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Gerhard Herden · Andreas Pallack Die vermaledeiten Kirchenfenster (keine Geschichte der Mathematik aber eine Geschichte in der Mathematik) Vorausgesetzt, dass wir unseren Übersetzungsfähigkeiten vertrauen dürfen, hat sich anno 1682 und später das Folgende zugetragen: Nachdem der Bischof Bacchus Intolerantus den damals berühmten Künstler Pinselio Malmitlust beauftragt hatte, die Fenster des neu errichteten Doms zu bemalen, zog letzterer seine Stirn in kummervolle Falten und entgegnete mit gepresster Stimme, dass er befürchte, ihm könnten nicht genügend neue Motive für die herrlichen Domfenster einfallen. Daraufhin klopfte ihm der Bischof herzlich lachend auf die Schulter, wobei er zu bedenken gab, dass Gott in seiner Allwissenheit natürlich alle möglichen Motive für Bebilderungen jeder Art bereits kenne und dem Pinselio Malmitlust in seiner unermesslichen Gnade ganz sicher ausreichend viele neue Motive für die Domfenster eingeben würde. Als Pinselio Malmitlust beim gemeinsamen Abendessen seiner Frau Cantoria von dem ihm vom Bischof erteilten ehrenvollen Auftrag, seinen damit verbundenen Sorgen und den anschließenden Tröstungen des Bischofs erzählt hatte, schmunzelte Cantoria vielsagend, schüttelte bedenklich ihren Kopf und behauptete schließlich, dass der Bischof wohl irren müsse, wenn er davon ausginge, dass Gott alle möglichen Motive für Bebilderungen kennen könne. Sofort legte Pinselio ängstlich seine rechte Hand auf den Mund Cantorias, verschloss sorgfältig alle Türen und Fenster und bat seine Frau dann sichtlich erregt, sich ihm doch näher zu erklären. Da beugte sich Cantoria zu ihrem Mann hinüber und flüsterte ihm geheimnisvoll ins Ohr, dass ihren Überlegungen zwei mögliche Annahmen über Gott zu Grunde lägen, die allerdings beide zum gleichen Ergebnis führten. Zum einen könne man nämlich annehmen, dass Gott zum Entwurf eines jeden Bildes eine gewisse, wenn auch sehr kurze Zeitspanne, benötigte. Zum anderen könne es aber auch sein, dass Gott alle Bilder gleichzeitig entwarf. Da Gott ewig ist, dürfe man in beiden Fällen sicherlich voraussetzen, dass Gott alle unendlich vielen Bilder durchgezählt hat, was einer Nummerierung der Bilder durch die (natürlichen) Zahlen 1, 2, 3, ... entspräche. Sie gehe nun, so flüsterte Cantoria, von einem Fenster oder rechteckigem Blatt aus, das nicht in mehrere Teile zerfiele, also nicht aus einzelnen Fenstern oder Blättern zusammengefügt wurde. Darüber hinaus nehme sie an, dass je zwei auf den Längsseiten gegenüber liegende Punkte durch zur Grundseite parallele Linien verbunden seien. Auf diese Weise entstünden sehr einfache Bilder, die das Blatt oder Fenster lediglich in zwei Teile unterteilten, die dann noch verschiedenfarbig ausgemalt werden könnten. P5 P4 P1 Pm Pk P2 P3 S1 S2

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Gerhard Herden · Andreas Pallack Die vermaledeiten Kirchenfenster

(keine Geschichte der Mathematik aber eine Geschichte in der Mathematik)

Vorausgesetzt, dass wir unseren Übersetzungsfähigkeiten vertrauen dürfen, hat sich anno 1682 und später das Folgende zugetragen:

Nachdem der Bischof Bacchus Intolerantus den damals berühmten Künstler Pinselio Malmitlust beauftragt hatte, die Fenster des neu errichteten Doms zu bemalen, zog letzterer seine Stirn in kummervolle Falten und entgegnete mit gepresster Stimme, dass er befürchte, ihm könnten nicht genügend neue Motive für die herrlichen Domfenster einfallen. Daraufhin klopfte ihm der Bischof herzlich lachend auf die Schulter, wobei er zu bedenken gab, dass Gott in seiner Allwissenheit natürlich alle möglichen Motive für Bebilderungen jeder Art bereits kenne und dem Pinselio Malmitlust in seiner unermesslichen Gnade ganz sicher ausreichend viele neue Motive für die Domfenster eingeben würde.

Als Pinselio Malmitlust beim gemeinsamen Abendessen seiner Frau Cantoria von dem ihm vom Bischof erteilten ehrenvollen Auftrag, seinen damit verbundenen Sorgen und den anschließenden Tröstungen des Bischofs erzählt hatte, schmunzelte Cantoria vielsagend, schüttelte bedenklich ihren Kopf und behauptete schließlich, dass der Bischof wohl irren müsse, wenn er davon ausginge, dass Gott alle möglichen Motive für Bebilderungen kennen könne. Sofort legte Pinselio ängstlich seine rechte Hand auf den Mund Cantorias, verschloss sorgfältig alle Türen und Fenster und bat seine Frau dann sichtlich erregt, sich ihm doch näher zu erklären. Da beugte sich Cantoria zu ihrem Mann hinüber und flüsterte ihm geheimnisvoll ins Ohr, dass ihren Überlegungen zwei mögliche Annahmen über Gott zu Grunde lägen, die allerdings beide zum gleichen Ergebnis führten. Zum einen könne man nämlich annehmen, dass Gott zum Entwurf eines jeden Bildes eine gewisse, wenn auch sehr kurze Zeitspanne, benötigte. Zum anderen könne es aber auch sein, dass Gott alle Bilder gleichzeitig entwarf. Da Gott ewig ist, dürfe man in beiden Fällen sicherlich voraussetzen, dass Gott alle unendlich vielen Bilder durchgezählt hat, was einer Nummerierung der Bilder durch die (natürlichen) Zahlen 1, 2, 3, ... entspräche. Sie gehe nun, so flüsterte Cantoria, von einem Fenster oder rechteckigem Blatt aus, das nicht in mehrere Teile zerfiele, also nicht aus einzelnen Fenstern oder Blättern zusammengefügt wurde. Darüber hinaus nehme sie an, dass je zwei auf den Längsseiten gegenüber liegende Punkte durch zur Grundseite parallele Linien verbunden seien. Auf diese Weise entstünden sehr einfache Bilder, die das Blatt oder Fenster lediglich in zwei Teile unterteilten, die dann noch verschiedenfarbig ausgemalt werden könnten.

P5

P4 P1 Pm

Pk P2

P3

S1 S2

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2Sie frage sich nun, ob diese einfachen Bilder oder die ihnen entsprechenden Parallelen tatsächlich durchnummeriert werden könnten. Nun, dazu solle sich Pinselio einmal vorstellen, dass alle Parallelen wirklich mit Nummern versehen wurden, so dass sie in der Reihenfolge P1 (erste gezählte Parallele), P2 (zweite gezählte Parallele), P3 (dritte gezählte Parallele)... durchgezählt worden sind. Dann beschriebe doch das Paar (P1,P2) einen Streifen S1, nämlich die Fläche, die sich zwischen P1 und P2 befindet. P3 sowie die Parallelen P4, P5, P6, ... könnten außerhalb von S1 liegen. Trotzdem müsste es irgendwann zum ersten Male wieder eine Zahl k (größer 2) geben, zu der es wiederum irgendwann zum ersten Mal eine Zahl m (größer k) geben müsste, so dass durch das Paar (Pk,Pm) ein Streifen S2 beschrieben würde, der ganz in S1 enthalten wäre. Pm+1, Pm+2, Pm+3, ... könnten dann wieder außerhalb von S2 liegen. Aber es müsste natürlich auch jetzt wieder zum ersten Mal eine Zahl s (größer m) existieren, zu der auch wieder zum ersten Mal eine Zahl t (größer s) existierte, so dass durch das Paar (Ps,Pt) ein Streifen S3 definiert wäre, der sich vollständig innerhalb von S2 befände. Dieses Verfahren könne man schließlich (zumindest theoretisch, Gott vollkommenerweise tatsächlich) ad infinitum so lange fortsetzen, bis alle Zahlen verbraucht wären. Für eine beliebige Zahl n aus der Menge der (natürlichen) Zahlen 1, 2, 3, ... gelte dann, dass sie entweder einen Rand der erhaltenen Streifen S1, S2, S3, ... nummerierte oder eine Parallele, die außerhalb des vor Erreichung der Zahl n zuletzt erhaltenen Streifens, der mit Sv abgekürzt sei, läge. Einsichtigerweise läge dann Pn auch in keinem Streifen Sw, für den die ihn nummerierende Zahl w größer als v wäre. Die Streifen müssen ja, entsprechend ihrer Entstehung, alle ineinander geschachtelt sein. Jetzt gerate man aber in einen Widerspruch. Im Inneren aller Streifen S1, S2, S3, ..., Sv, ..., Sw, ... müsse nämlich auch noch mindestens eine Parallele zur Grundseite liegen. Ansonsten bestünde das Fenster oder das Blatt aus mindestens zwei Teilen, was Cantoria doch ausgeschlossen hätte. Eine Parallele im Inneren der Streifen hätte aber keine Nummer. Sie könne nämlich weder zum Rand eines Streifens, noch zu einer Parallele gehören, die außerhalb des Streifens liegt, der vor der dieser Parallele entsprechenden Zahl zuletzt nummeriert wurde. Dieser Widerspruch, so stellte nun auch Pinselio bestürzt fest, trete leider immer auf. Er wäre unabhängig von der speziellen Nummerierung der Streifen und daher auf keinen Fall umgehbar. Also ließen sich die Parallelen zur Grundseite prinzipiell nicht durchzählen. Gott könne daher nicht einmal alle durch Parallelen zur Grundseite charakterisierten einfachen Bilder kennen.

