ und ‚dein‘ sagen können.Die heilige Armut trägt sehr dazu bei, die Demut zu nähren und zu

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erhalten, denn es gibt nichts, was uns so sehr demütigt und erniedrigtwie arm zu sein, so daß die Demut durch die Armut und Gemein-schaft sehr gut gesichert wird.

Deshalb haben die alten Väter und die Ordensgründer stets getrach-tet, in ihren Orden und Klöstern die Gemeinsamkeit der Güter ein-zuführen. Seht den hl. Augustinus; er wollte sie sehr genau beobach-tet wissen, denn er verbietet streng, „daß man irgendetwas, so klein essein mag“, selbst eine Nadel, für sich besitze (Konst. 5); vielmehrmuß alles gemeinsam sein, so daß das Wort von Mein und Dein voll-ständig verbannt ist. Die Ration und alles übrige muß gleich sein,soweit es die Notwendigkeit zulassen kann; denn in Orden, wo allesnicht gemeinsam ist, gibt es besondere Rationen. Wo es keine Armutgibt, gibt es schließlich als Konsequenz keine Demut, denn diese zweiTugenden sind fest miteinander verbunden, die eine trägt viel dazubei, die andere zu wahren und aufrechtzuhalten, wie ich schon gesagthabe. Es findet sich fast niemand, der arm sein möchte; deshalb gibtes auch so wenige, die demütig sind.

Der große hl. Franziskus liebte diese Tugend der Armut einzigartigund viel mehr, als ein Liebender je seine Geliebte geliebt hat und alsder große Alexander seine Reichtümer liebte. Glücklich sind daherdie Seelen, denen Gott so viel Barmherzigkeit erwiesen hat, daß er siein einen Orden berief, wo die heilige Gemeinsamkeit genau beobach-tet wird, denn sie haben gewiß mehr Möglichkeiten und größere Leich-tigkeit, die hochheilige Demut zu erwerben. Und wenn sie die Demutbesitzen, haben sie folglich auch die echte Armut des Geistes, mit derdie ewige Glückseligkeit verbunden ist. Unser Herr hat sie ihnen javerheißen mit den Worten: Selig die Armen im Geiste, d. h. die Demü-tigen, denn ihrer ist das Himmelreich (Mt 5,2).

Alle Ordensleute sind im Stand der Vollkommenheit, obwohl da-durch nicht schon alle vollkommen sind. Der große hl. Ludwig, derKönig von Frankreich, war nicht im Stand der Vollkommenheit; trotz-dem war er vollkommen und in einem sehr hohen und erhabenenGrad, wie man weiß. Es hat wenig zu bedeuten, ob man im Stand derVollkommenheit ist oder nicht, wenn man nur vollkommen ist. Sehtdoch, wie sich die Weltmenschen verhalten, wenn sie eines ihrer Kin-der ins Kloster schicken wollen: gewöhnlich sind sie darauf bedacht,die Häßlichsten, Unnützen und Mißratenen hinzuschicken, obwohlUnser Herr stets das Schönste und das Beste beansprucht, das man

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ihm auch geben muß. Und warum tun sie das? Weil sie die Ordens-leute für den Auswurf, für Kehricht und Apfelschalen halten. Weildiese Seelen von der Welt so eingeschätzt werden, werden sie schließ-lich von ihrem himmlischen Bräutigam zärtlich geliebt. In seinenAugen finden sie durch ihre Demut und Liebe Gefallen; durch dieseTugenden vereinigen sie sich mit ihm.

Um alles zusammenzufassen und auf einen einzigen Punkt zurück-zuführen, möchte ich euch eine Methode angeben, durch die ihr leichtalles in die Tat umsetzen könnt, was wir bisher gesagt haben. Sie be-steht darin, daß ihr hundert- und aberhundertmal am Tag unserengekreuzigten Herrn berühren müßt. Etwas mit der Hand berühren,was heißt das anderes, als daran Hand anlegen? Etwas mit dem Geistberühren heißt ebenso, seinen Geist damit befassen. Ich will also sa-gen, daß wir unseren Geist damit befassen müssen, unseren gekreu-zigten Herrn anzusehen und zu betrachten. Wenn wir sein Haupt be-rühren, werden wir es mit spitzen Dornen gekrönt finden, die in dasHaupt eingedrungen sind, so daß sie aus ihm überreich Blut hervor-treten und über sein göttliches Antlitz herabrinnen lassen. Wenn wirseine heiligen Hände berühren, werden wir sie von großen Nägelndurchbohrt finden. Wenn wir seinen teuren Leib berühren, werdenwir ihn ganz zerschlagen finden, schwarz und mit Wunden bedeckt,aus denen überall sein Blut vergossen wird, um uns von unseren Sün-den reinzuwaschen (1 Joh 1,7; Offb 1,5). Wenn wir sein Herz berüh-ren, werden wir es ganz entflammt und glühend finden von seinerunvergleichlichen Liebe zu uns, seine göttliche Brust ganz verzehrtvon der Glut dieses Feuers (Lk 12,49) unseres Erlösers und Meisters.Wenn wir schließlich diese grenzenlose Liebe berühren, wie könntees dann geschehen, daß wir nicht wieder lieben? Wie könnten wirseine tiefste Demut berühren und sehen, ohne uns zu demütigen unduns selbst zu erniedrigen? Wenn wir seine Geduld berühren, seineMilde und Güte, werden wir geduldig, mild und gütig werden. Kurz-um, wenn wir unseren gekreuzigten Herrn hier auf Erden berühren,werden wir den großen Gott ewig schauen im Himmel droben. Dort-hin mögen uns führen der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.Amen.

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Auf die Versuchung gefaßt sein75

Eine Mahnung des Weisen (Sir 2,1) lautet: Mein Sohn, wenn du dieAbsicht hast, Gott zu dienen, dann bereite deine Seele auf die Versu-chung vor. Es ist eine unfehlbare Wahrheit, daß niemand von der Ver-suchung ausgenommen ist, wenn er recht entschlossen ist, Gott zudienen. Weil dem so ist, wollte ihr Unser Herr selbst unterworfensein, um uns zu zeigen, wie wir der Versuchung widerstehen müssen.Wie die Evangelisten (Mt 4,1; Mk 1,12; Lk 4,1) berichten, wurde ervom Geist in die Wüste geführt, um versucht zu werden. Aus diesemGeheimnis will ich Lehren zu unserer eigenen Unterweisung ablei-ten, so zwanglos ich es vermag.

Vor allem stelle ich fest: Obwohl niemand von der Versuchung aus-genommen sein kann, darf doch niemand sie suchen, noch von sichaus an einen Ort gehen, wo sie sich findet; denn zweifellos kommt inihr um, wer sie sucht (Sir 3,27). Deshalb sagen die Evangelisten, daßUnser Herr vom Heiligen Geist in die Wüste geführt wurde, um ver-sucht zu werden. Es geschah also nicht nach seiner Wahl (ich sage:seiner menschlichen Natur nach), daß er an den Ort der Versuchungging, sondern geführt vom Gehorsam, den er seinem himmlischenVater schuldete.

In der Heiligen Schrift finde ich zwei junge Fürsten, die uns fürdiesen Gegenstand als Beispiel dienen sollen; der eine von ihnen suchtedie Versuchung und kam in ihr um, der andere dagegen begegnete ihr,obwohl er sie nicht suchte, und blieb siegreich im Kampf gegen sie.Zur Zeit, da die Könige in den Krieg ziehen mußten und sein Heerselbst dem Feind gegenüberstand, erging sich David auf einer Galeriemüßig, als hätte er nichts zu tun (2 Sam 11,1-4) ...

Als er seine Augen schweifen ließ, sah er Batseba und dann erlag erder Versuchung, die er durch seinen Müßiggang und sein Nichtstungesucht hatte. Seht ihr, der Müßiggang ist eine große Macht für dieVersuchung. Und sagt nicht: Ich suche sie nicht, ich verhalte michnur, ohne etwas zu tun. Das genügt, um versucht zu werden, denn dieVersuchung hat eine erstaunliche Macht über uns, wenn sie uns mü-ßig findet. Wenn David in den Krieg gezogen wäre zu der Zeit, als erdazu verpflichtet war, oder wenn er sich mit etwas Gutem beschäftigthätte, dann hätte ihn die Versuchung nicht angreifen oder ihn wenigs-tens nicht überwinden und besiegen können.

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Der junge Fürst Josef dagegen, der später Vizekönig von Ägyptenwurde, suchte die Versuchung in keiner Weise, so daß er, als er ihrbegegnete, in ihr nicht umkam. Er wurde von seinen Brüdern ver-kauft und die Frau seines Herrn brachte ihn in Gefahr; doch er, derseiner Herrin nie schöngetan noch ihre süßen Blicke beachtet hatte,widerstand mannhaft ihren Angriffen und blieb siegreich; er besiegtedie Versuchung ebenso wie jene selbst, die sie ihm bereitet hatte (Gen37,28; 39,7-13). Wenn wir vom Geist Gottes an den Ort der Versu-chung geführt werden, dann fürchten wir sie nicht, sondern bleibenüberzeugt, daß er uns siegreich bleiben lassen wird (1 Kor 10,13).Aber suchen wir sie nicht, fordern wir sie nicht heraus, so heilig undmutig wir auch sein mögen, denn wir sind nicht tapferer als Davidoder als unser göttlicher Meister selbst, der sie nicht suchen wollte.Unser Feind ist wie ein Kettenhund; wenn wir ihm nicht zu nahekommen, wird er uns nichts anhaben, obwohl er uns zu schreckenversucht, indem er uns anbellt.

Aber sehen wir ein wenig, wie sicher es ist, daß keiner, der zumDienst Gottes kommt, die Versuchung vermeiden kann. Dafür könn-ten wir viele Beispiele anführen, doch eines oder zwei werden mirgenügen. Hananias und Saphira gelobten, sich und ihren Besitz derVollkommenheit zu weihen, wie es sich die ersten Christen alle zurAufgabe machten, indem sie sich unter den Gehorsam der Apostelstellten. Kaum hatten sie ihren Entschluß gefaßt, da überkam sie dieVersuchung, wie der hl. Petrus sagt: Wer hat euch dazu verführt, denHeiligen Geist zu belügen (Apg 5, 1-3)? Seit der heilige ApostelfürstPaulus sich dem Dienst Gottes widmete und sich dem Christentumanschloß, wurde er sein Leben lang unablässig versucht (2 Kor 12,7),er, der nie Angriffe irgendeiner Versuchung gefühlt hatte, solange erein Feind Gottes war und die Christen verfolgte; wenigstens verrät eruns davon nichts in seinen Schriften, sondern erst, seit er von Unse-rem Herrn bekehrt wurde.

Es ist also eine überaus notwendige Lehre, unsere Seele auf dieVersuchung vorzubereiten. Das heißt: wo wir auch sind und für wievollkommen wir uns halten, wir müssen überzeugt sein, daß sie überuns kommen wird. Folglich muß man sich darauf einstellen und sichmit den notwendigen Waffen versehen, um tapfer zu kämpfen und denSieg zu erringen, weil die Krone nur für die Kämpfer und Sieger be-stimmt ist (2 Tim 2,4; Jak 1,12). Wir dürfen nie auf unsere Stärkeund Tapferkeit vertrauen und die Versuchung aufsuchen in der Mei-

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nung, daß wir sie überwältigen werden. Wenn wir ihr aber dort begeg-nen, wohin der Geist Gottes uns führt, müssen wir fest bleiben imVertrauen, daß er uns gegen die Angriffe unseres Feindes stärken wird,so heftig sie auch sein mögen.

Gehen wir weiter und betrachten wir kurz, welcher Waffen sichUnser Herr bediente, um den Teufel zurückzuschlagen, der ihn in derWüste versuchen wollte. Keiner anderen, meine Lieben, als jener, vondenen der Psalmist in dem Psalm (91) spricht, den wir jeden Tag inder Komplet rezitieren: Wer im Schutz des Höchsten wohnt. Darinerkennen wir eine bewundernswerte Lehre. Er sagt also, so als wendeer sich an die Christen oder an einen einzelnen: Wie glücklich seidihr, die ihr bewaffnet seid mit der Wahrheit Gottes, denn sie wird euchals Schild gegen die Pfeile eurer Feinde dienen und euch siegreichbleiben lassen. Fürchtet euch nicht, ihr Gesegneten, die ihr mit dieserRüstung der Wahrheit versehen seid. Nein, weder die nächtlichenSchrecken, denn ihr werdet nicht in sie fallen, nicht die Pfeile, die amhellichten Tag durch die Luft fliegen, denn sie können euch nicht tref-fen, noch die Händel, die in der Nacht geschehen, noch weniger derGeist, der am hellen Mittag umgeht und sich zeigt.

Wie himmlisch gut war unser Herr und Meister mit der Wahrheitbewaffnet, da er die Wahrheit selbst war (Joh 14,6). Diese Wahrheit,von der der Psalmist spricht, ist nichts anderes als der Glaube (vgl. 1Tim 5,8). Wer mit dem Glauben bewaffnet ist, braucht nichts zu fürch-ten; er ist die einzig notwendige Waffe, um unseren Feind zurückzu-schlagen und zuschanden zu machen. Ich bitte euch, wer könnte dennjenem schaden, der sagt: Credo, ich glaube an Gott, der unser Vaterist, und unser allmächtiger Vater. Wenn wir diese Worte sprechen,zeigen wir, daß wir nicht auf unsere Kraft vertrauen, daß wir im Ver-trauen auf Gott, den allmächtigen Vater den Kampf aufnehmen undauf den Sieg hoffen. Nein, suchen wir nicht aus uns selbst die Versu-chung auf in einer gewissen Vermessenheit des Geistes; weisen wirsie nur zurück, wenn Gott zuläßt, daß sie uns heimsucht, wo wir sind,wie es Unser Herr in der Wüste gemacht hat. Unser teurer Meisterüberwand nun seinen Feind, indem er sich gegen alle Versuchungen,die er ihm bereitete, der Worte der Heiligen Schrift bediente ... Su-chen wir daher nicht andere Waffen und Einfälle, um unsere Zustim-mung zur Versuchung zu verweigern, als zu sagen: Ich glaube. Undwas glaubst du? An Gott, meinen allmächtigen Vater.

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Zu diesen Psalmworten, die wir angeführt haben, sagt der hl. Bern-hard: Die nächtlichen Schrecken, von denen der Psalmist spricht,sind von dreifacher Art. Daraus entnehme ich die dritte Lehre. Dieerste ist die Furcht der Feigen und Faulen, die zweite die der Kinderund die dritte die der Zimperlichen. Die Furcht ist die erste Versu-chung, die der Feind denen bereitet, die entschlossen sind, Gott zudienen. Denn sobald man sie belehrt, was die Vollkommenheit vonuns verlangt, denken sie: Ach, das werde ich nie tun können. Es scheintihnen fast unmöglich, zu ihrem Gipfel zu gelangen, und sie werdengern sagen: O Gott, die Vollkommenheit, die man hier haben solloder in der Lebensweise und Berufung, in der ich bin, ist viel zu erha-ben für mich; ich werde sie nie zu erreichen vermögen. Laßt euchdoch nicht verwirren und macht euch keine Angstvorstellungen, daßihr nicht erfüllen könnt, wozu ihr verpflichtet seid; ihr seid dochbewaffnet und umgeben von der Wahrheit Gottes und seines Wortes.Ihr seid doch zu dieser Lebensform und in diesem Haus berufen;wenn ihr einfach in eurer Observanz vorangeht, wird er euch stärkenund euch die Gnaden schenken, um auszuharren (1 Kor 1,7f; 1 Thess5,24) und das Erforderliche zu tun zu seiner größeren Ehre und zueurem größeren Heil, d. h. zu eurer größeren Glückseligkeit.

Wundert euch also nicht und macht es nicht wie die Faulenzer, diebestürzt sind, wenn sie nachts aufwachen, aus Furcht, daß bald derTag kommen wird, an dem man arbeiten muß. Die Faulen und Feigenfürchten alles, sie finden alles hart und schwierig, uzw. deswegen,weil sie sich damit befassen, mehr an die alberne und feige Vorstel-lung zu denken, die sie sich von der zukünftigen Schwierigkeit gebil-det haben, als an das, was sie gegenwärtig zu tun haben. Ach, sagensie, wenn ich mich dem Dienst Gottes weihe, werde ich mich so an-strengen müssen, um den Versuchungen zu widerstehen, die über michkommen werden! Ihr habt ganz recht, denn ihr werdet davon nichtverschont bleiben; denn es ist eine allgemeine Regel, daß alle DienerGottes versucht werden, wie der hl. Hieronymus in dem schönen Briefan seine liebe Tochter Eustochium schreibt. Sagt doch, gegen wen derTeufel seine Versuchungen richten soll, wenn nicht gegen jene, die sieverachten. Die Sünder versuchen sich selbst; sie betrachtet der böseGeist schon als sein Eigentum; sie sind seine Verbündeten, weil sieseine Einflüsterungen nicht zurückweisen, sondern sie im Gegenteilsuchen. Die Versuchung wohnt in ihnen. In der Welt strengt sich derTeufel nicht sehr an, um seine Fallen zu stellen; aber an den Orten der

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Zurückgezogenheit glaubt er großen Gewinn zu machen, wenn er dieSeelen zum Scheitern bringt, die sich dort eingeschlossen haben, umder göttlichen Majestät vollkommen zu dienen. Der hl. Thomas wun-derte sich sehr, daß die größten Sünder auf der Straße herumgehen,lachend und fröhlich, als ob ihre Sünden das Gewissen nicht beschwer-ten. Und sollte man sich darüber nicht wundern, eine Seele außerhalbder Gnade Gottes sich freuen zu sehen? Wie eitel sind ihre Freudenund wie trügerisch ihre Fröhlichkeit, denn ihnen folgen ewige Schmer-zen und Reue. Lassen wir sie doch und kehren wir zurück zu dieserFurcht der Faulen.

Sie sind immer am Jammern; und worüber? Worüber, sagt ihr? Ach,man muß sich anstrengen! Dabei hatte ich gedacht, es genüge, denWeg Gottes einzuschlagen und sich zu seinem Dienst einzuschiffen,um Ruhe zu haben. Aber wißt ihr denn nicht, daß das Nichtstun undder Müßiggang den bedauernswerten David in der Versuchung um-kommen ließ? Möchtet ihr vielleicht zu den Soldaten der Garnisongehören, die in einer schönen Stadt alles nach Wunsch haben: sie sindfröhlich, sie sind Herr im Haus des Wirts, sie schlafen in seinem Bett,essen und trinken gut; und trotzdem nennen sie sich Soldaten, spielendie Tapferen und Mutigen, obwohl sie nicht in die Schlacht und inden Krieg ziehen. Aber solche Krieger will Unser Herr nicht in sei-ner Armee, er will Kämpfer und Sieger, keine Nichtstuer und Feiglin-ge; er wollte selbst versucht und angegriffen werden, um uns ein Bei-spiel zu geben.

Ach, fürchtet doch nichts, ich bitte euch; ihr seid doch angetan mitder Waffenrüstung der Wahrheit und des Glaubens (Eph 6,11-16). Er-hebt euch von eurem Lager, ihr Faulen, denn es ist Zeit; habt keineAngst vor der Anstrengung des Tages, es ist ja die Regel, daß die Nachtfür die Ruhe gegeben wurde und der Tag, der auf sie folgt, für dieArbeit bestimmt ist. Legt doch eure Feigheit ab und prägt eurem Geistdie unfehlbare Wahrheit ein, daß alle versucht werden müssen, daßalle sich zum Kampf bereithalten müssen, um schließlich den Siegdavonzutragen. Da die Versuchung eine erstaunliche Macht über unshat, wenn sie uns müßig findet, müssen wir arbeiten und nicht müdewerden, wenn wir nicht die ewige Ruhe verlieren wollen, die für unsbereitet ist, um uns für unsere Anstrengungen zu belohnen. Vertrauenwir auf Gott, der unser „allmächtiger Vater“ ist; in seiner Kraft wirduns alles leicht werden, auch wenn es uns zuerst ein wenig erschreckt.

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Der zweite nächtliche Schrecken ist nach den Worten des hl. Bern-hard jener der Kinder. Die Kinder sind, wenn ihr darauf achtet, sehrängstlich, wenn sie nicht auf dem Schoß ihrer Mutter sind. Wenn sieeinen bellenden Hund sehen, beginnen sie sogleich zu schreien undhören nicht auf, bis sie bei ihrer Mama sind. In ihren Armen fühlensie sich sicher und meinen, daß ihnen nichts schaden könne, wenn sienur ihre Hand halten. Wohlan, will der Psalmist sagen, was fürchtetihr denn, die ihr umgeben seid von der Wahrheit und bewaffnet mitdem starken Schild des Glaubens? Er lehrt euch, daß Gott euer „all-mächtiger Vater“ ist. Haltet ihn bei der Hand und seid nicht ängst-lich, denn er wird euch retten und gegen alle eure Feinde beschützen.Seht ihr nicht, wie der hl. Petrus im See zu versinken glaubte? Erhatte sich so entschlossen hineingestürzt und ging über die Wellen,um schneller zum göttlichen Heiland zu kommen, der ihn rief. So-bald er sich zu fürchten und gleichzeitig zu sinken begann, rief er:Herr, rette mich. Und sogleich streckte sein guter Meister die Handnach ihm aus und bewahrte ihn dadurch vor dem Ertrinken (Mt 14,29-31). Machen wir es ebenso, meine Lieben. Wenn wir fühlen, daß unsder Mut mangelt und wir in den Versuchungen versinken, dann rufenwir voll Vertrauen laut: Herr rette mich, und zweifeln wir nicht, daßGott uns stärken und vor dem Untergang bewahren wird.

Man muß feststellen, daß manche die Mutigen spielen ..., oft auchsolche, die neu in den Dienst Gottes treten: sie geben sich als dieKühnen; es scheint, daß sie das Kreuz nie genug verschlingen könnenund daß ihnen nichts genug sein kann. Sie denken an nichts weniger,als stets in Ruhe und Frieden zu leben, und daran, daß irgendetwasihren Mut und ihre Beherztheit übersteigen könnte. So ging es demhl. Petrus, der noch ein rechtes Kind im geistlichen Leben war undjene großmütige Tat vollbrachte, von der ich eben gesprochen habe;aber er vollbrachte später noch eine zweite, die ihn sehr teuer zustehen kam. Das war damals, als Unser Herr seinen Aposteln ankün-digte, wie er den Tod erleiden müsse. Der hl. Petrus, der sehr großar-tig bereit zum Reden war, aber schwach und feige im Handeln, be-gann sich zu brüsten: Wie, Herr, du sagst, daß du zum Sterben gehenmußt? Und auch ich werde dich niemals verlassen (Mt 26,31-35) ... OGott, wie sehr hatte er sich getäuscht, als er sich so schwach undfurchtsam bei der Ausführung seiner Versprechungen zur Zeit derPassion seines Erlösers sah! Es wäre ihm viel besser angestanden,

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demütig zu bleiben und sich auf die Kraft Unseres Herrn zu stützen,als prahlerisch auf den Eifer zu vertrauen, den er damals fühlte.

Dasselbe widerfährt jungen Menschen, die bei ihrer Bekehrung sogroßen Eifer zeigen: solange die ersten Gefühle der Frömmigkeit an-halten, vollbringen sie Wunderdinge. Es scheint ihnen, daß auf demWeg der Vollkommenheit nichts schwierig sei und daß nichts ihrenMut erschlaffen lassen könne. Sie verlangen so sehr, abgetötet undgeprüft zu werden, um ihre Hochherzigkeit zu zeigen und das Feuer,das in ihrer Brust brennt! Aber ach, wartet ein wenig; denn wenn sieeine Maus laufen hören, ich will sagen, wenn die Tröstungen und dasGefühl der Frömmigkeit, die sie bisher hatten, nachzulassen begin-nen, wenn irgendeine kleine Versuchung über sie kommt: Ach, sagensie, was ist das? Sie beginnen sich zu fürchten und werden verwirrt.Alles scheint ihnen beschwerlich, wenn sie nicht ständig an der Brustihres himmlischen Vaters ruhen, wenn er ihnen nicht Süßigkeitenschenkt und ihren Mund mit Honig füllt. Sie können nicht zufriedenund in Sicherheit leben, wenn sie nicht unablässig Tröstungen emp-fangen und niemals Leid. Wie elend ist mein Zustand, sagen sie; ichstehe im Dienst Unseres Herrn und glaubte hier Ruhe zu haben; in-dessen sind Versuchungen aller Art über mich gekommen und quälenmich; meine Leidenschaften beunruhigen mich sehr; kurz, ich habekein Stündlein wirklichen Friedens.

Meint ihr, meine Lieben, man könnte ihnen antworten, daß einemin der Einsamkeit und Zurückgezogenheit keine Versuchungen be-gegnen? Wie seid ihr da im Irrtum! Unser göttlicher Meister wurdevom Feind nicht angegriffen, solange er unter Pharisäern und Zöll-nern lebte, sondern nur, als er sich in die Wüste zurückzog. Es gibtkeinen Ort, wohin die Versuchung nicht Zutritt fände; ja sogar in denHimmel, wo sie im Herzen Luzifers und seiner Engel entstand, diesie sogleich in Verdammnis und Verderben stürzte. Der Feind brach-te die Versuchung in das irdische Paradies; durch sie erreichte er, daßunsere Stammeltern ihre ursprüngliche Gerechtigkeit verloren, mitder Gott sie ausgestattet hatte. Die Versuchung drang sogar in dieSchar der Apostel ein; warum seid ihr also erstaunt, wenn sie euchüberfällt? – – –

Ach, sagen diese jungen Anfängerinnen in der Vollkommenheit,was sollen wir tun? Meine Leidenschaften, die ich abgetötet zu habenglaubte durch den feurigen Entschluß, ihnen nicht mehr nachzuge-ben, bedrängen mich sehr. Ach, es ist wahr: bald bedrückt mich ein

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Kummer, und sogleich scheint mir, es gebe kein Mittel, dagegen an-zugehen, so sehr verfolgt mich die Entmutigung. Mein Gott, das istder große Jammer, daß das Verlangen nach Vollkommenheit alleinnicht genügt, um sie zu besitzen, daß man sie vielmehr erwerben mußim Schweiß des Angesichts und unter Anstrengungen. Wißt ihr dennnicht, daß Unser Herr während der vierzig Tage, die er in der Wüsteverbrachte, versucht werden wollte, um uns zu lehren, daß wir es dieganze Zeit sein werden, solange wir in der Wüste dieses sterblichenLebens sind, die der Ort unserer Buße ist. Das Leben des vollkomme-nen Christen ist ja eine ständige Buße. Ich bitte euch, tröstet euch,faßt Mut; jetzt ist nicht die Stunde, um auszuruhen.

Aber ich bin so unvollkommen, sagt ihr. Das glaube ich wohl. Glaubtalso nicht, leben zu können, ohne Unvollkommenheiten zu begehen,denn das ist unmöglich, solange ihr in diesem Leben seid. Es genügt,daß ihr sie nicht liebt und daß sie nicht in eurem Herzen wohnen, d. h.daß ihr sie nicht freiwillig begeht und daß ihr nicht in euren Fehlernsteckenbleiben wollt. Wenn das zutrifft, dann bleibt in Frieden undbeunruhigt euch nicht wegen der Vollkommenheit, nach der ihr sogroßes Verlangen habt. Es genügt, wenn ihr sie in der Stunde desTodes erreicht. Seid nicht so ängstlich, geht mutig voran. Wenn ihrmit der Rüstung des Glaubens versehen seid, vermag euch nichts zuschaden.

Der dritte nächtliche Schrecken ist jener der Zimperlichen. Das sindjene, die nicht nur das fürchten, was sie zum Bösen führen kann, son-dern was sie irgendwie ablenken oder ihre Ruhe stören kann. Sie möch-ten, daß nicht das geringste Geräusch – von, ich weiß nicht, was – sichzwischen Gott und sie dränge, zumal sie sich von vornherein auf dieVorstellung festgelegt haben, daß hier eine bestimmte Ruhe und Stil-le herrscht, so daß jener, der ihn besitzen kann, stets im Frieden undsehr glücklich ist. Folglich wollen sie sich seiner erfreuen und dau-ernd wie Magdalena zu Füßen des Herrn verweilen, um ständig seineWonnen zu verkosten, die Lieblichkeit und alles, was honigsüß ausdem Mund ihres Meisters tropft, ohne daß jemals Marta sie weckenund gegen sie zu murren kommt, um Unseren Herrn zu bitten, daß ersie zum Arbeiten auffordere (Lk 10,39f). Es scheint ihnen, dieseWonne mache sie so tüchtig und hochherzig, daß nichts mit ihrerVollkommenheit vergleichbar sei. Es gibt nichts, was zu schwer fürsie ist, mit einem Wort, sie möchten vergehen, um ihrem Vielgelieb-ten zu gefallen, den sie mit so vollkommener Liebe lieben.

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Ja gewiß, solange er fortfährt ihnen Tröstungen zu schenken und siezärtlich zu behandeln. Wenn er dagegen aufhört, das zu tun, dann istalles verloren; dann gibt es nichts so Betrübtes wie sie. Ihr Leid istunerträglich, unaufhörlich beklagen sie sich. Mein Gott, was gibt esdenn? Ach, sagen sie, was ist das? Ich habe allen Grund, mich zubeklagen. Aber ich bitte sie noch einmal: was gibt es denn? Was quältSie denn? Daß ich nicht heilig bin. Sie sind keine Heilige? Und werhat Ihnen denn gesagt, daß Sie es nicht sind? Vielleicht sind Sie aufden Gedanken gekommen, weil man Sie wegen irgendeines Fehlerszurechtgewiesen hat. Wenn es das ist, dann machen Sie sich nicht sogroßen Kummer, denn möglicherweise geschah es, weil Sie heilig sind,und man hat Sie zurechtgewiesen, um Sie noch vollkommener wer-den zu lassen. Sie müssen wissen, daß diejenigen, die eine echte Liebehaben, es nicht ertragen können, am Nächsten einen Fehler zu sehen,ohne daß sie ihn durch die Zurechtweisung zu tilgen versuchen, unddas vor allem bei denen, die sie für heilig und in der Vollkommenheitweit fortgeschritten halten, weil sie diese für fähig halten, sie anzu-nehmen. Sie wollen außerdem, daß sie immer mehr an Selbsterkennt-nis zunehmen, die für jeden so notwendig ist.

Aber das stört meine Ruhe. Das ist gewiß gut gesagt. Glauben Siedenn, Sie können in diesem Leben eine so dauerhafte Ruhe haben,daß Sie keinerlei Störung erfahren dürfte? Man darf nicht Gnadenwünschen, die Gott im allgemeinen nicht schenkt. Was er für eineMagdalena getan hat, das dürfen wir anderen nicht wünschen. Wirwerden glücklich sein, wenn wir diese Seelenruhe beim Sterben, jasogar erst nach dem Tod haben. Glaubt übrigens nicht, Magdalenahabe sich dieser überaus liebevollen Beschauung, die sie in so süßerRuhe verweilen ließ, erfreut, ohne daß sie zuvor auf dem Weg einerharten Buße durch dornenvolle Schwierigkeiten gegangen wäre, ohnevorher die Bitterkeit einer überaus großen Beschämung verkostet zuhaben. Denn als sie zum Pharisäer kam, um ihre Sünden zu beweinenund deren Vergebung zu erlangen, da ertrug sie das Murren, das gegensie entstand, sie verachtete, sie eine Sünderin und eine Frau vonschlechtem Lebenswandel nannte (Lk 7,37-39). Glaubt außerdemnicht, ihr könntet euch dieser göttlichen Süßigkeiten und Tröstungenwürdig machen, noch wie ihr mehrmals am Tag geschah, von den En-geln erhoben werden, wenn ihr nicht zuvor mit ihr die Beschämung,die Verachtung und den Tadel ertragen habt, die unsere Unvollkom-menheiten sehr wohl verdienen, die uns von Zeit zu Zeit auf die Pro-

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be stellen, ob wir wollen oder nicht. Es ist ja eine allgemeine Regel,daß in diesem Leben keiner so heilig sein wird, daß er nicht demunterworfen wäre, stets irgendeine zu begehen.

Wir müssen uns also fest und ruhig an die Erkenntnis dieser Wahr-heit halten, wenn wir wollen, daß unsere Unvollkommenheiten unsnicht verwirren durch die eitle Anmaßung, die wir haben könnten,keine zu begehen. Wie wir fest und unwandelbar entschlossen seinmüssen, nicht so leichtfertig zu sein, daß wir freiwillig welche bege-hen, so müssen wir auch unerschütterlich sein in dem anderen Ent-schluß, nicht erstaunt und verwirrt zu sein, wenn wir uns davon be-troffen sehen, in sie zu fallen, besonders wenn es oft geschieht, imVertrauen auf die Güte Gottes, der uns deswegen doch nicht wenigerliebt. Aber ich werde nie fähig sein, die Liebeserweise Unseres Herrnzu empfangen, solange ich unvollkommen bin, weil ich ihm nichtnahekommen kann, der überaus vollkommen ist. Ich bitte euch, wel-che Entsprechung kann es denn geben zwischen unserer Vollkom-menheit und der seinen, zwischen unserer Reinheit und der seinen,da er die Reinheit selbst ist? Kurzum, tun wir von unserer Seite, waswir können, und bleiben wir im übrigen in Ruhe. Ob Gott uns seinerTröstungen teilhaft macht oder nicht, wir müssen seinem heiligstenWillen unterworfen bleiben; er muß der Meister und Führer unseresLebens sein, weiter haben wir nichts zu wünschen.

