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REZENSIONEN Österreich Z Soziol (2014) 39:167–169 DOI 10.1007/s11614-014-0124-8 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014 T. Krings () Institut für Soziologie, JKU Linz, Altenberger Straße 69, 4040 Linz, Österreich E-Mail: [email protected] Georg Vobruba (2012): Der Postnationale Raum. Transformation von Souveränität und Grenzen in Europa Weinheim/Basel: Beltz Juventa, 172 Seiten, € 19,95 Torben Krings Die Europäische Union stellt nicht nur ein politisches Institutionengefüge dar, sondern auch einen transnationalen sozialen Raum, in dem neue Vergesellschaftungsprozesse stattfinden. Wie wirken sich diese Vergesellschaftungsprozesse auf traditionelle Vorstel- lungen von Souveränität, politischer Raumbildung und Staatlichkeit aus? In diesem Buch untersucht Georg Vobruba die Entstehung eines postnationalen politischen Raumes in der Europäischen Union mit einem besonderen Schwerpunkt auf dem Wandel von Grenzen und politischer Souveränität. Im ersten Kapitel wird die Entwicklung der Europasoziologie aus dem Spannungsver- hältnis von „national“ und „europäisch“ hergeleitet. Dabei argumentiert Vobruba, dass es nicht Aufgabe der Europasoziologie ist, für eine dieser Seiten Partei zu ergreifen. Zwar muss die Soziologie ihren „methodologischen Nationalismus“ überwinden, gleichzeitig darf sie aber nicht die weiterhin nationalstaatlich gerahmten Vorstellungswelten vieler gesellschaftlicher Gruppen ignorieren. Vielmehr geht es darum, die unterschiedlichen räumlichen Deutungsmuster der einzelnen Akteure im Rahmen einer Soziologie der „Beobachtung zweiter Ordnung“ zu analysieren. Im nächsten Kapitel diskutiert Vobruba die Transformation von Souveränität im Zusammenhang mit der europäischen Integration. Dabei argumentiert er, dass sich die EU nicht durch Souveränität legitimiert, sondern durch politische Leistungsfähigkeit. Dementsprechend wird die Frage nach einer Begründung von Souveränität zunehmend obsolet. Entscheidend ist vielmehr, ob die EU dem Nationalstaat in puncto Leistungsfä- higkeit überlegen ist oder nicht. Auch verlieren traditionelle Souveränitätserwägungen dadurch an Bedeutung, dass die europäische Integration zunehmend durch technokrati-

Georg Vobruba (2012): Der Postnationale Raum. Transformation von Souveränität und Grenzen in Europa

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Page 1: Georg Vobruba (2012): Der Postnationale Raum. Transformation von Souveränität und Grenzen in Europa

Rezensionen

Österreich Z Soziol (2014) 39:167–169DOI 10.1007/s11614-014-0124-8

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2014

T. Krings ()Institut für Soziologie, JKU Linz,Altenberger Straße 69,4040 Linz, ÖsterreichE-Mail: [email protected]

Georg Vobruba (2012): Der Postnationale Raum. Transformation von Souveränität und Grenzen in EuropaWeinheim/Basel: Beltz Juventa, 172 Seiten, € 19,95

Torben Krings

Die Europäische Union stellt nicht nur ein politisches Institutionengefüge dar, sondern auch einen transnationalen sozialen Raum, in dem neue Vergesellschaftungsprozesse stattfinden. Wie wirken sich diese Vergesellschaftungsprozesse auf traditionelle Vorstel-lungen von Souveränität, politischer Raumbildung und Staatlichkeit aus? In diesem Buch untersucht Georg Vobruba die Entstehung eines postnationalen politischen Raumes in der Europäischen Union mit einem besonderen Schwerpunkt auf dem Wandel von Grenzen und politischer Souveränität.

Im ersten Kapitel wird die Entwicklung der Europasoziologie aus dem Spannungsver-hältnis von „national“ und „europäisch“ hergeleitet. Dabei argumentiert Vobruba, dass es nicht Aufgabe der Europasoziologie ist, für eine dieser Seiten Partei zu ergreifen. Zwar muss die Soziologie ihren „methodologischen Nationalismus“ überwinden, gleichzeitig darf sie aber nicht die weiterhin nationalstaatlich gerahmten Vorstellungswelten vieler gesellschaftlicher Gruppen ignorieren. Vielmehr geht es darum, die unterschiedlichen räumlichen Deutungsmuster der einzelnen Akteure im Rahmen einer Soziologie der „Beobachtung zweiter Ordnung“ zu analysieren.