In dieser Nacht fand Pinselio keinen Schlaf. Wie zur Bestätigung seines quälenden Nachdenkens war am nächsten Morgen der Himmel wolkenverhangen. Dennoch, in dieser Nacht war ihm dreierlei gewiss geworden: Zunächst war die Vollkommenheit Gottes zweifelsfrei. Andererseits war aber auch die Schlussweise seiner Frau nicht beanstandbar. Daraus ergab sich zum dritten zwingend, dass Cantoria von falschen Voraussetzungen über Gott ausgegangen sein musste. Wie aber, so fragte sich Pinselio nun, waren die Annahmen über Gott zu ändern, so dass klar und deutlich würde, dass Gott ohne jeden Zweifel alle möglichen Bebilderungen wirklich kennt?

Ganz erfüllt von dieser Frage begab sich Pinselio in sein Atelier. Wohlmeinenden Zusprachen seiner Mitarbeiter und des Bischofs begegnete er mit brummigem Achselzucken. Erst gegen Abend hellte sich seine Miene zeitweise auf. Voller Ungeduld wartete er noch das Ende des Abendessens ab, um Cantoria endlich mitteilen zu können, dass sie von falschen Postulaten über Gott ausgegangen sein müsse. Gott könne nämlich in jeder noch so kleinen Zeiteinheit bereits unendlich viele Bilder durchnummerieren. Diese Nummern müssten doch nicht unbedingt (natürliche) Zahlen sein, was darüber hinaus nicht mit der Annahme im Widerspruch stünde, dass Gott alle möglichen Bebilderungen gleichzeitig erdacht hat. Mit dieser veränderten Voraussetzung über Gott ließe sich, so triumphierte Pinselio, die gestrige Schlussweise von Cantoria nicht mehr aufrecht erhalten, was hoffentlich bedeute, dass Gott doch alle möglichen Bebilderungen kennen könne

Cantoria erbat sich Bedenkzeit. Doch zur Bestürzung Pinselios behauptete sie bereits nach kurzem Nachdenken, dass seine veränderten Annahmen über Gott ihre gestrige Schlussweise

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3nicht erschüttern könnten. Dabei griff sie zu einem herumliegenden Blatt und zeichnete darauf eine einfache Linie:

Dann ermunterte sie Pinselio, sich vorzustellen, dass diese Linie die Zeit darstelle. Außer-dem, so meinte Cantoria, solle Pinselio noch annehmen, dass die Menge der Zeitverhältnisse

n:m oder Brüche nm

in einem beliebig gewählten Zeitintervall der Anzahl der von Gott

durchgezählten Bebilderungen in diesem Zeitintervall entspräche. Pinselio nickte und bestätigte Cantoria, dass das von ihr entwickelte Modell genau seine Annahmen über Gott wiedergeben würde. Denn so, gab er jetzt schon widerstandslos zu, würden in jedem Zeitintervall tatsächlich unendlich viele Bebilderungen mit Zahlenverhältnissen oder Brüchen nummeriert. Cantoria bestätigte dies und erklärte noch, dass man selbstverständlich ohne

Einschränkung unterstellen dürfe, dass für jeden beliebigen Bruch nm

die (natürlichen)

Zahlen n und m keinen gemeinsamen Teiler hätten. Pinselio gestand auch diesen Sachverhalt müde zu. Mit Hilfe dieser Voraussetzung, freute sich Cantoria, könne man leicht alle Brüche so in die Menge der (natürlichen) Zahlen einbetten, dass je zwei verschiedenen Brüchen auch je zwei verschiedene (natürliche) Zahlen zugeordnet würden. Dazu müsse man lediglich den

Bruch nm

auf die (natürliche) Zahl 2 3n m⋅ abbilden. Wegen der Eindeutigkeit der Zerlegung

einer beliebigen (natürlichen) Zahl in Primfaktoren, die schon Euklid bekannt war, folge dann

unmittelbar, dass die Verschiedenheit irgendwelcher Brüche nm

und kt

auch die

Verschiedenheit der (natürlichen) Zahlen 2 3 und 2 3n m k t⋅ ⋅ nach sich ziehe. Da, wie sie bereits gestern gezeigt habe, weniger (natürliche) Zahlen 1, 2, 3, ... als Parallelen zur Grundseite eines Kirchenfensters existierten und außerdem die Brüche, wie sie gerade eben bewiesen habe, einer echten Teilmenge der (natürlichen) Zahlen entsprächen, folge nunmehr, so begeisterte sich Cantoria, dass es weniger Brüche als Parallelen zur Grundseite eines Kirchenfensters geben müsse.

Pinselio lehnte sich erschöpft zurück. Zugegebenermaßen, die Schlusskette Cantorias schien korrekt zu sein. Dann aber, so dachte Pinselio verwundert, gäbe es augenscheinlich mehr (natürliche) Zahlen als Brüche und gleichzeitig, da die (natürlichen) Zahlen unleugbar echt in der Menge der Brüche enthalten seien, auch weniger (natürliche) Zahlen als Brüche, was doch paradox wäre. Cantoria ahnte die Widersprüchlichkeiten ihres Mannes. Übrigens, so bemerkte sie nämlich fast beiläufig, auf unserem heutnachmittäglichen Kaffeekränzchen haben mir meine beiden besten Freundinnen Schröderita und Bernsteinora bewiesen, was Cantoria allerdings schon immer vermutet hätte, dass je zwei Mengen, von denen jede als Teilmenge der anderen aufgefasst werden könne, in dem Sinne gleich viele Elemente enthielten, dass eine bijektive Zuordnung zwischen den Elementen der beiden Mengen hergestellt werden könne. Damit, so fügte Cantoria noch überlegen hinzu, wären auch die Paradoxien des Unendlichen, wie sie Galileo Galilei so beeindruckt hätten, völlig aufgeklärt.

Pinselio fühlte sich sehr leer und sehr unterlegen. Traumlos, ohne Bewegung, tief schlafend verbrachte er die folgende Nacht. Morgens begab er sich ausgeruht in sein Atelier. Ohne es eigentlich zu wollen griff er sofort nach einem Bogen Papier, auf welches er ein rechteckiges Kirchenfenster und einige Parallelen zur Grundseite des Kirchenfensters malte. Dann begann Pinselio die Parallelen zu zählen: P1, P2, P3, ... . Er fühlte lichtartig, dass es für Gott nicht den geringsten Grund geben könne, das Zählen zu beenden, wenn alle Parallelen, die mit (natürlichen) Zahlen nummeriert worden sind, schließlich verbraucht wären. Gott, so spürte Pinselio dankbar, ist natürlich in der Lage, z. B. in Anlehnung an das griechische

0 1 2 3

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4Alphabet, einfach weiter zu zählen: , 1, 2, ..., 2,P P P P Pω ω ω ω ω ω+ + + =

2 32 1, 2 2, 2 3, ..., 3, ..., , ..., , ..., , ..., , ... , P P P P P P P P Pωω ωω ω ω ω ω ω ω ω ω ω+ + + ⋅ =

.........

P

ωω

ωωω = 0 0 0, 1, ..., , ... .P P Pε ε ε ω+ + Nichts, wusste Pinselio jetzt, könne Gott daran hindern, solange weiter zu zählen, bis er alle Parallelen zur Grundseite eines beliebigen Kirchenfensters wirklich durchgezählt hat. Freudig dankte Pinselio Gott für die ihm von ihm gewährte Gnade, endlich die unrichtigen, der Schlusskette Cantorias zu Grunde liegenden, Voraussetzungen über Gott erkannt haben zu dürfen.