Der Psalmist versichert uns also, wie der hl. Bernhard es auslegt,daß einer, der Glauben hat und mit der Wahrheit bewaffnet ist, diesenächtlichen Schrecken nicht fürchten wird, weder die der Trägen nochdie der Kinder und der Zimperlichen. Er fährt aber fort und sagt, daßer auch die Pfeile, die am hellichten Tag fliegen, nicht fürchten wird.Das ist die vierte Lehre, die ich aus dem oben angeführten Psalmableite. Diese Pfeile sind die eitlen Hoffnungen und Erwartungen, diejene nähren, die sich nach der Vollkommenheit sehnen. Da gibt essolche, die nichts so sehr wünschen, als sogleich eine Mutter Theresiazu sein, ja sogar eine hl. Katharina von Siena und von Genua. Das istgut, aber sagt mir, wieviel Zeit nehmt ihr euch, um solche zu werden?Drei Monate, antwortet ihr, womöglich noch weniger. Ihr tut gut da-ran, womöglich noch etwas hinzuzufügen, sonst könntet ihr euch sehrgetäuscht sehen. Sind es nicht die schönen Hoffnungen, die ungeach-tet ihrer Nichtigkeit jene trösten, die sie hegen? Je mehr aber dieseHoffnungen und Erwartungen zur Freude des Herzens führen, solan-ge Anlaß zur Hoffnung besteht, um so mehr führt der Schmerz über

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die gegenteiligen Wirkungen diese so feurigen Geister zur Traurig-keit. Denn wenn sie sehen, daß sie nicht so heilig sind, wie sie dach-ten, sondern im Gegenteil recht unvollkommene Geschöpfe, fühlensie sich sehr oft entmutigt, nach echter Tugend zu streben, die sie zurHeiligkeit führt. Das ist alles schön, kann man ihnen sagen, übereilteuch nicht so; beginnt damit, recht entsprechend eurer Berufung zuleben, sachte, einfach und demütig; dann setzt euer Vertrauen aufGott, der euch heilig machen wird, wann es ihm gefällt.

Meine Lieben, es gibt noch andere Arten eitler Hoffnungen; einedavon besteht darin, während dieses sterblichen und vergänglichenLebens stets Tröstungen, Süßigkeiten und zärtliche Gefühle haben zuwollen; eine erstaunlich oberflächliche und alberne Hoffnung, als obunsere Vollkommenheit und unser Glück davon abhinge! Sehen wirnicht, daß Unser Herr diese süßen Gefühle gewöhnlich nur schenkt,um uns anzulocken und zu liebkosen, wie man es mit kleinen Kin-dern macht, denen man Zucker gibt? Doch gehen wir weiter, wirmüssen zum Schluß kommen.

Der hl. Bernhard sagt anschließend, was die Händel sind, die in derNacht geschehen, von denen der Psalmist sagt, daß sie nicht fürchtenwerden, die mit der Wahrheit bewaffnet sind. Nach meiner Ansicht(und das ist die fünfte Lehre, die ich euch vorlege) versinnbilden unsdiese Händel, die im Finstern geschehen, den Geiz und den Ehrgeiz,Laster, die ihr Werk in der Nacht vollbringen, d. h. unter der Handund im Verborgenen. Seht ihr, die Ehrgeizigen hüten sich, ganz offenJagd nach Ehren und Vorrang, nach Ämtern oder höheren Stellen zumachen; sie gehen im Dunkeln vor, weil sie fürchten, gesehen zu wer-den. Die Geizigen können ebensowenig schlafen, sondern sind im-mer am Sinnieren, welche Mittel sie anwenden könnten, um ihrenReichtum zu vermehren und ihre Börse zu füllen. Ich will aber nichtvon den zeitlichen Geizhälsen sprechen, sondern vom geistlichenGeiz.

Was den Ehrgeiz betrifft, wehe denen, die versuchen, durch eigenesBemühen zu Ämtern und Oberen befördert zu werden, oder die sienach ihrer Wahl ergreifen, denn sie suchen die Versuchung. Deshalbwerden sie in ihr umkommen, wenn sie sich nicht ändern und nachherdemütig gebrauchen, was sie mit und durch den Geist der Eitelkeiterworben haben. Nun, ich spreche nicht von denen, die nicht nacheigener Wahl erhöht werden, sondern durch ihre Unterwerfung unter

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den Gehorsam, den sie Gott und ihren Vorgesetzten schulden: siehaben nichts zu fürchten, ebenso wie Josef im Hause Potifars, dennobwohl sie sich am Ort der Versuchung befinden, werden sie nicht inihr umkommen. Wo wir auch sind, wir haben nichts zu fürchten, wennwir dorthin durch den Heiligen Geist geführt wurden wie Unser Herrin die Wüste.

Vom geistlichen Geiz erfaßt sind diejenigen, die nie genug bekom-men, viele Übungen der Frömmigkeit zu unternehmen und zu su-chen, um desto früher zur Vollkommenheit zu gelangen, wie sie sa-gen. Als ob die Vollkommenheit in der Menge der Dinge bestünde,die wir tun, und nicht in der Vollkommenheit, mit der wir sie tun. Dashabe ich schon sehr oft gesagt, aber man muß es noch wiederholen:Gott hat die Vollkommenheit nicht in die Vielzahl der Akte gelegt,die wir verrichten, um ihm zu gefallen, sondern einzig in die Metho-de, an die wir uns dabei halten. Sie besteht in nichts anderem alsdarin, das Wenige, das wir entsprechend unserer Berufung tun, inLiebe, durch Liebe und aus Liebe zu tun. Auf diese geistlichen Geiz-hälse könnte man gewiß den Vorwurf anwenden, den der Prophet (Jes5,8) den zeitlichen Geizhälsen macht: Was willst du, armseligerMensch? Du willst jetzt dieses Schloß haben, weil es dem deinen ge-genüber liegt; nach diesem wirst du ein anderes finden, das daranangrenzt; und weil es dir gelegen kommt, wirst du es ebenfalls habenwollen, und ebenso andere. Wie, du willst dich also zum Herrn desLandes machen? Willst du nicht, daß niemand außer dir einen Besitzhabe?

Betrachtet doch diese geistlichen Geizhälse: sie begnügen sich niemit den Übungen, die ihnen geboten werden. Wenn sie an die Kartäu-ser denken, sagen sie: O Gott, das ist wohl ein heiliges Leben, aber siepredigen nicht; man muß also predigen. Das Leben der Jesuiten istsehr vollkommen, aber sie haben nicht die Wohltat der Einsamkeit,in der man so viel Trost empfängt. Die Kapuziner und alle religiösenOrden sind gewiß gut, aber sie haben nicht alles, was diese Leutesuchen, nämlich die Übungen jedes einzelnen miteinander vermischtund in einem vereinigt. Sie sind unaufhörlich am Suchen nach neuenMitteln, um die Heiligkeit aller Heiligen in einer zusammenzuraffen,die sie haben möchten. Folglich sind sie nie zufrieden, weil sie nichtdie Kraft haben, alles festzuhalten, was sie zusammenzuraffen versu-chen; denn wer zu viel in die Arme schließt, hält es nicht gut fest. Siemöchten ständig das Bußhemd tragen, sich bei jeder Gelegenheit gei-

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ßeln, dauernd auf bloßer Erde kniend beten, in der Einsamkeit leben,und was weiß ich noch, und es befriedigt sie noch nicht. Ihr Bedau-ernswerten, ihr wollt nicht, daß jemand heiliger sei als ihr; ihr seidnicht zufrieden mit eurer Heiligkeit, so wie ihr sie haben könnt, wennihr nicht eine solche Menge von Übungen macht, statt jene möglichstvollkommen zu machen, die euer Stand und Beruf euch auferlegen.Man kann nicht genug betonen, wie sehr dieser geistliche Geiz unsereVollkommenheit verzögert, weil er die sanfte, ruhige Aufmerksam-keit verhindert, die wir für das haben müssen, was wir für Gott tun,wie ich schon gesagt habe.

Die sechste Lehre ist dem gleichen Psalm entnommen, in dem derProphet versichert, daß jene, die so gerüstet sind, wie wir gesehenhaben, den Geist des Mittags nicht fürchten werden, d. h. jenen Geist,der uns am hellichten Tag versuchen will. Ich weiß wohl, wie der hl.Bernhard diese Stelle auslegt, aber davon will ich nicht sprechen,sondern nur darüber, was meiner Absicht besser entspricht. DieserGeist, der am hellichten Tag umgeht, das ist jener, der um die schöneMittagszeit der inneren Tröstungen über uns kommt, wenn die göttli-che Sonne der Gerechtigkeit (Mal 4,2) ihre Strahlen ganz liebevoll aufuns herabsendet und uns mit Wärme und mit einem überaus wohltu-enden Licht erfüllt; mit einer Wärme, die uns mit so köstlicher undzarter Liebe umfängt, daß wir fast allem anderen ersterben, um unse-ren Vielgeliebten besser zu erfreuen.

Dieses göttliche Licht hat unser Herz dermaßen erleuchtet, daß esdas Herz des Erlösers ganz offen zu sehen meint, aus dem Tropfen umTropfen ein so süßer Saft und ein so duftender Wohlgeruch quillt, daßes von dieser Liebenden nicht genug geschätzt werden kann, die stetsnach seiner Liebe schmachtet (Hld 5,8). Sie wünschte, daß niemandsie in ihrer Ruhe störte, die schließlich in ein eitles Wohlgefallenmündet, das sie daran hat. Sie wird nämlich die Güte Gottes bewun-dern, aber in sich, nicht in Gott, die Milde Gottes, aber in sich selbst.Die Einsamkeit ist in dieser Zeit sehr wünschenswert, scheint ihr, umsich der göttlichen Gegenwart ohne irgendeine Ablenkung zu erfreu-en. Aber sie wünscht diese nicht zur Ehre Gottes, sondern wegen derGenugtuung, die sie empfindet, da sie in ihr die süßen Liebkosungenund die heiligen Wonnen empfängt, die sie vom Herzen des vielge-liebten Erlösers ausgehen sieht.

So täuscht der Geist des Mittags die Seelen, indem er sich als Engeldes Lichts (2 Kor 11,14) verstellt, um sie straucheln und sich mit

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ihren Tröstungen und eitlen Freuden beschäftigen zu lassen durch dasWohlgefallen, das sie aus diesen Zärtlichkeiten und geistlichen Ge-nüssen gewinnen. Wer aber mit dem Schild der Wahrheit und des Glau-bens gerüstet ist, der wird diese Feinde ebenso hochherzig überwin-den wie alle anderen; das versichert David.

Ich zweifle keineswegs daran, daß es mehr Menschen gibt, die sicheher nach dem Schluß dieses Evangeliums sehnen als nach dem An-fang. Da heißt es (Mt 4,11) tatsächlich: Nachdem Unser Herr seinenFeind überwunden und seine Versuchungen zurückgewiesen hatte,kamen Engel und brachten ihm himmlische Speise zu essen. O Gott,welche Freude, sich mit dem Heiland bei diesem köstlichen Mahl zubefinden! Meine Lieben, wir werden nie würdig sein, Gemeinschaftmit ihm zu haben in seinen Tröstungen und zu seinem himmlischenMahl geladen zu werden, wenn wir nicht Gefährten seiner Nöte undLeiden (2 Kor 1,7) sind. Er fastete vierzig Tage und die Engel brach-ten ihm erst am Ende der vierzig Tage zu essen. Wie wir oft sahen,versinnbilden uns diese vierzig Tage das Leben der Christen und jedeseinzelnen von uns. Wünschen wir also diese Tröstungen erst am Endeunseres Lebens, aber befassen wir uns damit, fest zu bleiben, um denharten Angriffen unserer Feinde standzuhalten, denn wir werden ver-sucht werden, ob wir wollen oder nicht. Wenn wir nicht kämpfen,werden wir nicht Sieger bleiben und folglich nicht die Krone derunsterblichen Herrlichkeit verdienen, die Gott uns bereithält, wennwir siegreich bleiben.

Fürchten wir weder die Versuchung noch den Versucher, denn wennwir uns des Schildes des Glaubens und der Rüstung der Wahrheit be-dienen, wird er keine Macht über uns haben. Fürchten wir ebensonicht die nächtlichen Schrecken, die von dreierlei Art sind, noch dieeitle Hoffnung, heilig zu sein noch sein zu wollen innerhalb von dreiMonaten. Wir werden auch den geistlichen Geiz meiden und denEhrgeiz, die so viel Verwirrung in unseren Herzen stiften und eine sogroße Verzögerung unserer Vollkommenheit. Der Geist des Mittagswird keine Macht haben, uns von dem festen und unwandelbaren Ent-schluß abzubringen, wie es in diesem Leben möglich ist, nach demwir uns desjenigen erfreuen werden, der gebenedeit sei. Amen.

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Ratschläge für die Gewissenserforschung76

Mein Sohn, wenn Sie irgendeinen Fortschritt in der Vollkommen-heit des Ordenslebens machen wollen, dann betrachten Sie Gott stetsin allen Handlungen als gegenwärtig und versäumen Sie nicht, drei-mal täglich Ihre Gewissenserforschung zu machen.

Am Morgen überlegen Sie, wie Sie die Nacht verbracht haben; se-hen Sie mit Klugheit voraus, was Sie an diesem Tag zum Dienst Got-tes verwenden werden.

Mittags halten Sie eine Besinnung auf alle Ihre Handlungen, ob Siedie guten Vorsätze ausgeführt haben, die Sie am Morgen gefaßt ha-ben, ob Sie Ihre Leidenschaften überwunden, alle Ihre Werke in rei-ner Absicht verrichtet und Ihren Brüdern ein gutes Beispiel gegebenhaben.

Am Abend versäumen Sie nicht, noch einen Rückblick zu halten,um zu sehen, ob Sie noch öfter in Unvollkommenheiten gefallen sind,als Sie mittags bei sich festgestellt haben, oder ob Sie eifriger in derTugend waren. Vergleichen Sie die Handlungen eines Tages mit ei-nem anderen, um zu sehen, ob Sie gewonnen haben oder zurückgefal-len sind, und versuchen Sie, die hauptsächliche Unvollkommenheitzu erkennen, damit Sie diese allmählich überwinden können.

Ratschläge für Obere77

Er sagte, man muß im Orden dem geringsten Murren abhelfen; dennwie die großen Gewitter sich aus unsichtbaren Dämpfen bilden, kom-men die großen Unruhen von sehr geringen Ursachen.

Ein Oberer soll einem Ordensmann nie eine Besonderheit bewilli-gen, wenn es nicht mit der gleichen Diskretion des hl. Ignatius ge-schieht. Und wenn es dazu kommt, ihnen irgendeine Vergünstigungzu gewähren, soll es nur geschehen, wenn sie einen Anfall ihrer Erre-gung haben, wie ein wenig Wasser in der Hitze des Fiebers; nachhermuß man ihnen aber zu verstehen geben, daß es ihrer Gesundheitschadet. In der Aufregung der Leute erlaubt man ihnen Ähnliches,wie man (Spielzeug) aus dem Kabinett holt, um die Kinder zu beruhi-gen, wenn sie weinen. Sobald sie zu weinen aufhören, nimmt man esihnen weg, und wenn sie wieder zu weinen anfangen, um es wieder zubekommen, nimmt man statt Süßigkeit eine kleine Rute.

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Nichts verdirbt die Orden so sehr wie die geringe Sorgfalt, die mandarauf verwendet, die Geister derjenigen zu prüfen, die sich dem Klos-ter vorstellen. Man sagt: Er ist gelehrt, aus gutem Haus, usw., aberman übersieht, daß er sich nur schwer der Disziplin unterwirft. Manmüßte ihnen mehr die Strenge vor Augen halten, die hier herrscht,und ihnen nicht so vorteilhaft so viele geistliche Tröstungen ausma-len; denn wie ein Stein, auch wenn du ihn in die Höhe wirfst, durchseine eigene Bewegung herabfällt, ebenso wird eine Seele, die Gott zuseinem Dienst haben will, je mehr sie zurückgewiesen wird, um somehr dazu geneigt sein, was Unser Herr von ihr will.

Diejenigen, die diesen Entschluß fassen aus Verdruß darüber, daßsie einen hohen Mut mit geringem Glück haben, bringen in den Klös-tern mehr Unordnung als eine gute Ordnung in ihnen. Und wennandere kommen in einer plötzlichen Regung, die ihnen aus irgendei-ner zärtlichen und wenig sinnvollen Vorstellung in den Sinn kommt,machen sie es nicht mehr oder weniger wie der Stein beim Verlassender Schleuder; wenn die Wirkung der Maschine nachläßt, bleibt erliegen. Denn um es beim Namen zu nennen, das sind schwere undgrobe Gedanken, die sich vergeblich anstrengen, zum Himmel aufzu-steigen. Oder diese Geister gleichen Hütten am Ufer eines Flusses,die der erste Regen wegschwemmt.

Es wäre besser, im ganzen Orden nur zwei Häuser zu haben, als siedurch menschliche Klugheit auszudehnen. Denn früher oder späterwerden die Fundamente, die auf den Sand und nicht auf den FelsenJesu Christi (1 Kor 10,4) gebaut sind, das ganze Gebäude einstürzenlassen (vgl. Mt 7,26f).

Wollen Sie, daß ich Ihnen sage, was mir dünkt, Madame? Die De-mut, die Einfalt des Herzens und der Liebe sowie die Unterwerfungdes Geistes sind die gediegenen Fundamente des Ordenslebens. Mirwäre es lieber, wenn die Klöster von allen Lastern erfüllt wären alsvon der Sünde des Hochmuts und des Eigendünkels. Denn die ande-ren Beleidigungen kann man bereuen und Vergebung erlangen; aberdie hochmütige Seele hat die Ursache aller Laster in sich und tutniemals Buße, weil sie sich in guter Verfassung wähnt und alle Rat-schläge mißachtet, die man ihr gibt. Mit einem eingebildeten Geistvoll Selbstgefälligkeit könnte man nichts anfangen; er ist sich selbstund anderen nicht gut.

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VI. Vom Geist der Heimsuchung

Zweck und Absicht der Gründung78

Viele Mädchen und Frauen verlangen auf göttliche Eingebung sehroft nach dem Ordensleben, die entweder wegen ihrer schwachen na-türlichen Konstitution, oder weil sie schon durch das Alter geschwächtsind, oder schließlich, weil sie sich nicht zur Übung harter äußererStrengheiten angezogen fühlen, doch nicht in Orden eintreten kön-nen, wo man zu großen körperlichen Bußübungen verpflichtet ist,wie man in den meisten reformierten Kongregationen hierzulandesieht. Auf diese Weise sind sie gezwungen, im gewöhnlichen Getriebeder Welt zu bleiben, ständig den Gelegenheiten zur Sünde ausgesetztoder mindestens der Gefahr, den Eifer der Frömmigkeit zu verlieren.Dafür verdienen sie gewiß großes Mitleid; denn ich bitte euch, werwollte eine hochherzige Seele nicht beklagen, die das größte Verlan-gen hat, sich aus dem Treiben der Welt zurückzuziehen, um ganz fürGott zu leben, die es dennoch nicht tun kann, weil sie nicht genügendkörperliche Kraft, nicht die erforderliche gesunde Konstitution oderein hinreichend kraftvolles Alter besitzt, die ihre Absicht, eine grö-ßere Heiligkeit zu erwerben, nicht verwirklichen kann, weil es durchden Mangel an Gesundheit verhindert oder verzögert wird?

Damit nun solche Seelen hierzulande künftig eine sichere Zufluchthaben, wurde diese Kongregation in der Weise errichtet, daß keinegroße Strenge die Schwachen und Kränklichen davon abhalten kann,in sie einzutreten, um sich hier der Vollkommenheit der göttlichenLiebe zu widmen. Folglich wird man in sie 1. Witwen ebenso aufneh-men können wie Mädchen, vorausgesetzt daß die Kinder, wenn siewelche haben, gut und rechtmäßig versorgt sind und daß sie ihre An-gelegenheiten hinreichend geordnet haben, wie es vom geistlichenVater für erforderlich gehalten wird oder von anderen gediegenenPersonen, auf deren Ansicht man sich verlassen kann. Dadurch wirdman den Weltleuten soviel als möglich jeden Anlaß zur Kritik entzie-hen und die Unruhe abwenden, die der Feind gewöhnlich bewirktdurch die unnütze und unkluge Sorge für die Dinge, die sie in derWelt zurückgelassen haben, die er den Witwen einflößt.

Man wird 2. solche aufnehmen können, die wegen ihres Alters oderwegen irgendeines körperlichen Gebrechens in strengeren Klöstern

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nicht aufgenommen werden können, vorausgesetzt daß sie einen ge-sunden Geist haben und geeignet sind, in tiefer Demut, in Gehorsam,Einfachheit, Sanftmut und Selbstverleugnung zu leben. Trotzdemnimmt man solche davon aus, die mit einem ansteckenden Übel be-haftet sind, wie Aussatz, Skrofeln und ähnliche; oder auch solche, dieso schwere Gebrechen haben, daß sie ganz und gar unfähig wären, derRegel und den gewöhnlichen Übungen der Kongregation zu folgen.

Es sollen 3. auch solche von guter und kräftiger Konstitution aufge-nommen werden als von Gott zur Hilfe und Erleichterung der Ge-brechlichen Berufene. Wie die Schwachen sich des Nutzens der Ge-sundheit der Kräftigen erfreuen werden, so werden umgekehrt dieKräftigen Anteil am Verdienst der Geduld der Gebrechlichen haben.

Und damit die einen wie die anderen stets Aufnahme in die Kon-gregation finden können, wird die Oberin sorgsam darauf achten, daßin ihr weder direkt noch indirekt irgendwelche körperlichen Streng-heiten eingeführt werden über jene hinaus, die es jetzt gibt, die ver-pflichtend oder allgemein gebräuchlich sein könnten. Das hatte derglorreiche Vater, der hl. Augustinus im Auge, als er in der ‚Regel‘ sofreundlich auf den Beistand für die Kranken hinwies. Dadurch hat erhinreichend seinen Willen bekundet, daß die Gebrechlichen aufge-nommen werden und daß mit Rücksicht auf sie die Strengheiten nichtvermehrt werden. Und es scheint, daß er gemäß der Parabel (Lk4,16ff) in den Ordensstand wie zu einem Hochzeitsmahl des himmli-schen Bräutigams nicht nur die Gesunden und Munteren einladenläßt, sondern auch die Gebrechlichen, Blinden und Lahmen, damitsein Haus voll werde.

Regel und Konstitutionen79

Ich bitte euch, beachtet nun, daß ich in den wenigen Punkten, dieich eben behandelt habe, zugleich mit der Verteidigung eurer ‚Regel‘auch eure ‚Konstitutionen‘ verteidigt habe. Es war gewiß eine beson-dere Fügung der Vorsehung Gottes, daß unter allen Regeln jene desglorreichen hl. Augustinus gewählt wurde, um eurer Gemeinschaftals Gesetz zu dienen, da durch eine geheime Eingebung des HeiligenGeistes eure Konstitutionen schon am Anfang so abgefaßt wurden,daß sie mit dieser heiligen Regel ganz übereinstimmen, die ihr aufdiese Weise schon beobachtet habt, ohne daran zu denken, bevor sieeuch vorgeschrieben wurde, ja ohne zu wissen, daß es sie gibt. Denn

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was mich betrifft, hatte ich sie wohl schon gesehen in dem schönenBrief 109 des hl. Augustinus, aber die Erinnerung daran war mir nichtgegenwärtig und ich habe diese Konstitutionen nicht nach meinemVerständnis allein verfaßt, sondern viel mehr nach der frommen Nei-gung der Seelen, die so glücklich waren, vom Geist berufen zu sein,diese fromme Lebensform zu beginnen. Ich weiß nicht, wie sehr sichmanche getäuscht haben, die dachten, euer Institut sei einzig das Werkmeines Kopfes und folglich weniger schätzenswert; denn ich bitteeuch, mit welcher Vollmacht hätte ich eine solche Zurückgezogen-heit für euch anordnen und euch zu einer solchen Lebensweise ver-pflichten können, wenn nicht im Verein mit eurer eigenen Wahl undeurem Willen? Die evangelischen Räte können gewiß nicht von unse-ren Oberen in Gebote umgewandelt werden, wenn wir uns nicht ausuns selbst freiwillig durch Gelübde, Eid oder anderes Bekenntnisverpflichten, sie zu befolgen.

Doch in Wahrheit, als ich eure Kongregation sah, anfangs klein anZahl aber groß im Verlangen, sich mehr und mehr in der hochheili-gen Gottesliebe und in der Verleugnung jeder anderen Liebe zu ver-vollkommnen, war ich verpflichtet, ihr sorgsam beizustehen. Ich dach-te wohl daran, daß Unser Herr, wie er selbst (Joh 10,10) gesagt hat,zum Heil seiner Schafe in die Welt gekommen ist, nicht nur, damitsie das wahre Leben haben, sondern damit sie es in überreichem Maßhaben. Und um zu bewirken, daß sie es in überreichem Maß haben,dachte ich, muß man sie nicht nur zur Beobachtung der Gebote, son-dern auch der Räte anleiten; und dazu müssen Leute meines Standesdem göttlichen Meister treu dienen. Wie der hl. Augustinus sagt, wares immer ein besonderes Vorrecht der Bischöfe, die Saat der Unver-sehrtheit zu säen und in den Seelen das Verlangen und die Sorgfalt fürdie Jungfräulichkeit zu wecken, wie es einst die ersten und größtenDiener Gottes und Hirten der Kirche getan haben. Wenn ich außer-dem eure Methode, Gott zu dienen, bestätigte, habe ich nur getan,was ich nach der Erklärung des Heiligen Vaters Paul V. tun mußte, alser eurer Kongregation schöne und reiche Ablässe bewilligte und sag-te: „sofern sie durch die Autorität des Bischofs approbiert und er-richtet ist.“

Mit einem Wort, meine sehr teuren Töchter, Gott sei Ehre und Ver-herrlichung (1 Tim 1,17), der von aller Ewigkeit diese heilige Regelnfür eure Kongregation vorbereitet hat und eure Kongregation für die

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Befolgung dieser Regeln, da er durch eine wunderbare Fügung seinerVorsehung angeordnet hat, daß eure Konstitutionen ganz genau wiefließende Bäche wurden, die ihren Ursprung in den eigenen Wortenund im Geist der Regeln als ihrer wahren Quelle und ihrem ganzreinen Brunnen hatten. Das gibt mir den Mut, euch folgende Mah-nung zu erteilen: Kommt, ihr Töchter ewigen Segens, und wie zuEzechiel (3,1-3) und wie zum teuren Lieblingsjünger des Vielgelieb-ten eurer Seelen (Offb 10,8-10) gesagt wurde: Kommt, nehmt und eßtdieses Buch, verschlingt es, erfüllt und nährt euer Herz mit ihm. Mö-gen seine Worte Tag und Nacht euch vor Augen stehen, um sie zubetrachten, auf euren Armen sein, um sie zu verwirklichen (Jos 1,7),und möge euer Inneres Gott dafür preisen (Ps 103,1). Es wird euremMagen bitter sein, denn es führt euch zur vollständigen Abtötung eu-rer Eigenliebe; aber in eurem Mund wird es süßer als Honig sein, weiles ein unvergleichlicher Trost ist, die Liebe zu uns selbst sterben zulassen, damit in uns die Liebe zu Dem lebe und herrsche, der ausLiebe zu uns gestorben ist. So wird sich eure bitterste Bitterkeit ver-wandeln in die Süßigkeit eines überreichen Friedens (Jes 38,17) undihr werdet von wahrem Glück erfüllt sein.

Ich bitte euch, meine Schwestern, ja ich flehe euch an und beschwö-re euch, meine vielgeliebten Töchter, seht und erwägt: bis jetzt seidihr in diesen Konstitutionen unterwiesen worden, unter ihnen habtihr den Ordensschleier empfangen, durch sie habt ihr euch vermehrt,habt zugenommen an Alter, Zahl und Frömmigkeit. Seid daher stark,fest, standhaft, unwandelbar; und bleibt so, damit nichts euch vomhimmlischen Bräutigam trenne, der euch miteinander vereinigt hat,nichts euch trenne von dieser Einheit, die euch mit ihm vereinigthalten kann, so daß ihr alle nur ein Herz und eine Seele (Apg 4,32)seid und Er selbst einzig eure Seele und euer Herz sei.

Glückselig die Seele, die diese Regel befolgt, denn sie ist treu undwahrhaftig (Offb 1,3; 22,6). Und allen Seelen, die ihr folgen, werdefür immer überreich die Gnade, der Friede (Offb 1,4) und der Trostdes Heiligen Geistes zuteil. Amen.

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Die hauptsächlichen Tugenden80

Trösten Sie sich in den Nöten des Geistes und des Körpers, die Sieerleiden, indem sie fünf Dinge erwägen:

1. Das kommt vom Willen Gottes oder von seiner Zulassung; er hates zu seiner größeren Ehre und zu Ihrem größeren Wohl für gut be-funden, daß es so sei.

2. Ihre Sünden verdienen das sehr, und noch mehr.3. Gott ist gegenwärtig und schaut, ob Sie bei der Gelegenheit, die

er Ihnen zur Übung der Tugend gibt, den guten Entschluß verwirkli-chen, den Sie gefaßt haben, ihn nie zu verlassen oder zu beleidigen.

4. Die heilige Menschheit des Gottessohnes hat viel mehr erduldet,unschuldiger und auf ungerechtere Weise als Sie. Ermutigen Sie sichalso durch sein Beispiel, zu leiden, und Sie werden sich darüber freu-en, eine Möglichkeit zu haben, ihn darin nachzuahmen.

5. Alles Böse, das man Ihnen zufügt, wird ebenso eine Krone imHimmel sein, wenn Sie es ertragen. Auf diese Weise sind jene, dieIhnen Böses antun, Ihre Wohltäter.

Übung der Demut.

Alles, das Äußere wie das Innere, mit dem Verlangen tun, sich zudemütigen und erniedrigt zu werden.

Sich für die Geringste von allen halten und sich freuen, wenn manSie dafür hält. Ihr Herz oft vor Gott demütigen; es lieben, daß manIhre Fehler und Unbeholfenheiten oder Schwächen kennt, und nichtstun, um sie zu verbergen. Ihre Erniedrigung recht lieben und sie ausallem gewinnen.

Geraten wir nicht in Verwirrung wegen unserer Fehler, noch wegenunseres geringen Fortschritts, noch wegen irgendetwas in uns, nochdeswegen, was wir tun könnten.

Sich nicht entschuldigen, weder innerlich noch durch Worte oderHandlungen.

Sein Herz ‚parfümieren‘ mit Gedanken der Niedrigkeit, die kom-men.

Sich sehr unterwürfig in allem erweisen, so gering es sein mag; sichallen leicht anpassen; bei allem nichts tun, um gelobt und geschätztzu werden.

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Es nicht wünschen und nicht lieben, daß man anerkenne oder schät-ze, was wir sagen oder tun.

Sich freuen, wenn man die Tüchtigkeit unserer Schwestern siehtoder von ihr sprechen hört; unseren Schwestern großen Respekt er-weisen, sie als unsere Oberinnen betrachten und selbst in allen dieheiligen Worte Unseres Herrn hören.

Gern gewöhnliche und niedere Dinge tun. Es lieben, wenn man vorallen getadelt und gedemütigt wird.

Ruhig und bescheiden sprechen; nicht von sich sprechen, von sei-nen Verwandten und von Dingen, die zu unserem Vorteil sein könn-ten.

Recht mutig sein und bereit, alles zu tun und zu unternehmen, wasuns der Gehorsam aufträgt.

Großes Vertrauen auf Gott haben und auf den Beistand der selig-sten Jungfrau, wenn wir unsere Schwächen und Gebrechen spüren.

Nie etwas zu sagen oder zu tun unterlassen aus Furcht, deswegenerniedrigt zu werden.

Übung der Sanftmut.

Sich angewöhnen, zu sprechen und alle seine kleinen und großenHandlungen auf möglichst sanfte Weise zu verrichten.

Beim ersten Gefühl des Zorns, der Ungeduld und der Entrüstungdes Herzens sogleich sanft seine Kräfte vor Unserem Herrn sammeln.Wenn man eine Erregung oder einen Groll fühlt, sich an Gott wendenund ihn durch eine einfache Ablenkung um Hilfe bitten.

Wenn man eine Handlung im Zorn oder aus Ungeduld begangenhat, den Fehler gutmachen durch einen Akt der Sanftmut, den mansogleich der betreffenden Person gegenüber macht; ein freundlichesGesicht wahren, wenn man antwortet, und bereitwillig alles tun, wasman uns aufträgt.

Sich in unserer Unterhaltung freundlich, leutselig und herzlich zei-gen.

Jeden freundlich empfangen, ihm helfen und ihn zufriedenstellen,sowohl durch unsere Haltung wie durch unsere Antworten.

Nie irgendwie Unwillen zeigen, was man auch tut oder über unssagt.

Niemals gegen uns selbst verbittert sein noch gegen unsere Unvoll-kommenheiten.

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Nicht verwirrt und beunruhigt sein, weil wir uns unvollkommenund schlecht abgetötet sehen. Über unsere Fehler ein Mißfallen ha-ben, das friedlich, ruhig und fest ist, aber nicht verbittert, heftig undunruhig. Sein Herz gütig und durch Mitleid tadeln und zurechtwei-sen, indem man sagt: Mein armes Herz, wir sind gefallen; nun denn,erheben wir uns wieder und legen wir unsere Unvollkommenheitenfür immer ab.