Im nächsten Kapitel diskutiert Vobruba die Transformation von Souveränität im Zusammenhang mit der europäischen Integration. Dabei argumentiert er, dass sich die EU nicht durch Souveränität legitimiert, sondern durch politische Leistungsfähigkeit. Dementsprechend wird die Frage nach einer Begründung von Souveränität zunehmend obsolet. Entscheidend ist vielmehr, ob die EU dem Nationalstaat in puncto Leistungsfä-higkeit überlegen ist oder nicht. Auch verlieren traditionelle Souveränitätserwägungen dadurch an Bedeutung, dass die europäische Integration zunehmend durch technokrati-

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sche, nicht demokratisch legitimierte Einrichtungen wie dem Europäischen Gerichtshof und der Europäischen Zentralbank vorangetrieben wird.

Im Kapitel zur Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) argumentiert Vobruba, dass die ENP ein Policy-Instrument darstellt, welches tendenziell den Widerspruch zwischen Erweiterung und Vertiefung der EU auflöst. Ursprünglich konzipiert als „Expansion ohne Erweiterung“, läuft die ENP in der Praxis auf eine abgestufte Integration zwischen der Union und den Nachbarstaaten hinaus. Diese können von relativ anspruchslosen Wirt-schaftsbeziehungen bis hin zu Vollmitgliedschaften zu besonderen Bedingungen reichen. Dabei ist hervorzuheben, dass es ein unterschiedliches Verständnis von der ENP gibt. Während für nordafrikanische Länder die ENP hauptsächlich eine Form von Entwick-lungspolitik darstellt, ist sie für die östlichen Nachbarn der EU eine Annäherung an eine spätere Vollmitgliedschaft.

In der Diskussion zur „postnationalen Grenzkonstellation“ argumentiert Vobruba, dass sich Grenzen nicht auflösen, sondern transformiert werden. Dabei ist das Grenzregime der EU von einem Spannungsverhältnis von Inklusion und Exklusion gekennzeichnet. Innerhalb der EU ist durch die Personenfreizügigkeit und das Schengen-Abkommen ein transnationaler Mobilitätsraum entstanden, in dem Grenzkontrollen weitgehend ver-schwunden sind. Gleichzeitig wurden die Grenzkontrollen an den EU-Außengrenzen verschärft. Allerdings ist „fortress Europe“ eine unzureichende Metapher, um dieses Grenzregime zu charakterisieren. Vielmehr handelt es sich um einen „Migrationsbasar“, der von einer selektiven Durchlässigkeit für bestimmte Gruppen charakterisiert ist. Auch sind die Außengrenzen der Union variabel, da durch jede Erweiterungsrunde aus ehema-ligen „Outsidern“ „Insider“ werden.

Wie stehen die Chancen für eine transnationale europäische Sozialpolitik? Legt man eine weitgefasste Definition von Sozialpolitik zu Grunde, die beispielsweise den Arbeits-schutz oder die Gleichstellungspolitik umfasst, dann gibt es durchaus Entwicklungen in diese Richtung. Allerdings haben sich bis jetzt auf europäischer Ebene noch keine wohl-fahrtsstaatlichen Institutionen herausgebildet, welche die klassischen sozialpolitischen Kernbereiche der Arbeitslosenversicherung oder der Krankenversicherung umfassen. Gleichzeitig geht Vobruba davon aus, dass finanzielle Transfers in die innere und äußere Peripherie der EU zunehmen werden, um eine Stabilität an den Außengrenzen der EU zu gewährleisten. Dementsprechend ist die EU ungeachtet aller Dementis auf dem Weg in eine Transferunion, welche „den Einstieg in eine transnationale, europäische Sozialpoli-tik (darstellt).“

Im letzten Kapitel argumentiert Vobruba, dass die momentane Finanzkrise in Europa den Integrationsprozess weiter vorantreiben wird. Dies führt er auf die „defizitäre Institu-tionalisierung“ der EU zurück. Im Rahmen der europäischen Einigung sind Institutionen entstanden, die nur dann stabil funktionieren, wenn weitere Institutionen gebildet werden. Im Bereich der Währungspolitik bedeutet dies, dass die Euro-Krise nur im Rahmen einer länderübergreifenden Fiskalpolitik gelöst werden kann. Dementsprechend erzeugt der Krisendruck eine neue Integrationsdynamik, die zu „mehr Europa“ führen wird.

Dieses Buch ist ein wichtiger soziologischer Beitrag zur aktuellen Debatte um die Zukunft des „europäischen Projekts“ in Zeiten von Austeritätspolitik und Finanzkrise. Auch wenn es sich um eine Sammlung einzelner Aufsätze handelt, zieht sich die Frage nach der Transformation von Souveränität, dem Wandel von Grenzen und die Entstehung

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eines postnationalen Raumes durch alle Kapitel. Insbesondere die letzten beiden Kapitel stellen eine wichtige soziologische Intervention zur momentanen Krise in Europa dar, umso mehr, als bis jetzt diese Debatte weitgehend von WirtschaftswissenschaftlerInnen dominiert ist. Dementsprechend kann man dem Buch nur eine breite LeserInnenschaft wünschen, um auch die soziologische Stimme in der Diskussion um Wirtschaftskrise, Transferunion und Schuldenpolitik wieder stärker zur Geltung zu bringen.