Mehr noch als am Abend zuvor beeilte sich Pinselio an diesem Abend nach Hause zu kommen. Die Beendigung des gemeinsamen Abendessens mit Cantoria wartete er dieses Mal gar nicht erst ab. In manchmal sich selbst überholenden Sätzen entluden sich, nachdem Cantoria soeben die Minestrone serviert hatte, seine Gedanken über die grundsätzlichen Abzählmöglichkeiten Gottes, wobei er bei jeder Parallele, die er aufzählte, klatschend mit dem Löffel in die Gemüsesuppe schlug. Zu Pinselios Erstaunen nickte Cantoria zunächst zustimmend. Dann jedoch schüttelte sie zögerlich den Kopf, wobei sie zu Bedenken gab, dass unendliche Mengen entweder nie zu einer Endzahl kommende oder verschiedene Abzählungen im Sinne Pinselios erlauben würden, was leider ausschlösse, dass die Anzahl der Elemente einer unendlichen Menge im Sinne Pinselios eindeutig bestimmt werden könne. Pinselio erblasste. Schließlich bat er Cantoria mit schwacher Stimme, ihm ihre Bedenken an Hand eines Beispiels zu erläutern. Pinselio solle sich vorstellen, so begann Cantoria nun, dass Gott zum ersten die Menge der (natürlichen) Zahlen in ihrer natürlichen Reihenfolge 1, 2, 3, ... abzähle, was allerdings bedeuten würde, dass Gott nie zu einer Endzahl käme, die die Anzahl der natürlichen Zahlen festlege. Zum zweiten könne Gott die (natürlichen) Zahlen selbstverständlich so abzählen, dass er mit der Zahl 102 begänne, ihr also die Nummer 1 gäbe, 103 bekäme dann die Nummer 2, 104 die Nummer 3 etc. Die Zahl 1 könne dann die Nummer ω , die Zahl 2 die Nummer 1ω + und schließlich die Zahl 101 die Nummer 100ω + erhalten, was nach sich zöge, dass die Menge der natürlichen Zahlen im Sinne Pinselios

100ω + Elemente enthielte. Zum dritten könne Gott aber auch, so fuhr Cantoria fort, der Zahl 1002 die Nummer 1 zuordnen, der Zahl 1003 die Nummer 2, der Zahl 1004 die Nummer 3 etc. Die Zahl 1 könne Gott dann wiederum mit der Nummer ω versehen, die Zahl 2 mit der Nummer 2ω + und nach entsprechend langem Zählen die Zahl 1001 mit der Nummer

1000.ω + In diesem Fall enthielte die Menge der (natürlichen) Zahlen im Sinne Pinselios, im Gegensatz zu ihren zuvor vorgestellten Abzählungen, 1000ω + Elemente, was eine offensichtliche Antinomie darstelle. Da stand Pinselio, der Cantoria sich ängstlich duckend und mit geschlossenen Augen zugehört hatte, von seinem Stuhle auf und schrie, sich endgültig von den für ihn gotteslästerlichen Zweifeln Cantorias befreiend, dass Gott natürlich nur diejenigen Abzählungen einer Menge betrachte, die eine Endzahl hätten, und dass er darüber hinaus a priori all diejenigen Abzählungen kenne, für die diese Endzahl am kleinsten wäre. Diese kleinste Endzahl wäre dann, kreischte Pinselio weiter, die genaue Anzahl, Mächtigkeit oder die Kardinalität einer Menge. Erstaunt über dieses zuvor von ihr noch nie beobachtete Temperament ihres Mannes bestätigte Cantoria, dass Pinselios Charakterisierung der Anzahl, Mächtigkeit oder Kardinalität einer Menge von ihr nicht mehr beanstandet werden könne. Die Menge der (natürlichen) Zahlen habe demnach die Anzahl, Mächtigkeit oder Kardinalität .ω Insbesondere enthalte eine Menge stets dann unendlich viele Elemente, wenn sie Abzählungen mit unterschiedlichen Endzahlen erlaube. Andernfalls sei sie endlich. In diesem Augenblick war Pinselio glücklich. Auch Cantorias schnippisch vorgetragene Frage, ob Pinselio denn nun auch wisse, wie viele Bebilderungen für Kirchenfenster nach Pinselios Anzahlbegriff eigentlich möglich wären, konnte dieses Gefühl nicht mehr schmälern.

Im nachhinein betrachtet wäre es sowohl für Cantoria als auch für Pinselio besser gewesen, wenn Cantoria diese Frage hätte unterdrücken können. So aber kam es dazu, dass

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5sich Pinselio am nächsten Tag zufrieden und, wie es ihm schien, ideenträchtig mit Entwürfen für Bebilderungen für die Domfenster befasste, während Cantoria sich unausweichbar mit der Frage nach der wahren Anzahl möglicher Bebilderungen für Kirchenfenster konfrontiert sah. Um der Beantwortung dieser Frage näher zu kommen, erinnerte sich Cantoria zunächst daran, dass Pinselio seine Bebilderungen farbig gestaltete, in dem er parallel zu einer von ihm vorher ausgewählten Seite des Kirchenfensters eine oder mehrere Farblinien auftrug, die er dann, parallel zu den anderen Seiten des Kirchenfensters, in Richtung auf die von ihm vorher ausgesuchte Seite hin, mehr oder weniger stark ausdehnte. So erfand Cantoria im ersten Schritt Treppenbilder, die dadurch entstanden, dass sie ein Mal die Grundseite und ein anderes Mal die rechte oder linke Längsseite eines Kirchenfensters in einzelne Abschnitte zerlegte, über die sie dann völlig willkürlich parallele Linien, die sogenannten Stufen des Treppenbildes, zu diesen Seiten zeichnete. An Stufen, die lediglich aus einem Punkt bestehen, dachte Cantoria nicht.

Linienbilder, so definierte Cantoria anschließend, bestehen dann aus beliebigen krummen oder geschlängelten, von links nach rechts verlaufenden, vielleicht irgendwo unterbrochenen Linien, die sich entsprechend der Ausmaltechnik Pinselios beliebig nahe, also bis zur optischen Untrennbarkeit, durch Treppenbilder annähern lassen. Durch Übereinanderlegung oder Überlagerung endlich vieler Linienbilder könne man sich daher Pinselios Bebilderungen, die natürlich noch farbig gestaltet werden müssen, entstanden denken. Nun, so sinnierte Cantoria weiter, wird es wohl das Beste sein, wenn ich, ausgehend von der Grundseite eines Kirchenfensters, zunächst zu ermitteln versuche, wie viele entsprechende Treppenbilder es eigentlich gibt. Dazu betrachtete Cantoria ein solches Treppenbild T und stellte erregt fest, dass T zum einen durch diejenigen Punkte auf der Grundseite eines Kirchenfensters, die die Länge der Parallelen zur Grundseite festlegen, und zum anderen durch diejenigen Punkte auf einer der Längsseiten eines Kirchenfensters, die die Höhe dieser Parallelen über der Grundseite angeben, eindeutig bestimmt ist. Auf diese Weise errechnete Cantoria, dass bei gegebener Anzahl n zur Grundseite eines Kirchenfensters paralleler Linien ein entsprechendes Treppenbild T durch höchstens n Punkte auf einer der Längsseiten und genau n-1 Punkte auf der Grundseite eines Kirchenfensters eindeutig beschrieben wird. Selbstverständlich, so leuchtete es Cantoria sofort ein, stimmt, trotz möglicher unterschiedlicher Längen, die Anzahl der Punkte auf der Grundseite eines Kirchenfensters mit der Anzahl der Punkte auf jeder der Längsseiten eines Kirchenfensters überein. Jeder Punkt P auf der Grundseite eines Kirchenfensters teilt diese nämlich in zwei Abschnitte 1A und 2,A wobei 1,A ausgehend vom linken Eckpunkt der Grundseite, denjenigen Abschnitt bezeichnet, dessen rechter Eckpunkt P ist, während 2A den dann noch verbleibenden Abschnitt auf der Grundseite eines Kirchenfensters kennzeichnet. Werden nun die Längen der Abschnitte 1 2 und A A mit 1 2und L L abgekürzt, so lässt sich P einfach derjenige Punkt Q auf einer der Längsseiten eines Kirchenfensters zuordnen, der diese

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6Längsseite, ausgehend von der Grundseite im Verhältnis 1 2:L L teilt, womit evident ist, dass die Anzahl der Punkte auf der Grundseite eines Kirchenfensters tatsächlich mit der Anzahl der Punkte auf jeder der Längsseiten eines Kirchenfensters übereinstimmen muss. Wenn man also, so schloss Cantoria mit überlaut klopfendem Herzen, die Grundseite eines Kirchenfensters mit G bezeichnet und die Punkte auf G, der Abzähltechnik Pinselios entsprechend, mit P1, P2, P3, ..., ,Pω ..., ... durchnummeriert, dann ist, begeisterte sich Cantoria, jedes n-stufige Treppenbild durch genau ein Tupel ( )1 2 1,..., nP Pα α − von Punkten