Seinem Herzen Mut machen, wenn es gefehlt hat, und ihm Hoff-nung geben, daß Gott ihm helfen wird und daß es mit seiner Hilfe esbesser machen wird. Einen festen Entschluß fassen, nicht mehr inseinen Fehler zu fallen. Nicht über unseren Fall erstaunt sein, weil eskein Wunder ist, daß die Gebrechlichkeit gebrechlich und dieSchwachheit schwach ist; und sich schließlich wegen aller unsererFehler im allgemeinen demütigen, seien sie groß oder klein, es durcheine demütige Anerkennung unserer Schwachheit vor Gott bringenund sich ganz ruhig wieder aufrichten.

Übung der Einfachheit.

Bei allen seinen Werken und Handlungen eine ganz einfache Ab-sicht haben, nämlich Gott zu gefallen; in allem, was uns trifft, imGuten wie im Schlechten, den Willen Gottes sehen und lieben.

Bei allem stets ruhig bleiben, selbst über die Verzögerung unsererVollkommenheit; dabei trotzdem treu bemühen, um sie zu erwerben.

Einfach und aufrichtig seine Fehler aufdecken, ohne sie zu verschlei-ern.

Wahrhaftig und offen in unseren Worten sein, ohne viel zu reden,besonders um sich zu entschuldigen oder zu verbergen.

Aufrichtig und ungekünstelt sein und ohne Nachsinnen über unsereHandlungen, Fehler und Worte.

Lieber darauf sehen, was Gott und seine Engel dazu sagen werden,was wir tun und sagen, und nicht, was diejenigen sagen werden, dieuns sehen und hören.

Für den Tag leben, ohne so viel Voraussicht und Sorge um uns selbstund all das, was sich ereignen muß.

Tun, was uns nach unserer Berufung jetzt gegenwärtig ist, und unsvollständig der göttlichen Vorsehung überlassen.

Die Dinge tun, wie sie kommen, ganz aufrichtig, ohne auf so vieleDinge zu achten.

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Übung der Bescheidenheit.

Nicht leichtfertig in seinen Worten und Handlungen sein.Gesicht und Blick sollen heiter sein, ohne Falten und eine frostige

und melancholische Miene. Die Augen gesenkt halten und in beschei-dener Haltung gehen; herzlich und aufrichtig den Schwestern gegen-über sein.

Sich mit großem Respekt verhalten und sprechen. Nicht zu vertrautwerden, vor allem mit solchen, zu denen wir eine besondere Zunei-gung haben.

Einander durch eine Verneigung des Kopfes grüßen, verbunden mitder Aufmerksamkeit des Geistes und mit großem Respekt.

Nicht streiten, nicht mit heftigem Eifer sprechen, nicht zu laut la-chen oder sprechen, noch beim Sprechen Gesten machen, weder mitden Händen noch mit dem Kopf oder anderen Gliedern des Körpers.

Gelassen antworten oder sagen, was man zu sagen hat, ohne sichfurchtsam oder ängstlich zu zeigen.

Seine Handlungen ruhig und ohne innere oder äußere Hast verrich-ten.

Die Neugierde bezähmen bei Dingen, wo man fühlt, daß man sichzurückhalten muß.

Den Willen haben, in allem Gott zu gefallen. Nicht so viel nachMitteln suchen, um Gott recht zu lieben und zu dienen, sondern sichzu Füßen Unseres Herrn halten, ihn um seine Gnade und seine Liebebitten, ohne nach anderen Mitteln zu suchen, sie zu erlangen, als jene,die uns in den Konstitutionen angegeben sind.

Sich damit begnügen, in Einfalt in der Beobachtung unserer Regelnvorzugehen, ohne andere Dinge kennen zu wollen.

Übung der brüderlichen Liebe.

Nicht über irgendeinen Fehler des Nächsten murren und sprechen,auch wenn er geringfügig ist. Gutes über alle sagen und sich überniemand beklagen.

Niemals anderen berichten, was wir über sie reden hörten, wenn esetwas ist, was sie kränken oder verdrießen könnte; nie etwas sagen,was die Schwestern im geringsten kränken könnte.

Nichts sagen, was herabsetzt oder mißbilligt, was die anderen sa-gen.

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Niemandem eine besondere Zuneigung zeigen, die bei anderen auchnur den geringsten Verdacht erwecken könnte.

Alle mit Liebe und Zuneigung behandeln; über niemand urteilen,sondern sie entschuldigen, sowohl bei sich als auch anderen gegen-über. Niemand tadeln, ohne das Amt dazu zu haben.

Jede Abneigung fliehen, vor allem aber vermeiden, sie zu zeigen.Nicht unterlassen, mit denen zu sprechen, sie zu beachten und sieaufzusuchen, die uns irgendeinen Verdruß bereitet haben.

Übung der Abtötung.

Sich abtöten in allen Dingen und bei allen Gelegenheiten, die sichbieten.

Gut seinen Nutzen ziehen aus allen Abtötungen, die uns von Gott,von der Oberin und von Schwestern bereitet werden.

Sich abtöten und überwinden in allem, was uns daran hindert, dieRegel zu befolgen.

Die gewöhnlichen Dinge, innere wie äußere, die wir jeden Tag tun,gut verrichten.

Sich darin abtöten, daß man die Zelle nicht verläßt, wenn man rechtLust dazu hat.

Nichts anschauen, was sonderbar ist. Nichts zu wissen verlangenund nicht nach dem fragen, was uns nichts angeht. Das nicht sagen,was zu sagen man große Lust verspürt.

Sich in Dingen abtöten, die man zu tun verpflichtet ist, wie essen,sich erholen und ähnliche Übungen, an denen man Gefallen hat, in-dem man vorher sagt: Ich will das nicht zu meinem Vergnügen ma-chen, sondern weil mein Gott es will.

Übung der Geduld.

Kein Zeichen der Ungeduld geben, wenn er (der Nächste) nicht gutfindet, was wir tun oder wozu wir den Auftrag haben.

Nicht zulassen, daß irgendwie Traurigkeit und Groll von unseremHerzen Besitz ergreifen.

Sich nicht ärgern über Ermahnungen oder darüber, daß man unswegen unserer Fehler rügt. Mit Geduld den Kummer ertragen, denwir empfinden, wenn man uns oft das gleiche vorhält oder wiederholt.

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Nicht ungeduldig werden, wenn man Mühe hat, zu behalten und zubegreifen, was man uns zeigt.

Alles freudig und bereitwillig annehmen, was unserem Geschmack,unserem Willen und unserer Neigung widerstrebt, weil es das Wohl-gefallen Gottes so will.

Übung des Gehorsams.

Sorgsam gehorchen, ohne etwas zu vergessen; schnell, ohne Verzö-gerung und Aufschub; einfach, ohne Widerrede und Erklärungen;genau, in Ihrem Gehorsam nichts für sich nehmen; freimütig, ohneZwang und Verdrossenheit; liebevoll, nicht schwermütig, mürrischund widerwillig.

Von Herzen und mit Willen gehorchen, dasselbe wollen und nichtwollen wie unsere Oberen.

Mit Verstand und Urteil gehorchen, ohne irgendeine Auffassungoder Meinung anzunehmen, die im Widerspruch zu der unserer Obe-ren steht.

Allen Oberinnen gehorchen, wer sie auch seien, wie unser HerrJesus Christus.

Blind gehorchen, ohne nachzuforschen, zu prüfen und zu fragen,warum und wie, sondern keinen anderen Grund haben, um sich zu-friedenzugeben, als den zu wissen, das ist der Gehorsam, und bei sichselbst zu sagen: Ich mache es, weil es der Wille Gottes ist, und in ihmliegt meine ganze Befriedigung.

Übung der Armut.

Nichts ohne Erlaubnis ausleihen und annehmen, so geringfügig essei; es lieben und sich freuen, wenn uns etwas für uns Notwendigesmangelt. Es lieben und sich freuen, wenn man uns das Minderste desHauses gibt.

Oft die Armut Unseres Herrn, der heiligen Jungfrau und der Apo-stel vor Augen haben.

Verzicht leisten auf Dinge, deren man sich bedient, beweist einegroße Zufriedenheit. Was unserem Geschmack und unserer Sinnlich-keit widerstrebt, küssen und liebkosen.

Nicht gierig essen und nicht andere Speisen zu bekommen wün-schen als jene, die man uns gibt.

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Wenn man sich in Trockenheit und Dürre befindet, ohne Geschmackund Trost, diese Armut vor Gott lieben.

Recht erleichtert sein, daß man die anderen mehr liebt als uns undmehr Gefallen am Umgang mit ihnen als mit uns hat. Sich freuen,wenn man unseren Gründen keine Beachtung schenkt und wenn manzeigt, daß man kaum ein Vergnügen daran findet, uns anzuhören.

Übung der Keuschheit.

Alle unsere Handlungen mit großer Ehrbarkeit und Schicklichkeitverrichten.

Sehr darauf bedacht sein, sich recht in Gott zu beschäftigen, indemwir uns schnell und sorgfältig von Gedanken und Erinnerungen anDinge ablenken, die wir früher gesehen und gehört haben.

Sich oft nach Gott als unserem einzigen Bräutigam sehnen und inihm ruhen. Nichts lieben, außer für ihn, in ihm und aus Liebe zu ihm.

Gewöhnlich von guten und nützlichen Dingen sprechen. Sehr sorg-sam den Blick gesenkt halten und alle seine Sinne abtöten.

Übung der Hochherzigkeit.

Niemals erstaunt sein über Schwierigkeiten, Widerwillen und Ab-neigungen. Allen unseren Gefühlen, so stark sie auch sein mögen,nicht mehr Beachtung schenken, als wir es dem Gebell von Hundentun würden.

In Mühen und Schwierigkeiten sein Herz weiten und seinen Mutvergrößern, denn dazu schickt Gott sie und läßt er sie zu.

Beim Anblick und Gefühl unserer Armseligkeiten, Schwächen undGebrechen nach dem höchsten Gipfel der Vollkommenheit streben,gestützt auf die Barmherzigkeit Gottes; nicht erstaunt sein, auch wennwir uns wie angeleimt an unsere Unvollkommenheiten sehen, undmit sanfter und ruhiger Geduld unsere Befreiung von Unserem Herrnerwarten, und wenn wir sie erlangt haben, sie als ein kostbares Ge-schenk seiner Güte sehr lieben.

Nie zu rufen aufhören: Zieh mich (Hld 1,3) an dich, und sich zuerhoffen und zu versprechen, ihm ungeachtet des Gefühls unsererSchwachheit zu folgen (s. 1. Gespräch). Unserem Herzen keinenGedanken der Entmutigung lassen.

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Sich nicht ärgern, wenn wir am Anfang nicht so fest und treu voran-gehen, wie wir möchten, sondern uns damit begnügen, am Anfangkleine Schritte zu machen, um später auf großer Bahn zu laufen undzu gehen.

Nicht unruhig und verwirrt werden wegen des Fortschritts der an-deren. Die anderen nicht an unsere Gangart binden wollen, noch siegeringachten, wenn sie nicht tun, was die anderen tun, sondern allesschätzen, was sie tun.

Diejenigen, die es besser machen, mit freundlicher Herzlichkeitund heiliger Ehrfurcht betrachten. Aus unseren Schwächen an Demutgewinnen, besonders wenn wir den Fortschritt der anderen sehen.

Übung der starken inneren Frömmigkeit.

Den Willen in Übereinstimmung mit guten Handlungen haben, klei-nen wie großen. Nichts aus Gewohnheit tun, sondern mit Beflissen-heit des Willens.

Der äußeren Handlung soll die innere Haltung vorausgehen, odermindestens soll ihr die Haltung sogleich folgen. Das Äußere aus demInneren hervorgehen lassen (1. Gespräch).

Man muß stark sein, um die Versuchungen zu ertragen, stark, umdie Verschiedenheit der Geister zu ertragen, stark, um seine eigenenNeigungen und Unvollkommenheiten zu ertragen, um sich nicht zubeunruhigen, wenn man sich ihnen unterworfen sieht; stark, um dieUnvollkommenheiten zu bekämpfen und ihre vollständige Änderungund Besserung zu unternehmen (1. Gespräch).

Man muß sich unabhängig von Tröstungen durch Geschöpfe ma-chen.

Übung der Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes.

Alle Gelegenheiten, die sich uns bieten, große und kleine, als ausder Hand Gottes kommend ergreifen.

Sich in allem dem Willen Gottes überlassen; sich dem Willen Got-tes gleichförmig machen, sei es in Krankheit, Trockenheit und Dürre,in Zerstreuungen, Versuchungen und in oftmaligem Fallen.

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Ratschläge für das geistliche Leben81

Über den Gehorsam.

Seien Sie recht rasch bereit zu gehorchen und einfach zu allem, wasman Ihnen befehlen wird, ohne auf die Person zu schauen noch aufdas Befohlene, um zu sehen, ob es Ihnen gelegen kommt oder nicht.

Wenn Sie auf dem Weg der Tugend vorankommen wollen, dannschauen Sie nicht auf das Gesicht derjenigen, die Ihnen befehlen, dennwenn Sie darauf achten wollten, werden Sie immer Schwierigkeitenhaben, sich lieber dieser Oberin zu unterwerfen und zu gehorchen alseiner anderen, wenn sie im Amt wäre. Solange wir auf die Geschöpfeschauen und nicht auf den Schöpfer, werden wir nie etwas tun, waseinen Wert hat, und wir werden keine Fortschritte machen. Man mußalso jener gehorchen, die uns Gott als Oberin gegeben hat, und in ihrstets Unseren Herrn sehen, auf dessen Anordnung sie uns befiehltund uns rät, was zu unserem Wohl und geistlichen Fortschritt ge-reicht.

Schauen Sie auf den Gehorsam Abrahams. Unser Herr befiehlt ihm,seinen Sohn zu opfern (Gen 22,2); er sagt ihm, er soll aus seinemLand, von seiner Verwandtschaft fortziehen und an den Ort gehen,den er ihm zeigen werde (12,1). Er sagt ihm nicht, welchen Weg ereinschlagen soll, und Abraham fragt ihn nicht: Herr, in welche Rich-tung willst du, daß ich ausziehe? Wenn du mir nicht sagst, durch wel-ches Tor ich fortziehen soll, weiß ich nicht, wohin ich zu gehen habe.Von all dem sagte er nichts, sondern ging einfach da hin, wohin ihnder Wille Gottes rief, um sein Wohlgefallen zu erfüllen. So muß manes machen: einfach der Stimme Gottes gehorchen, die uns durch un-sere Oberinnen angezeigt wird, und darüber weder diskutieren nochGedanken machen, um darüber nach unserer Neigung zu urteilen.

Wenn Sie die schlechteste Oberin der Welt hätten und wenn sieIhnen ins Gesicht gespuckt hätte, dürften Sie niemals in Mutlosigkeitund Mißtrauen geraten, sondern müßten ihr in Einfalt Ihr ganzes Herzeröffnen; ich sage stets: nach dem höheren Teil. Und seien Sie sehrfroh, daß Sie keine fühlbare Befriedigung haben, denn wir lieben jenesehr, die uns schöne Dinge sagen!

Ich bitte Sie, hängen Sie sich nicht so sehr an Oberinnen. Ich willnicht, daß Sie an mir hängen, noch an unserer Mutter noch an irgend-

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etwas. Sagen Sie mit der Mutter Theresia: „Alles, was nicht Gott ist,ist nichts für mich.“ Wünschen Sie nicht, von der Oberin persönlichgeliebt zu werden. Das möchte ich Ihnen sehr ans Herz legen, dennman wird uns immer in dem Maß lieben, wie Gott will, und Gott wirdes immer wollen und Sie werden in dem Maß geliebt werden. Unddann, was sagt der ‚Gipfel der Demut‘? Daß man nicht geliebt zuwerden wünschen soll. Es ist ein großes Mittel, in der Tugend und inder Gottesliebe Fortschritte zu machen, wenn wir Oberinnen haben,die uns nicht lieben und die wir ebenfalls nicht lieben. Man darf des-wegen nicht mutlos werden und das Vertrauen nicht verlieren. Mandarf nicht empfindlich wie die kleinen Kinder sein.

Sagen Sie mit dem Apostel: Herr, was willst du, daß ich tue (Apg9,6)? Der hl. Bernhard sagt aber, daß es Ordensleute gibt, zu denenman sagen muß: Was beliebt Ihnen zu tun? Meine liebe Tochter, seienSie nicht ein solches Kind.

Schließlich wird das gehorsame Herz von den Siegen berichten (Spr21,28). Die Siege erringen wir, wenn wir unseren Willen und unserUrteil dem der anderen unterwerfen nach dem Beispiel UnseresHerrn; er ist gehorsam geworden bis zum Tod und bis zum Tod amKreuz (Phil 2,8) und wollte lieber sterben als den Gehorsam verlie-ren.

Wenn die Glocke läutet und uns wohin immer ruft, muß man pünkt-lich sein, zu gehen und alles liegen zu lassen. Man darf nie etwasgegen den Gehorsam tun, besonders wenn uns der Gedanke kommt,daß es nicht gut ist, wenn wir Gewissensbisse bekommen oder wennwir möchten, daß es unsere Oberin nicht erfährt.

Man muß da bleiben, wo es mehr Widerstand gibt: da muß man dieTugend am meisten üben, indem man mit Respekt, Unterwerfung,Liebe und gern gehorcht. Man muß großen Mut haben, um der Wä-schemeisterin wie der Köchin um Gottes Willen in gleicher Weisestets zu gehorchen, weil sie unsere Vorgesetzten sind. Man muß stetsdenken, daß die Oberinnen alles gut überlegen, bevor sie es sagen;lassen Sie sich also von ihnen führen wie ein kleines Kind.

Wenn es Ihnen von Nutzen ist, bei der Rechenschaft zu sagen, daßich Sie diese Übung gelehrt habe, dann sagen Sie es, damit man Siediese fortsetzen lasse; wenn man Ihnen aber sagt, Sie sollen es andersmachen, dann lassen Sie alles und tun einfach, was sie Ihnen sagenwerden, obwohl Sie Widerwillen empfinden, sowohl es aufzugebenals auch, es anders zu machen, als ich Ihnen gesagt habe. Man muß

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stets eher den Willen der anderen erfüllen, vor allem der Oberinnen,als sie dazu zu bringen, den unseren zu erfüllen.

Der hl. Paulus sagt (2 Kor 5,26): Wir haben Unseren Herrn demFleisch nach erkannt; aber jetzt lieben wir ihn dem Geist nach. Solieben auch wir nicht durch die Gefühle, sondern dem Geist nach, umuns zu vervollkommnen und uns enger mit der Liebe Gottes zu verei-nigen.

Man muß alle Mittel anwenden, die uns gegeben sind, um den Him-mel und das Heil zu erlangen, rein für Gott und um ihm zu gefallen,weil er es so will und weil es gut ist, es zu tun. Wenn man euch schiefanschaut, darf man das nicht auch tun; der hl. Paulus (Röm 12,17.21)sagt, man soll Böses mit Gutem vergelten.

Über die Demut.

Unser Herr, der sich als Gott sah, und obwohl er in sich nichts fand,um sich zu demütigen, wollte sich dennoch demütigen und hat gesagt:Lernt von mir, der ich sanft und demütig bin, und ihr werdet Frieden ineurer Seele finden (Mt 11,29). Es ist der Gipfel der Demut, sich umUnseres Herrn willen zu demütigen, weil er sich aus Liebe zu unsgedemütigt hat, um uns ein Beispiel zu geben, es wie er zu machen.

Sie müssen demütig sein in allen Ihren Handlungen, Ihre Hinwen-dung zu Gott vollziehen durch die Erniedrigung in Ihr Nichts und inIhre Nichtswürdigkeit und Niedrigkeit. Sie müssen recht demütig seinund Sie werden es zu der Stunde sein, da es Ihr Vater Ihnen befiehlt;o, ich bitte Sie darum. Aber ich sage Ihnen: in einer echten und gedie-genen Demut, die Sie gelehrig für die Zurechtweisung macht, fügsamund bereitwillig zum Gehorsam.

Gehen Sie im Frieden, meine teuerste Tochter, halten Sie sich de-mütig vor Gott. Ihre Unvollkommenheiten sollen Ihnen dazu dienenund Sie nicht in Mutlosigkeit verfallen lassen; durch die Gnade Got-tes sind wir auf dem rechten Weg. Nichts kann uns schaden als dereigene Wille; nun, den dürfen wir nicht haben, denn wir haben ihnganz Gott geweiht; ermutigen wir uns also ohne Überheblichkeit.

Wenn die Heiligen etwas Gutes getan haben, haben sie sich dasniemals persönlich zugeschrieben, wohl aber das Schlechte, und ha-ben alles Gute, das sie taten, als gewöhnlich hingestellt: ein Kennzei-chen der Demut.

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Wir müssen die Würde einer Prinzessin haben, weil wir die Bräutedes Gottessohnes sind, aber schlicht, ohne Getue; und die Demut desZöllners (Lk 18,13) voll Vertrauen.

Um die Gnade Gottes in unserem Herzen zu haben, muß es leersein von unserem eigenen Ruhm und sagen: Mein Gott, schau aufdieses armselige Geschöpf so voller Elend; erfülle es mit deinemErbarmen.

Wenn Sie Fehler gegen die Sanftmut begangen haben, demütigenSie sich; und wenn Sie Fehler gegen die Demut begangen haben, be-sänftigen Sie sich und machen es, wie ich Ihnen gesagt habe: gehenSie immer von der Demut zur Sanftmut über und von der Sanftmutzur Demut.

Um den Heiligen Geist zu empfangen, muß man sein Herz sehr tiefan Demut machen und Ihren Geist vereinfachen, in allem schlichtvorgehen, etc.

Über die Sanftmut.

Die erste Predigt, die Unser Herr seinen Jüngern hielt, lautete: Lerntvon mir, der ich sanft und demütig bin (Mt 11,29). Ich sage Ihnenebenso, meine teuerste Tochter, seien Sie recht sanft und demütig,haben Sie diese lieben Tugenden stets im Mund und im Herzen. Lie-ben Sie sie recht, da Unser Herr sie so sehr empfohlen hat. Die De-mut macht uns vollkommen vor Gott, die Sanftmut dem Nächstengegenüber. Mögen diese Tugenden in Ihnen leuchten, in allen IhrenHandlungen, in allen Ihren Worten, in Ihren Augen, in Ihrer ganzenHaltung. Werden Sie freundlich, dann werden Sie liebenswürdig; be-mühen Sie sich, freundlich und leutselig zu sein, herzlich und mitteil-sam. Es ist ungerecht, aus Herzlichkeit die Anliegen der anderen ken-nen zu wollen und von seinen eigenen nichts zu sagen.

Ich empfehle Ihnen die Leutseligkeit, von der Sie wissen, daß mansie denen gegenüber übt, mit denen man spricht; fröhlich sein mitden Fröhlichen, voll Mitleid mit den Betrübten, sich der Art der an-deren und ihren Stimmungen anpassen, es machen wie der hl. Paulus:allen alles werden, um alle zu gewinnen (1 Kor 9,19-22).

Jedesmal, wenn Sie finden, daß sich Ihr Herz von der Sanftmutentfernt hat, fassen Sie es nur mit Fingerspitzen an, nicht mit derganzen Faust, wie man sagt, und nicht schroff. Sagen Sie nie harteWorte noch solche der Zurechtweisung.

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Bemühen Sie sich, äußerlich und innerlich die heilige Gelassenheitzu gewinnen, und richten Sie Ihre Handlungen nach ihr; und wennman nicht mehr weiß, was man mit seinem Geist anfangen soll, dergereizt und verwirrt ist, muß man sich ablenken. Wenn das nichtshilft, muß man es trotzdem immer wieder versuchen, damit uns dieNachlässigkeit nicht glauben macht, die Ablenkung helfe nichts; da-bei muß man Geduld mit sich selbst haben. Man muß seinem Herzenmanchmal schöntun, ihm in seinen Krankheiten dienen und es ermu-tigen. Und wenn es recht gereizt ist, muß man es wie ein Pferd imZaum halten und es in sich festhalten, ohne es nach seinen Gefühlenund Leidenschaften laufen zu lassen. Die Sanftmut erreicht das fastimmer.

Sagen Sie oft: Selig sind die Sanftmütigen, denn ihrer ist das Him-melreich (Mt 5,4); und mit dem Psalmisten: Kostet und seht, wie gütigder Herr ist (Ps 34,91). Sagen Sie auch oft den Vers: „Jungfrau einzigmilde unter allen“, und bitten Sie Unsere liebe Frau, sie möge IhrHerz heimsuchen und es mit dem Duft ihrer Güte und Sanftmut er-füllen.

Seien Sie so mild, wie Sie können, und mehr als alle anderen. Zie-hen Sie sich je nach Gelegenheit in sich selbst zurück durch die Hin-wendung Ihres Geistes zu Gott. Sie müssen nicht allzu zurückgezo-gen sein, denn das ist nicht Ihre Art.

Man muß das sich selbst Absterben in Sanftmut vollziehen.

Über die Einfachheit.

Man muß sehr einfach sein und arglos vorgehen. Seien Sie sehr dar-auf bedacht, Ihren Geist von allem Überflüssigen zu vereinfachen,und wenn es sich anbietet, dann tun Sie nichts anderes, als es abzu-streifen, ohne es zu beachten, indem Sie Ihr Herz Unserem Herrnzuwenden.

Und nehmen Sie diese Mühe aus Liebe zu Gott gern auf sich, umdadurch die Krone zu gewinnen. Tun Sie alles für Unseren Herrn inreiner Absicht, ohne auf Geschöpfe zu achten. Wenn Sie so vorgehen,werden Sie mit Gottes Gnade eines Tages die Einfachheit besitzen.

Man muß einfältig wie kleine Kinder sein, um in das Himmelreicheinzugehen (Mt 18,2f). Gehen Sie so einfältig ohne Bedenken vor,wenn Sie Ihr Herz eröffnen. Befassen Sie Ihren Geist nicht mit dem,was um Sie geschieht. Man muß eine Taube sein, weil Unser Herr der

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Tauber ist, und kein anderes Sinnen und Trachten haben, als ihm zugefallen, und so einfältig sein, daß Sie sagen können: Ich denke annichts außer an das, wozu ich verpflichtet bin. Halten Sie von IhremHerzen alle Überlegungen fern, die der Einfachheit entgegengesetztsind. Ihr Geist soll nicht auf Widerspruch und Schwierigkeiten ach-ten, sondern sie durch Verachtung bekämpfen.

Halten Sie Ihr Herz nahe bei Gott. Das ist das Mittel, einfältig zusein, weil Gott ein vereinfachender Geist ist. Besonders beim Gebet,will ich, sollen Sie wie eine Statue in der Nische sein, ohne etwas zuwollen, als Ihrem Bräutigam zu gefallen. – Warum bleibst du in die-ser Nische, Statue? – Weil mich mein Bräutigam in sie gestellt hat;ich will nichts als das.

Schenken Sie sich ihm ganz, lassen Sie ihn alles in Ihnen machen,übergeben Sie ihm Ihren Ruf und Ihre Selbstachtung. Wenn er will,daß man Sie liebt und hochschätzt, wird er es wohl zulassen; desglei-chen, wenn er will, daß man Sie demütigt. Überlassen Sie ihm alleSorge für Sie und haben Sie nur das Sinnen und Verlangen, IhremBräutigam zu gefallen, und bleiben Sie in der Nische, ohne etwas zuwollen.

Über die Hochherzigkeit.

Für dieses Jahr gebe ich Ihnen als besondere Übung die Tugend derHochherzigkeit. Das sollen Sie mutig und sanft unternehmen, nichtmit roher Gewalt. Sie sollen die Sanftmut und Demut mit Hochher-zigkeit üben, denn diese zwei Tugenden braucht man immer, ohne siejemals aufzugeben. Die Hochherzigkeit besteht darin, unabhängig zuwerden von allen Dingen und Geschöpfen und sich nicht damit abge-ben, zu denken, ob sie uns lieben und an uns denken oder nicht; dabeidarf man sich nicht aufhalten. Ich will wohl, daß Sie mich lieben unddaß Sie glauben, daß ich Sie recht liebe; aber ich will, daß die Freund-schaft, die Sie zu mir hegen, Ihrer Vollkommenheit und der Vereini-gung Ihres Geistes mit Gott nicht schade, sondern Ihnen dazu diene,sich noch mehr mit ihm zu vereinigen. Ich will nicht, daß Sie an mirund an unserer Mutter hängen.

Man muß alle Bedenken mißachten und sich mutig erheben, erho-benen Hauptes über alles weggehen und nicht auf die Handlungen desNächsten achten, was er tut oder sagt und wie er sich gegen uns ver-hält. Wir würden nie etwas tun, wollten wir alles überlegen und die

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Gedanken und Überlegungen wiegen. Die Hochherzigkeit geht überall das hinweg, sie hält sich nur an Gott allein, dem zuliebe sie allestut, und sie tötet ab, was menschlich ist, um nur mehr für ihn zu leben.Man muß seiner Seele Mut machen und ihr sagen, daß alles für Gottund für die Ewigkeit bestimmt ist. Tatsächlich gehören wir nicht mehruns selbst, wir sind Gott geweiht, um ihn zu lieben und ihm vollstän-dig zu dienen. Man muß also hochherzig seinen Weg gehen, ohne überetwas erstaunt zu sein, und jeden seinen Weg gehen lassen.

Meine liebe Tochter, für uns genügt es, Jesus Christus den Gekreu-zigten (1 Kor 2,2) zu kennen. Seien Sie nicht kleinlich in der Übungder Tugenden, sondern gehen Sie geradewegs, freimütig, einfältig undin gutem Glauben voran. Gewiß, ich fürchte den Geist des Zwangs.Meine Tochter, ich wünsche, daß Sie ein weites und großmütiges Herzauf dem Weg Unseres Herrn haben, aber ich will auch stets, daß esmild sei.

Das innerliche Leben besteht darin, die Natur sterben zu lassen undnach der Gnade und der Vernunft zu leben. Wenn uns die Mückenstechen, muß man sie nur ganz einfach verjagen; wenn uns Widerstän-de kommen, muß man sie ebenfalls nur ganz einfach abwehren, d. h.sich von ihnen abwenden und sich nicht mit ihnen befassen. Ich willIhnen sagen, wie ich es machen wollte und wie ich will, daß Sie esmachen. Ich erwarte von Ihnen nicht, daß Sie keine Gefühle haben,wohl aber, daß Sie diese bekämpfen, besiegen und mit Sanftmut undGeduld überwinden.

Bleiben Sie ruhig, wenn Sie keine Kreuze haben; Unser Herr wirdIhnen wohl welche senden, wann es ihm gefällt.

Über das Reden.

Fragen Sie Unseren Herrn um Rat, was Sie sagen sollen, bevor Siesprechen, ebenso Ihren höheren Seelenteil, um nichts zu sagen, wasGott und die Geschöpfe beleidigt. Bemühen Sie sich, Nützliches be-dächtig und bescheiden mit jedem zu sprechen, besonders mit denSchwestern, als seien sie alle Ihre Oberinnen.

Man muß freundlich und leutselig gegen alle sein und auch die Welt-leute so gütig und kurz zufriedenstellen, wie man kann. Wenn Sie esnicht kurz machen können, dann hören Sie ihnen mit Geduld undHerzlichkeit zu und bringen sie von ihren unnützen Vorhaben ab, sosanft Sie können; reden Sie ihnen freundlich zu. Und um sich von der

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Furcht zu befreien, daß sie nicht tun, was Sie ihnen sagen, denken Sie,daß Sie mit ihnen als Beauftragte und Gesandte Gottes sprechen; undwenn Sie die Eitelkeit überkommt über das, was Sie ihnen sagen,dann denken Sie bei sich selbst, daß das, was Sie sagen, nicht vonIhnen ist, sondern von Gott, und dann demütigen Sie sich.

Wenn Sie etwas Gutes getan oder der Versuchung widerstanden undkeinen Fehler gemacht haben, dann sagen Sie stets: Das habe ich durchdie Gnade Gottes getan. Oder wenn man Ihnen einen Auftrag gibt,fügen Sie das Wort hinzu, daß Sie es mit der Gnade Gottes machenwerden; oder auch: wenn es Gott gefällt. So muß man immer sagen,denn ohne die Gnade Gottes können wir das Gute nicht tun und demBösen nicht widerstehen.

Wenn Sie Grüße schicken oder von jemand empfangen, muß manebenfalls von Unserem Herrn sprechen und denen, die sie bestellen,sagen: Ich bitte Sie, N. in meinem Namen zu danken, daß er sichmeiner erinnert; versichern Sie ihm, oder versichern Sie ihr (je nachder Person), daß ich Unseren Herrn für sie bitten werde, damit erihnen stets seine heiligen Gnaden gewähre; und ähnliches.

Für die Rekreation muß man es machen, wie es die Regel angibt.Manchmal muß man aus Demut hinter den anderen zurücktreten; fürgewöhnlich aber müssen Sie da bleiben, wo Sie sich befinden, ohnenach den letzten Plätzen zu streben. Man muß seine Zunge recht ab-töten. Töten Sie Ihre Neugierde gut ab. Man darf keine Eigenheitenhaben wollen; das sagt die Regel, ebenso daß die Ersten wie die Letz-ten sein sollen.

Man wird so viel mit Ihnen sprechen, als Sie dessen bedürfen undwie uns Gott dazu anregen will. Die Vollkommenheit besteht nichtim Reden, sondern im Handeln. Sie haben einen Geist wie die Bäu-me; die haben rundum so viele Äste, die sie am Wachsen hindern: soviele kleine Wünsche sind ein Hindernis, im größten zu wachsen,nämlich Gott zu gefallen.