1 2 1,..., nP Pα α − aus G, wobei einige dieser Punkte durchaus übereinstimmen dürfen, eindeutig beschrieben. Cantorias Hand zitterte als sie anschließend für eine beliebige Zahl p die Menge aller Tupel ( )1 2, ..., ,...P P P λα α α von Punkten 1 2, ..., ,...P P P λα α α aus G, die genau p

Komponenten enthalten, kurz pG nannte. Cantoria hatte sich bereits eine Zeit lang erfolglos aber unwiderruflich, mit bohrender und

mit jedem Fehlversuch eindringlicheren Leidenschaft in das Problem vertieft auszurechnen, aus wie vielen Paaren ( )1 2,P Pα α die Menge 2G wohl bestehen könnte, als Pinselio fröhlich und hungrig, einige, wie er meinte besonders gelungene Entwürfe für Bebilderungen der Domfenster, die er Cantoria ausführlich zu erläutern beabsichtigte, unter seinen linken Arm geklemmt, die Wohnung betrat. Nachdem Cantoria jedoch seinen, ihr noch in der Eingangstür zugerufenen Abendgruß nicht erwidert hatte, und weder ein wohlklingendes Brutzeln noch ein betörender Duft seinen Mund wässerte, näherte er sich mit schon spürbar nachlassender Laune der kaum erleuchteten Küche, wo er die Anwesenheit Cantorias vor dem Herd jetzt bereits mehr erhoffte als ernsthaft vermutete. Zögerlich die Küche betretend bot sich Pinselio ein Anblick, der ihn, nicht erschreckte, aber ungläubig erstarren ließ. Das Frühstücksgeschirr hatte Cantoria achtlos zur Seite geschoben, um auf dem Esstisch Platz für Papier und Schreibutensilien zu schaffen. Neben und unter dem Esstisch lagen Blätter zerknüllten Papiers und vor dem Esstisch mehr kauernd als sitzend blickte Cantoria mit blassen, eingefallenen Wangen, scheinbar geistesabwesend und doch bittend fragend zu Pinselio auf. Dann, ihren Blick nicht von Pinselio abwendend, hastete ihre Stimme über Treppen- und Linienbilder bis hin zur bangend vorgetragenen Frage nach der Anzahl aller Punktepaare des

2.G Zuhörend, aber ohne zu verstehen, streichelte Pinselio, nachdem er seine ihm jetzt nutzlos vorkommenden Entwürfe für mögliche Bebilderungen der Domfenster in irgendeiner Ecke abgelegt hatte, zärtlich und tröstend zusprechen wollend über Cantorias Haar, was ihn allerdings, und das zeigte seine ganze zagende Hilflosigkeit, lediglich die schüchterne und keineswegs fordernde Bemerkung, dass er Hunger habe, hervorbringen ließ. Tonlos und mit durch Widerwillen verursachter Lieblosigkeit schmierte Cantoria darauf hin einige Schnitten Brot, die sie, Pinselio mit fast hilflos wirkender Handbewegung zum Essen einladend, auf den Esstisch stellte. Pinselio aß freudlos und mit schon gezügeltem Appetit, während Cantoria lustlos an einer Schnitte Brot herumknabbernd unablässig mit einer aufsaugend opferbereiten Leidenschaft auf ein neben ihr liegendes Blatt Papier starrte, wie sie Pinselio nie, nicht einmal in den ersten Wochen ihrer gemeinsamen erfüllten Liebe, hatte beobachten oder gar spüren dürfen. Auf diese Weise ließ Cantoria, selbstversunken in ihre Gedankenwelt, alle, Pinselios Gesprächsbereitschaft verdeutlichenden, Gesten ungenutzt, so dass Pinselio sich schon kurz nach dem für ihn so wenig erquicklichen Abendbrot enttäuscht und schrecklich abgewiesen fühlend ins Bett begab. Eingehüllt in, wie ihm schien, traurig-bleiches Laken hoffte Pinselio noch eine ganze Weile auf das Kommen Cantorias. Dann schlief er nachdenklich ein.

Mit kaum zügelbarer innerer Freude war Cantoria inzwischen unter Zuhilfenahme der Abzähltechnik Pinselios klar geworden, dass die Grundseite G eines Kirchenfensters genau so viele Punkte enthält, wie die durch Paarbildung aus ihr hervorgegangene Menge 2.G Im ersten Schritt hatte Cantoria dazu festgestellt, dass die Gleichmächtigkeit der Mengen G und

2G zur Möglichkeit der Zerlegung von G in „G-viele“ zu G gleichmächtige paarweise disjunkte Teilmengen äquivalent ist. Dann schrieb Cantoria die Menge G, die Abzähltechnik

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Pinselios benutzend, in der Form { }1, 2,..., ,.., ,...,P P P P Pω η κ auf, was bedeutete, dass κ die Mächtigkeit von G repräsentierte. Die weitere Vorgehensweise Cantorias war rekursiv. Denn, wie sie es Pinselio bereits an Hand der Menge der Brüche demonstriert hatte, lässt sich die Menge :Sω = { }1, 2,..., ,...,...P P Pn der mit den (natürlichen) Zahlen durchgezählten Punkte

von G in vieleω − paarweise disjunkte Teilmengen { }1 1 1 11 2: , ,..., ,...,... , nT P P Pω = ... ,

{ }1 2: , ,..., ,...,... , ... ,m m m mnT P P Pω = zerlegen, die alle ω -viele Elemente enthalten, wobei der

jeweils obere Index diese Teilmengen durchnummeriert. Der in den nächsten Schritten folgenden Argumentation Cantorias lag der Gedanke zu Grunde, dass es die von Pinselio entwickelte Abzähltechnik einer Menge erlaubt, die für die Menge der (natürlichen) Zahlen wohlbekannten Zuordnungen 1 2, 2 4, ..., 2n n→ → → und 1 1, 2 3,→ → ..., 2 1,n n→ − die die Menge der (natürlichen) Zahlen in zwei disjunkte zur Menge der (natürlichen) Zahlen gleichmächtige Teilmengen zerlegen, auf beliebige unendliche Mengen auszudehnen. Wegen des Satzes von Schröderita und Bernsteinora folgt dann nämlich für zwei Mengen, die die Kardinalitäten ρ und λ ρ≤ haben und von denen die größere unendlich viele Elemente enthält, die so seltsam anmutende Additionsformel „ λ ρ ρ λ ρ+ = + = “, was allerdings lediglich bedeutet, dass die nicht notwendig disjunkte Vereinigung zweier Mengen, von denen die größere unendliche viele Elemente enthält, genau so viele Elemente enthält, wie die größere dieser beiden Mengen. Die Schritte von Sω nach

{ }2 : 1,..., ,..., ,... ,S P P P kω ω ω= + von 2Sω nach 3 :Sω = { }1,..., ,..., 2,..., 2 ,...P P P P kω ω ω + und sämtliche für natürliche Zahlen m vorzunehmenden Schritte von mSω nach ( )1mSω + verlaufen methodisch, so begeisterte sich Cantoria, alle in völlig analoger Weise. Daher führte Cantoria lediglich den Schritt von Sω nach 2Sω explizit durch. Weil das von Cantoria entdeckte Additionstheorem für Kardinalzahlen die Gleichmächtigkeit von ω und 2ω impliziert, konnte Cantoria zur Ausführung dieses Schritts die Menge 2 :Sω = { }, 1,..., ,...P P P kω ω ω+ +

in 2ω -viele paarweise disjunkte 2 elementigeω − Teilmengen 12 :Uω =

{ }1 1 11, ,..., ,... ,kP P Pω ω ω+ + { }2 1: , ,..., ,... ,m m m m

kU P P Pω ω ω ω+ += und 2 :U ωω = { }1 1,..., , ,..., ,... ,kP P P Pω ω ω ω

ω ω ω+ +

{ }2 1 1: ,..., , ,..., ,...m m m m mkU P P P Pω ω ω ω ω

ω ω ω ω+ + + + +

+ += zerlegen, um anschließend für alle Zahlen m ω<

sowie ω neue Teilmengen 2 2: ,m m mT T Uω ω ω= ∪ 2 2:= T Uω ωω ω 2 2und :m mT Uω ω

ω ω+ += zu definieren, die

Cantoria die gewünschte Partition von 2Sω in 2 vieleω − paarweise disjunkte 2ω − elementige Teilmengen lieferten. Durch Bildung der Mengen 2 :kTω =