Wenn Sie die anderen auf ihre Fehler aufmerksam machen, mußman sich zuerst selbst in seinem Herzen anklagen, dann den Liebes-dienst aus Liebe zu Gott erweisen. Man muß bei seinen Ermahnun-gen anführen, was die Satzungen sagen, nach dem Beispiel UnseresHerrn; als ihn der böse Feind in der Wüste versuchte, sagte er: Dusollst den Herrn, deinen Gott nicht versuchen (Mt 4,1.7); als ihn diePharisäer fragten, zitierte er ihnen ebenfalls die Heilige Schrift: Essteht geschrieben (Mt 21,13 u. a.). Sie können es ebenso machen und

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sagen: Das sagen die Satzungen. Manchmal muß man die Fehler aucheinfach nennen, ohne (die Satzungen) anzuführen. Man muß bei al-lem einfach vorgehen und die anderen sagen lassen, was sie wollen.

Meine liebe Tochter, es ist gut, das Schuldbekenntnis der anderenzu hören, um Licht zu empfangen, die Ihren zu sehen und bei sichselbst zu sagen, daß diese Schwester sehr demütig ist, sich in dieserWeise anzuklagen. Würden Sie sie aber aus Neugierde anhören, dannmuß man sich abtöten und sie nicht anhören. Und wenn Sie Ihre Feh-ler sagen, müssen Sie wünschen, die anderen sollen denken, daß Sieso sind, wie Sie sich anklagen, und noch schlimmer, um die Demut zuüben.

Sie können den abwesenden Schwestern schreiben, denn das tröstetsie und hält die gegenseitige Liebe aufrecht; manchmal werden Sieauch aus Demut und echter Selbstverachtung nicht schreiben. Dasmuß man zwanglos und in Freiheit tun.

Unterdrücken Sie die inneren Worte: Wenn man mir dies sagt, wer-de ich das antworten; denn das bewirkt nur, daß man das Herz verbit-tert und die Güte verliert. Wundern Sie sich nicht über diese Erschüt-terungen des Herzens und die Abneigung gegen den Nächsten; wennSie diese nur nicht freiwillig nähren, liegt darin keine Sünde. – AberSie sprechen nicht freundlich mit ihnen. – Es gibt kein Mittel, meineliebe Tochter, das zu tun, als liebte man sie sehr, außer wenn man sichgroße Gewalt antut. Und das zu tun, ist eine große Übung der Tugend,und es nicht zu tun, heißt sie verfehlen.

Wie man sich erheben muß, wenn man gefallen ist.

Wenn man in irgendwelche Fehler oder Unvollkommenheiten fällt,ist es ein sehr gutes Mittel, das Gott sehr gefällt und den Teufel zu-schanden macht, sich sogleich vor Gott zu verdemütigen und seinenGeist zum Himmel zu erheben, indem man sich dieser oder ähnli-cher Worte bedient: Herr, du siehst, wie anfällig und armselig ich binund wie oft ich falle; vergib mir, Herr, und gib mir die Gnade, nichtmehr zu fallen. Wenn Sie gegen die Schwestern gefehlt haben, mußman den Fehler gutmachen; und wenn Sie den Fehler gegen eine ein-zelne begangen haben, dann sagen Sie, wenn es ein Fehler gegen dieSanftmut war, eine Widerrede, die Äußerung der Abneigung: „Meineteuerste Schwester, ich bitte Sie um Verzeihung, weil ich Ihnen Ab-neigung gezeigt und gegen die Sanftmut gefehlt habe; ich habe Ihnen

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Ärgernis gegeben; ich bitte Sie, bitten Sie Unseren Herrn für mich,damit er mir Barmherzigkeit schenke und die Gnade, mich zu bes-sern.“ Dann denken Sie nicht mehr an Ihren Fehler, meine liebe Toch-ter. Machen Sie es nicht wie die kleinen Kinder: wenn sie gefallensind, schauen sie herum, ob sie jemand gesehen hat. Wundern Sie sichnicht über Ihre Fehler und Unvollkommenheiten; sie dürfen Sie nurnicht entmutigen, denn das steht im Gegensatz zur Vollkommenheit,die wir wünschen.

Trachten Sie bei allen Handlungen, sich abzutöten und mit Unse-rem Herrn auf dem Kalvarienberg Ihre Leidenschaften, Neigungenund Abneigungen zu kreuzigen, damit Sie mit ihm in seiner Glorieleben werden. Heften Sie Ihr Herz an den Fuß des Kreuzes und lassenSie es dort in seiner Liebe ruhen. Seien Sie recht froh, daß Sie einzigdurch die Barmherzigkeit Gottes, Ihres Erlösers gerettet sind, ohneeine andere Entsprechung von Ihrer Seite als die des Gehorsams ge-gen seine Einsprechungen.

Was macht es aus, daß Sie immer unvollkommen sind, wenn Sie nurdarauf bedacht sind, sich zu vervollkommnen, und getreu alle Mitteldazu anwenden, die Ihnen möglich sind. Lassen Sie Gott machen, erwird Ihnen helfen. Machen Sie sich nicht so viele Sorgen um sichselbst und darüber, was aus Ihnen werden soll. Gehen Sie immer Ih-ren kleinen Schritt, einen nach dem anderen. Wenn ich auch sage,kleinen Schritt, heißt das nicht, daß ich nicht ein großes Verlangennach Ihrem Fortschritt hätte. Ich verspreche mir viel von Ihrem gu-ten Herzen, meine liebe Tochter; enttäuschen Sie mich nicht, dennich will, daß Sie hier die starke Tochter sind, die mutigste, sanftesteund demütigste von allen, weil Sie in meinen Armen (wieder)geborensind. Sie wissen, wie sehr mein Herz Sie liebt, daß Sie sich voll undganz und ohne Vorbehalt mir übergeben haben und daß wir ein Herzmiteinander haben: das Ihre gehört mir und das meine ganz und garIhnen; und wenn Sie von Ihrem Herzen sprechen hören, wird es dasmeine sein. Nun denn, meine Tochter, ich bitte Sie, niemals Mißtrau-en gegen mich zu haben, um mir irgendetwas zu verheimlichen, wasin Ihnen vorgeht.

Sie müssen wissen, daß Sie für Ihre Sünden hinreichend Genugtu-ung leisten, wenn Sie alles, was Sie tun, rein für Gott und um ihm zugefallen tun, ohne andere Absicht; und das ist vollkommener.

Unser Herr sagte (Joh 20,22) zu seinen Aposteln: Empfangt denHeiligen Geist und Heiligmacher, aber weil sie auf Erden waren, konn-

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ten sie nicht verhindern, daß sie ihre Füße schmutzig machten, wennsie im Staub gingen. So werden wir, solange wir in diesem Leben sind,immer Trübsale haben. Man muß sich sehr demütigen und guten Mutfassen, um unsere Unvollkommenheiten zu bekämpfen, denn solangewir in diesem Leben sind, werden wir immer zu tun und zu kämpfenhaben: das ist die Übung unserer Demut. Man darf sich nicht darüberwundern, sich immer wieder fehlen und in Fehler fallen zu sehen;und wie man großen Mut haben muß, um sich wieder zu erheben,wenn wir gefallen sind, so braucht man noch größeren Mut, um sichzu ertragen, wenn man sich oft in die gleichen Fehler fallen sieht.Und wenn man guten Mut haben muß mit sich selbst, muß man nochgrößeren haben, um den Nächsten in Liebe zu ertragen mit seinenFehlern und der Verzögerung der Vollkommenheit durch sein ständi-ges Fallen, ohne daß er sich wieder erhebt. Man muß vor allem dieSchwachen ertragen.

Sie sind betrübt, meine liebe Tochter, weil Sie Fehler begehen: manmuß sich demütigen und in Frieden bleiben. Aus uns selbst könnenwir ohne die Gnade Gottes nichts tun (vgl. 2 Kor 3,5). Er hat gesagt,daß wir nicht ein Haar unseres Hauptes ändern können, um es weißoder schwarz zu machen (Mt 5,36).

Wenn man Sie zu Unrecht anklagt? Sagen Sie die Wahrheit; dasmüssen wir tun. – Es ist aber die Oberin, und sie macht die Zurecht-weisung, als hätte man ihr etwas verheimlicht. – Man muß ihr dieWahrheit sagen und dann schweigend dulden. Im übrigen muß mannicht auf der Stelle hingehen und seine Betroffenheit sagen, obwohlsie uns sehr bedrängt; man muß warten, bis sie ein wenig vergangenist.

Wie man nach dem höheren Seelenteil leben soll.

Behalten Sie diese Weisung Ihres Vaters gut, meine teuerste Toch-ter, um sie in die Tat umzusetzen: Man muß dem Leben Unseres Herrngemäß leben, stets nach dem höheren Teil vorgehen. Halten Sie andieser Regel fest, nicht nach Ihren Gefühlen zu leben, sondern nachder Vernunft. Das muß man immer wiederholen.

Ihnen dünkt aber, daß Sie nichts tun, wenn Sie bei dem, was Sie tun,keine Tröstungen und Befriedigung fühlen, denn das lieben wir dochso! – O, ich will, daß Sie mutiger seien, meine liebe Tochter, und daßSie an nichts hängen, weder an fühlbaren Tröstungen Gottes noch an

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der Zuneigung von Geschöpfen. Unser Herr will, daß wir mehr tunals die Heiden, die jene mehr lieben, von denen sie geliebt werden(Mt 5,44ff); er will, daß wir unsere Tugend gegen diejenigen üben, dieuns weniger lieben, und das muß man tun. Wenn da eine Person ist,die schlecht riecht und die man bedienen muß; und wenn sie mitunserem Dienst unzufrieden wäre, dürfte man deswegen nicht denkleinsten Dienst unterlassen, den man ihr schuldet. Jeder liebt diemehr, die seinem Geschmack entsprechen. Dasselbe gilt von den Tu-genden. Es ist sehr leicht, sanftmütig zu sein, wenn einen nichts är-gert. Man muß seinen Geist auf jede Weise zurechtbiegen durch einevorzügliche Abtötung unser selbst und alles dessen, was vom Naturellstammt, um sich nach dem Wohlgefallen Gottes zu richten.

Ach, wann wird es so weit sein, daß Sie mit dem Apostel (Gal 2,20)sagen können: Nicht mehr ich lebe, sondern Jesus Christus lebt in mir?Das muß genau zu der Stunde sein, wenn Sie Herrin über sich selbstund die neue Tochter Unseres Herrn sind. Sie werden die Auflösungin das Leben und den Tod Unseres Herrn vollziehen.

Man muß große Sorge für das Heil der Seelen und für die EhreGottes haben und damit die Demut verbinden.

Wie man jeden Tag seine guten Vorsätze erneuern soll.

Vereinigen Sie sich fest mit Unserem Herrn durch die ErneuerungIhrer Gelübde mit der größten Innigkeit, die Ihnen möglich ist. Undwerfen Sie sich Unserer lieben Frau zu Füßen, fassen Sie ihr Gewandan und bitten sie, Sie als eine neue Tochter unter ihren Schutz zunehmen und Ihr Herz mit dem Duft ihrer hochheiligen Demut zuerfüllen. Haben Sie großes Vertrauen zu ihr und zum hl. Josef.

Man muß jeden Tag anfangen, Gutes zu tun, als hätte man nichtsgetan. Um die Aktivität des Geistes festzuhalten und ihn von seinerNachlässigkeit abzubringen, muß man oft sein Herz fragen, wozu esin den Orden gekommen ist, ohne an morgen zu denken. Jeder Taghat genug an seiner Aufgabe. Unser Herr sagte (Mt 6,34) zu seinenAposteln: Sorgt euch nicht um den nächsten Tag. Man muß für denGeist und für das Herz nicht an morgen denken.

Meine liebe Tochter, bedeutet das, was der ‚Geistliche Kampf‘ sa-gen will, daß es keine so große Tugend und Vollkommenheit ist, einenEntschluß für einen ganzen Tag zu fassen, wie für das ganze Leben? –

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Sie müssen wissen, meine Tochter, daß es zweierlei Vollkommenheitgibt: Eine Person könnte z. B. von der fleischlichen Versuchung ge-plagt sein; sie begeht dabei keine Sünde, sie ist darin vollkommen.Eine andere wird nicht versucht; sie ist vollkommener, weil das einGeschenk Gottes ist. So versäumen diejenigen, die von Tag zu Tag mitder Vollkommenheit beginnen, mit ihrem Entschluß nicht, ebensovollkommen zu sein wie die anderen, die den entschiedenen Entschlußdazu auf einmal für das ganze Leben fassen. Gleichen Sie, wenn Siekönnen, dem Gewand Josefs, das vom Kopf bis zu den Füßen reichte(Gen 37,3.23), d. h. man muß sich sein ganzes Leben lang der Übungder Tugenden widmen.

Hegen Sie keine Wünsche vor der Zeit. Wir müssen unsere Leiden-schaften mit goldenen Ketten fesseln, das sind die Ketten der Liebe,ohne die Neigungen und Abneigungen zu vergessen, um alles nachdem Wohlgefallen Gottes zu ordnen.

Wenn Sie Ihren Rückblick gehalten, Ihre Unvollkommenheiten be-reut und verabscheut haben, bleibt der Schluß zu machen, d. h. IhreEntschlüsse recht in die Tat umzusetzen, künftig nur für Gott lebenzu wollen und sich seiner Liebe zu befleißen. Machen Sie sich ganzklein in Ihren eigenen Augen: dazu haben wir allen Grund. Man mußseine Niedrigkeit recht lieben, aber ganz sanft. Man darf gegen sichselbst nicht so grob sein. Die Liebe zu uns selbst stirbt erst mit uns;man tötet sie wohl ab, aber sie kommt immer wieder. Wenn wir se-hen, daß wir nicht so vollkommen sind, wie wir möchten, müssen wiruns vor Gott verdemütigen und zu ihm sagen: Herr, du siehst, was ichbin; ich möchte wohl vollkommener sein, um dir besser zu gefallenund dich mehr zu lieben.

Meine liebe Tochter, aus der bitteren Wurzel geht die süße undschmackhafte Frucht hervor; das ist die Abtötung. Sie sind im glück-lichsten Stand der Welt und in der Gnade Gottes; wären Sie in derWelt geblieben, hätten Sie an einem Tag mehr gelitten als hier inIhrem ganzen Leben. O Gott, lieber sterben als es bereuen.

Für uns sind unsere Regeln und Konstitutionen der Weg zum Him-mel. Man muß sehr genau sein, sie zu befolgen. Ihr Geist ist die inne-re und äußere Demut und Sanftmut. Vereinigen Sie sich fest mit Gott,bitten Sie um nichts als um seine Liebe und um die Einheit IhresWillens mit dem seinen; sagen Sie oft: Dein Wille geschehe, dein Namewerde geheiligt, dein Reich komme zu uns (Mt 6,9f). Bitten Sie Unsereliebe Frau, daß sie Ihr Herz ihrem Sohn aufopfere und es seiner gött-

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lichen Majestät wohlgefälliger mache. Werfen Sie sich ihr zu Füßenund in ihren Schoß, bitten Sie oft um ihren Segen.

Man muß Gott von ganzem Herzen lieben. Schließlich sind wir dieBraut eines gekreuzigten Bräutigams; es ist angemessen, daß wir wieer mit drei Nägeln gekreuzigt sind. Verrichten Sie alle Ihre Handlun-gen, um Gott wohlgefällig zu werden; nur dazu sind Sie hier, und umsich zu vervollkommnen. Man muß gern in sich das Leiden unseresgekreuzigten Herrn fühlen.

Sie üben dieses Jahr die Verachtung und Zurückweisung aller un-nützen Gedanken. Es gibt ein Wort Unseres Herrn: wer geradewegszu ihm geht, achtet nur darauf, ihm geradewegs zu folgen, ohne aufdie anderen zu achten (vgl. Lk 9,21f). Daraus ergibt sich nur, daß Siees wie sie machen. Gehen Sie mutig Ihren Weg.

Die Passion Unseres Herrn fühlen, das geschieht dann, wenn sichein Anlaß zum Zorn bietet: dann muß man sich vergegenwärtigen,wie sich Unser Herr in seinem Leiden verhielt. Welche Handlung desZorns hat er getan? Man muß seine Sanftmut nachahmen; das gebeich Ihnen für dieses Jahr als Übung.

Die Konstitutionen (49) sagen, daß man geradewegs und „weise“vorangehen muß. Man muß es machen wie jene, die einen schönenWeg voll schöner Blumen gehen; sie halten sich nicht damit auf, dieseschönen Blumen zu pflücken, noch an ihnen zu riechen, sie gehenihren Weg geradeaus. So muß man es machen: geradewegs zu Gottgehen, ihn immer vor Augen haben, ohne sich bei etwas aufzuhalten.Es heißt aber nicht, geradeaus gehen, wenn man viel an seine Fehlerdenkt, ebenso wenn die Oberinnen uns lieben. Man soll nicht betrübtsein, wenn sie uns nicht lieben und keine Neigung zu unserer Förde-rung zeigen; es genügt, daß sie diese vor Gott haben. Wenn sie uns inder Förderung unseres Fortschritts vernachlässigen, dürfen wir unsselbst nicht vernachlässigen und nicht den Mut verlieren, Fortschrit-te zu machen. Man soll sehr froh sein, wenn sie uns lieben, denn dasgibt Mut, voranzustreben; aber es heißt nicht geradeaus gehen, wennman viel daran denkt.

Schauen Sie nur auf Gott, meine Tochter, um ihm in allem zu gefal-len, und gehen Sie allgemein bei allem einfach vor.

Machen Sie sich keinen Kummer, was die anderen über Sie sagenwerden. Gehen Sie immer Ihren Weg in der Liebe zu Gott, meineliebe Tochter, die ich von ganzem Herzen recht liebe.

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Über die Gottes- und Nächstenliebe.

Meine liebe Tochter, hören Sie den hl. Franziskus ausrufen: UnserHerr ist aus Liebe gestorben, und niemand liebt ihn! Bemühen Siesich deshalb, ihn von ganzem Herzen, aus allen Kräften und Fähig-keiten zu lieben. Sie sind ihm sehr verpflichtet ob so vieler Gnaden,die er Ihnen erwiesen hat und ständig erweist. Unser Herr hat Sie vonaller Ewigkeit geliebt (vgl. Jer 31,3) und liebt Sie sehr; glauben Siedaran, ich bitte Sie.

Was muß man tun, um ihn zu lieben? – Es gibt nichts zu tun, als ihnzu lieben und seine ganze Liebe ihm zuzuwenden. Begnügen Sie sichmit ihm, und Sie müßten zufrieden sein. Wenn nur Gott und Sie aufder Welt wären, wäre das nicht genug, ohne so viele Geschöpfe zuwollen und sich mit so vielen trügerischen Dingen zu befassen, dieIhnen durch den Kopf gehen? Erinnern Sie sich oft an Gott durchhäufige Herzenserhebungen zu ihm.

Man darf sich nicht grämen, wenn man nicht immer in der Gegen-wart Gottes ist. Es bedarf einer Gewöhnung und Übung, um IhrerSeele eine gute Haltung in ihren inneren und äußeren Tätigkeiten zuverschaffen. Verrichten Sie alle, als ob Unser Herr sie angeordnethätte und Sie es in Gegenwart seiner Menschheit ausführen müßten.Das sage ich nicht nur von den Handlungen, die in sich selbst frommsind, sondern auch von indifferenten wie schlafengehen, ausruhen,wenn es sein muß. Wenn Jesus Christus anwesend wäre und wollte,daß wir mit jemand lachen aus Liebe zu ihm und in seiner Gegenwart,wie würden wir diese Handlung machen?

Unser Herr hat seine Geschöpfe so sehr geliebt, daß er es nicht fürausreichend hielt, Engel oder Heilige zu schicken, um uns die Liebezu zeigen, die er für uns hegt, wenn er nicht selbst in Person kam, umunsere Menschennatur anzunehmen und sein Blut und sein Leben fürunsere Erlösung hinzugeben. Das soll uns sehr ermutigen, ihn vonganzem Herzen zu lieben und ihm freudig zu dienen.

Bemühen wir uns, nichts im Verstand zu haben als Jesus, nichts imGedächtnis als Jesus, nichts im Willen als Jesus, nichts in der Vor-stellung als Jesus. Sprechen wir diesen heiligen Namen aus, sooft wirkönnen; wenn wir ihn auch jetzt nur stammeln können, werden wirihn schließlich gut aussprechen lernen. Einzig die göttliche Liebekann diesen Namen allein aussprechen: Jesus. Bitten wir, es möge

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ihm gefallen, ihn in diesem Leben auf dem Grund unseres Herzenseinzuprägen, um ihn im anderen zu sehen. Amen.

Aus der Liebe zu Gott geht die zum Nächsten hervor. Man mußunsere Schwestern als Bräute Unseres Herrn recht lieben. WundernSie sich nicht, wenn Ihre Liebe nicht zärtlich ist, sowohl gegen Gottals auch gegen die Geschöpfe; das ist um so besser, damit sie stark ist.Man muß sie so zärtlich lieben, wie man es vermag. Vertrauen, Ehrer-bietung und Unterwerfung drängen den Schöpfer und die Geschöpfe,uns zu lieben und uns aus Zuneigung das Gute zu verschaffen. Mandarf sich nicht nur darauf einstellen, den Unschuldigen nicht zu ver-nachlässigen, sondern muß sich mit ihm verbinden, um seine Sachezu verteidigen. Gott sind wir das gute Gewissen schuldig, dem Nächs-ten das gute Beispiel. Die Seele des Nächsten ist der Baum des Lebens(vgl. Gen 2,9) des irdischen Paradieses; es ist verboten, sie zu berüh-ren, weil sie Gott gehört und es ihm zusteht, über sie zu urteilen wieüber uns. Wenn uns die Anwandlung überkommt, uns über jemand zuärgern, müssen wir diese Seele sogleich im Herzen Gottes sehen, dannwerden wir nicht daran denken, uns über sie zu ärgern, und das ist dasrechte Mittel, den Frieden in unserem Herzen und die Nächstenliebezu wahren.

Und warum steht es uns nicht zu, Gnaden, Wünsche und heiligeEinsprechungen zu haben? Unser Herr gebietet (Mt 5,48), daß wirvollkommen wie sein himmlischer Vater seien; man muß sich bemü-hen, sich zu vervollkommnen, und dafür alle unsere Kräfte einsetzen.Und warum sollen wir nicht die heiligen Einsprechungen unseresgöttlichen Bräutigams empfangen, die er uns mit solcher Liebe sen-det?

Man ist nicht nur mehr verpflichtet, dem Nahestehenden und Nach-barn beizustehen, man muß es auch tun.

Wenn wir fühlen, daß wir kein Vertrauen auf Gott haben, müssenwir es in seinem Herzen schöpfen, denn Unser Herr ist davon ganzerfüllt. Er entzieht uns niemals seine Gnade wegen dieser kleinenDinge; er ist nicht der Schwäche unterworfen, uns zu zürnen, wenn esuns mangelt, wenn wir uns nur an ihn wenden und uns in Liebe undVertrauen demütigen. Lassen Sie sich von ihm führen nach seinemGefallen; wenn es auch nicht nach dem Ihren ist, so wird es doch stetsnach dem seinen geschehen. Man muß es unternehmen, sich zu ver-vollkommnen, nicht zu unserer Befriedigung, sondern um unseremBräutigam zu gefallen, der es will.

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Über Trockenheit und Unfruchtbarkeit.

Meine teuerste Tochter, Sie müssen wissen, daß man bei bedecktemHimmel eine größere Wegstrecke zurücklegt als bei großer Hitze;ebenso macht man in der reinen Gottesliebe größere Fortschritte,wenn man sich in großer Trockenheit befindet, vorausgesetzt, daßman treu und nicht mutlos ist. Die Eigenliebe ist dabei nicht so be-friedigt, denn wir möchten gern immer Geschmack, Befriedigung undTröstungen haben, sonst ist alles verloren. Wir möchten gern Tugen-den haben, ohne daß es uns etwas kostet. O, man muß mutiger sein.Man muß Unseren Herrn auf dem Kalvarienberg ebenso, und wenn esmöglich ist, noch mehr lieben als auf dem Berg Tabor.

Über Versuchungen, besonders gegen die Berufung.

Da Sie durch die Gnade Gottes diese Lebensform gewählt haben,erlauben Sie Ihrem Herzen nicht, sich mit anderen Wünschen zu be-schäftigen; Preisen Sie vielmehr Gott für andere Berufungen und blei-ben Sie bei dieser, da Gott Ihnen die Gnade erwiesen hat, Sie zudieser zu berufen. Bleiben Sie daher einfach bei diesem Entschluß,ohne nach rechts oder links zu schauen; und wenn der Feind IhremHerzen die Versuchung eingibt, daß Sie nicht ausharren werden, dannsagen Sie bei sich selbst: Wir werden es doch tun, wenn es Gott ge-fällt; der das Werk begonnen hat, wird es vollenden (Phil 1,6). WendenSie sich an Unseren Herrn und sagen ihm, daß Sie ihn lieben wollen,daß Sie ihm gehören und es um nichts in der Welt jemals widerrufenwollen, daß Sie ihm so vollkommen wie möglich in dieser Lebens-form dienen wollen, in die er selbst Sie durch seine Barmherzigkeitgestellt hat.

Seien Sie recht treu, alle Übungen des Ordenslebens mit dem größ-ten Eifer zu machen, der Ihnen möglich ist. Gehen Sie gern zum Chor-gebet, zur Betrachtung, in die Rekreation und an andere Orte, unge-achtet der Trockenheit und des Widerwillens, den Sie fühlen. Ich sageimmer: nach dem höheren Teil. Dasselbe gilt von der heiligen Kom-munion: unterlassen Sie es nicht, zu kommunizieren, wenn Sie Über-druß befällt, sondern gehen Sie einfach und liebevoll, Ihren Schöpferzu empfangen, und stellen Sie sich vor, Sie empfingen ihn mit derseligsten Jungfrau.

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Über Abneigungen.

Schauen Sie, woher diese Abneigung kommt, und wenn Sie es er-kannt haben, bekämpfen Sie sie; und wenn das für einige Zeit IhreSchwierigkeit vergrößert, dann lenken Sie sich ab und sprechen mitUnserem Herrn von etwas anderem. Trotzdem muß man sich zu über-winden trachten und mit dieser Schwester so freundlich wie möglichsprechen, Gott für sie bitten, den Umgang mit ihr suchen, sie liebko-sen und ihr recht bereitwillig einen Dienst erweisen. Tun Sie nichts,was Ihre Abneigung erkennen lassen könnte. Das sind schließlich dieMücken der Welt, die uns stechen, aber man muß sie nur ganz einfachverjagen.

Um es gut zu machen, muß man sich in seinen Handlungen verhal-ten, als ob man keine Abneigung hätte. Und was soll es Ihnen ausma-chen, ob Sie welche haben oder nicht, vorausgesetzt daß Sie ihnennicht folgen und sie nicht freiwillig nähren? Es liegt nicht in unsererMacht, keine Versuchungen und Gefühle zu haben, wohl aber, ihnennicht zuzustimmen und folglich keinen Fehler zu begehen. UnserHerr will, daß Sie sein Kreuz tragen und daß Sie versucht werden, umSie zu prüfen und Verdienste erwerben zu lassen, weil er Sie liebt;aber er will auch, daß Sie treu sind und Ihren Gefühlen und Neigun-gen nicht folgen.

Meine teuerste Tochter, ich will Ihnen etwas sagen, was Sie gut ei-ner anderen sagen könnten: Wo es am meisten Widerwillen gibt, willUnser Herr, daß wir die größten Tugenden üben, denn die Tugenderwirbt man nur durch ihr Gegenteil. Wir würden sie nie erwerben,wenn wir keine Gelegenheit hätten zu kämpfen, wie jenes Mädchen,das den hl. Athanasius aufsuchte, damit er ihm eine Frau verschaffe,die es in der Geduld übte, um diese Tugend zu erwerben. Wenn wiruns nicht zu denen begeben, die uns reizen, werden wir nie die Sanft-mut und Geduld erwerben. Es gibt eine Sünde, die man fliehen muß,ebenso ihren Gegenstand, um die entgegengesetzte Tugend zu erwer-ben; aber dem zornmütigen Teil muß man entgegentreten und positiveAkte machen. Wenn die Abneigung nicht zu stark ist, machen Sie beiihr ebenso positive Akte. Bei diesen Versuchungen muß man seinePflicht den Geschöpfen gegenüber tun; dann mögen sie von uns den-ken, was sie wollen.

Denken Sie nicht, meine Tochter, ich wollte Ihre Seele im Stichlassen; o nein, denn sie ist mir ebenso teuer wie meine eigene. Ich

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sage Ihnen, was ich sagen muß und was Sie zu tun verpflichtet sind,um zur Vollkommenheit zu gelangen, wie alle Töchter der heiligenMaria beanspruchen, und dafür alles zu tun. Ich sage Ihnen, meineliebe Tochter, ich habe ein besonderes Verlangen nach Ihrem Fort-schritt, weil Gott ihn will und Ihnen dafür viele Mittel gegeben hat.Wenden Sie die gut an. Und wollen Sie nicht gut ausführen, was ichIhnen sage?

Meine liebe und parteiische Tochter, tun Sie dieser Schwester ge-genüber nichts, was sie erkennen lassen könnte, daß Sie eine Abnei-gung gegen sie haben; seien Sie im Gegenteil beflissen, ihr Dienste zuerweisen. Man muß den Nächsten mit Zartgefühl sehr lieben, beson-ders jene, gegen die man den größten Widerwillen hat. Das ist eingroßes Mittel, in der Vollkommenheit Fortschritte zu machen undheroische Tugenden zu erwerben. Versäumen Sie diese Gelegenhei-ten nicht, die Sie haben, in der Gottesliebe Fortschritte zu machen.

Zwischen dem Neid und der Abneigung ist ein Unterschied. DerNeid besteht darin, daß man über das Gut des Nächsten betrübt ist;die Abneigung ist eine Leidenschaft, die auftritt, ohne daß wir es wol-len, und um sie zu überwinden, wenn sie stark ist, muß man sichablenken und so wenig als möglich an sie denken. Wenn sie nicht sostark ist, muß man sich überwinden. Ich will nicht, daß die anderenerkennen, daß Sie sich überwinden. Sagen Sie es den Schwestern nicht,wenn Sie eine Abneigung gegen sie haben.

Über die Melancholie.

Wenn Sie von Schwermut befallen werden, lenken Sie sich ab, so-viel Sie können: singen Sie, unterhalten Sie sich mit den anderen. –Aber Sie sagen nichts, was einen Wert hätte, scheint Ihnen. – Es istviel mehr wert, nichts zu sagen, was zählt, um seine Erniedrigung zulieben, als seiner Stimmung nachzugeben, denn das ist es, was unserFeind erreichen will: uns mutlos machen wegen irgendetwas, was unszustoßen mag. Selbst wenn wir eine schwere Sünde begangen hätten,dürften wir nicht mutlos werden und uns im geringsten dem Mangelan Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes überlassen. Wissen Sienicht, daß unser Elend der Thron seiner Barmherzigkeit ist?

Sagen Sie Worte der Liebe zu Unserem Herrn, wenn auch ohneGefühl. Unterlassen Sie nicht das Geringste von Ihren Übungen trotzallem, was Ihnen die Versuchung sagen mag: man muß sie verdop-

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peln; das verstehe ich wenigstens von den Stoßgebeten, und muß siemit Eifer machen, und alle übrigen Übungen, soviel es Ihnen unge-achtet Ihres Widerwillens möglich ist. Die hl. Gertrud sagt, UnserHerr liebt es mehr, daß man ihm die Füße mit Widerwillen küßt, alswenn man dabei großen Geschmack hat, weil man es mehr aus Liebezu ihm tut. Der hl. Franziskus verbrachte drei Jahre in Schwermutund Trockenheit, auch der hl. Bernhard und so viele andere.

Vor allem aber, meine liebe Tochter, wundern Sie sich über all dasnicht und sprechen Sie mit Unserem Herrn über andere Dinge, alsdarüber, was Sie in Ihrem Herzen fühlen; denn das würde Ihr Übelvergrößern. Sie werden ein andermal mit ihm darüber sprechen, wenndas Übel vergangen ist. Sprechen Sie mit ihm aus Liebe, werfen Siesich in seine Arme, wie ein kleines Kind in die Arme seiner Mutter.Sagen Sie ihm, daß Sie ganz ihm gehören wollen, denn es liegt immerin unserer Macht, das zu sagen, und: Es lebe Jesus, und ähnliches. –Es scheint Ihnen, daß Sie es nicht können. – O doch, aber Sie wollenes nicht, weil es Sie Mühe kostet und weil Sie dabei keine Befriedi-gung haben. Sprechen Sie in dieser Zeit mit Unserem Herrn von an-deren Dingen, so sanft, so freundlich und demütig Sie es vermögen.

Ertragen Sie Ihr Übel in Geduld, meiden Sie, was Ihr Übel vergrö-ßern oder entstehen lassen könnte, wie Gefallen an Ihrem Weinen zufinden, die Unterhaltung zu fliehen, alles zu tun, was man mit Ver-druß tut, und ähnliches. Ertragen Sie schließlich Ihr Übel für Unse-ren Herrn.

Was Ihre Versuchungen betrifft, das ist Ihr Weg, machen Sie sichdeswegen keinen Kummer; bemühen Sie sich nur, ihnen zuliebe kei-nen Fehler zu begehen. Man muß sich mit äußeren Dingen ablenken.Schließlich ist glücklich in allen Versuchungen, wer glaubt und sagenkann: Ich glaube an Gott; er empfindet im Herzen tausend Wonnen.Und kennen Sie nicht Jesus Christus den Gekreuzigten (1 Kor 2,2)?Das wissen Sie gewiß, das genügt. Sie wissen mehr, als Sie tun. UnserHerr hat in seinem Gesetz geschrieben hinterlassen, daß wir bis zumTod Feinde zu bekämpfen haben werden. Wir möchten Heilige sein,und es sollte nur ein Ave Maria kosten!

Sie haben mehr Mühe, Ihre Leidenschaften zu überwinden, weil siestark sind, aber die Tugend wird dadurch hervorragender sein undUnser Herr wird Ihnen dafür gewogen sein. Die Gefühle des niederenTeils sind nichts, sofern der höhere Teil fest bleibt. Der hl. Paulus, der

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gesagt hat: Ich lebe, aber es ist Jesus Christus, der in mir lebt (Gal2,20), beklagt sich: Ich fühle ein Gesetz in meinen Gliedern, das demmeines Geistes widerstreitet (Röm 7,23). Das Gesetz des äußerenMenschen bedeutet, mit Händen und Füßen um sich schlagen, Wortesagen; aber der innere Mensch tut nichts davon, obwohl er das Gefühlhat. Unsere heiligen Väter hatten Gefühle; sie sind nicht mehr als sie.

Über das Chorgebet.

Bereiten Sie sich auf das Chorgebet vor, bevor Sie zu ihm gehenoder auch während Sie hingehen, und sagen Sie: Ich will das LobGottes im Angesicht der Engel singen (Ps 138,1); oder denken Sie,daß Sie mit Unserer lieben Frau das Lob Unseres Herrn singen ge-hen. Und jedesmal, wenn Sie Ihren Geist zerstreut finden, führen Sieihn sanft zu heiliger Aufmerksamkeit zurück, daß Sie mit Unsererlieben Frau das Lob Gottes singen, denken Sie an sie und vereinigenSie Ihre Gebete mit den ihren, um sie ihrem Sohn darzubringen.

Halten Sie sich in Ehrfurcht vor Gott, lassen Sie Ihr Herz zu Unse-rem Herrn zurückkehren, während der andere Chor antwortet, undsprechen Sie den Ihren mit Aufmerksamkeit. Lassen Sie sich nichtgehen, um zu lachen oder Ungehöriges zu tun. Tun Sie das Mögliche,um sich vor dem Schlafen zu bewahren, aus Ehrfurcht vor dem aller-heiligsten Sakrament, den Reliquien des Altars und vor dem Dienst,den Sie Unserem Herrn mit den Engeln erweisen. Man muß rechttreu sein, sich nicht bei Unnützem aufzuhalten; sobald man solchesbemerkt, muß man seinen Geist sogleich davon abwenden. Ich mei-nerseits bin nicht zerstreut, trotz der Geschäfte, die ich habe. Wennich beim Chorgebet bin, stelle ich mir vor, daß ich mit den Engeln imHimmel bin und mit ihnen den Lobpreis Unseres Herrn singe; undwenn ich von dort weggehe, finde ich, daß sich alle Fragen in einemAugenblick lösen, die mir so viel Mühe gemacht haben, bevor ichzum Chorgebet ging. Das macht Unser Herr. Man darf nicht an seineÄmter denken und nicht daran, was wir nach dem Chorgebet machenwerden; daran sollen Sie denken, wenn Sie den Chor verlassen haben.Bewahren Sie die Affekte gut, die Ihnen Gott schenken wird, um siein die Tat umzusetzen.

Wenn die Glocke läutet, denken Sie, daß Ihnen Unser Herr sagt:Meine Tochter, komm mein Lob singen.

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Unterlassen Sie nicht, Ihre Gedanken der Oberin zu sagen; auchwenn sie Sie abtötet und das Gesicht verzieht, muß man glauben, daßsie die Wahrheit spricht und Sie sich täuschen. Lenken Sie Ihren Geistab und halten Sie ihn bei Gott.

Die Gabe des Verstandes ist ein Geschenk Gottes, durch das er inder aufrichtigen Seele Erleuchtungen über den Glauben und den fes-ten Glauben an sie, ihre Klarheit und Schönheit verbreitet. Sie wirktso: in der Gediegenheit der Erwägungen, die man beim betrachten-den Gebet macht, in den Affekten und Entschlüssen, die man dabeifür die Ausführung macht.

Unser Herr sagte: Wenn jemand mich von der Erde erhöht, werdeich alles an mich ziehen (Joh 12,32). Er wollte sagen: wenn jemandmich kreuzigt, werde ich alle Geschöpfe an mich im Himmel ziehen,wenigstens diejenigen, die Nutzen aus meiner Passion ziehen wollen.Unser Herr hat gesagt: Wer immer seine Seele verliert, d. h. sein Leben,wird es gewinnen, und wer es gewinnt, wird es verlieren (Mt 10,39). Inder Urkirche verloren alle Christen, die Märtyrer waren, ihre Seeleund ihr zeitliches Leben, um es für die Ewigkeit zu gewinnen. UnserHerr sagte (Joh 13,37) zum hl. Petrus: Ich will mein Leben für dasdeine hingeben, und der hl. Petrus sagte ebenso zu Unserem Herrn.Die Weltleute, die nach dem Fleisch und in Lastern leben, gewinnenihr Leben in dieser Welt, um es ewig in der anderen zu verlieren. DieSchwestern verlieren ihre Seele, wenn sie hierher kommen, weil sienichts mehr zu tun haben mit dem Leben, das sie in der Welt geführthaben; sie müssen leben nach unserem gekreuzigten Herrn, und wennsie ihm folgen, werden sie ihre Seele für den Himmel gewinnen. Manverliert sein Leben auch, wenn man seine Neigungen und Leiden-schaften abtötet, um nach der Vernunft zu leben.

Sie sind verpflichtet, sich zu vervollkommnen.Es ist ein Unterschied zwischen Murren und Lästern: das Murren

besteht in unbedeutenden Dingen, das Lästern erstreckt sich auf gro-ße Dinge.

Über das Gebet.

Wir müssen alle unsere Gebete auf das Gebet Unseres Herrn imÖlgarten (Mt 26,39ff) gründen, uns von uns selbst und von allemEigennutz entblößen, uns dem Willen Gottes überlassen, dann umdas Notwendige für uns und alle Geschöpfe bitten und daß sein Name

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geheiligt werde (Mt 6,9). Trachten Sie, es so zu machen. Wählen Siesorgfältig einen Punkt, dann versetzen Sie sich mit der größtmögli-chen Demut in die Gegenwart Gottes. Versuchen Sie Ihre Erwägun-gen zu machen, wenn Sie können; und wenn Unser Herr Sie anziehtund durch seine Anziehung und Einsprechung daran hindert, Erwä-gungen zu Ihrer Besserung zu machen, dann tun Sie es nicht. WennSie können, werden Sie nach dem Gebet solche anstellen; aber lassenSie Ihre Seele den Affekten folgen, zu denen Gott Sie hinführt, ohnezu erforschen und zu schauen, was in Ihnen vorgeht, sondern seienSie treu, den Anziehungen Gottes zu folgen.

Man muß ganz lauter sein. Wenn Unser Herr Ihnen diese Gabeschenkt, gibt er sie Ihnen nicht Ihrer schönen Augen wegen, sonderndamit Sie ihm und auch dem Nächsten besser dienen. Üben Sie sichtreu im Gebet, und Gott wird Ihnen dabei viele Gnaden erweisen. Esscheint, daß er selbst Ihre Seele auf dem Weg des Gebets führt.

Wenn man infolge Trockenheit keine Erwägungen machen kann,muß man Entschlüsse und Affekte im höheren Teil fassen, ohne desGebets überdrüssig zu werden und ohne es aufzugeben. Wenn es abervon Benommenheit kommt, können Sie sich ein wenig ablenken, sobei der Lesung oder bei anderem, was nicht verpflichtend ist. Unter-lassen Sie es aber nicht, wenn Sie können und die Andacht dazu ha-ben, denn der Feind könnte diese Schwerfälligkeit bewirken, um Sievon dieser Übung abzubringen. Man muß sich für Unseren Herrnüberwinden und darf sich nicht zur Nachlässigkeit in der Bekämp-fung des Schlafs und der Zerstreuungen verleiten lassen. Man mußsich gut darauf vorbereiten, und wenn dann Unser Herr unser Herzergreift, muß man es machen und seiner Anziehung folgen lassen,ohne uns abzuwenden, um zu schauen, was wir tun oder fühlen, denndas ist eine der feinsten Versuchungen und Zerstreuungen; davor mußman sehr auf der Hut sein.

Folgen Sie Unserem Herrn ganz ruhig, und während er Ihnen dieGnade erweist, daß Sie sich seiner heiligen Gegenwart erfreuen, under Ihnen seine Tröstungen und Erleuchtungen schenkt, müssen Siesich sehr davor hüten, sich durch eine falsche Demut davon abzulen-ken. Tun Sie das nicht; hüten Sie sich davor, das noch zu tun, denn dasheißt dem Heiligen Geist widerstehen, ihm Vorschriften machen undsich selbst führen wollen. Unser Herr zieht uns an sich, weil er unsseine Gnaden schenken will, und wir leisten Widerstand! Es ist sehrangebracht, wenn er uns ganz unvollkommen bleiben läßt, weil wir

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die Gnade und die Ehre nicht annehmen wollen, die er uns mit sol-cher Liebe erweist, ohne daß wir es verdient hätten. Dadurch werdenwir sehr schuldig. Das ist so, als wenn ein hoher Herr Sie einlädt, ummit Ihnen zu sprechen, Sie wollten aber nicht hingehen und sagten:Ich will lieber mit seinen Dienern sprechen. Ebenso ist es, wenn wirden Einsprechungen und der Gabe Gottes Widerstand leisten.

Ihre wichtigste Übung soll sein, sich immer in der Gegenwart Un-seres Herrn zu halten, aber gelassen. Und lassen Sie Ihren Geist sichaußerhalb des Gebets nicht mehr zerstreuen als in ihm und seien Sieaußerhalb des Gebets so, wie Sie beim Gebet sein möchten. WerdenSie dessen nie überdrüssig, welche Trockenheiten Sie auch haben.Wenn man das betrachtende Gebet nicht gut gemacht hat, muß mandas durch Stoßgebete gutmachen. Seien Sie treu, häufige und ständigeHinwendungen Ihres Geistes zu Gott zu machen.

Schließlich, wer nicht die Gabe des Gebets und der Sammlung hat,für den ist es beinahe unmöglich, zu einem vollständigen Sieg übersich selbst und zu einem hohen Grad der Abtötung zu gelangen, wiedie Erfahrung zeigt. Alle Unabtötung, die man manchmal bei Or-densleuten findet, kommt daher, daß sie nicht dem betrachtendenGebet obliegen, das der kürzeste Weg zur Vollkommenheit ist. Es istnicht möglich, daß eine Seele, die sich zur Zeit der Betrachtung mitirgendeinem anderen Bestreben oder Verlangen beschäftigt, aufmerk-sam auf das sein kann, was sie betrachtet, um das Bild Gottes recht insich aufzunehmen, in das sie sich durch das betrachtende Gebet um-zugestalten sucht. Sie ist wie ein Gewässer, das von den Winden soaufgewühlt ist, daß es das Bild des Menschen nicht widerspiegelt,weil es getrübt ist; und selbst wenn es klar ist, erscheinen die Teile desKörpers wie voneinander getrennt. Ebenso ist eine Seele, die von dengegensätzlichen Winden der Leidenschaften aufgewühlt ist, nicht fä-hig, das Bild Gottes in sich aufzunehmen.

Man muß sehr treu in der Verwendung der Gebetsstunde sein, weilsie ganz Unserem Herrn gehört, ohne sich freiwillig Zerstreuungenhinzugeben. Ich weiß wohl, meine Tochter, daß die Vollkommenheitnicht im Gebet besteht, sondern in der Demut.

Eine der Regeln des geistlichen Lebens ist, sich zwei oder drei Hei-lige zu wählen und sie zu bitten, daß Sie bei Unserem Herrn Fürspra-che für uns einlegen. Aber man darf sie nicht aufgeben, wenn sie unsnicht erwirken, was wir von ihnen wollen und wünschen. Unser Herr

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wird uns etwas anderes geben, was besser für uns ist. Man darf Gottund den heiligen Fürsprechern nicht in der Einbildung dienen, nochsich selbst führen. Man muß immer unseren gekreuzigten Herrn vorAugen haben; er wird auf uns schauen, um über uns den Duft seinerGüte auszubreiten.

Um sich in der Gegenwart Gottes zu halten, muß man den Gegen-stand des betrachtenden Gebets nehmen, z. B. die Geburt UnseresHerrn. Die Engel werden singen: Ehre sei Gott im Himmel und Frie-de auf Erden den Menschen guten Willens (Lk 2,14). Man muß jedenTag sagen: Mein kleiner Gott des Friedens (2 Kor 13,11 u. a.). Oderdas Geheimnis der Passion; aus ihm werden Sie stets die Frucht derSanftmut und Demut gewinnen.

Man muß im Gebet den Geheimnissen der Kirche folgen. Es kanneine Versuchung sein, in der Osterzeit die Betrachtung über die Ge-burt des Herrn zu halten. Und so die anderen.

Persönliche Ratschläge für meine Besserung82

Ich bin zur Überzeugung gekommen, daß es für Sie äußerst nütz-lich sein wird, wenn Sie sich bemühen, Ihre Seele in Frieden undRuhe zu halten. Deshalb müssen Sie am Morgen beim Aufstehen mitdieser Übung beginnen, indem Sie alle Ihre Handlungen ganz sachteverrichten und bei der Morgenübung daran denken, was Sie zu tunhaben. Hüten Sie sich, tagsüber Ihren Geist sich ausgießen zu lassen.Achten Sie immer darauf, ob Sie in dieser Haltung der Ruhe sind,und sobald Sie sich außer ihr finden, bringen Sie sich mit großerSorgfalt in sie zurück, und das ohne Streit und Zwang.

Damit will ich jedoch nicht sagen, Sie sollten den Geist ständigangespannt haben, um sich in diesem Frieden zu erhalten; denn dasalles muß man aus ganz liebevollem Herzen in Einfachheit tun, in-dem Sie sich vor Unserem Herrn halten, wie ein kleines Kind vorseinem Vater. Und wenn Ihnen Fehler unterlaufen, welche auch im-mer, dann bitten Sie Unseren Herrn ganz sanft um Vergebung undsagen ihm, daß Sie fest überzeugt sind, daß er Sie liebt und Ihnenverzeiht; und das immer einfach und ruhig.

Das soll Ihre dauernde Übung sein; denn diese Einfalt des Herzenswird Sie daran hindern (wir sind ja nicht Herr über unsere Gedanken,so daß uns nur solche kämen, die wir wollen), im einzelnen an das zu

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denken, was Sie zu tun haben und was Ihnen aufgetragen ist, ohnedabei Ihre Seele auszugießen, etwas anderes zu wollen und zu wün-schen. Sie wird auch bewirken, daß sich die Ansprüche, unserer Mut-ter zu gefallen, oder die Befürchtungen, ihr zu mißfallen, verflüchti-gen werden und nur das eine Verlangen übrigbleibt, Gott zu gefallen,der das einzige Ziel unserer Seele ist.

Wenn es Ihnen geschieht, etwas zu tun, was die Schwestern störtoder ihnen Ärgernis geben könnte, und wenn es eine Sache von gro-ßer Bedeutung ist, dann entschuldigen Sie sich und sagen, wenn eswahr ist, daß Sie keine böse Absicht hatten. Wenn es sich aber umeine leichte Sache handelt und wenn sie keine Folgen hat, dann ent-schuldigen Sie sich nicht: achten Sie dabei stets darauf, es mit Sanft-mut und in Ruhe des Geistes zu tun, wie auch Ermahnungen anzu-nehmen. Und wenn auch Ihr niederer Seelenteil sich erregt und ver-wirrt, machen Sie sich keinen Kummer und versuchen Sie den Frie-den mitten im Krieg zu wahren; denn vielleicht wird es nie in IhrerMacht liegen, keine Gefühle zu haben, wenn Sie getadelt werden. AberSie wissen sehr gut, daß die Gefühle, so wenig wie jede andere Versu-chung, uns Gott nicht weniger wohlgefällig machen, solange wir ih-nen nicht zustimmen.

Sie täuschen sich, wenn Sie glauben, Sie könnten lebhafte Akte er-wecken, um sich dieser Gefühle und Aufregungen des niederen See-lenteils zu entledigen. Man darf im Gegenteil kein Aufhebens um siemachen, muß ruhig seines Weges gehen, ohne sie überhaupt zu beach-ten. Wenn sie Ihnen auch lästig fallen, muß man sich über das alleslustig machen, als wollte man ihnen schmollen, und das mit einemeinfachen Blick des höheren Teils. Dann darf man nicht mehr an siedenken, was sie auch sagen mögen.

Dasselbe gilt für Gedanken der Eifersucht und des Neids und sogarfür die Rührung, die Sie wegen Ihrer körperlichen Bequemlichkeitenfühlen, und für ähnliche Betrügereien, die uns gewöhnlich in den Sinnkommen. Entledigen Sie Ihre Seele jeder anderen Sorge als jener,sich in Frieden und Ruhe zu halten. Ich sage sogar, der Sorge um Ihreeigene Vollkommenheit; denn ich stelle fest, daß diese übertriebeneSorge, sich zu vervollkommnen, Ihnen sehr schadet, weil Sie sichbeunruhigen, sobald Ihnen Fehler unterlaufen, und weil es Ihnenscheint, das widerspreche immer Ihrem Unterfangen, sich zu bes-sern. Ebenso werden Sie entmutigt, wenn man Ihnen irgendeinen Feh-ler an Ihnen zeigt.

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Das alles dürfen Sie nicht mehr tun, sondern müssen Festigkeit da-rin gewinnen, sich nicht verwirren zu lassen, wodurch es auch sei.Wenn es Ihnen trotzdem geschieht, es ungeachtet Ihres Entschlusseszu tun, dann ärgern Sie sich nicht darüber und bringen sich sogleichwieder zur Ruhe, sobald Sie sich dabei entdecken, und immer auf diegleiche Weise, wie ich Ihnen gesagt habe: ganz einfach, ohne Gewaltund Erschütterung des Geistes.

Und denken Sie nicht, das sei eine Übung für einige Tage. O nein,denn es bedarf vieler Mühe und Zeit, um zu diesem Frieden zu gelan-gen. Es ist trotzdem wahr, wenn Sie darin treu sind, wird Unser HerrIhre Anstrengung segnen. Seine Güte lädt Sie zu dieser Übung ein,das ist ganz gewiß; deshalb sind Sie sehr verpflichtet, sich treu zuerweisen, um seinem Willen zu entsprechen. Es wird schwierig fürSie sein, zumal Sie einen lebhaften Geist haben, der sich bei jedemGegenstand aufhält, dem er begegnet, und sich mit ihm beschäftigt;aber die Schwierigkeit darf Sie nicht entmutigen, wenn Sie glauben,nicht an das Ziel Ihres Unterfangens kommen zu können. Tun Sieganz ruhig und ganz einfach, was Sie können, ohne sich um etwasanderes Sorgen zu machen.

Dasselbe gilt, wenn Sie etwas feststellen, was nicht recht nach IhrerAbsicht aufgefaßt wird: Gehen Sie weiter und denken Sie an das, wasSie zu tun haben. Schauen Sie auf Unseren Herrn und bemühen Siesich, bei allem zu Gott zu gehen; vervielfachen Sie die Stoßgebete,soviel Sie können, die inneren Aufblicke, die Hinwendung, die glü-henden Erhebungen Ihres Geistes zu Gott, und ich versichere Ihnen,das wird sehr nützlich für Sie sein.

Gott will Sie ganz und ohne jeden Vorbehalt, und ganz nackt undentblößt; deshalb müssen Sie sehr große Sorgfalt haben, sich Ihreseigenen Willens zu begeben, denn nur er schadet Ihnen, weil Sie im-mer einen äußerst starken Willen haben und weil Sie fest daran hän-gen, zu wollen, was Sie wollen.

Ergreifen Sie daher diese Übung recht getreu, denn ich sage Ihnendas in der Liebe Gottes und in Kenntnis dessen, was Sie brauchen,nämlich bei Widersprüchen, die Sie erfahren, auf die Vorsehung Got-tes zu schauen; Gott läßt sie zu, um Sie von allen Dingen loszulösen,um Sie besser an seine Güte zu binden und mit ihr zu vereinigen. Ichweiß ja, er will, daß Sie ihm gehören, aber auf ganz besondere Weise.

Werden Sie daher recht gleichmütig, ob man Ihnen gewährt, umwas Sie bitten, oder nicht; und unterlassen Sie nicht, stets voll Ver-

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trauen zu bitten. Und bleiben Sie gleichmütig, ob Sie geistliche Gü-ter haben oder nicht. Und wenn Sie fühlen, daß Ihnen wegen der Men-ge Ihrer Unvollkommenheiten das Vertrauen fehlt, sich an UnserenHerrn zu wenden, dann lassen Sie den höheren Teil Ihrer Seele wal-ten, sagen Sie Worte des Vertrauens und der Liebe zu Unserem Herrn,mit dem größten Eifer und sooft Sie können.

Seien Sie sehr sorgsam, sich nicht aufzuregen, wenn Sie irgendei-nen Fehler begangen haben, und sich nicht der Rührung über sichselbst zu überlassen, denn das alles kommt nur vom Stolz. DemütigenSie sich aber sogleich vor Gott, und das geschehe mit einer ruhigenund liebevollen Demut, die Sie zum Vertrauen führen wird, sogleichZuflucht zu seiner Güte zu nehmen und überzeugt zu sein, daß sieIhnen helfen wird, um Sie zu bessern.

Ich will nicht mehr, daß Sie so empfindlich sind, sondern wie einetapfere Tochter Gott mit großem Mut dienen und nur auf ihn alleinschauen. Wenn Ihnen daher diese Gedanken kommen, ob man Sieliebt oder nicht, dann beachten Sie sie nicht einmal; seien Sie über-zeugt, daß man Sie immer in dem Maß lieben wird, wie Gott es wol-len wird, und daß Ihnen das genügt. Möge sein Wille an Ihnen inErfüllung gehen, die durch eine besondere Verpflichtung gehaltenist, sich zu vervollkommnen; denn Gott will sich Ihrer bedienen. TunSie es also und versuchen Sie, Ihre eigene Niedrigkeit recht zu lieben,die Sie daran hindern wird, sich über Ihre Fehler aufzuregen.

Bemühen Sie sich also, Ihren Geist im Frieden zu halten und sichmit erhabenen Dingen zu befassen; wenden Sie ihn getreu von derAufmerksamkeit ab, die Sie auf sich selbst haben, vor allem wenn SieKummer haben und wenn Sie keinen Mut haben. Befassen Sie sichdamit, Unserem Herrn zu sagen, was Sie von ihm haben wollen, daßSie dem nie zustimmen, was Ihnen der Kummer eingibt. Sie werdenauch besser daran tun, sich abzulenken, Ihren Geist glauben zu ma-chen, daß er keinen Grund dazu hat, und nicht mehr Aufhebens da-von zu machen, als fühlten Sie die Kraft dieser Leidenschaft nicht.

Je mehr Sie sich armselig und jeder Art von Tugend entblößt füh-len, um so größere Anstrengungen sollen Sie machen, es gut zu ma-chen. Wundern Sie sich nicht über Ihre schlechten Empfindungen, sogroß sie auch sein mögen, sondern trachten Sie in dieser Zeit, dieStoßgebete und die Hinwendung Ihres Geistes zu Gott zu vervielfa-chen; und da Sie die Sanftmut und die Demut sehr notwendig brau-

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chen, bemühen Sie sich während des Tages sehr oft, Ihr Herz in dieHaltung einer demütigen Milde zu bringen. Und wenn Sie wegen ir-gendeiner Sache getadelt oder zurechtgewiesen werden, dann bemü-hen Sie sich ganz ruhig, die Zurechtweisung zu lieben, aber lassen Sieden höheren Teil herrschen, damit Sie tun, was man aus diesem Anlaßvon Ihnen will.

Hängen Sie an Ihrem Frieden nicht so sehr, daß Sie aus der Fassunggeraten, wenn man ihn stört durch einen Befehl, eine Zurechtweisungoder einen Widerspruch; denn nach diesem Frieden, der nicht beun-ruhigt werden will, strebt die Eigenliebe.

Nun sage ich Ihnen, Sie sollen ganz besondere Sorgfalt darauf ver-wenden, ausgeglichen in Ihren Stimmungen zu werden und in IhremÄußeren nie eine Veränderung sichtbar werden zu lassen. WelchenEindruck macht es, auf diese Weise Ihre Unvollkommenheiten zuzeigen, da es verhindert, daß Sie Gott so dienen, wie er es verlangt?Diese Ausgeglichenheit Ihrer äußeren Haltung ermangelt der Vollen-dung der Gaben, die Gott Ihnen geschenkt hat. Erwägen Sie daher oft,welches Mißfallen es Ihnen bereitete und bereiten müßte, zu sehen,daß Sie dem Willen Gottes zu entsprechen ermangeln, da er Ihnendas Vermögen überlassen hat, das zu erwerben, was Ihr Talent ver-vollkommnen und vollenden muß.

Arbeiten Sie treu daran, spannen Sie alle Kräfte Ihres Geistes an,um es zu erreichen, und achten Sie darauf, daß die Abtötung sich inIhrem Äußeren spiegelt, damit die Weltleute mehr Gelegenheit ha-ben, sie zu beobachten, als in der freundlichen Miene und in gutenManieren.

Sie müssen sehr große Sorgfalt darauf verwenden, sich ganz auf dieDemut zu verlegen, weil Sie so große Neigung zum Stolz und zurSelbstüberschätzung haben. Zweifeln Sie nicht daran, wenn Sie dieseTugend erworben haben, werden Sie nach und nach alle haben, die Siebrauchen. Versenken Sie sich recht oft in den Abgrund Ihres Nichtsvor Unserem Herrn und vor Unserer lieben Frau. Aber erinneren Siesich daran, was ich im Gespräch über die Demut gesagt habe; undjedesmal und sooft sie nicht diese Wirkung hervorbringt, ist sie ver-dächtig und zweifellos falsch. Demütigen Sie sich tief in der Erkennt-nis Ihrer Nichtigkeit; dann aber erheben Sie Ihren Geist sogleich, umzu bedenken, was Gott von Ihnen will.

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Ratschläge für einzelne Schwestern83

1.

Meine liebe Tochter, bleiben Sie im Frieden vor Unserem Herrnund geraten Sie nicht in Verwirrung. Solange Sie auf dem Weg derTugend vorangehen, wenn auch langsam, werden Sie Ihr Ziel nichtverfehlen. Gehen Sie daher freudig voran; wenn Sie aber Ihren Wegnicht immer in Freude gehen können, tun Sie es wenigstens mutigund überlassen Sie sich Gott. Machen Sie es wie die Kinder, die gehenlernen, denn sobald sie einen falschen Schritt machen, laufen sie so-gleich zu ihrer Mutter, werfen sich in ihre Arme und an ihre Brustund halten sich dort fest.

Arbeiten Sie mutig daran, Tugenden zu erwerben, ohne sich irrema-chen zu lassen; lassen Sie sich zu Gott führen, dienen Sie ihm nachseinem Belieben, nicht nach dem Ihren; bedenken Sie, daß er Sie anden Platz gestellt hat, wo Sie sind. Verhalten Sie sich daher wie eineStatue in ihrer Nische; Sie sind da, um ihm zu gefallen, das soll Ihnengenügen. Unser göttlicher Meister wird von Zeit zu Zeit auf Sie schau-en und einen Blick auf Sie werfen. Wünschen Sie nichts anderes zusein, als Sie sind, denn wenn Ihre Sonne zu verschwinden scheint,wird sie bald wiederkehren und Sie von neuem erleuchten.

Trachten Sie, die Vollkommenheit zu erwerben, die diesem Lebenentspricht. Wollen wir nicht zu schnell Engel sein; seien wir kleineKücken unter dem Flügel der Mutter, denn wir können noch nichtfliegen. Üben wir die kleinen Tugenden, die uns angemessen sind undnicht so glänzen; freuen wir uns über unsere eigene Niedrigkeit. Manmuß es gut finden, daß unser Parfüm in der Nase der Welt übel riecht;fürchten wir das Urteil nicht, das sie über uns fällt; verzagen wirnicht, denn wenn Gott uns die Gnade erweisen will, uns an der Handzu halten und uns das Verlangen, ihn zu lieben, zu bewahren, dannhaben wir nichts zu fürchten.

Wir sollen unsere Unvollkommenheiten nicht lieben, wohl aberdie Demütigung, die sie uns einbringen. Wir dürfen uns nicht verwir-ren und von unserem Elend niederdrücken lassen; man muß sich inFrieden von ihnen zu befreien suchen. Kostbare Verachtung, die mirmeine Unvollkommenheiten und Fehler eintragen, ich liebe dich;ich verabscheue das Böse und freue mich über die Beschämung. Man

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muß sich in diesem Leben ertragen, und das im Frieden. Aber wasertragen wir denn schon, wenn wir uns selbst ertragen? Das ist nichts,was zählt; darüber dürfen wir uns nicht wundern.

Gott liebt die Armseligen, er schaut auf diejenigen, die nichts sind;die geringen und niedrigen Menschen werden der Thron Gottes (vgl.Ps 113,6f); er nimmt seinen Sitz in einer Seele, die nichtswürdig ist.Bekennen wir daher unsere Armut. Meine Tochter, freuen Sie sich,daß Sie nichts sind, zeigen Sie ihm Ihre Wunden, erklären Sie ihmIhre Dürftigkeit. Unter den Armen der Welt hält sich der für am meis-ten bevorzugt, der nur in Lumpen erscheinen und seine Wunden zei-gen kann, weil er hofft, durch das Aufdecken seiner Armut größereAlmosen zu bekommen. Nehmen wir diese Haltung vor Gott ein;sprechen wir nur über unser Elend mit ihm, gehen wir in seinen hei-ligen Tempel, um ihm zu erklären, was wir sind (vgl. Apg 5,2), aberentmutigen wir uns nicht.

Erheben Sie Ihr armes Herz, wenn es gefallen ist, hüten Sie sichdavor, mit ihm zu schimpfen. Fassen Sie neuen Mut, denn wenn Sieoft fallen, werden Sie sich ebensooft erheben, ohne dessen gewahr zuwerden. Bedrücken Sie Ihr Herz nicht, behandeln Sie es großzügig,solange es lieber sterben als Gott beleidigen wollte. Man muß auchlieber alles verlieren als den Frieden. Gehen Sie also einfach voran,und Sie werden mit Freude und Vertrauen gehen (vgl. Spr 10,9); hal-ten Sie Ihr Herz weit und drängen Sie es nicht zu sehr. Seien Siegerecht gegen Ihre Seele, um sie nicht zu leicht zu beschuldigen oderzu entschuldigen; das eine könnte sie stolz machen, das andere klein-mütig.

Fürchten wir nichts, sofern wir fest entschlossen sind, daß Gott inunserem Herzen herrschen soll. Ja, meine Tochter, Tod oder Liebe;man muß lieben oder sterben: möge Gott allein in ihm herrschenoder überhaupt nichts. Warum sollten wir uns Sorgen machen, wennnur diese Gesinnung ganz fest unserem Herzen eingeprägt ist? SehenSie nicht, daß sich die Eigenliebe unvermerkt einmischt, um uns zuquälen? Ich fordere Sie noch einmal auf, Ihr Herz großzügig zu hal-ten; dank Gott verhält es sich gut, da es die Liebe beseelt und da esimmer lieben will.

Machen Sie also Ihr armes Herz froh, meine Tochter; trösten Sie esin seinem Kummer, stärken Sie es in seinen Anstrengungen, ermun-tern Sie es in seiner Unlust, trösten Sie es in seinen Ängsten, damit esnicht bedrückt wird und neuen Mut faßt, Gott zu dienen. Aus diesem

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Grund bitte ich Sie, Ihr Herz so froh zu machen, wie Sie nur können;pflegen Sie es, damit es große Fortschritte mache. Bedenken Sie, daßes der Bräutigam erwählt hat, um darin sein Ruhelager aufzuschla-gen; es muß in Blüte stehen (Hld 1,15). Es muß auch das Lamm sein,das Sie als Schlachtopfer darbringen und auch Unserem Herrn wei-hen sollen; es muß fett und in guter Verfassung sein. Sie wissen, daßGott die Gabe wohlgefällig annimmt, die man ihm mit freigebigemWillen darbringt (vgl. 2 Kor 9,7).

Gehen Sie freudig, sich unserem göttlichen Erlöser hinzugeben,meine Tochter; geben Sie ihm den heiligen Kuß der Liebe (vgl. Hld1,1), und fahren Sie fort, sich immer tief zu verdemütigen, damit Sieihm ohne Angst nahen; denn ich glaube, das beste Mittel, um zurVollkommenheit zu gelangen, besteht darin, Jesus Christus zu emp-fangen, sofern man sich bemüht, alles auszurotten, was ihm mißfallenkann. Glauben Sie mir, meine Tochter, nichts stärkt den Magen so,als nur eine vorzügliche Speise zu essen; nähren Sie sich daher vonder Speise der Engel. Er wird Ihnen eine gute Verdauung seiner selbstgeben, er wird sich allen Ihren Fähigkeiten mitteilen, er wird in Ihnenwirken, er wird dort handeln. Er wird Ihren Geist erleuchten, IhrenWillen erwärmen; nicht mehr Sie werden leben, sondern Jesus Chris-tus in Ihnen (Gal 2,20). Und um diese Gnade zu erlangen, muß mansich von Jesus Christus dem Gekreuzigten nähren; er wird den Magenunserer Seele erwärmen und stärken; er wird uns vorbereiten undwürdig machen, ihn oft zu empfangen.