2 ... ..., ... k k knT T Tω ω ω∪ ∪ ∪ ∪ 2 :kT ω

ω+ = 2 3 ... ..., ...k k k

nT T Tω ω ωω ω ω

+ + +∪ ∪ ∪ ∪ 2 :m kT ωω

+ =

( ) ( ) ( )1 2 ... ..., ...m k m k m kk k k nT T Tω ω ω

ω ω ω+ + ++ + +∪ ∪ ∪ ∪ gelang Cantoria nach zumindest theoretischer

Durchführung aller Schritte von mSω nach ( )1mSω + , die Gott selbstverständlich wahrhaft

ausführen könnte, auch die Partition von 2Sω in 2 vieleω − Teilmengen von 2Sω , die alle 2 vieleω − Elemente enthalten, und durch 2

1 :Tω = { }1 1 11 ,..., ,..., ,... ,nP P Pω ω ... 2 :mT ω

ω =

{ }1 ,..., ,..., ,... ,...m m mnP P Pω ω ω

ω ω gegeben sind. Wegen der Additionsformel für Kardinalzahlen lässt sich, wie Cantoria aufgeregt erkannte, der bisher beschriebene rekursive Prozess einsichtigerweise so lange fortsetzen bis eine Kardinalzahl 'κ erreicht ist, für die die Menge { }1, 2,..., ,..., ,...P P P Pω η aller Punkte, deren Nummer kleiner als 'κ ist, die gleiche Mächtigkeit wie G hat, was wegen der von Pinselio geforderten Minimalität der Abzählung einer Menge, sofort die Gleichheit von 'κ und κ , also die Übereinstimmung von

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{ }1, 2, ..., , .., , ..., P P P P Pω η κ mit { }'1, 2,..., ,.., ,...,P P P P Pω η κ nach sich zieht. Für

Cantoria war die Gleichmächtigkeit von G und 2,G welche Cantoria mit Hilfe des Satzes von Schröderita und Bernsteinora für zwei Kardinalzahlen ,λ ρ≤ von denen zumindest ρ unendlich ist, noch zum Analogon zur Additionsformel, nämlich zur Multiplikationsformel „ λ ρ ρ λ ρ⋅ = ⋅ = “ erweiterte, somit klar.

Erschauern, mitschwingende, wirkliche Teilhaftigkeit an der göttlichen Harmonie war Cantoria in diesem, von ihr so gerne festgehaltenem, Moment. Sehr dankbar und sehr friedlich-gerührt, voll innerer Offenheit ging sie zu Bett, wo sie den schon schlafenden Pinselio, der von alle dem gar nichts mehr bemerkte, voller mitteilend-gebender Zärtlichkeit liebevoll streichelte, um dann noch lange mit allem ausgesöhnt träumend zu sinnieren, bis auch sie endlich einschlief.

Am nächsten Morgen begegnete Cantoria dem begreiflichen Brummen Pinselios mit großer ausgeglichener Fröhlichkeit und einem ebenso üppigen wie leckeren Frühstück, so dass sich Pinselio, nachdem er Cantoria seine Entwürfe für Bebilderungen der Domfenster noch ausführlich erklärt hatte, herzlichst von Cantoria verabschiedete und singend-zuver-sichtlich, die Entwürfe lässig unter seinen linken Arm geklemmt, in sein Atelier begab.

Nachdem Pinselio das Haus verlassen hatte, reinigte Cantoria sorgfältig die gesamte Wohnung und besuchte anschließend den Wochenmarkt, wo sie feinstes Linsengemüse und für Pinselio und sich je einen herrlich duftenden Babysteinbutt erstand. Nach Hause zurückgekehrt ging Cantoria dann zuerst daran, ihre gestrigen Entdeckungen sauber aufzuschreiben, um anschließend mit listiger Neugier weitere Gesetze der Kardinalzahl-arithmetik aufzuspüren, von denen nach Meinung Cantorias, das Potenzgesetz ( ) ,

ρλ λ ρτ τ ⋅= welches ganz analog wie im endlichen Fall verifiziert werden konnte, das interessanteste war. Dieses Mal jedoch erlangten die mathematischen Formen keine ausschließliche Macht über Cantoria. So konnte sich Pinselio abends über einen appetitlichen Salat mit kleinen Artischocken, einen im Kartoffelnetz gegarten Babysteinbutt auf zartem Linsengemüse und seinen Lieblingsdessert, einer soufflierten Schokoladentarte mit Mangoscheiben und leicht marmoriertem Schokoladeneis freuen, was er sich alles, begleitet von einem hellen, frischen aromatischen Weißwein aus Riomaggiore trefflich schmecken ließ. Dabei wurde Pinselio stetig zufriedener und redseliger, so dass er lange nicht bemerkte, dass Cantoria ihm, sich offenbar ganz ihrem Grübeln hingebend, gar nicht zuhörte. Schließlich doch irritiert durch dieses Verhalten Cantorias und deshalb grummelnd, sie treibe ihn aus dem Zimmer, zog sich Pinselio daher schon bald nach dem Abendessen in sein Bett zurück, wo er, die Besessenheit Cantorias verwünschend und vom Wein ermüdet, sehr schnell einschlief. Unterdessen hatte Cantoria bereits erkannt, dass die Gleichmächtigkeit von 2 und G G , die Cantoria später mit

2G G∼ abkürzte, die Äquivalenz 2 3G G∼ implizierte, also den Schluss „ 2 2 3G G G G⇒∼ ∼ “ erlaubte, welchen Cantoria für beliebiges n sofort zur Implikation „ 1 1 2n n n nG G G G+ + +

⇒∼ ∼ “ verallgemeinerte. Induktiv weiterschließend gewann Cantoria so die Kette „ 2 3G G G� � �

1 2... ... ...n n nG G G+ +� � � � � “ von Äquivalenzen, die

insbesondere für alle (natürlichen) Zahlen n die Gleichmächtigkeit von G und nG bedeutete. Zur Vereinfachung kürzte Cantoria, wie schon früher, die Mächtigkeit von G durch κ ab. Dann betrachtete sie die Menge T aller Treppenbilder T, deren Stufen parallel zur Grundseite eines Kirchenfensters verlaufen und nannte deren Mächtigkeit τ . Wegen ihrer vortägigen Identifizierung der n-stufigen Treppenbilder über G mit Tupeln des 2 1nG − , wobei lediglich für n = 1 jedes „Tupel“ auch wirklich einem Treppenbild entspricht, ermittelte Cantoria die Ungleichungen und Gleichung 3 5 2 1... ... ... .nκ τ κ κ κ κ ω κ−≤ ≤ + + + + + + = ⋅ Mit Hilfe des Satzes von Schröderita und Bernsteinora implizierte die Ungleichung ω κ< jetzt wegen der von Cantoria in der vergangenen Nacht entdeckten Multiplikationsformel für Kardinalzahlen die Gleichheit von τ und .κ Erfreut und erstaunt stellte Cantoria somit fest, dass es genau so

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9viele Punkte auf der Grundseite G eines Kirchenfensters gibt, wie Treppenbilder über dieser Grundseite. Die Möglichkeit, ein Linienbild L bis zur optischen Untrennbarkeit durch Treppenbilder annähern zu können, präzisierte Cantoria durch die Forderung, dass es zu jeder (natürlichen) Zahl n ein Treppenbild nT geben muss, so dass für jeden Punkt P auf der Grundseite eines Kirchenfensters der senkrecht über P gemessene Abstand zwischen L und

nT den Wert 1n

nicht überschreitet. Also, so schloss Cantoria, kann es nicht mehr

Linienbilder geben als Teilmengen S von ,T die höchstens so viele Elemente enthalten wie (natürliche) Zahlen existieren. Da κ der Mächtigkeit von T entspricht und sich jeder Teilmenge F von G, die höchstens ω -viele Punkte enthält, ein Tupel ( )1, 2,..., ,...P P Pn zuordnen lässt, deren Komponenten die Punkte aus F sind, kann es, wie Cantoria nun folgerte, höchstens ωκ -viele Linienbilder über der Grundseite eines Kirchenfensters geben. Zur näheren Bestimmung von ωκ schien es Cantoria angezeigt zu sein, zunächst κ zu berechnen. Dazu markierte sie einen zufällig ausgewählten Punkt P auf G, wählte dann eine beliebige (natürliche) Zahl 1n > aus und zerlegte anschließend G in n äquidistante Teile, die sie von links nach rechts mit den Zahlen 1,...,n durchnummerierte. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass P Randpunkt zweier nebeneinander liegender Teile war. In diesem Fall erhielt P die Nummer desjenigen Teils der Zerlegung, dessen linker Randpunkt P war. Wenn P allerdings, was Cantoria wesentlich wahrscheinlicher erschien, kein Randpunkt nebeneinander liegender Teile war, musste P innerhalb irgendeines eindeutig bestimmten Teils der Zerlegung liegen, den Cantoria nun, um den P eingrenzenden Prozess fortzusetzen, ebenfalls in n äquidistante Teile zerlegte, die sie wiederum von links nach rechts mit den Zahlen 1,...,n durchzählte. Dieser Prozess der immer feiner werdenden Zerlegungen und damit immer genaueren Eingrenzung von P musste, was Cantoria sofort einleuchtete, so lange fortgesetzt werden bis P entweder Randpunkt eines Teils einer Zerlegung oder aber sowohl kleinste obere Schranke aller sich P von links nach rechts nähernden als auch kleinste untere Schranke aller sich P von rechts nach links nähernden Randpunkte von Teilen entsprechender Zerlegungen war, was spätestens nach ω λ κ≤ ≤ Schritten erreicht worden sein musste.