Unterlassen Sie daher die Kommunion nicht wegen der Sorgen undSchwächen, die Sie fühlen, obwohl Sie zerstreut und in Trockenheitsind. Das alles ist nur im niederen Teil, denn ich weiß, daß der höheremit Gott vereinigt ist und nur für ihn atmet. Und da Sie unserengöttlichen Meister suchen, wo können Sie ihn besser finden als aufdem Thron seiner Liebe? Er will unser König sein; und auf dieseWeise wird er uns den Frieden schenken, er wird den Krieg weichenlassen, er wird Ruhe in unsere Fähigkeiten bringen und uns die Samm-lung gewinnen lassen.

Entfernen Sie sich nicht von Ihrer Sonne, wenn Sie erleuchtet wer-den wollen. Es gibt eine Glut der Liebe, in der unsere Nachlässigkei-ten verbrannt werden; es gibt einen kostbaren Balsam, der unsereWunden heilen wird; es gibt schließlich eine Schatzkammer allerGnaden, die Sie bereichern wird. Wenn Sie hart sind, werden Sie weichwerden; wenn Sie trocken sind, werden Sie bewässert werden; wenn

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Sie traurig sind, wird er Ihre Freude sein. Mit einem Wort, JesusChristus in diesem Sakrament will Ihnen alles sein; er ist die Herz-stärkung, die Sie nehmen müssen, um sich zu stärken und sich vordem Verfall zu bewahren. Schließlich will der göttliche Erlöser derLohn und die Herrlichkeit sein, die er uns versprochen hat.

Beeilen wir uns, nach dieser glückseligen Ewigkeit zu streben; siekommt näher, die Zeit vergeht. Ach, wie wenig hat es zu bedeuten,meine Tochter, wenn die Augenblicke dieses Lebens beschwerlichsind, wenn wir nur Unseren Herrn loben und preisen.

Meine liebe Tochter, versuchen Sie, sich recht auf die Unterwer-fung unter den heiligen Willen Gottes einzustellen. Amen.

2.

Meine liebe Tochter, wenn Sie den Schatz erkannt hätten, der in dervollständigen Hingabe Ihres ganzen Seins in die Hände Gottes liegt,die die Seele vollzieht, um nichts mehr zu wollen, als was ihm gefällt,Sie würden sich nach diesem Zustand sehnen und Sie würden nichtszu sein wünschen, als was Gott will, daß Sie seien. Mögen die anderenerhaben sein wie die Serafim, mein Anteil ist, mich klein und demü-tig zu Füßen meines Erlösers zu halten; ja, ich will mich damit zufrie-dengeben. Lassen Sie alle Überlegungen und alle Wünsche bleiben,die Ihnen Ihr armes Herz einflößen möchte, damit Sie diesen Zu-stand verlassen. Glauben Sie mir, im Haus des Herrn sind die nied-rigsten Verrichtungen nicht die weniger vorteilhaften; aber das gleich-mütige Herz sagt sogar, daß es die Vorteile nicht ins Auge fassenkann, die es hier gibt. Ich weiß, daß er mein Gott ist, der mich liebt,der diese Verwendung und diese Lebensweise für mich gewählt hat;ich will die anderen nicht um ihre Erhabenheit beneiden, aber ichwill mich ohne Geschäftigkeit und ohne Unruhe vervollkommnen.Wenn ich falle, werde ich nicht verzagen, denn der Allmächtige kannmich aufrichten. Wenn ich mich in der Dunkelheit befinde, ist derHerr mein Licht; was sollte ich fürchten (Ps 36,1)? Schließlich kön-nen mich weder Himmel noch Erde, ja nicht einmal die Hölle vonmeinem Gott trennen (vgl. Röm 8,38f). Ich wünsche nichts als ihn;alles andere ist mir gleichgültig. Ich will alles in Gott und Gotteswegen lieben; ich will in gutem Glauben mit ihm gehen, ohne zu vielzu urteilen. Ich will ihm gehorchen in dem, was er mir gebietet, aber

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um seinen Willen in einer Unzahl von Dingen zu erkennen, die mirnicht klar geoffenbart sind, will ich mein armes Herz nicht quälen,noch sie skrupelhaft untersuchen; ich werde mich an das halten, wasdiejenigen sagen werden, die Gott aufgestellt hat, um mich zu führen,und werde mich bemühen, in Frieden seinen Einsprechungen zu fol-gen.

Beachten Sie: wenn sie vom Herrn kommen, führen sie uns ruhigund sanft zum Guten und wir sind unbekümmert um den Erfolg, dennsobald wir von unserer Seite getan haben, was er verlangt, bleiben wirim Frieden. Der böse Geist dagegen flößt uns die Wünsche nach Tu-genden ein mit Härte, Unruhe, Ärger und Geschäftigkeit; wenn wirauf irgendein Hindernis stoßen, sind wir sogleich verstört und wirereifern uns. Wissen Sie nicht, meine Tochter, daß Gott der wahreSalomo ist, der sich in unserem Herzen niederlassen will? Es ist gut;wenn wir es in den Himmel versetzen wollen, dann verlieren wir nichtdie Fassung durch die Wechselfälle dieses Lebens.

Grämen wir uns nicht, wenn wir von der Last unserer schlechtenNeigungen beschwert sind; lieben wir die Erniedrigung, die uns da-durch geschieht. Kennen Sie nicht die Kraft der Demut, die das Bleiunserer Unvollkommenheiten in reinstes Gold verwandelt? Diese Tu-gend bewirkt diese heilige Verwandlung in unserer Seele. Sehen Sie,daß dieser heilige Balsam immer in Ihrer Seele schwimmt.

Haben Sie stets große Güte und Freundlichkeit. Sie wissen, daß dieFreundlichkeit die Blüte der Liebe ist. Bemühen Sie sich, die kleinenGelegenheiten zu meistern, die Gott Ihnen bereitet; wenden Sie da-bei Ihre Tugend an, und nicht um große Werke zu wünschen; denn oftläßt man sich von einer Mücke erschlagen, während man in der Ein-bildung gegen Ungeheuer kämpft.

Beunruhigen Sie sich nicht beim Anblick von Übeln und Leiden,die Sie treffen können; denn der Herr wird nicht zulassen, daß sie Sietreffen, oder er wird Ihnen die Kraft geben, sie zu tragen, wenn er sieIhnen schickt. Überlassen Sie Ihre Seele und Ihren Leib seinen gebe-nedeiten Händen, überlassen Sie sich ihm, verlieren Sie sich in ihm,lieben Sie nur ihn, wollen Sie nur ihn, und alles außer ihm sei Ihnengleichgültig. Sie werden im Himmel erkennen, wie glücklich die See-le ist, die in dieser Welt entblößt von allen Dingen gelebt und dergroßen Entblößung und Nacktheit ihres Bräutigams gehuldigt hat,der ans Kreuz geheftet gestorben ist, um seine vielgeliebten Bräutereich zu machen und zu bekleiden.

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Wecken wir unseren Glauben, um unsere Liebe zu unserem höch-sten Gut zu festigen; denn die Klugheit des Fleisches und die Überle-genheit unseres Geistes schaden uns oft und hindern uns, um jedenPreis uns in die Arme der göttlichen Vorsehung zu werfen. Wir mei-nen, weil wir nichts wert sind, werde der Herr nicht Sorge für unstragen: sehen Sie nicht die Schlauheit der menschlichen Klugheit, dieuns täuscht und von der Haltung vollkommenen Vertrauens abbringt?Tun wir Gott nicht das Unrecht an, so kleinlich zu denken. Gott istnicht wie die Menschen, bei denen nur das zählt, was ihnen nützenkann. Ich weiß, wird eine gläubige Seele sagen, der Glaube lehrt mich,daß der Herr die Schwachen und Elenden erträgt und annimmt, dieauf ihn vertrauen; ich will mich ihm daher anvertrauen und hingeben.

In der heiligen Liebe, meine liebe Tochter, müssen wir unsere Woh-nung oder unser Zelt errichten, denn es gibt für uns nichts Gutes, alsdie ewige Liebe ohne Maß zu lieben. Drücken Sie diesen göttlichenErlöser fest an Ihr Herz, meine liebe Tochter; er hat es gezeichnetund versiegelt, damit es ganz ihm gehöre. Amen.

Die Oberin in der Heimsuchung84

1.

Der Hochwürdigste Herr hat mir gesagt, die Ausrüstung, die manzu einer Gründung mitnehmen muß, ist nichts anderes als die heiligeDemut. Er sagte mir, von dieser Tugend muß man ganz eingehülltsein, denn die Demut ist ganz hochherzig und läßt uns mit unüber-windlichem Mut alles unternehmen, was den Dienst Gottes und dieVermehrung seiner Ehre betrifft. Und je weniger wir in uns die Fähig-keit fühlen, es zu tun, um so mehr müssen wir uns an Unseren Herrnhalten und binden, vollständig auf ihn vertrauen und uns auf ihn al-lein stützen, auf seinen Beistand und seine Gnade. Seine Güte wirdnicht verfehlen, sie uns zu schenken, damit wir unsere Pflicht nachseinem heiligen Willen erfüllen, wenn wir voll Demut und Mißtrauengegen uns selbst sind. Es ist ja ganz sicher, daß wir aus uns selbstnichts vermögen, aber es ist die Wahrheit, daß uns in Gott alles mög-lich ist.

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Wir sind nicht Eigentümer und Herren der Talente und Gaben, dieGott in uns hineingelegt hat, sondern nur ihre Ausspender, um sieden anderen auszuteilen, vor allem aber den Geist der Heimsuchung,um ihn unter den Mitmenschen zu verbreiten, indem wir uns bemü-hen, den Geist derjenigen, die Gott uns anvertrauen wird, zu hobeln,zu reinigen und zu bilden. Sie werden sehr verschieden sein; gegen siewerden wir große Güte, Einfachheit, Ertragen und Geduld üben müs-sen, wenn wir sie in kleinen Schritten vorankommen und immer Un-vollkommenheiten begehen sehen. Diesen Seelen müssen wir die wah-re Demut einprägen, Hochherzigkeit, Güte und Liebe; das ist derwahre Geist unserer Regeln, damit sie auf diese Weise zur Vollkom-menheit der heiligen Liebe gelangen und zur Vereinigung ihrer Seelemit seiner göttlichen Majestät; das ist das letzte Ziel, zu dem Gott siein den Orden berufen hat.

2.

Gott will, daß Sie ihm dienen in der Leitung von Seelen, da er dieDinge so gelenkt hat, wie sie sind, und da er Ihnen die Fähigkeit gege-ben hat, andere zu führen.

Fassen Sie eine sehr hohe Meinung von dem Amt, zu dem Sie beru-fen sind. Und um es recht zu verwalten, versäumen Sie keinen Tag,beim Erwachen das Wort zu sagen, das der hl. Bernhard so oft gesagthat: „Wozu bist du hierher gekommen?“ Was will Gott von mir? Danngeben Sie sich sogleich vollständig und ohne jeden Rückhalt demWillen Gottes hin, damit er mit Ihnen und in Ihnen mache, was ihmgefällt.

Haben Sie eine besondere Verehrung zu Unserer lieben Frau undzu Ihrem Schutzengel. Dann, meine Tochter, erinnern Sie sich, daßman zum Befehlen mehr Demut braucht als zum Gehorchen. Aberhüten Sie sich auch, so viel über alles zu grübeln, was Sie tun werden.Haben Sie die gerade Absicht, alles für Gott, zu seiner Ehre undVerherrlichung zu tun, und wenden Sie sich von allem ab, was derniedere Teil Ihrer Seele unternehmen will. Lassen Sie ihn gegen IhrenGeist hetzen, soviel er will, ohne seine Angriffe irgendwie zu be-kämpfen, ja ohne überhaupt zu beachten, was er tut oder sagen will,sondern halten Sie sich fest an den höheren Teil Ihrer Seele und anden Entschluß, alles nur für Gott tun zu wollen und um ihm zu gefal-len.

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Außerdem müssen Sie dem Wort große Aufmerksamkeit schenken,das ich in die Konstitutionen (29) aufgenommen habe, daß nämlichdie Oberin nicht so sehr für die Starken da ist wie für die Schwachen,obwohl sie für alle Sorge tragen muß, damit nicht die Fortgeschritte-nen zurückfallen. Lassen Sie sich den Beistand für die unvollkomme-nen Töchter angelegen sein, die Ihnen anvertraut sind: zeigen Sie sichniemals erstaunt, welche Versuchungen oder Unvollkommenheitensie Ihnen auch anvertrauen, sondern versuchen Sie, ihnen Vertraueneinzuflößen und ihnen alles in der rechten Weise zu sagen, was siebilden kann.

Seien Sie sehr zartfühlend mit den Unvollkommensten, um ihnenbeizustehen, großen Nutzen aus ihren Unvollkommenheiten zu zie-hen. Denken Sie daran, daß eine sehr unreine Seele zur vollen Rein-heit gelangen kann, wenn man ihr beisteht. Da Ihnen Gott dazu dasAmt und durch seine Gnade die Möglichkeit gegeben hat, widmenSie sich dem sorgsam, es zu seiner Ehre und Verherrlichung zu tun.Beachten Sie, die, die schlechtesten Neigungen haben, das sind dieje-nigen, die zur größten Vollkommenheit gelangen können. Hüten Siesich davor, besondere Zuneigungen zu hegen.

Wundern Sie sich nicht, in sich viele schlechte Neigungen festzu-stellen, da Sie durch die Güte Gottes einen höheren Willen haben,der über all das Herr sein kann.

Verwenden Sie große Sorgfalt darauf, in Ihrem Äußeren eine heili-ge Ausgeglichenheit zu wahren. Wenn Sie irgendeinen Kummer imGeist haben, soll er nach außen nicht sichtbar werden. Wahren Sieeine würdevolle aber gütige und demütige Haltung, ohne jemals leicht-fertig zu sein, besonders jungen Leuten gegenüber. Darauf, scheintmir, müssen Sie achten, um Gott den Dienst zu leisten, den er vonIhnen verlangt.

Ich wünsche aber sehr, daß Sie Ihre Aufmerksamkeit recht oft aufdie Bedeutung des Amtes lenken, das Sie innehaben werden. Davonhängt die Ehre Gottes und die Anerkennung Ihres Institutes ab; des-halb müssen Sie Ihren Mut recht stärken und ihm die Bedeutung des-sen klarmachen, wozu Sie berufen sind.

Erniedrigen Sie sich sehr tief in sich selbst, wenn Sie sehen, daßGott sich Ihrer Niedrigkeit bedienen will, um ihm einen Dienst vonsolcher Wichtigkeit zu leisten. Anerkennen Sie, daß Sie durch diesesEhrenamt sehr geehrt werden, und gehen Sie mutig dazu über, Unsereliebe Frau zu bitten, sie möge Sie ihrem Sohn darbringen als ein Ge-

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schöpf, das seinem göttlichen Willen voll und ganz hingegeben ist.Entschließen Sie sich, mit Hilfe seiner Gnade künftig ein ganz neuesLeben zu führen; machen Sie jetzt eine vollständige Erneuerung Ihrerganzen Seele, indem Sie für immer Ihr vergangenes Leben mit allIhren alten Gewohnheiten verabscheuen.

Gehen Sie also voll Vertrauen, meine liebe Tochter. Nachdem Siediesen Akt der völligen Hingabe Ihrer selbst in die Arme der selig-sten Jungfrau vollzogen haben, um sich künftig dem Dienst der Liebeihres Sohnes zu widmen und zu weihen, wird sie die ganze Zeit IhresLebens Sie in ihren Schutz nehmen und Sie in der Stunde Ihres Todesvon neuem seiner Güte darstellen.

3.

Nun sage ich Ihnen: Sprechen Sie so wenig wie möglich über sichselbst; aber, ich sage es ganz im Guten, halten Sie sich daran undachten Sie darauf. Wenn Sie unvollkommen sind, demütigen Sie sichauf dem Grund Ihres Herzens und sprechen Sie nicht darüber; denndas ist nichts als Stolz, der Sie denken läßt, darüber viel zu sprechen,damit man darin nicht so viel finde, wie Sie sagen. Sprechen Sie wenigüber sich, aber ich sage: wenig.

Achten Sie sehr darauf, Ihren Töchtern gegenüber in Ihrem Äuße-ren ein solches Mittelmaß zwischen der Würde und der Güte undDemut einzuhalten, daß man erkennt, wenn Sie sie auch zärtlich lie-ben, sind Sie doch die Oberin; denn die Leutseligkeit darf die Aus-übung der Autorität nicht verhindern. Ich billige es sehr, daß dieOberinnen wirklich Oberinnen sind und sich Gehorsam verschaffen,vorausgesetzt, daß die Bescheidenheit und das Ertragen gewahrt wer-den.

Wahren Sie den Weltleuten gegenüber eine heilige Würde; denngerade weil Sie jung sind, muß man darauf sorgsam achten. Ihr La-chen sei gemäßigt, selbst Frauen gegenüber, mit denen man etwasleutseliger und herzlicher sein kann. Diese Würde darf man nicht soverstehen, daß man hart und unwirsch sein müßte; denn man mußstets eine freundliche Heiterkeit wahren. Vor jungen Männern, wennauch geistlichen Standes, halten Sie in der Regel Ihre Augen gesenktund seien Sie mit diesen Leuten kurz in Ihren Worten. Trachten Siestets, ihrer Seele zu nützen, indem Sie die Vollkommenheit Ihres

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Instituts zeigen. Ich sage nicht, Ihre Vollkommenheit, sondern dieIhres Instituts, und in Worten nur sehr einfach, indem man es lobt, sowie jeder von sich oder seinen Eltern spricht, d. h. kurz und einfach.

Loben Sie die anderen Orden und Gemeinschaften recht und setzenSie den Ihren niedriger an, obwohl Sie nicht verbergen müssen, daßSie friedlich leben, und bei Gelegenheit einfach sagen, was an Gutemgeschieht.

Heben Sie stets die Karmelitinnen recht hervor und erhalten Siesich überall ihre Freundschaft, wo Sie sein werden. Zeigen Sie stets,daß Sie große Hochachtung vor ihnen haben und sie herzlich lieben.Halten Sie sich recht an die Patres Jesuiten und halten Sie gern Ver-bindung mit ihnen wie auch mit den Patres vom Oratorium und denMinimi; holen Sie bei ihnen allen Rat, wo Sie ihn brauchen, beson-ders bei den Patres Jesuiten.

Seien Sie nicht ganz so zurückhaltend, den Schleier zu lüften, wiedie Karmelitinnen, wahren Sie dabei aber doch Zurückhaltung, umzu zeigen, daß Sie jene auszeichnen wollen, die mit Ihnen sprechen,wenn Sie ihn lüften. Halten Sie sich daran, sich kaum dem Gitter zunähern, noch weniger, die Hände durchzustrecken, außer wenn hoch-gestellte Personen es wünschen.

Was das betrachtende Gebet betrifft, müssen Sie es halten wie dieUntergebenen; man wird es machen über den Tod, das Leben und diePassion Unseres Herrn; es wird ja sehr selten sein, daß man keinenNutzen aus der Erwägung dessen ziehen könnte, was Unser Herr ge-tan hat. Schließlich ist er der erhabene Meister, den der ewige Vaterin die Welt gesandt hat, damit er uns lehre, was wir tun müssen. Außerder Verpflichtung, die wir aus diesem Grund haben, müssen wir da-her sehr angespornt werden, seine Handlungen zu betrachten, um sienachzuahmen. Es ist ja eine der vorzüglichsten Absichten, die wirhaben können bei allem, was wir zu tun haben und was wir tun, es zutun, weil Unser Herr es getan hat, d. h. die Tugenden zu üben, weilUnser Herr sie geübt hat und wie er sie geübt hat. Um das gut zuverstehen, muß man getreu bei sich abwägen, sehen und erwägen:„Weil es unser Vater in dieser Welt gemacht hat, will ich es tun.“ Dasschließt die Liebe zu unserem göttlichen Erlöser und überaus lie-benswürdigen Vater ein; denn ein Kind, das seinen guten Vater rechtliebt, hat das große Bestreben, sich seiner Gesinnung sehr gleichför-mig zu machen und ihn in allem nachzuahmen, soviel es kann.

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Trotzdem kann es vorkommen, daß es ausnahmsweise bestimmteSeelen gibt, die sich nicht mit einem Geheimnis befassen und ihrenGeist nicht mit ihm beschäftigen können. Sie werden ganz ruhig zueiner bestimmten Einfachheit vor Gott angezogen, der sie in dieserEinfachheit erhält ohne andere Erwägung, als zu wissen, daß sie inder Gegenwart Gottes sind und daß er ihr ganzes Gut ist; und soverbleiben sie mit Nutzen. Das ist gut; mir scheint aber, daß es klargenug dargestellt ist in der ‚Abhandlung über die Gottesliebe‘; daraufkönnen Sie bei Bedarf zurückgreifen, ebenso auf andere, die über dasGebet schreiben.

Im allgemeinen muß man es aber soviel als möglich wie alle Töch-ter machen und sich an die Art und Methode des betrachtenden Ge-bets halten, die die sicherste ist, d. h. jene, die auf die Umgestaltungdes Lebens und die Änderung der Lebensweise abzielt. Das ist die,von der wir zuerst gesprochen haben, die man hält über die Geheim-nisse des Lebens und Sterbens Unseres Herrn. Und man muß denjungen Mädchen, die erst in den Orden eingetreten sind, nicht immerglauben, wenn sie sagen, sie hätten so Erhabenes; denn sehr oft ist dasnur Täuschung und Zeitverlust. Deshalb muß man sie auf die gleicheBahn bringen und zu den gleichen Übungen anhalten wie die ande-ren; denn wenn sie gut beten, wird es ihnen recht leicht fallen, gede-mütigt zu werden und sich der Leitung derjenigen zu unterwerfen, dieMacht über sie haben. Bei diesen erhabenen Gebetsweisen ist alles zubefürchten; man kann aber in Sicherheit vorgehen in der gewöhnli-chen, d. h. sich ganz aufrichtig unserem Meister zuwenden, um zulernen, was er will, daß wir tun.

Die Oberin kann aus einem wichtigen Anlaß die Kommunität zweioder drei Tage fasten lassen, oder auch nur die Töchter, die kräftigersind; oder eine bestimmte Disziplin vornehmen lassen, eher als zufasten, denn das ist eine Abtötung, die der Gesundheit nicht schadet;daher können alle sie anwenden, wie man es hier macht. Man mußsich aber stets daran halten, keine Strengheiten in Ihren Häusern ein-zuführen, denn das hieße Ihr Institut verändern, das vor allem fürGebrechliche bestimmt ist.

Die Oberin muß ohne Zweifel von Zeit zu Zeit die Zellen derSchwestern visitieren, um zu verhindern, daß sie etwas Eigenes ha-ben; das muß aber trotzdem so diskret geschehen, daß die Schwesternnicht berechtigten Grund haben zu meinen, die Oberin habe irgend-ein Mißtrauen gegen ihre Treue, sei es darin oder in etwas anderem.

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Man muß ja immer diskret beobachten, sie weder zu streng noch zufreizügig halten; denn Sie möchten nicht glauben, wie notwendig esist, sich an diesen Mittelweg zu halten.

Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie nichts tun als einfach beiallem der Kommunität zu folgen, sei es in Abtötungen, oder was essei. Mir scheint, das sollte die hauptsächliche Übung einer Oberinsein, in dieser Einfachheit ihren Töchtern vorauszugehen, nicht mehrund nicht weniger als sie zu tun. Das bewirkt ja, daß sie sehr geliebtwird und daß sie den Geist der Töchter im Frieden erhält. Ich wün-sche sehr, daß sie die Geschichte Jakobs immer vor Augen habe, umes wie er zu machen, der sich nicht nur dem Schritt seiner Kinderanpassen wollte, sondern sogar dem seiner kleinen Lämmer (Gen 33,13f).

Was die Kommunion betrifft, möchte ich, daß man der Weisung derBeichtväter folgt. Wenn Sie das Verlangen haben, manchmal außerder Reihe zu kommunizieren, sollen Sie ihren Rat erbitten. Um jedeWoche einmal öfter als die Kommunität zu kommunizieren, könnenSie das gut machen, und wenn Sie mit den anderen an der Reihe sind;ebenso um öfter außer der Reihe zu kommunizieren. Sie sollen dastun, was jene gutfinden, die Sie betreuen, denn darin soll man ihrerLeitung folgen.

Es wird gut sein, meine liebe Tochter, wenn Sie sich daran halten,jeden Monat, oder wenn Sie wollen, jeden zweiten oder dritten Monatdem außerordentlichen Beichtvater Rechenschaft zu geben, oderselbst dem ordentlichen Beichtvater, wenn er fähig ist, oder jedemanderen, den Sie für richtig halten; denn es ist ein großer Vorteil,nichts ohne den Rat eines anderen zu tun.

Mir scheint, daß Sie jetzt mehr Aufmerksamkeit als auf jede andereÜbung auf die der hochheiligen Liebe zum Nächsten richten sollen,indem sie ihn gütig ertragen und ihm liebevoll dienen; jedoch immerin der Weise, daß Sie stets darauf achten, die Autorität und Würde derOberin zu wahren, begleitet von heiliger Demut.

Wenn Sie zur Auffassung gekommen sind, daß eine bestimmte Sa-che getan werden muß, dann gehen Sie in Sicherheit vor, ohne etwaszu fürchten, und schauen Sie so oft als möglich auf Gott. Ich sagenicht, daß Sie immer aufmerksam auf die Gegenwart Gottes seinmüssen, aber daß Sie die Hinwendung Ihres Geistes auf Gott verviel-fachen, soviel Sie können.

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4.

Stärken Sie Ihren Mut in Gott, leben Sie heilig in seiner Vorsehungund freuen Sie sich, wenn Sie etwas für ihn verdienen können, denndarin besteht die wahre Haltung der Kinder seiner Güte. Wenn dieMädchen erst 14 Jahre alt sind, ist wenig zu sagen, um sie aufzuneh-men, wenn sie sonst recht beschaffen sind; und wenn die Mädchenihre Probezeit im Haus gemacht haben, läßt man sie nicht hinausge-hen, um ihnen den Habit zu geben, sondern das alles geschieht amGitter, denn das wurde für günstiger gehalten, um das Gedränge zuvermeiden und sich den anderen anzupassen.

Für solche, die eine gute Stimme haben und sich darin zu sehr gefal-len, wird es recht gut sein, ihnen manchmal den ersten Rang in die-sem Amt zu entziehen, wenn es sich um Mädchen handelt, die einenstarken Geist haben, um die Abtötung zu ertragen. Trotzdem abergibt es welche, denen man eine gewisse Freude am Gesang des Offizi-ums verschaffen muß, um sie dazu zu ermutigen und sie stets dazuanzuleiten, alles auf Gott zu beziehen und die Eitelkeit abzutöten. Zudiesem Punkt kann man keine absolute Regel geben; das Ganze hängtvon der Klugheit der Oberin ab.

Was diejenigen betrifft, die nach den ersten Rängen und Ämternstreben, weil sie älter sind, muß die Oberin tun, was sie für das Bestehält, ohne auf solche Schwächen Rücksicht zu nehmen; denn darinmuß man den Willen und die Selbstüberschätzung brechen und abtö-ten, ohne scheinbar etwas zu tun. Alles sehr klug und ruhig tun. Ist dieKonstitution (47) nicht dafür da, um das Streben nach und das Hän-gen an Ämtern zu brechen?

Wenn Mutter und Tochter Ordensfrauen sind, antworte ich Ihnenmit einem Wort, daß sie sich genau so wie die anderen Schwesternnennen sollen; aber ich finde es nicht gut, daß man solche miteinan-der aufnimmt, wenn sie nicht außergewöhnliche Mädchen und Frau-en oder von hohem Ansehen sind.

Was die Kranken betrifft, die anscheinend nicht gern von guten Din-gen sprechen, muß man darin der Diskretion folgen, denn man sollsie nicht quälen, sondern ihnen freundlich von Zeit zu Zeit etwasGutes sagen, ohne lange Reden zu halten. In der Krankenabteilungsoll es an der Ordnung sein, zur Zeit der geistlichen Lesung wenigs-tens eine Viertelstunde zu lesen; nicht daß es die Kranken machen

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sollten, denn das ist beschwerlich für sie, sondern eine andere in ihrerGegenwart. Und was ihre Pflege betrifft, muß man klug vorgehen,damit sie die Speisen annehmen, ohne jedoch zu zeigen, daß man ihreZimperlichkeit billige, denn man muß sie als Kranke behandeln undsie trotzdem unmerklich in Unterordnung und Gehorsam halten. Esgibt solche, die die Schwäche des weiblichen Geschlechts zeigen, dennwenn man sie zur Zeit ihrer Krankheit ein wenig zur Pflicht anhaltenwill, überlassen sie sich der Mutlosigkeit und bilden sich ein, sie sei-en von Gott und den Geschöpfen verlassen. Wenn sie meinen, dieOberin habe nicht ausprobiert, was Krankheit heißt, nehmen sie allesmehr übel, was von ihr kommt. Und trotzdem kommt das Ertragennur von der Gnade Gottes, obwohl diese Erfahrung in bestimmterWeise dazu dient, diese Schwäche zu erkennen.

Nun folgt Ihre Frage, meine Schwester, ob man Ordensfrauen voneinem anderen Orden aufnehmen kann. Es ist sicher, daß man es kann,vorausgesetzt, daß sie nicht Professen sind; wenn sie es sind, kannman es nicht ohne Dispens von Rom tun. Um sie aufzunehmen, mußman sie ihren Habit ablegen und sich geziemend und bescheiden ih-rem Stand entsprechend kleiden lassen; dabei darf man keinen Un-terschied machen, selbst wenn man sie besser prüfen muß als andere.

Man darf den Arzt nur im Fall wirklicher Notwendigkeit rufen undimmer mit Dispens für jede Kranke, außer wenn es sehr eilig wäre;man soll von den Mädchen nur sehr diskret sprechen und so, daß dieBescheidenheit gewahrt wird.

Was die geistlichen Väter betrifft, ist es schwierig, dafür eine Regelzu geben. Die Schwierigkeiten, von denen Sie erfahren haben, daß sieanderswo entstanden sind, haben Sie veranlaßt, diese Frage zu stel-len. Hier ist die Klugheit sehr notwendig, um mit ihnen umzugehen,aber immer mit Sanftmut und Demut; man muß sich trotzdem auf-recht und fest an die Regel halten für das, was die Beobachtung derRegel und den Geist der Heimsuchung betrifft.

Bezüglich des Fastens billige ich es sehr, daß sich niemand von sichaus davon dispensiert; wenn man aber dessen bedarf, muß man dieSorge dafür denen überlassen, die das Amt über uns haben. Wennman Sie auf Ihre Wahl verweist, wählen Sie das Fasten, denn es istbesser, dem Leib nicht zu schmeicheln als ihn zu verweichlichen,wenn es nicht aus folgenden Gründen geschieht: wenn das Fasten unsreizbar macht oder Schwindel im Kopf hervorruft, oder auch wenn

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man von irgendeinem Schmerz geplagt wird, besteht kein Zweifel,daß man nicht fasten muß, wenn das den Schmerz vergrößert. DieKirche ordnet ja das Fasten an, um jene ein wenig zu kasteien, diesinnlich sind, und um Buße zu tun. Die aber davon Beschwerden be-kommen, die den Geist in seinen Funktionen behindern, kann mandavon dispensieren, nicht aber von sich aus. Wenn man das Fastenleichter ertragen kann, indem man eine Kleinigkeit zu sich nimmt,soll man das ohne Skrupel tun. Wenn aber eine Tochter Obst oderWeinbeermus nicht vertragen kann, dann kann man ihr in Zeiten, wodas erlaubt ist, ein Ei geben. Aber es wäre nicht angebracht, etwas soSchweres wie eine Birne zu essen, zumal ein Ei sehr leicht ist. Wennman aber mit so wenig nicht auskommen kann, dann kann man mehressen; die Zurückhaltung soll alles beherrschen. Es ist vollkomme-ner, um das Notwendige zu bitten, als sich auf die Vorsorge der Obe-ren zu verlassen, die sich nicht damit ermüden dürfen, die und jene zubeobachten. Die Oberin soll den Schwestern rundweg und frei Er-leichterungen gewähren, sie aber zur Einfachheit führen, sie zu erbit-ten. Bei denen, die zimperlich sind, muß man ihr Übel mißachtenund über sie selbst scherzen; wenn man aber erkennt, daß sie es brau-chen, muß man sie trotzdem freundlich erleichtern.

Wenn eine Schwester gegen die Oberin murrt und an ihren Hand-lungen etwas auszusetzen hat, muß man sie das nicht wissen lassen.Wenn aber das Murren von Bedeutung wäre, müßte man eine vondenen, die sie gehört haben, darum bitten, jene, die gemurrt hat, per-sönlich zu warnen, ohne ihr zu erkennen zu geben, daß die Oberinnichts davon weiß.

Wenn die Weltleute mit der Oberin über ihr Amt sprechen, brauchtman nicht viele Worte der Demut zu sagen, sondern nur, daß mansehr erleichtert ist, daß man sie belehrte und daß man davon nurGebrauch machen werde, um zu lernen.

Am Beginn seiner Amtszeit soll man nachgiebig sein, die Neugier-de der Geister zu befriedigen, indem man vertraulich genug auf dieFragen antwortet, die einem die Weltleute stellen, und selbst denSchwestern im Haus, und soll recht darauf bedacht sein, sie zufrie-denzustellen. Bei diesem Beginn muß die Oberin großen Wert auf dieKonstitutionen legen und darauf, daß sie große Sorgfalt darauf ver-wende, die Schwestern zur genauen Beobachtung der kleinen Dingeanzuhalten, wie seinen Habit aufzuheben, die Türen hinter sich zuschließen, und sie den wahren Gehalt der Konstitutionen zu begrei-

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fen lehren, die nicht unter Sünde verpflichten, wenn nicht Nachläs-sigkeit dabei ist.

Die Oberin soll sehr zurückhaltend sein, dem Chorgebet fernzu-bleiben, wenn sie im Sprechzimmer ist, außer es sei mit Respektsper-sonen oder mit Bedrängten oder in Angelegenheiten des Hauses; dannmüßte man sich gedulden, den anderen aber soll man bescheiden sa-gen, daß es jetzt Zeit zum Chorgebet ist. Außerhalb dieser Zeit mußman sich dem unterwerfen, soviel man verlangt wird. Die Oberin kannden Schleier lüften vor den Herren der Kirche, vor den Bischöfen,vor Fürsten und großen Herren. Man muß in das Sprechzimmer im-mer mit heruntergelassenem Schleier eintreten, auch vor Frauen; undwenn kein Mann da ist, kann man ihn lüften. Man darf im Sprechzim-mer nichts zu essen anbieten und nur selten Weltleuten die Handgeben.

Man muß sich hüten, Mädchen wegen geringfügiger Dinge zurück-zuweisen; man muß sich aber auch inachtnehmen, daß man nicht sol-che aufnimmt, die widerspenstig sind und nachlässig, sich von ihrenFehlern zu bessern, und gleichzeitig bösartig. Wenn man aber sieht,daß sie Kraft genug haben, sich zu überwinden, dann muß man Ge-duld haben und ihnen Zeit lassen, sich zu überwinden und zu bessern.Die Oberin muß sich nicht nach Sünden im einzelnen erkundigen,wenn ihr die Kandidatin Rechenschaft über ihre Lebensgeschichtegibt. Die Directrice soll sie lehren, sie folgendermaßen zu geben: Ichhabe mich früher der Eitelkeit hingegeben und damit viel Zeit verlo-ren; ich war dem Zorn oder melancholischer Stimmung unterworfen.Die Meisterin muß der Oberin alles sagen, auch wenn es die Kandida-tin nicht wollte; aber die Oberin darf der Novizin in keiner Weise zuerkennen geben, daß sie es weiß.

Man kann mit den Patres Jesuiten offen sprechen und soll ihnengroßes Vertrauen schenken, aber mit viel Respekt. Man kann mit ih-nen sogar einzeln sprechen, wenn eine Schwester es nötig hat.

Die Witwen, so geistlich sie sein mögen, muß man in die Einfach-heit der Kommunität einüben, selbst in innerlichen Übungen.

Die Oberin muß die alltäglichen Nöte der Schwestern anhören alsdiejenige, die nicht daran denkt, und den Schwestern, die sich dabeischwertun und nicht darüber sprechen, muß man liebenswürdig ent-gegenkommen, ebenso jene, die saumselig Rechenschaft geben, freund-lich dazu auffordern.

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Man darf nicht Bücher lesen lassen, die andere Regeln enthalten,damit daraus keine Versuchungen entstehen; es gibt sogar welche, dieaus demselben Grund nicht erlauben, die ,Chronik des hl. Franzis-kus‘ zu lesen.

Die Oberin kann, wenn es geht, dem Haus Annehmlichkeiten ver-schaffen. Man muß zwei Extreme vermeiden: zu freizügig und zu ver-schlossen zu sein. Es wird gut sein, sich zu erkundigen, ob es Armegibt, um ihnen mit irgendetwas beizustehen.

Es ist ihrer Wahl überlassen, ob sie einem Pater Rechenschaft gibt,dem Beichtvater oder ihrer ,Gehilfin‘, oder keinem von allen, wennsie nicht will.

Sollte der Beichtvater eine Schwester oft zu sprechen verlangen,müßte man ihr ein Amt geben, das sie in Anspruch nimmt, um einenGrund zur Entschuldigung zu haben.

Wenn die Oberin die Schubladen der Schwestern visitiert, darf siedie Briefe des geistlichen Vaters und unserer Mutter Chantal nichtlesen; die anderen kann sie lesen, wenn sie will.

5.

Es ist der Gipfel der christlichen Vollkommenheit, die Seelen zuGott zu führen, aus Liebe zu ihm, der Jesus Christus vom Himmel aufdie Erde gebracht hat, um hier sein Werk zu vollbringen und zu voll-enden im Tod und durch das Kreuz. Daher ist leicht zu verstehen, daßjene, die er für diese Aufgabe gebraucht, sich für sehr geehrt haltenmüssen und sich ihr mit einer Sorgfalt widmen, die einer Braut des-sen würdig ist, der wie ein König der Liebe gekreuzigt wurde undgestorben ist, mit Dornen gekrönt, inmitten der Schar seiner Auser-wählten, die er zum geistlichen Kampf ermutigte, den man hier aufErden bestehen muß, um in das himmlische Vaterland zu gelangen,das seinen Kindern versprochen ist.

So, meine lieben Töchter, müssen auch jene, die Gott zur Führungder Seelen berufen hat, sich in ihrem mystischen Bienenstock aufhal-ten, wo die himmlischen Bienen versammelt sind, um den Honig derheiligen Tugenden zu bereiten. Und die Oberin, die unter ihnen gleich-sam die Königin ist, muß sorgsam darauf bedacht sein, daß sie dortanwesend ist, um sie die Art und Weise zu lehren, den Honig zu berei-ten und zu bewahren. Dieses Werk und diese heilige Aufgabe mußman aber in vollständiger Unterwerfung unter die heilige Vorsehung

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verrichten und in der Brust des himmlischen Vaters die geeignetenMittel für diesen Dienst schöpfen.

Da ihr, meine lieben Töchter, die Stelle Gottes in der Führung derSeelen einnehmt, müßt ihr sehr eifrig sein, euch dem anzupassen.Beobachtet daher seine Wege und nicht die euren, unterstützt kräftigseine Anziehung in jeder einzelnen, helft ihnen, ihr in Demut undUnterwerfung zu folgen, nicht auf ihre Weise, sondern auf die WeiseGottes, die ihr besser als sie kennt, zumal die Eigenliebe noch nichterstorben ist, denn sie führt oft zur Täuschung und läßt die göttlicheAnziehung auf unsere Art umbiegen und den eigenen Neigungen fol-gen.

Habt dazu stets auf euren Lippen und auf eurer Zunge das Feuer,das euer glühender Bräutigam auf die Erde in die Herzen gebrachthat (Lk 12,49), damit es den äußeren Menschen ganz verzehre und inden inneren umwandle (vgl. Eph 3,16; 4,22.24; Kol 3,8.10), ganz rein,ganz von Liebe erfüllt, ganz einfach und ganz stark, um die Prüfungenund Übungen zu bestehen, die ihnen seine Liebe zu ihren Gunsteneingeben wird, um sie zu reinigen, zu vervollkommnen und zu heili-gen.

Wenn sich aber manche gegensätzlich zu dieser Führung verhalten,könntet ihr das zum Anlaß nehmen, sie einzuüben, ihnen ihre Unwis-senheit zeigen, ihren geringen Verstand und ihr schwaches Urteil,daß sie sich mit den Einbildungen und falschen Vorstellungen abge-ben, die die verderbte Natur hervorbringt. Wie ist doch der menschli-che Geist Gott entgegengesetzt, dessen Geheimnisse nur den Demü-tigen offenbart werden (Mt 11,15; Lk 10,21). Im Orden sind nichtPhilosophen und Schöngeister gefragt, sondern Gnaden und Tugen-den, nicht um über sie zu reden, sondern sie in die Tat umzusetzen.Laßt sie Dinge tun und ordnet sie an, die schwierig zu tun und zubegreifen und demütigend sind, um sie unmerklich von sich selbstloszulösen, um sie zu einer demütigen und vollständigen Unterwer-fung unter die Anordnung der Oberen zu veranlassen, die anderer-seits auch großes Feingefühl haben müssen, um die Zeit, die Umstän-de und die Personen zu beachten.

Bedient euch gern der Ratschläge, wenn sie nicht dem Ziel wider-sprechen, das wir uns gesetzt haben, in allem dem Geist einer mildenGüte zu folgen und mehr an das Innere der Menschen zu denken alsan das Äußere. Die Schönheit der Königstochter liegt im Inneren (Ps45,14); die müssen schließlich die Oberinnen pflegen, wenn sie nicht

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selbst diese Sorge übernehmen, aus Furcht, sie könnten auf ihremWeg einschlafen und ihre Lampen aus Nachlässigkeit ausgehen las-sen; ihnen würde es ja ohne Zweifel ergehen wie den törichten Jung-frauen, die zum Hochzeitsmahl eintreten wollten: Ich kenne euchnicht (Mt 25,11f).

Ich empfehle euch Gott, um seine heiligen Gnaden für eure Leitungzu erlangen, damit er ganz nach seinem Gefallen durch eure Händedie Seelen forme, entweder mit dem Hammer, mit der Schere odermit dem Pinsel, um alle nach seinem Wohlgefallen zu gestalten. Zudiesem Zweck schenke er euch das Herz von Vätern, gediegen, festund beständig, ohne die Zärtlichkeit von Müttern zu vergessen, diedie Kinder nach Süßigkeiten verlangen läßt, nach dem Vorbild dergöttlichen Ordnung, die alles lenkt mit ganz milder Kraft und mitganz starker Güte.

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VII. Das Geistliche Direktorium

Schon in der Lebensregel von Padua hat sich Franz von Sales eine Methodezurechtgelegt, „um den Tag gut zu verbringen“ (s. oben B/I). Dasselbe hat erspäter in der Seelenführung, erweitert und auf die Situation der Empfängerabgestimmt, regelmäßig empfohlen; ein Beispiel dafür ist das (B/III) wiederge-gebene ‚Avis‘ vom August 1604 für Frau von Chantal (vgl. Anmerkung 42).

Eine solche Methode, die dem klösterlichen Tagesablauf entspricht, war unterdem Namen ‚Direktorium‘ auch in der Heimsuchung in Übung. Nach der Her-ausgabe der Regel und Konstitutionen (1618) sollte es mit dem Buch der Or-densgebräuche (Coutumier) redigiert und ebenfalls gedruckt werden; durch denfrühen Tod des Gründers konnte aber diese Arbeit nicht mehr abgeschlossenwerden. So hat die Mutter Chantal 1624 gemeinsam mit den wichtigsten Obe-rinnen das Buch der Ordensgebräuche fertiggestellt, das 1628 gedruckt wurde;darin bildet das ,Direktorium der geistlichen Dinge‘ die Artikel 10-18. Ihnenwurde eine Erklärung des hl. Franz von Sales über das Ziel des Direktoriumshinzugefügt, die einem Brief an Sr. Favre (s. Band 7,49) entnommen ist.

Die Bedeutung, die das Direktorium schon vorher für das geistliche Lebender Heimsuchung erlangt hatte, führte dazu, daß es 1631 in einem eigenenBüchlein herausgegeben wurde, erweitert durch Passagen aus anderen Artikelndes ‚Coutumier‘, durch weitere Texte des hl. Franz von Sales und mit einemVorwort der Mutter Chantal. In der Fassung von 1637 galt das ‚Geistliche Di-rektorium‘ mit der Regel des hl. Augustinus und den Konstitutionen als Grund-gesetz der Heimsuchung, bis nach dem II. Vatikanischen Konzil eine adaptierteFassung beschlossen wurde.

Das ursprüngliche Direktorium des hl. Franz von Sales ist im Manuskript des‚Coutumier‘ von 1624 enthalten, das im Archiv der Heimsuchung von Annecyaufbewahrt wird; dieser Text, den P. Franz Schauer OSFS in gewissenhafterArbeit festgestellt hat, wird im Folgenden wiedergegeben. Soweit dieser Textbereits Hinzufügungen enthielt, wird dies durch (...) angezeigt oder in Klam-mern gesetzt.

Direktorium der geistlichen Dinge

Vom Aufstehen der Schwestern undvon der Ausrichtung der Intention (Artikel 10).

Beim Erwachen müssen die Schwestern als erstes ihre Seele ganz inGott versenken durch heilige Gedanken wie diese: Der Schlaf ist dasBild des Todes und das Erwachen ist das Bild der Auferstehung; oderden (Gedanken) an den Ruf, der am Jüngsten Tag erschallen wird: Ihr

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Toten, erhebt euch und kommt zum Gericht. Oder sie können mitIjob sagen: Ich glaube, daß mein Erlöser lebt und mich am JüngstenTag auferwecken wird. Mein Gott, gib, daß es zur ewigen Glorie sei.Diese Hoffnung ruht in meinem Herzen. Ein andermal: An jenemTag wirst du mich rufen, mein Gott, und ich werde dir antworten:Dem Werk deiner Hände wirst du deine Rechte reichen; alle meineSchritte hast du gezählt.

Auf diese oder ähnliche Weise, die ihnen der Heilige Geist eingibt,werden die Schwestern heilige Anmutungen machen, wobei sie dieFreiheit haben, seiner inneren Eingebung zu folgen.

Wenn sie sich anzukleiden beginnen, werden sie das Kreuzzeichenmachen und sprechen: Herr, bedecke mich mit dem Mantel der Un-schuld und mit dem Kleid der Liebe. Mein Gott, laß doch nicht zu,daß ich entblößt von guten Werken vor deinem Angesicht erscheine.Dann werden sie sich auf die Morgenübung vorbereiten, indem siekurz an die Unvollkommenheiten denken, denen sie unterworfen sind,und an die Entschlüsse, die sie gegen diese fassen müssen.

Wenn es zum Engel des Herrn läutet, werden sie auf dem Bett, oderwenn sie angezogen sind, auf dem Boden niederknien, um ihn zu be-ten. Anschließend werden sie die Morgenübung machen: Sie betenUnseren Herrn aus tiefster Seele an, danken ihm für alle seine Wohl-taten, opfern ihm ihr Herz mit ihren Affekten und Entschlüssen undihr ganzes Sein auf in Vereinigung mit jenem liebevollen Opfer, durchdas der Erlöser am Stamm des Kreuzes sich selbst seinem ewigenVater dargebracht hat. Sie bitten ihn um seinen Segen, grüßen Unsereliebe Frau, bitten auch sie um ihren Segen, um den des heiligen En-gels und der heiligen Patrone, und wenn es ihnen gutdünkt, beten siedas Vaterunser.

Das alles soll lebendig, kurz und kniend geschehen; dann werdensie in der verbleibenden Zeit ihren Geist mit dem Punkt der Betrach-tung beschäftigen.

Die Schwestern, die vorankommen und auf dem Weg Unseres HerrnFortschritte machen wollen, müssen am Beginn aller ihrer Handlun-gen, der äußeren wie der inneren, ihn um seine Gnade bitten undseiner göttlichen Güte alles aufopfern, was sie Gutes tun werden. Sowerden sie sich vorbereiten, in Frieden und Ruhe des Geistes alleMühe und Abtötung, die ihnen dabei begegnen, als von der väterli-chen Hand Gottes und unseres gütigen Erlösers kommend zu ertra-gen. Seine heilige Absicht ist, sie auf diese Weise Verdienste erwer-

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ben zu lassen, um sie dann mit der Fülle seiner Liebe zu belohnen. Siesollen das auch bei kleinen Dingen, und bei solchen, die ihnen vongeringer Bedeutung scheinen, nicht unterlassen; ja selbst wenn ihnenetwas aufgetragen wird, was ihnen sehr angenehm ist und ganz ihremWillen und Bedürfnis entspricht, wie zu trinken, zu essen, sich auszu-ruhen und zu erholen, und ähnliches, damit dem Rat des Apostelsentsprechend alles, was sie tun, im Namen Gottes und um seinesWohlgefallens willen geschehe. (...)

Vom göttlichen Offizium (Artikel 11).

(Die Schwestern werden gewöhnlich das kleine Offizium Unsererlieben Frau verrichten. Weil dieser Orden besonders als Zuflucht fürSchwache und zu Ehren der seligsten Gottesmutter, Unserer liebenFrau, gegründet wurde, ist dieses Offizium für sie geeigneter als dasgroße. An Sonntagen und gebotenen Feiertagen werden sie die Kom-memoration des Tages hinzufügen, wie es im Direktorium des Offizi-ums angegeben ist.)

Den Schwestern sei die Einfachheit und Bereitwilligkeit zum Ge-horsam besonders empfohlen. Wenn es zum Offizium läutet, müssensie daher der Stimme des Bräutigams folgen, der sie ruft, d. h. beimersten Glockenzeichen freudig aufbrechen, sich in die GegenwartGottes versetzen und nach dem Beispiel des hl. Bernhard ihre Seelefragen, was sie im Chor tun will. Diese Methode können sie auch beiallen anderen Übungen anwenden, damit sie zu jeder den geziemen-den Geist mitbringen; denn im Chor braucht man nicht die gleicheAktion und Haltung wie in der Rekreation. Bei Übungen, die unmit-telbar der Ehre und dem Dienst Gottes gelten, bedarf es eines demü-tig erniedrigten, ernsten, frommen und wirklich liebevollen Geistes.

Bevor also die Schwestern mit dem Chorgebet beginnen, werden siein ihrer Seele solche Affekte erwecken, und nach der Anbetung wer-den sie es Unserem Herrn aufopfern zu seiner Verherrlichung, zuEhren der heiligen Jungfrau, unserer Herrin und Gebieterin, und fürdas Heil aller Geschöpfe.

Bei den Worten „Deus, in adjutorium meum intende“, sollen siedenken, daß Unser Herr ihnen antworte: „Seid auch ihr auf meineLiebe bedacht.“

Um sich in der geziemenden Ehrfurcht und Aufmerksamkeit zuerhalten, müssen sie sich von Zeit zu Zeit darauf besinnen, welche

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Ehre und Gnade es für sie ist, hier unten auf Erden den gleichenDienst zu verrichten, den die Engel und Heiligen droben im Himmelverrichten, und daß sie zwar in anderer Sprache doch das Lob desgleichen Herrn verkünden, dessen Größe und Majestät die höchstenSerafim erzittern läßt.

Jene, die ein wenig verstehen, was sie beim Chorgebet sprechen,sollen dieses Talent dem Wohlgefallen Gottes entsprechend treu ge-brauchen. Er hat es ihnen als Hilfe gegeben, um sich durch gute Af-fekte gesammelt zu halten, die sie daraus gewinnen können. Jene, dienichts verstehen, halten sich einfach aufmerksam auf Gott, indem sieliebevolle Herzenserhebungen machen, während der andere Chorspricht und sie Pause machen. (...)

Die Feier der heiligen Messe (Artikel 12).

Während sich der Priester am Altar vorbereitet, muß man sich indie Gegenwart Gottes versetzen, und wenn er das Confiteor spricht,muß man sich im Geist vor Gott niederwerfen, seine Sünden beken-nen, sie verabscheuen und ihn dafür um Vergebung bitten.

Hernach kann man den Rosenkranz oder ein ähnliches Gebet ver-richten, das man am meisten schätzt, bis zum Evangelium, zu demman sich sogleich erheben muß, um zu zeigen, daß man bereit ist, aufdem Weg der Gebote des Evangeliums zu wandeln, und dabei spre-chen: Jesus Christus ist gehorsam geworden bis zum Tod, ja bis zumTod am Kreuz. Und während sie das Kreuzzeichen auf die Stirn, aufden Mund und über dem Herzen machen, sollen sie sagen: Gott sei inmeinem Geist, in meinem Mund und in meinem Herzen, damit ichsein heiliges Evangelium aufnehme. Wenn das Credo gebetet wird,muß man das allgemeine Glaubensbekenntnis sprechen und geisti-gerweise bekennen, daß man im Glauben der Kirche leben und ster-ben will.

Nach dem Sanctus muß man in großer Demut und Ehrfurcht an dieWohltat des Leidens und Sterbens unseres Erlösers denken und ihnbitten, er möge es der ganzen Welt zum Heil gereichen lassen, beson-ders uns und den Kindern seiner Kirche, zur Ehre und Glückseligkeitaller Heiligen und zur Linderung der Seelen im Fegefeuer.

Bei der Erhebung des allerheiligsten Sakraments muß man es mitgroßer Zerknirschung des Herzens anbeten und es dann mit dem Pries-ter Gott dem Vater aufopfern zur Vergebung unserer Sünden und je-

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ner der ganzen Welt und gleich ihm uns selbst mit der ganzen Kircheund mit unserem Nächsten darbringen.

Nach der Erhebung muß man Jesus Christus danken für sein Leidenund für die Einsetzung dieses hochheiligen Opfers des Altares.

Wenn der Priester das Pater noster betet, muß man es entwedermündlich oder geistigerweise mit ihm sprechen, mit großer Demutund Andacht, so als ob man es Unseren Herrn sprechen hörte undman es ihm Wort für Wort nachspreche.

Wenn man die heilige Kommunion nicht wirklich empfangen will,soll man es geistigerweise tun und sich Unserem Herrn nahen durchein heiliges Verlangen, mit ihm vereinigt zu werden und ihn in seinHerz aufzunehmen.

Beim Segen soll man sich vorstellen, daß uns Jesus Christus gleich-zeitig den seinen gibt.

Von der Gewissenserforschung (Artikel 13).

Die Schwestern sollen die Gewissenserforschung täglich zweimalmachen, nämlich am Abend nach der Matutin und am Morgen nachder Non. Nach dem Vaterunser, Ave Maria und Credo am Schluß desChorgebets werden die Schwestern Unserem Herrn für alle seineWohltaten danken, besonders für sein heiliges Leiden, für seine gött-lichen Sakramente, für die Gnade ihrer Berufung, daß er sie diesenTag gnädig erhalten und an ihm in seiner milden Güte für ihre Be-dürfnisse gesorgt hat. Sie sollen vor Gott bekennen und anerkennen,daß dieser Tag nicht vergangen ist, ohne daß sie ihn auf irgendeineWeise beleidigt haben; und weil wir in unseren eigenen Angelegen-heiten blind sind, müssen sie um die Gnade und das Licht des Heili-gen Geistes bitten, damit sie ihre Fehler recht erkennen können.

Dann sprechen sie ihr Confiteor bis ‚mea culpa‘ und beginnen, ihreHandlungen, Worte und Gedanken seit der letzten Gewissenserfor-schung zu prüfen. (Wenn sie Zahl und Art ihrer Sünden gefundenhaben, werden sie diese jenen der letzten Gewissenserforschung hin-zufügen) und für alle miteinander Unseren Herrn demütig um Ver-zeihung bitten, das Confiteor zu Ende sprechen und einen festen Vor-satz fassen, sich mit der Gnade Gottes zu bessern, die sie dazu vonihm mit aller Inbrunst und Frömmigkeit, die ihnen möglich ist, erbit-ten müssen.

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Danach werden sie der göttlichen Barmherzigkeit ihre Seele, ihrenLeib und ihr ganzes Sein empfehlen. Sie werden für die heilige Kir-che beten, für ihre Verwandten und für alle, gegen die sie eine beson-dere Verpflichtung haben; sie werden die armen Seelen im Fegefeuernicht vergessen, werden Unsere liebe Frau, ihren Schutzengel und dieheiligen Patrone grüßen. Falls sie bei der Gewissenserforschung nichtsfeststellen können, sollen sie sich tief vor Gott verdemütigen, ihmdanken und trotzdem bekennen, daß sie manche Fehler begangen ha-ben, deren sie sich nicht erinnern oder die ihnen nicht bewußt gewor-den sind.

Um ihre Gewissenserforschung zu erleichtern, wird es sehr nütz-lich für sie sein, sobald sie tagsüber in einen Fehler fallen, sich so-gleich zu erforschen und ein wenig zu prüfen, durch welche Regungsie ihn begangen haben. Dann werden sie sich vor Gott demütigenund den Fehler ihrem Gedächtnis einprägen, um ihn in die Gewis-senserforschung am Abend aufzunehmen.

Bei der Gewissenserforschung am Vormittag ist es nicht notwen-dig, so viele Umstände zu machen; es genügt vielmehr, nach demVaterunser, Ave Maria und Credo nur das Confiteor zu sprechen undein wenig zu sehen, wie man sich am Morgen beim Chorgebet und beiden Gebeten verhalten hat, und wenn man irgendeinen Fehler gefun-den hat, ihn den früheren hinzuzufügen, einen Akt der Reue zu ma-chen mit dem festen Vorsatz, sich zu bessern.

Um das Gedächtnis zu unterstützen, damit es die Fehler recht er-kenne, werden sie überlegen, wie sie sich verhalten haben bei derBetrachtung, beim Chorgebet, während des Stillschweigens, bei denallgemeinen Versammlungen, ob sie einen außergewöhnlichen Auf-trag erhalten hatten und worüber sie gesprochen haben, denn dabeibesteht die Gefahr, Fehler zu begehen.

Außer dieser allgemeinen Gewissenserforschung können die Schwes-tern die besondere machen, die man über eine einzelne Tugend an-stellt, die besonders angebracht und direkt Unvollkommenheiten ent-gegengesetzt ist, zu denen man sich besonders geneigt fühlt. (...)

Vom Essen und von der Rekreation (Artikel 14).

In das Refektorium sollen die Schwestern nicht nur gehen, um zuessen, sondern um Gott und der Regel zu gehorchen, die heilige Le-sung zu hören, ihr Schuldbekenntnis zu machen, die Ermahnungen

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zu empfangen und die Abtötung zu üben, die man dabei gewöhnlichmacht. (...)

Wenn manche beim Essen von Natur aus heikel oder gierig sind,sollen sie beim Hineingehen einen guten Vorsatz fassen, sich tapferzu überwinden, und dazu von Unserem Herrn die Gnade und Gunsterbitten. Die Heikle soll an die Galle denken, die man Unserem Herrnauf dem Höhepunkt seines Leidens reichte; die allzu Unbeherrschtedenke an die strenge Enthaltsamkeit der Wüstenväter und all der an-deren Heiligen, die ihre Sinnlichkeit so kraftvoll abgetötet haben.

Sie sollen nicht vom Tisch aufstehen, ohne sich in irgendeiner Sa-che abgetötet zu haben. Trotzdem sollen sie ohne Skrupel und Um-stände die Speisen nehmen, die man ihnen zur Erleichterung ihrerSchwäche reicht. Gleichmütig sollen sie aus der Hand Unseres Herrnsowohl die Speisen als auch alles andere annehmen, was ihnen zusagtund was ihnen nicht zusagt. (...)

Wenn sich die Schwestern an den Ort der Rekreation begeben, wer-den sie Unseren Herrn um die Gnade bitten, nichts zu sagen und zutun, was nicht zu seiner Ehre gereichte. (...)

Zur Rekreation sollen sie keine traurige oder verdrießliche Hal-tung mitbringen, sondern eine heitere und freundliche Miene undsollen sich so verhalten, wie es in den Konstitutionen angegeben ist.Und wie sich die Schwestern aus Gehorsam in Einfalt ungezwungenerholen sollen, so müssen sie sich aus Frömmigkeit auch oft übergute und heilige Dinge zu sprechen bemühen.

Wenn manche dazu neigen, von sich zu sprechen, laut zu lachen, zulaut und zu viel zu sprechen, und ähnliche Unbescheidenheiten, dannsollen sie beim Eintreten einen kleinen Blick auf diese Unvollkom-menheit werfen und den Entschluß fassen, auf der Hut zu sein, umnicht in sie zu fallen, dazu den Heiligen Geist um seine Gnade undden Schutzengel um seinen Beistand anrufen.

Sie sollen nicht meinen, es sei eine geringe Tugend, die Rekreationzu verbringen, wie es sich gehört; daher sollen sie zu ihr nicht ausGewohnheit und gedankenlos kommen, sondern vorbereitet und infrommer Gesinnung. (...)

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Vom Stillschweigen (Artikel 15).

Wenn es zum Gehorsam läutet, sollen sich die Schwestern erheben,in demütiger und frommer Haltung stehen bleiben und den Gehor-sam erwarten, indem sie bei sich selbst sprechen: Rede, Herr, deineDienerin hört auf dich. Mein Gott, mache mich würdig, deinen heili-gen Willen zu erfüllen. Und in dieser Verfassung werden sie allesannehmen, was ihnen von der Oberin zugeteilt wird, ohne Erwide-rung oder Entschuldigung, auch wenn sie etwas anderes zu tun hätten.Wenn das aber etwas Dringendes und Notwendiges wäre, werden siees nachher der Oberin sagen; wenn sie Novizinnen sind, werden siesich an ihre Meisterin wenden, die die Oberin darauf aufmerksammachen wird.

Sobald der Gehorsam gegeben ist, werden sich die Schwestern, dienichts zu erbitten haben, sogleich in ihre Zelle zurückziehen oder aneinen anderen geeigneten Ort, um ihre Arbeit zu verrichten, und wasihnen aufgetragen wurde.

Wenn sie dort ankommen, sollen sie sich noch bewußter in die Ge-genwart Gottes versetzen und um die Gnade bitten, das Stillschwei-gen dem Zweck entsprechend zu verwenden, für den es heilsam einge-setzt wurde, nämlich nicht nur leeres Geschwätz zu verhindern, son-dern auch das Abschweifen auf unnütze Gedanken auszuschließen,indem man Zwiegespräche mit dem Bräutigam hält und neue Kraftschöpft, um unablässig in seinem Dienst zu arbeiten.

Dazu können sie sich der Morgenbetrachtung bedienen und Unse-ren Herrn in dem Geheimnis sehen, in dem sie ihn betrachtet haben,und bei irgendeinem Punkt verweilen, der ihnen besonders zugesagthat. Wenn sie z. B. das Geheimnis der Geißelung betrachtet habenund ihnen der gütige und liebevolle Blick zu Herzen gegangen ist,den der gebenedeite Erlöser ab und zu auf jene geworfen hat, die ihngeißelten, dann sollen sie ihn sich oft vorstellen und dann das Stoßge-bet verrichten: Gütiger Jesus, schau auf mich mit den Augen deinerBarmherzigkeit. Ein andermal: Herr, nimm alles von mir, was deinenAugen mißfallen könnte.

Sie können auch still zu Füßen Unseres Herrn verweilen wie Mag-dalena und hören, was er zu ihrem Herzen sagen wird, indem sie aufseine Güte und Liebe schauen und von Zeit zu Zeit durch Herzenser-hebungen und Stoßgebete wie die folgenden oder ähnliche zu ihm

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sagen: Gott, du bist mein Vater; nimm mich in die Arme deiner Vor-sehung auf.

Mein Gott, hab Erbarmen mit meiner Armseligkeit. Ach Herr, mögeich nur für dich leben. (...)

Der heiligen Jungfrau: Mutter der Barmherzigkeit, bitte für mich.(...)

Zum Schutzengel: Glorreicher Engel, der du über mich wachst,bitte für mich. (...)

Ebenso werden sie es mit den Heiligen machen, die sie besondersverehren, wie den hl. Josef, den hl. Augustinus, Johannes den Täufer,die Apostelfürsten Petrus und Paulus, Johannes den Evangelisten,den Patron der Jungfrauen, den hl. Bernhard, den hl. Franziskus, diehl. Anna und die hl. Magdalena, die drei heiligen Katharinen undandere glorreiche Heilige, deren Lebensbeschreibung bei Tisch gele-sen wurde.

Wenn die Uhr schlägt, sollen sie die unnütz verbrachten Stundenbeklagen und bedenken, daß sie über diese Stunde und alle Augen-blicke ihres Lebens Rechenschaft geben müssen; daß sie sich derEwigkeit nähern; daß für die Verdammten die Stunden zu Jahrhun-derten werden; daß wir dem Tod entgegeneilen; daß unsere letzte Stun-de vielleicht bald schlagen wird.

Nach solchen Gedanken sollen daher die Schwestern irgendeinefromme Anmutung machen, damit Gott ihnen in dieser letzten Stun-de gnädig sei. Das wird unfehlbar für diejenigen zutreffen, die in die-ser Übung recht treu sind. Die müssen sie immer und bei jeder Gele-genheit machen, und durch sie werden sie wachsen und jeden Tag vonTugend zu Tugend fortschreiten bis zur Vollkommenheit der göttli-chen Liebe.

Jene, die von einer starken Versuchung oder Leidenschaft geplagtsind, können sich ermutigen und stärken durch die Betrachtung derLeiden Unseres Herrn und ihn sich darin vorstellen; und wenn sieSchwierigkeiten bei der Übung der Tugenden haben, sollen sie sichihn vorstellen in der Übung derjenigen, die er während seines Lebenshier auf Erden geübt hat, und sie werden belehrt und unterstützt wer-den.

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Vom Schlafengehen (Artikel 16).

Die Schwestern sollen sich beim Auskleiden beeilen und ihren Geistsoviel als möglich mit dem Punkt beschäftigen, den man für die Mor-genbetrachtung gelesen hat.

(Sie sollen sehr gewissenhaft die Sittsamkeit und die heilige Scham-haftigkeit wahren, sich in keiner Weise entblößen, noch ihren nack-ten Körper anschauen; sie sollen sorgsam darauf achten, daß man siebeim Schlafengehen nicht sieht, wenn nicht jede ihr Zimmer hat. Siesollen ihre Zelle nicht verlassen, ohne bekleidet zu sein, außer imFall dringender Notwendigkeit ...)

Wenn sie im Bett sind, sollen sie daran denken, daß Unser Herr undviele Heilige auf kalter Erde geschlafen haben, und wie sehr sie ver-pflichtet sind, ihn zu lieben und ihm zu dienen, da seine milde Güteihnen so väterlich ihre kleinen Annehmlichkeiten gewährt.

Nachdem sie sich hingelegt haben, sollen sie sich vorstellen, daß sieeines Tages ebenso ausgestreckt im Grab liegen werden, und sollenGott bitten, daß er ihnen in ihrer Todesstunde beistehe.