P konnte also eindeutig mit einem Tupel ( )1 2 1, ,..., , ,...m mk k k k + , das λ -viele Komponenten hat, identifiziert werden, wobei für alle Zahlen m die Zahl mk entweder die Nummer desjenigen Teils der m-ten Zerlegung angibt, dessen linker Randpunkt P ist, was, so vereinbarte Cantoria, 1 2 ... ... 1m m m tk k k+ + += = = = = nach sich ziehen sollte, oder aber die Nummer des-jenigen Teils der m-ten Zerlegung innerhalb dessen P zu finden ist. Die Möglichkeit ω λ κ< ≤ ließ Cantoria zu, weil sie nicht ausschließen wollte, dass es sehr sehr nahe bei P Punkte geben kann, die von P unendlich kleinen Abstand haben. Damit hatte Cantoria die Ungleichung { }1,...,n λκ ≤ bewiesen. Für eine (natürliche) Zahl t n> entspricht andererseits, so schloss Cantoria analog zu obiger Konstruktion weiter, jedes Tupel ( ) { }1 2 1, ,..., , ,... 1,..., ,m mk k k k t λ

+ ∈ dessen Komponenten lediglich aus (natürlichen) Zahlen der

Menge { }1,...,n bestehen, umkehrbar eindeutig einem Punkt P auf G, womit Cantoria auch

die Ungleichung { }1,...,n λ κ≤ verifiziert hatte. Zusammenfassend, freute sich Cantoria nun,

1 2 3 P

P

1 2 3

1. Zerlegung

2. Zerlegung, u.s.w.

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impliziert also der Satz von Schröderita und Bernsteinora die Äquivalenz { }1,..., .n λκ ∼ So schrieb Cantoria mit bereits ahnendem und deshalb rasant klopfendem Herzen die Kette

{ } { }( )1,..., 1,...,n nωλ λωκ κ≤∼ ∼ ∼ { } { }1,..., 1,...,n nλ ω λ κ⋅

∼ ∼ von Äquivalenzen und

Ungleichungen nieder, woraus Cantoria, wiederum wegen des Satzes von Schröderita und Bernsteinora, auf die Gleichheit von κ und ωκ schloss. Weil es mindestens κ und nicht mehr als ωκ -verschiedene Linienbilder über G gab, folgerte Cantoria daraus, dass die Anzahl der Linienbilder über G mit der Anzahl der Punkte auf G übereinstimmt. Die gleiche Schlussweise war selbstverständlich auch für die Anzahl der Linienbilder über einer der Längsseiten eines Kirchenfensters möglich, so dass wegen der Additionsformel für Kardinalzahlen klar war, dass es überhaupt nur κ -viele Linienbilder geben konnte, auf die mögliche Bebilderungen eines Kirchenfensters prinzipiell reduzierbar waren. Durch Überlagerung endlich vieler Linienbilder konnten dann nicht mehr als

2 ... ... ...nκ κ κ ω κ κ∪ ∪ ∪ ∪ ∪ = ⋅ = -viele verschiedene noch farbig auszumalende Bebil-derungen für Kirchenfenster entstehen. Erfüllt von offener und sehr großzügiger Laune nahm Cantoria nun noch an, dass es ω -viele verschiedene Farben gibt. Da für das Ausmalen eines Kirchenfensters höchstens endlich viele Farben, deren Platzierung auf einem Bild genau festgelegt ist, zur Verfügung stehen und die Anzahl der endlichen Tupel von Elementen ausω , welche betrachtet werden müssen, um der festen Platzierung der Farben auf dem Bild Rechnung zu tragen, mit 2 ... ... ...nω ω ω ω ω ω∪ ∪ ∪ ∪ ∪ = ⋅ = übereinstimmt, kann, so folgerte Cantoria schließlich mit Hilfe einer unmittelbar einleuchtenden und daher von Cantoria nicht näher ausgeführten kombinatorischen Überlegung, auch die Anzahl der farbig ausgemalten Kirchenfenster κ ω κ⋅ = nicht übersteigen. Mit zitternden Händen und vor Stolz und Eigenliebe übergroßer Schrift schrieb Cantoria nun noch den, für sie später so verhängnisvoll werden sollenden, Satz auf, dass die Anzahl der möglichen Bebilderungen eines Kirchenfensters mit der Anzahl der Punkte auf der Grundseite eines Kirchenfensters übereinstimmt. Dann ging sie zu Bett. Aber sie fand keinen Schlaf. Immer wieder überdachte Cantoria voller Selbstzweifel ihre Argumentation. Sich dabei durch jeden noch so leisen Atemzug Pinselios schrecklich gestört fühlend, drehte sie sich in ihrem Bett hin und her, stand schließlich auf, hastete in die Küche, blätterte dort in ihren Aufzeichnungen und trottete scheinbar beruhigt zurück ins Bett, wo sich jedoch Selbstzweifel, gestört fühlen und Unruhe so lange wiederholten bis sie endlich wieder aufstand, in die Küche eilte und noch einmal ihre Aufzeichnungen durchsah, um danach wieder etwas beruhigter zurück ins Bett zu gehen. Wie oft sich der, auch Pinselio nicht verborgen gebliebene, Sechsschritt von Selbstzweifel, gestört fühlen, Unruhe, in die Küche rennen, Kontrolle und zurück ins Bett gehen in dieser Nacht noch wiederholte, konnte Cantoria am nächsten Morgen nicht mehr erinnern. Dennoch, irgendwann schlief sie, voller Unruhe Kardinalzahlen zählend, addierend und multiplizierend und dabei ständig das fragend-enttäuschte, fordernd-wütende, fremdend-abweisende Gesicht Pinselios vor Augen habend, doch noch ein. Geweckt wurde sie am nächsten Morgen durch ein von Pinselio, der sich gerade einige Schnitten Brot schmieren wollte, verursachtes Geräusch aus der Küche. Vollständig eingenommen von der Sorge, Pinselio könnte ihre nächtlichen Aufzeichnungen in Unordnung gebracht oder gar weggeworfen haben, stürmte Cantoria alsbald in die Küche, wo sie, nachdem sie ihre nächtlichst schriftlich festgehaltenen Gedanken nicht sofort wiederzuentdecken vermochte, Pinselio sogleich Vorhaltungen wegen seines rücksichtslosen Umgangs mit ihren Unterlagen machte. Pinselio, der sich schuldlos angegriffen fühlte, da er die von Cantoria beschriebenen Blätter, peinlichst darauf bedacht, ihre Reihenfolge nicht zu verändern, lediglich auf die Ablage des Küchenschranks gelegt hatte, reagierte entsprechend beleidigt, riss daher Cantorias nächtliche Schreibereien vom Küchenschrank und knallte sie ihr, wobei er ihr lautstark ihre ketzerische, Gottes Zählfähig-keiten anzweifelnde, ihre damit zusammenhängende Ungerechtigkeit und Vernachlässigung des Haushalts (nicht einmal das Geschirr des gestrigen Abendessens hatte Cantoria

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11weggeräumt) sowie ihre ihn ignorierende Art mahnend vorhielt, zornig vor die Füße. Dann - noch ehe Cantoria, die heilfroh war ihre Ergebnisse so schnell und wie ihr bereits ein flüchtiger Blick zeigte, auch unbeschädigt und komplett zurück erhalten zu haben, die versöhnende Bitte um Entschuldigung hervorbringen konnte, - verließ Pinselio polternd das Haus, um möglichst bald in das ihn umschmeichelnde, jeden Ärger bunt ertränkende Meer von Pinsel, Farbe und Lack einzutauchen. Cantoria, die jetzt schon zu sehr in ihre Mächtigkeitsprobleme verliebt war, verstand Pinselios Reaktion nicht. Sie räumte viel zu nachlässig die Wohnung auf, kochte aus Lauch, Schmelzkäse und Rindergehacktem eine würzige und kräftige Suppe, von der sie aber nur flüchtig kostete, raffte danach sogleich ihre Aufzeichnungen zusammen und nahm sie, müde wie sie war, mit ins Schlafzimmer, wo sie sie, entspannt im Bett liegend, noch einmal durchzugehen gedachte. Aber Cantoria schlief sofort tief und fest ein und erwachte erst wieder, als es für sie bereits höchste Zeit war, sich für das heutige Kaffeekränzchen bei ihren Freundinnen Schröderita und Bernsteinora, zu dem auch ihre zurückhaltende und von allen nur als die Riemänn’sche bezeichnete Kusine sowie die etwas korpulente und sehr gutmütige Weierstrassa eingeladen waren, herauszuputzen. Eiligst kleidete Cantoria sich an, beschrieb noch schnell einen Zettel für Pinselio und verließ dann, ihre nächtlichen Notizen mitnehmend, sofort das Haus.