Sie sollen sich in der gleichen Haltung niederlegen, wie sie es täten,wenn sie Unseren Herrn mit eigenen Augen sähen; denn er schautwirklich bei dieser Handlung ebenso auf sie wie bei jeder anderen.

Sie sollen sich bemühen, immer mit einem guten Gedanken einzu-schlafen, denn es gibt einen Dämon, der ihren Schlaf belauert, um ihnmit schlechten Vorstellungen zu vergiften, und einen, der gleicher-maßen ihr Erwachen abwartet, um ihren Geist mit tausend eitlen undunnützen Gedanken zu erfüllen. (...)

Von den Beichten (Artikel 17).

Wenn die Schwestern beichten wollen, werden sie sich in folgenderWeise vorbereiten:

Sie werfen sich im Geist der Demut zu Füßen unseres gekreuzigtenHerrn nieder und sprechen das Confiteor bis ,mea culpa‘, bitten umdie Gnade und Erleuchtung des Heiligen Geistes, damit sie ihre Feh-ler recht erkennen; dann fassen sie alles zusammen, was sie bei ihrertäglichen Gewissenserforschung seit der letzten Beichte gefundenhaben, und denken ein wenig nach, ob es sonst nichts gibt, dann been-den sie das Confiteor, indem sie ,mea culpa‘ sprechen.

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Danach bitten sie Unseren Herrn recht demütig um Verzeihungund um die Gnade, sich zu bessern. Dazu fassen sie einen festen Vor-satz, besonders hinsichtlich der wichtigeren Dinge, die sie festgestellthaben, verabscheuen sie und bemühen sich, in ihrer Seele einen ech-ten Schmerz über ihre Fehler zu erwecken, so klein sie sein mögen,denn es ist immer ein zu großes Unglück, der erhabenen Güte unse-res Erlösers mißfallen zu haben, der uns tagtäglich so viel Barmher-zigkeit erweist.

Nachdem sie ihre gegenwärtigen Fehler festgestellt haben, werdensie etwas hinzufügen, was sie in der Welt begangen haben, was offen-sichtlich eine Sünde ist, wie üble Nachrede aus Gehässigkeit odereine Lüge aus Eitelkeit, und erwecken über alles miteinander einenAkt der Reue.

Dann werden sie mit Demut vor den Beichtvater treten; dort wer-den sie eine sehr tiefe Verbeugung machen, die Hände gefaltet unddie Augen gesenkt. Sie werden in der Person des Priesters das heiligePriestertum ehren und ihn bei der Beichte wie einen Engel Gottesehren, den er uns sendet, um uns mit seiner göttlichen Güte zu ver-söhnen. Sie sollen einzig und allein sagen, was sie betrifft, und sichrecht hüten, mit ihren Fehlern den eines anderen anzuklagen.

Sie sollen bei ihrem Bekenntnis kurz und klar sein und nicht ausGewohnheit und wegen unnützer Skrupel zur Beichte gehen, sondernmit Andacht und Aufmerksamkeit als zu einer Handlung von sehrgroßer Wichtigkeit und Bedeutung.

Wenn sie (vor dem Beichtvater) knien, werden sie das Kreuzzei-chen machen und sprechen: Benedice, pater, quia peccavi. Nachdemsie den Segen empfangen haben, werden sie klar und einfach alles zusagen beginnen, was sie bei ihrer Gewissenserforschung festgestellthaben, und werden bei ihrer Beichte jedesmal eine Sünde hinzufügen,wie oben gesagt wurde. (...)

Wenn sie ihre Anklage beendet haben, sollen sie demütig und ge-sammelt anhören, was ihnen der Beichtvater sagen wird.

Wenn er ihnen aber einen Rat gäbe, der den Regeln und Gebräu-chen des Hauses widerspricht, werden sie ihn keineswegs befolgen,weil sie dergleichen nicht tun müssen; und wenn er sie dazu drängensollte, werden sie es der Oberin sagen. Ebenso werden sie, wenn erihnen eine außergewöhnliche Buße außerhalb der Lebensweise derKommunität auferlegte, sagen: Mein Vater, ich bitte Euer Hochwür-

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den sehr demütig, mir eine andere Buße aufzugeben, denn diese könnteich nicht erfüllen.

Wenn die Beichtväter sie etwas fragen sollten, was nicht im Zusam-menhang mit dem Bekenntnis steht, z. B. über eine Versuchung, Übungoder Schwierigkeit, können sie, wenn sie wollen, darauf antworten,soweit es nur sie betrifft; wenn sie aber nicht mit ihnen darüber zusprechen wünschen, sollen sie sagen: Entschuldigen Sie mich bitte,mein Vater, ich fürchte, meinen Geist zu verwirren, wenn ich darüberspreche. Dank Gott habe ich keine Skrupel und Gewissensbisse.

Wenn sie den Beichtstuhl verlassen, dürfen sie in keiner Weise überdas sprechen, was ihnen in der Beichte gesagt wurde, außer es waretwas so Nützliches und Frommes, daß es angebracht scheint, es zurUnterweisung und Erbauung der anderen zu sagen. Sollte sie aber einBeichtvater in der Beichte beunruhigen, sollen sie Unseren Herrnanrufen und dann die Oberin demütig bitten, daß sie nicht mehr beiihm beichten müssen. (...)

Wie man zur heiligen Kommunion gehen soll (Artikel 18).

Die erste Absicht, die die Schwestern bei der heiligen Kommunionhaben sollen, ist die, sich mit Unserem Herrn zu vereinigen.

Um sich nun besser darauf vorzubereiten, wird es gut sein, am Vor-abend beim betrachtenden Gebet und in der Sammlung seine Gedan-ken ein wenig auf Unseren Herrn in diesem heiligen Sakrament zulenken, indem man in seiner Seele eine heilige Ehrfurcht und geistli-che Freude erweckt, daß man so glücklich sein soll, unseren gütigenErlöser zu empfangen. Dann müssen sie von neuem den Entschlußfassen, ihm eifrig zu dienen. Wenn sie ihn gefaßt haben, können sieihn, zwar nicht durch ein Gelübde aber durch einen festen und heili-gen Vorsatz bekräftigen.

Im Augenblick der Kommunion können sie sich irgendwelcher Her-zenserhebungen in geistigen oder mündlichen Worten bedienen, wieder des hl. Franziskus: Wer bin ich, Herr, und wer bist du ! Oder auchjener der hl. Elisabet: Woher kommt mir das Glück, daß mein Herrzu mir kommt? Oder jener des hl. Johannes des Evangelisten: Ja,komm, Herr Jesus! Oder dessen der Braut im Hohelied: Mein Bräu-tigam küsse mich mit dem Kuß seines Mundes; und ähnlicher.

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Nach der heiligen Kommunion muß man sich Unseren Herrn gleich-sam in unserem Herzen auf seinem Thron sitzend vorstellen und un-sere Fähigkeiten und Sinne nacheinander vor ihn hintreten lassen,um seine Befehle zu vernehmen und ihm Treue zu versprechen.

Man kann auch die Seele zu einigen heiligen Affekten anspornen,so zur Furcht, diesen Heiligen der Heiligen zu betrüben und zu ver-lieren, und mit David sprechen: Herr, geh nicht fort von mir; und mitden Pilgern: Bleibe bei uns, denn es wird Abend;

zu Vertrauen und Starkmut mit David: Ich werde mich in keinerWeise fürchten, Herr, weil du bei mir bist;

zur Liebe mit der Braut im Hohelied: Mein Vielgeliebter ist meinund ich bin sein; er wird an meinem Herzen ruhen. Ich habe ihngefunden, den meine Seele ersehnt; ich will ihn sorgsam hüten;

zur Danksagung: Herr, weil du mir diese große Gnade erwiesenhast, will ich dich in Ewigkeit preisen und dein Lob so vielmal ver-künden, als Sterne am Himmel sind;

zum Entschluß, ihm zu dienen, mit den Worten Jakobs: Gott sollmein Gott sein und der bisher verhärtete Stein meines Herzens seisein Haus.

Man kann auch an die innere Glut Unserer lieben Frau denken, alsihr der Engel verkündete, daß der Heilige Geist über sie kommenwerde, an ihre Frömmigkeit und Demut, ihr Vertrauen und ihren Mut;daran, daß in dem Augenblick, als Gott ihr sein Herz schenkte, d. h.seinen Sohn, sie sich ihrerseits Gott hingab und diese hochheiligeSeele dabei in Liebe verströmte, so daß sie sagen konnte: Meine Seeleschmolz oder ergoß sich, als mein Vielgeliebter mit mir sprach.

Wir empfangen ja in der heiligen Kommunion eine ähnliche Gna-de, denn nicht ein Engel, sondern Jesus Christus selbst versichert uns,daß in ihr der Heilige Geist in uns kommt und er gleichsam in unsempfangen und geboren wird. O Gott, welch köstliches Glück! Daherkann die Seele sehr wohl mit der heiligen Jungfrau nach dieser Erwä-gung sprechen: Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe nachseinem Wort, das sein heiliger Mund gesprochen hat: Wer ihn ißt, derbleibt in ihm und er in uns, und er wird in Ewigkeit nicht sterben.

Die Schwestern können sowohl für die heilige Messe als auch fürdie heilige Kommunion diese Erwägungen anstellen oder ähnliche,die ihnen der Heilige Geist eingeben wird. (...)

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Auffassung unseres hochverehrten Vaters über dasGeistliche Direktorium.

Das Direktorium des Noviziates empfiehlt eine Menge von Übun-gen, das ist wahr, und es ist auch für den Anfang gut und angemessen,den Geist zur Ordnung und Tätigkeit anzuhalten. Wenn aber die See-le im Laufe der Zeit in dieser Vielfalt innerer Akte ein wenig einge-übt, wenn sie geformt, daran gewöhnt und geschmeidig geworden ist,dann werden die Übungen zu einer Übung von großer Einfachheitverschmelzen, entweder zur Liebe des Wohlgefallens oder zur Liebedes Wohlwollens oder zur Liebe des Vertrauens oder zur Vereinigungund Wiedervereinigung des Herzens mit dem Willen Gottes, so daßsich diese Vielfalt zur Einheit verwandelt.

Und mehr noch: falls sich eine Seele findet, selbst im Noviziat, diesich zu sehr scheut, ihren Geist den angegebenen Übungen zu unter-werfen, vorausgesetzt, daß diese Scheu nicht der Laune, Überheblich-keit, Verachtung oder dem Mißmut entspringt, ist es Sache des klugenSeelenführers, sie einen anderen Weg zu führen, obwohl dieser in derRegel nützlicher ist, wie die Erfahrung lehrt.

Gott sei gebenedeit!

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Anmerkungen

1 Vermutlich während der Exerzitien zur Vorbereitung auf die Bischofsweihe(vom 18. November bis 8. Dezember 1602) unter der Leitung von P. FourierSJ., hat sich Franz von Sales diese Lebensregel aufgestellt, die von seinemSeelenführer gegengezeichnet wurde. Der Text ist den Akten des 1. Seligspre-chungsprozesses entnommen und in Band XII, Seite 111-126, der Annecy-Ausgabe (OEA) veröffentlicht. – Es folgt noch ein Fragment (2.), das mögli-cherweise von einer anderen Lesart der Lebensregel stammt (OEA XXIII,26f).

2 Diese Artikel sind leider nicht überliefert.

3 Antoine de Revol (1548-1629) wurde nach einer kurzen militärischen Lauf-bahn Geistlicher. Nach seiner Ernennung zum Bischof von Dol bat er Franzvon Sales um Weisungen für die Vorbereitung auf das Bischofsamt (s. Band8,97), die ihm Franz von Sales in dem folgenden Brief vom 3. 6. 1603 (OEAXII,187-193) gab. Revol wurde am 16. 1. 1604 zum Bischof geweiht.

4 ‚Von der Weihe und Amtseinführung der Bischöfe‘. Claude de Quoeux hattediesen Kommentar zum Pontifikale mit einer persönlichen Widmung zusam-men mit der Ernennung des hl. Franz von Sales zum Bischof aus Rom ge-schickt.

5 Aristoteles, Physica IV,14: Das erste jeder Art ist das Maß der übrigen.

6 Das ist der Begleitbrief (oder die Einleitung) einer Lebensregel für AndréFrémyot (1573-1641), den Bruder der hl. Johanna Franziska von Chantal.Nach einer kurzen juristischen Laufbahn trat er in den geistlichen Stand ein.Er war Subdiakon, als er 1603 zum Erzbischof von Bourges ernannt wurde.Bei seiner ersten Messe am Gründonnerstag 1604 assistierte ihm Franz vonSales, der die Fastenpredigten in Dijon hielt. Außer diesem Brief (OEAXII,402f) hat ihm Franz von Sales den großen Brief über die Predigt (s. II)geschrieben.

7 Dieser Satz legt den Gedanken nahe, daß Franz von Sales dem Erzbischofseine eigene Lebensregel geschickt hat.

8 Pierre Fenouillet (1572-1652) stammte aus Annecy. Als er vom König zumBischof von Montpellier nominiert wurde, sandte Franz von Sales Ende 1607oder Anfang 1608 an Papst Paul V. das von ihm als Ortsordinarius angefor-derte Zeugnis (OEA XIII,349-353) über den Kandidaten, mit dem ihn eineenge Freundschaft verband (vgl. Band 8,131,140).

9 Jean-Pierre Camus (1584-1632) bereitete sich unter der Leitung des hl. Franzvon Sales auf dessen Einladung (s. Band 8,139) auf die Bischofsweihe vor, dieihm der Bischof von Genf am 30. August 1609 spendete, der ihm ein treuerBerater blieb, wie der erste Brief vom 7. März 1611 (OEA XV, 28f) zeigt. Denzweiten Brief vom 14. August 1613 (OEA XVI,51-55) schrieb er als Antwortauf Rücktrittsabsichten des Bischofs von Belley (Camus resignierte tatsäch-lich erst 1629).

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10 Der Titel entspricht dem deutschen ‚Durchlaucht‘ für Fürsten und ‚Hoch-würdigster Herr‘ oder ‚Exzellenz‘ für den Bischof. Als Erzbischof Pierre deVillars von Vienne sich diese Anrede verbieten wollte, schrieb ihm Franz vonSales im März oder April 1609 (OEA XIV,143-145) diesen Brief.

11 Mit diesem ausführlichen Brief vom 5. Oktober 1604 (OEA XII,299-325)gab Franz von Sales dem Erzbischof André Frémyot Ratschläge für die Pre-digt, die auf seine persönliche Situation abgestimmt waren, aber auch weitge-hend allgemeine Gültigkeit besitzen. Vgl. dazu Manfred Tietz: Die Predigt beiSaint François de Sales, in: Jahrbuch 11 (1973) für salesianische Studien, S.19-84. (Die Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion der Annecy-Ausgabe eingefügt und von dort übernommen.)

12 Auch Franz von Sales gelang sie nicht; zu seinen Bemühungen vgl. Band 8,239f, 256. Rom gab ihm die Erlaubnis, ein Seminar unter bestimmten Vor-aussetzungen zu errichten, mehr nicht. Erst seinem vierten Nachfolgerd’Arenthon d’Alex gelang die Errichtung des Seminars.

1 3 Wegen dringender Verpflichtungen des Bischofs konnte die Synode nicht, wieangekündigt, nach Ostern stattfinden, sondern erst im Herbst.

14 Nach den Angaben des hl. Franz von Sales im Vorwort des ,Theotimus‘ und ineinem Brief an Possevino vom 4. 10. 1605 (s. Band 8,114f) wurden dieseWeisungen frühestens 1604 gedruckt und an anderen Orten mehrmals nach-gedruckt. Die Annnecy-Ausgabe bringt sie in Band XXIII,279-297, dazu einFragment mit Ratschlägen, S. 297f, und Weisungen über die Unterscheidungder Geister, S. 299-302.

15 Eine Reihe von Exkommunikationen, die am Gründonnerstag (daher derName der Bulle) von der Loggia des Petersdomes in Gegenwart des Papstesverlesen wurden.

16 Das 1612 durch Franz von Sales herausgegebene Rituale der Diözese Genfenthält außer seinem hier wiedergegebenen Vorwort (OEA XXIII,349-358)den Ritus der Spendung der Sakramente und von Benediktionen das allgemei-ne Kalendarium der Kirche und die Eigenfeste der Diözese sowie im Anhangunter anderem das Formular für die Verkündigung.

1 7 Dieses Formular der ‚Prône‘ hatte Franz von Sales, vermutlich nach der Chab-lais-Mission, verfaßt und im Namen des Bischofs drucken lassen, dann 1612in den Anhang des Rituale übernommen (OEA XXIII,365-374). Die Pfarrerhatten es jeden Sonn- und Feiertag als Predigt vorzutragen. Es entsprach demreligiösen Bildungsstand des Großteils der Gläubigen, besonders der Neube-kehrten.

18 Das Rituale von 1612 enthält die Bestimmung, daß dem Priester, der dieKommunion spendet, ein Akolyth folgt, „mit Weißwein in einem Glas undeinem weißen Tuch, um die Lippen der Kommunikanten abzuwischen“.

19 In den ersten Bischofsjahren hat Franz von Sales den Domherren und Pries-tern in seinem Haus mehrmals in der Woche theologische Vorträge gehalten.Aus dieser Zeit (1603-1605) stammt die Ermahnung zum Studium (OEAXXIII,303-305).

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20 In einem Brief vom 15. November 1611 (OEA XV,116-120) gab Franz vonSales Dom Eustache Asseline Ratschläge für das Lehrbuch der Theologie, andem dieser arbeitete; sie lassen den Theologen wie den Praktiker Franz vonSales erkennen.

21 Tacitus, Annalen: Was man verachtet, gerät in Vergessenheit; wenn man zornigwird, gewinnt es an Bedeutung.

2 2 Publius Syrus, Sententiae: Sapere et amare, vix diis conceditur.

23 OEA XXII,11-13, aus der Zeit vor 1586, also in der Zeit des ersten Aufent-halts in Paris.

24 OEA XXII,21-44. Möglicherweise nach der schweren Krankheit in Padua,jedenfalls vor 1590, hat sich Franz von Sales diese Regeln aufgestellt, um eineStütze für sein religiöses Leben in der leichtfertigen Umgebung zu haben.

25 Im Original sind die Schriftstellen lateinisch zitiert und dann in (meist freier)Übersetzung.

26 OEA XXII,104. Auf die Niederen Weihen, die er am 29. Mai 1593 empfing,bereitete sich Franz von Sales in der Einsamkeit von Schloß Sales vor, wäh-rend sich die Familie in La Thuille befand.

27 OEA XXII,14f. Im Gebet wurde Franz von Sales am 15. April 1595 (oder1596) von den Flammen der göttlichen Liebe zum glühenden Verlangen ge-drängt, sich für die Ehre Gottes und die Bekehrung der Sünder zu opfern,und schrieb darauf diese Sätze nieder.

28 OEA XXII,105f. Nach Charles-Auguste de Sales wurde Franz von Sales amNachmittag des Fronleichnamsfestes, dem 25. Mai 1595, bei der Betrachtungüber die heilige Eucharistie von so starken inneren Wonnen erfüllt, daß ersich mit diesem Ausruf, den er selbst auf einem Zettel notierte, zu Bodenwarf.

29 OEA XXII,110. Nach dem glänzenden Examen vor Papst Clemens VIII. unddem Kardinalskollegium empfing Franz von Sales am 25. März 1599 nach derKommunion, die er bei der Papstmesse aus der Hand des Papstes empfing, dieaußergewöhnliche Gnade, die er selbst beschrieben hat.

30 OEA XXVI,291. Diese Aussage, die ihr Franz von Sales mündlich anvertrauthat, gab die Mutter Chantal im Seligsprechungsprozeß zu Protokoll.

31 OEA XXVI,266f. Fragmente nach einem Manuskript des ‚Année Sainte de laVisitation‘, vielleicht für Frau von Chantal bestimmt.

32 OEA XXVI,90-92, nach einem Manuskript des ‚Année Sainte de la Visitati-on‘, das diese Texte Franz von Sales zuschreibt.

33 OEA XXVI,429-431. Diese Gebete werden von der Tradition Franz von Saleszugeschrieben, ohne daß es einen Beweis dafür oder dagegen gibt; das erstewurde seit 1726 wiederholt unter seinem Namen veröffentlicht

3 4 In einem Brief vom 3. 5. 1604 (s. Band 6,81) an Mme Brulart kündigt Franzvon Sales „eine kurze Abhandlung über die Vollkommenheit des christlichenLebens“ an. Das Fragment des Entwurfs dieser Abhandlung ist in OEAXXVI,185-187 enthalten.

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35 OEA XXVI,188-191. Wahrscheinlich ist der von der Biographie des Heiligenvon Philibert de Bonneville übernommene Text ein ‚Avis‘ für die Baronin vonChantal vom Mai 1604.

36 OEA XXVI,241. Beim Besuch der Baronin auf Schloß Sales im April 1610schrieb ihr Franz von Sales diese Ratschläge auf einen Zettel.

37 OEA XXVI,348-355. Diese Ratschläge für eine namentlich nicht bekanntegeistliche Tochter hat Franz von Sales in seinen letzten Lebensjahren (1619-1622) geschrieben.

38 OEA XXVI,267-269. Marie-Aimée de Thorens, die Tochter der Frau vonChantal, die mit Bernhard von Sales vermählt war, bat ihren geistlichen VaterFranz von Sales um ein Gebet für die Zeit ihrer Schwangerschaft (s. Band5,270), das er ihr im Februar 1615 übergab. Die Annecy-Ausgabe veröffent-licht es nach den ‚Epistres spirituelles‘ von 1629.

39 OEA XXVI,142. Ein Freund bat Franz von Sales, als ein Ordensmann inAvignon die ,Philothea‘ auf der Kanzel zerriß und ihren Autor tadelte, ihmdas Geheimnis seiner Gelassenheit zu verraten; dies war seine Antwort.

40 OEA XXVI,93-96. Das könnte ein Fragment der geplanten und nach Zeu-genaussagen begonnenen Abhandlung über die Nächstenliebe sein.

41 OEA XXVI,224-233. Für diese Ratschläge, die Franz von Sales im Mai 1605der Äbtissin Bourgeois auf deren Bitte (s. Band 7,272) schickte, benützte ereine Abhandlung, die er schon früher für eine Ordensfrau in Paris verfaßthatte (s. Band 7,274). Die Gedanken finden sich auch in der ‚Philothea‘(4,11.12) wieder.

42 OEA XXVI,191f. Diese Weisung übergab Franz von Sales der Baronin vonChantal nach dem Treffen in Saint-Claude Ende August 1604 (vgl. den Briefvom 14. 10. 1604: Band 5,52-67). Mère Chaugy nannte dieses ‚Avis‘ eine„erste Skizze des Direktoriums“.

43 OEA XXVI,204-206. Die Grundgedanken dieses ‚Avis‘, das Franz von Salesim Oktober 1604 der Äbtissin Bourgeois sandte, kehren wieder in der ‚Phi-lothea‘ (2,10) und im Geistlichen Direktorium.

44 OEA XXVI,330-333. Von diesem ‚Avis‘ wollte Franz von Sales durch dieMutter Chantal eine Abschrift haben (s. Band 5,362), weil er es besonders gutfand. Er hatte es im Sommer 1619 (vgl. Band 8,311f) für Mme Villesavingeschrieben, eine Adelige am königlichen Hof, die er seit langem kannte.

45 OEA XXVI,206f. Eine Kurzfassung der Gedanken dieses ‚Avis‘ für die Äbtis-sin von Puits-d’Orbe vom Oktober 1604 findet sich bereits im ‚Avis‘ für Frauvon Chantal vom August 1604; die Gedanken finden sich wieder in der ‚Phi-lothea‘ (2,14) und im Geistlichen Direktorium.

46 OEA XXVI,207f. Auch diese Gedanken in einem ‚Avis‘ für die ÄbtissinBourgeois kehren in der ‚Philothea‘ (2,12.13) und in vielen Briefen wieder.

47 OEA XXVI,235-238, wahrscheinlich in den Jahren 1604-1609 für eine dergeistlichen Töchter in Dijon verfaßt.

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48 OEA XXVI,208f. In Briefen sind diese Gedanken eines ‚Avis‘ für die ÄbtissinBourgeois, den Lebensumständen der Adressaten angepaßt, breiter ausge-führt; vgl. auch ‚Philothea‘ 2,11.

49 OEA XXVI,209f. Die Ratschläge beziehen sich auf die vorausgehend derÄbtissin Bourgeois angeratenen Übungen, einschließlich der Weisungen fürdie Betrachtung, die hier erst folgen.

50 Damit endet das Fragment (a); die übrigen Teile werden aus den beiden ande-ren Betrachtungen ergänzt.

51 OEA XXVI,200-204. Diese Ratschläge, die zum größten Teil aus der ‚Phi-lothea‘ (2,8) bekannt sind, schrieb Franz von Sales der Äbtissin von Puits-d’Orbe im Anschluß an die Betrachtung vom Oktober 1604 (c).

52 OEA XXVI,372f, vermutlich 1620 für eine Aspirantin der Heimsuchung ge-schrieben, vielleicht für Paule-Jéronyme de Monthoux.

53 OEA XXVI,211-223. Im Brief vom 22. 11. 1604 (Band 7,261) an die Äbtis-sin von Puits-d’Orbe schreibt Franz von Sales, daß er die Schrift über dieKommunion nicht schicken könne, weil ihn der Bote so drängte; er hat siedann um die Jahreswende geschickt. Die Annecy-Ausgabe übernahm sie vonHérissant, weil vom Manuskript nur zwei Folioseiten erhalten sind. – Es ist zubedenken, daß Franz von Sales zwar die häufige Kommunion sehr förderte,dabei aber von der damaligen Auffassung und Übung ausgeht.

54 OEA XXVI,170-172, im April 1604 für die Äbtissin von Puits-d’Orbe ge-schrieben, im Anschluß an den Rat, am ersten Sonntag des Monats zu kom-munizieren.

55 Dazu ist am Rand vermerkt: „Siehe das letzte Blatt.“ Dieses ist jedoch nichtüberliefert.

56 OEA XXVI,93, nach der Biographie des Heiligen von Philibert de Bonnevil-le; vgl. dazu den III. Teil der ‚Verteidigung der Kreuzesfahne‘ (Band 11).

57 Die Annecy-Ausgabe enthält drei Anleitungen, den Rosenkranz zu beten:XXVI,233f, am 14. 8. 1606 in Aulps geschrieben; XXVI,238-240 für Frauvon Chantal und Mme Brulart 1608 verfaßt; XXVI,374-376 eine dritte, diePhilibert de Bonneville nach seiner Zeugenaussage aus zwei Fassungen zusam-menstellte, die er bei Franz von Sales gesehen hat. Da diese Anleitungeninhaltlich übereinstimmen, wird hier die dritte (ausführlichste) Fassung ver-öffentlicht. Vgl. die Gegenüberstellung im Jahrbuch für salesianische Studien16 (1980), 152-161.

58 Gott, komm mir zu Hilfe; Herr, eile mir zu helfen. – Ehre sei dem Vater unddem Sohn und dem Heiligen Geist.

59 Gedenke, Urheber des Heils. – Gewähre mir, dich zu loben, heilige Jungfrau.

60 Dein Diener bin ich und der Sohn deiner Magd

61 Griechischer Maler, der auf dem Gemälde vom ‚Opfer der Iphigenie‘ dieBestürzung Agamemnons nicht darzustellen vermochte und ihn deshalb mitverhülltem Haupt malte (Plinius).

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62 Aeneis I,56: Du stündest noch, Troja, und wärst erhalten, hohe Festung desPriamos.

63 Aeneis I,1: Die Waffen und den Helden will ich besingen.

64 Der Löwe, der aller Tiere spottet, fürchtet einzig die Hähne (Plinius); ‚gallos‘ist hier eine Anspielung auf die Gallier (Franzosen).

65 OEA XXVI,165-170. Dieses ‚Avis‘ vom April 1604 für die Äbtissin Bour-geois von Puits-d’Orbe ist, abgesehen vom Brief an die ‚Filles Dieu‘ (s. Band7,182-190), eine der frühesten Schriften des hl. Franz von Sales über dasOrdensleben. Es ist zu sehen vor dem Hintergrund einer verweltlichten Abteiund einer reformwilligen, aber im geistlichen Leben unerfahrenen Äbtissin(vgl. Band 7,253-307).

66 OEA XXVI,371f, geschrieben für einen Ordens-Aspiranten, vielleicht Jean-Marc de Monthoux, der am 13. 8. 1612 bei den Kapuzinern Profeß machte.

67 OEA IX,355-365, aus der Ansprache zu einer Einkleidung am 17. 10. 1620.

68 OEA X,21-35, aus der Ansprache zur Einkleidung und Profeß am Fest der hl.Brigida (1. 2. 1621).

69 Aus zwei Ansprachen: 1. OEA X,36-40, am 4. Fastensonntag, 21. 3. 1621; –2. OEA X,86-95, am Fest der hl. Maria Magdalena, 22. 7. 1621.

70 OEA IX,340-354, aus der Ansprache zur Einkleidung und Profeß am Fest deshl. Nikolaus von Tolentino, 10. 9. 1620.

71 OEA IX,140-148, aus der Ansprache zu einer Einkleidung am 5. 1. 1618.

72 OEA XXVI,367-369, nach einem Manuskript im Kloster der Heimsuchungzu Nantes, das Frau von Chantal nach Weisungen des hl. Franz von Salesredigiert hat.

73 OEA IX,172-177, aus der Ansprache zur Einkleidung am Fest der hl. Anna,27. 7. 1618.

74 OEA IX,223-230, aus dem zweiten Teil einer Predigt zum Fest der HeiligenKosmas und Damian (Bourges, 27. 9. 1619).

75 OEA X,196-214: Predigt zum ersten Fastensonntag, 13. 2. 1622.

76 OEA XXVI,370, auf die Bitte eines Ordensmannes um Ratschläge für dasgeistliche Leben geschrieben, veröffentlicht in der Biographie des Heiligenvon Philibert de Bonneville (vielleicht selbst der Empfänger).

77 OEA XXVI,98f, der Biographie des Heiligen von Longueterre entnommen.Der Adressat ist unbekannt; der letzte Absatz ist offensichtlich für einenanderen Empfänger bestimmt.

78 OEA XXV,51-53: Einleitung zu den Konstitutionen des Ordens von der Heim-suchung in der offiziellen Fassung von 1618.

79 Franz von Sales hatte die Heimsuchung 1610 als Kongregation gegründet, hatsie aber auf Drängen des Erzbischofs von Lyon in einen Klausurorden mitfeierlichen Gelübden nach der Regel des hl. Augustinus umgewandelt (vgl.Band 8,229f). Im Vorwort zur Regel (OEA XXV,3-24) schrieb er, nach Erklä-rungen zu einigen Artikeln der Regel, die folgenden Gedanken über das Ver-hältnis der Konstitutionen zur Regel (S. 21-24).

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80 OEA XXVI,318-327. Eine Schwester der Heimsuchung (vielleicht Sr. Anne-Marie Rosset; vgl. Band 7,108-110) schrieb die Ratschläge nieder, die ihrFranz von Sales mündlich gegeben hat. Das Manuskript befindet sich in deröffentlichen Bibliothek von Bourges.

81 OEA XXVI,292-318. Sr. Marie-Adrienne Fichet (vgl. Band 7,138), eine derfrühesten Schwestern der Heimsuchung, hat die persönlichen Ratschläge, dieihr Franz von Sales im Laufe der Jahre gegeben hatte, sorgfältig gesammeltund aufgezeichnet. Je eine Kopie ihrer Niederschrift befindet sich in derHeimsuchung von Pignerolo und Caen.

82 OEA XXVI,285-290. Mit dieser Überschrift hat Sr. Claude-Agnès de la Ro-che (vgl. Band 7,353) die ganz auf ihre Situation abgestimmten Ratschläge,die ihr der Gründer im Lauf mehrerer Jahre gegeben hatte, in einem Büchleingesammelt.

83 Zwei Sammlungen von Ratschlägen, deren Kopien sich in der Heimsuchungvon Annecy befinden: I. OEA XXVI,360-364 (zum Teil vielleicht für Frauvon Chantal); – 2. OEA XXVI,364-372 (zum Teil womöglich für Sr. Marie-Aimée de Blonay; vgl. Band 7,94-107)

84 Bei der raschen Ausbreitung der Heimsuchung bald nach der Gründung (vgl.Band 8,230-244) mußten sehr junge Schwestern wenige Jahre nach ihrer Pro-feß in neu gegründeten oder zu gründenden Klöstern als Oberinnen eingesetztwerden. Daher hat ihnen Franz von Sales nicht nur in zahlreichen Briefen,sondern auch in ‚Avis‘ Weisungen gegeben, die der Wahrung des Geistes derHeimsuchung dienten:1. OEA XXVI,329f. Weisungen für Sr. Anne-Marie Rosset (vgl. Band 7,108-110) vor ihrer Abreise zur Gründung des Klosters in Bourges (15. 10. 1618),nach ihren Aufzeichnungen.2. OEA XXVI,334-337. Weisungen für Sr. Claude-Agnès de la Roche (vgl.Band 7,111f) vor ihrer Abreise nach Orléans (Juli 1620).3. OEA XXVI,356-360. Ein zweites ‚Avis‘ für die Mutter de la Roche (zwi-schen 1620 und 1622) nach ihren Aufzeichnungen.4. OEA XXVI,339-344. Weisungen und Antworten (1620/21) für MutterPaule-Jéronyme de Monthoux (vgl- Band 7,116-124), Oberin in Nevers, nacheinem Manuskript in der Heimsuchung von Bourg-en-Bresse.5. OEA XXVI,345-347. Fragment von Weisungen an Oberinnen der Heimsu-chung, nach Hérissant.