Nachdem Cantoria dem Kaffeekränzchen ihre Resultate über die Anzahl möglicher Bebil-derungen eines Kirchenfensters ausführlich vorgestellt hatte, meldete zunächst Weierstrassa im Hinblick auf die Darstellung von κ in der Form { }1,..., ,n λ wobei λ durchaus größer als ω sein durfte, dreierlei Bedenken an. Zum ersten bemerkte sie, dass Cantoria bei ihrem allgemeinem Ansatz keinesfalls ausschließen könne, dass es auf G verschiedene Punkte

' und P P gibt, zu denen unterschiedlich viele Punkte auf G existieren, die unendlich nahe bei P bzw. 'P liegen. Selbstverständlich könnten diese Unterschiedlichkeiten, so betonte Weier-strassa zum zweiten, für die Punkte auf G und die Punkte auf den Längsseiten eines Kirchen-fensters differieren, so dass Cantorias Argumentation für die Gleichmächtigkeit von Grund-und Längsseiten eines Kirchenfensters dann nicht mehr stichhaltig sei. Zum dritten gelte, mokierte sich Weierstrassa schließlich, dass überall auf der Welt Dinge, die keinerlei Abstand von einander haben oder aber nicht die geringsten Unterschiede aufweisen, bereits identisch sein müssen, was insbesondere auch für Gott selbst zuträfe, da andernfalls seine Einzigartigkeit durch von ihm nicht unterscheidbare Götter in ketzerischer Weise in Frage gestellt wäre. Daraus folgt, so fasste Weierstrassa ihre Kritikpunkte abschließend zusammen, dass G für jede beliebige (natürliche) Zahl 1n > genau { }1,...,n ωκ ∼ Punkte enthält, was im übrigen Cantorias Hauptergebnis über die Anzahl möglicher Bebilderungen für Kirchenfenster nicht verändern würde.

Cantoria wollte sich soeben artig bei Weierstrassa für ihre nachdenkenswerte Kritik be-danken, als sich die schüchterne und sonst eher selten etwas sagende Riemänn’sche sichtlich erregt mit hektisch rotfleckigem Gesicht zu Wort meldete. Mit nur mühsam vorwärts stol-pernder Stimme beanstandete sie, wobei sie ständig fischartig nach Luft schnappte, dass Cantorias Theorem über die Anzahl möglicher Bebilderungen für Kirchenfenster fast ausschließlich (sie meine sogar ausschließlich) durch die besondere Maltechnik Pinselios begründet sei. Fasst man nämlich den Begriff des (ausmalbaren) Linienbildes, den Cantoria der Ausmaltechnik Pinselios entsprechend etwas gewagt auf Treppenbilder zurückgeführt hatte, allgemeiner und präziser, dann wären wahrscheinlich wesentlich mehr Bebilderungen für Kirchenfenster möglich, als es durch Cantorias These ausgedrückt würde.

Wenn die Riemänn’sche so etwas behaupte, unterbrach jetzt die doch enttäuschte und ge-kränkte, ausschließlich auf anerkennenden Applaus gehofft habende, Cantoria den Gedanken-fluss ihrer Kusine, dann müsse sie ihr auch auf der Stelle einen allgemeineren und sehr präzisen Begriff des ausmalbaren Linienbildes liefern.

Cantorias Kusine, die über die Bissigkeit, mit der Cantoria ihre Forderung vorgetragen hatte, sichtlich erschrak (ihre roten Flecken wichen einer allgemeinen Blässe), nickte mit dem

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12Kopf und beeilte sich umgehend, Cantorias Wunsch nachzukommen. Ein Linienbild über G (über einer der Längsseiten gilt eine analoge Definition), so präzisierte die Riemänn’sche zaghaft, sei eine durchgehende oder beliebig oft unterbrochene von Längsseite zu Längsseite verlaufende Linie, die jede Parallele zu den Längsseiten, die über irgend einem Punkt P auf G errichtet wurde, genau einmal schneidet, wobei dieser Schnittpunkt durchaus mit P überein-stimmen darf. Für jedes Treppenbild im Sinne Cantorias, dessen sämtliche Stufen unterhalb eines vorgegebenen Linienbildes L über G liegen, ist dann die Summe der Flächeninhalte der durch die einzelnen Stufen gegebenen Rechtecke über G, eine untere Ausmalung von L. Stellt man nun das Kirchenfenster auf den Kopf, dann wird die obere Kante K des Kirchenfensters zur Grundseite, was uns erlaubt, L auch als Linienbild über K anzusehen. Für ein Treppenbild über K, dessen Stufen, wenn K als Grundseite angesehen wird, unterhalb von L liegen, was damit äquivalent ist, dass sie sich von G aus gesehen oberhalb von L befinden, nannte die Riemänn’sche darüber hinaus die Summe der Flächeninhalte der durch die einzelnen Stufen gegebenen Rechtecke über K eine obere Ausmalung von L.

Als Cantorias Kusine nach diesen Erklärungen ausschließlich in ungläubige, erstaunte und fühlbar anerkennende Augen sah, verlor sie ihre bisherige Unsicherheit und erörterte voller Selbstbewusstsein, dass die Addition einer oberen Ausmalung von L zu einer unteren Ausmalung von L niemals einen größeren Wert als den des Flächeninhalts F des gesamten Kirchenfensters ergeben könne. Daher bezeichne sie ein Linienbild über G als ausmalbar, wenn zu jeder noch so großen (natürlichen) Zahl n stets sowohl eine untere Ausmalung von L

als auch eine obere Ausmalung von L existieren, deren Summe größer als 1Fn

− ist.

Bereits während der letzten Worte ihrer Kusine rutschte Cantoria nervös auf ihrem Stuhl hin und her und fiel schließlich ihrer Kusine, vielleicht weil sie das nagende Gefühl einer Niederlage abwehren wollte, stürmisch ins Wort, in dem sie bestimmend feststellte, dass es sinnvoller wäre, eine untere Ausmalung von L als Untersumme von L zu bezeichnen und den um eine obere Ausmalung von L verminderten Flächeninhalt des Kirchenfensters als Ober-summe von L. Eine Obersumme von L wäre dann nämlich in Analogie zu einer Untersumme von L die Summe aller Rechtecke über G, die durch ein Treppenbild, dessen Stufen alle oberhalb von L liegen, gegeben sind, womit dann folgte, dass ein Linienbild genau dann ausmalbar ist, wenn zu jeder (natürlichen) Zahl n sowohl eine Obersumme von L als auch

eine Untersumme von L existieren, deren Differenz kleiner als 1n

ist. Ihre Definition des

ausmalbaren Linienbildes sei zwar äquivalent zur entsprechenden Definition ihrer Kusine, so zischelte Cantoria siegen wollend, aber dennoch besser, weil sie unabhängig von F und damit unabhängig von irgendeinem speziell betrachteten Kirchenfenster wäre. Die Riemänn’sche, die Cantoria diesen kleinen Sieg von Herzen gönnte, weil er gleichzeitig Cantorias Anerken-nung ihrer Definition eines ausmalbaren Linienbildes bedeutete, ergänzte noch, dass ihr neuer

L

obere Ausmalung von L

untere Ausmalung von L

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13exakter Begriff eines ausmalbaren Linienbildes selbstverständlich den entsprechenden von Cantoria entwickelten unschärferen Begriff einschlösse und darüber hinaus die darauf aufbauende, von Cantoria begründete, Konzeption der Bebilderung eines Kirchenfensters in keinster Weise verändern würde. Allerdings glaube sie, fügte Cantorias Kusine eifrig hinzu, dass ihr Begriff eines ausmalbaren Linienbildes die Existenz von κκ ausmalbaren Linienbildern und damit auch von κκ möglichen Bebilderungen für Kirchenfenster impliziert. Dann, noch ehe Cantoria protestieren konnte, erklärte die Riemänn’sche, dass sie zumindest den Nachweis für die (echte) Ungleichung κκ κ< erbringen könne. Hierzu stelle sie vorab fest, dass jeder Punkt Q auf einem Linienbild L über G durch das Fällen des Lots von Q auf G einerseits und durch das Fällen des Lots von Q auf die linke Längsseite eines Kirchenfensters andererseits in zwei Komponenten P und 'P zerlegt werden könne, was wegen der Gleichmächtigkeit von G mit der linken Längsseite des Kirchenfensters erlaube, Q eindeutig mit einem Paar ( )' 2,P P G∈ zu identifizieren. Da jedes Punktepaar ( )',P P eines

Linienbildes L über G der P-ten Komponente eines entsprechenden Tupels aus κκ entspricht, leuchte darüber hinaus auch sofort ein, dass κκ mit der Menge aller (nicht notwendig ausmalbaren) Linienbilder über G gleichgesetzt werden könne. Wenn man jetzt im Gegensatz zur zu zeigenden Ungleichung die Ungleichung κκ κ≤ unterstellt, so müsste eine Zuordnung z existieren, so dass es zu jedem Linienbild L über G einen Punkt P auf G gibt, dem L eindeutig zugeordnet ist, wobei letzteres kurz durch die Gleichung ( )z P L= ausgedrückt werden kann. Wählt man daher zu jedem Punkt P auf G einen festen von P verschiedenen Punkt 'P auf G aus, dann existiert ein unmögliches Linienbild uL über G, welches zum einen durch die Bedingung, dass ( ),P P auf uL liegt, wenn ( ),P P nicht zu ( )z P gehört und zum

anderen durch die Bedingung, dass sich ( )',P P auf uL befindet, wenn ( ),P P auf ( )z P liegt, definiert ist. Die Stimme der Kusine Cantorias erhöhte sich deutlich, als sie nun noch aufgeregt zu bedenken gab, dass es einen Punkt S auf G geben müsste, für den ( ) uz S L= gilt, was aber völlig unmöglich sei, da, wegen ihrer erstgenannten Bedingung, für S ansonsten die Absurdität, dass ( ),S S auf uL liegt, wenn ( ),S S nicht auf ( ) uz S L= liegt, gelte. Bis auf Cantoria spendeten alle Beifall, nachdem die Riemänn’sche schließlich zufrieden resümiert hatte, dass damit die Ungleichung κκ κ< bewiesen wäre.

Inzwischen war Pinselio längst nach Hause zurückgekehrt, hatte den von Cantoria be-schriebenen Zettel vorgefunden und sich die, ihm von Cantoria bereitgestellte, Lauch-Käse-suppe aufgewärmt. Nachdenklich-sorgend lauschte er in die Stille des Hauses, vernahm aber nur das Plätschern der Suppe, die ihm jedes Mal, wenn er den gefüllten Löffel zum Mund führte, zurück in die Schüssel tropfte, und war sehr sehr traurig. Die so schludrig auf-geräumte, ungelüftete und daher muffig riechende Wohnung, das ungemachte Bett und die sich noch überall auf dem Boden verteilt befindenden Fetzen zerrissenen Papiers bezeugten ihm überdeutlich, dass mit Cantoria etwas nicht stimmen konnte, dass sie – und bei diesem Gedanken erschauerte Pinselio – von irgendeiner fixen Idee, einem befremdenden Gedanken oder gar einem irren Wahn besessen war. Pinselio erinnerte sich der hartnäckigen gottes-lästerlichen Zweifel Cantorias an der Allmacht Gottes, bangte gänsehäutig um das Heil ihrer Seele und beschloss endlich in der nahen Kapelle für Cantoria zu beten.

Zutiefst mit Gott zwiesprechend hatte Pinselio gar nicht bemerkt, dass er bereits einige Minuten von seinem Bischof Bacchus Intolerantus beobachtet worden war, der sich, durch das verzweifelte Händeringen Pinselios und dessen klagende Seufzer neugierig geworden, in unmittelbarer Nähe zu Pinselio niedergekniet hatte. Als sich dann Pinselio nach fast ein-stündigem Gebet mit wehen Knien aufrichtete, begrüßte ihn Bacchus Intolerantus mit über-großer Freundlichkeit, lobte seine gottehrende Ausdauer im Gebet und fragte, wobei er, Vertrauen erwecken wollend, sanft Pinselios Hand drückte, ob die Gottgewissheit Pinselios

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14Pinselio nicht auch die Gewissheit, dass ihm genügend viele Motive für Bebilderungen der Domfenster einfallen würden, eingegeben hätte. Pinselio, gerührt von der, wie er glaubte, wohlmeinenden Frage seines Bischofs, konnte nun den tatsächlichen Grund seines Gebets nicht zurückhalten und antwortete wahrheitsgemäß, dass die Sorge um das Seelenheil Cantorias, die, alles andere zurückstellend, vermutlich von der zweifelnden Frage besessen sei, ob Gott wirklich jedes Ding gezählt haben könne, Anlass seines Gottes Gnade erflehenden Gebets war. Schon die bloße Erwähnung, einer an Gottes Fähigkeiten zweifeln könnenden Cantoria, weckte den Jagdinstinkt des Raubtiers in Bacchus Intolerantus. Mit zu Schlitzen verkleinerten Augen, hektischer und, weil er den vermehrten Speichelfluss in seinem Munde nicht beherrschen konnte, zischelnd-schnatzelnder Stimme betonte Bacchus Intolerantus gegenüber Pinselio, dass das Seelenheil Cantorias Aufgabe der Kirche sei, dass er, der Bischof Bacchus Intolerantus, verspreche, sich ganz persönlich der Seelenrettung Cantorias anzunehmen, und dass Pinselio seiner Frau Cantoria am ehesten durch eine prachtvolle, die Herrlichkeit Gottes lobpreisende, Bebilderung der Domfenster, die geeignet sei, einen zürnenden Gott gnädig zu stimmen, helfen könne. Gestärkt durch sein Gebet zu Gott und getröstet durch das Versprechen seines Bischofs kehrte Pinselio nach Hause zurück, wo er Cantoria, die seinen Gruß im Tone des sich belästigt Fühlens erwiderte, in der Küche, bereits wieder vor ihren Aufzeichnungen sitzend und offenbar höchst wütend und ungeduldig über etwas nachdenkend, vorfand. Voller Wehmut beobachtete Pinselio seine Frau, auf deren Gesicht das durch flackerndes Kerzenlicht verursachte Wechselspiel von Licht und Schatten beinahe dämonisch wirkte, bemerkte er ihre schweißnasse Stirn, ihr aufgelöstes, wirr fliegendes Haar, ihren unsteten nach innen gerichteten Blick, ihr ständiges Durchstreichen und Papier zerreißen, hörte er ihr unverständliches Murmeln, ihr quälendes Fragen und ihr, für ihn so gespenstisch hohl klingendes oftmals kurzes Auflachen, und aus tiefer, reiner Liebe zu Cantoria, wahrhaftem Mitleiden und klammer Hoffnung weinte Pinselio. Weinte Pinselio so lange, bis in ihm das gottvertrauende Gefühl, dass doch noch alles gut werden wird, die Oberhand gewann. Dann ging Pinselio zu Bett, wo er nach einem weiteren langen Gebet zu Gott, in der Gewissheit für Cantoria das Beste getan zu haben, sogleich voller Zuversicht einschlief.

Cantoria hingegen dachte nicht an das Heil ihrer Seele. Angetrieben von wildem Ehrgeiz waren all ihre Kraft und Energie sowie jede ihrer Emotionen ausschließlich auf die Verifikation oder Falsifikation der Vermutung ihrer Kusine, dass die Anzahl der in deren Sinne ausmalbaren Linienbilder über G und, folglich auch die Anzahl möglicher Bebil-derungen eines Kirchenfensters, tatsächlich κκ ist, konzentriert. Ohne erkennbaren Grund, vielleicht weil aller guten Dinge drei sind, zerlegte sie dazu sowohl die Grundseite als auch die linke Längsseite eines Kirchenfensters in drei äquidistante Teile, gab dem Schnittpunkt von Grundseite und linker Längsseite des Kirchenfensters die Nummer 1 und belegte an-schließend noch von links nach rechts bzw. unten nach oben weiterzählend die jeweils linken bzw. unteren Randpunkte der erhaltenen Zerlegungsteile mit den Nummern 2 und 3. Genau so, wie sie es in der gestrigen Nacht für eine beliebige (natürliche) Zahl 1n > getan hatte, identifizierte Cantoria jetzt die Punkte der Grundseite G des Kirchenfensters mit Tupeln ( )1 2 1, ,..., , ,...m mk k k k + , die aus λ -vielen Komponenten bestehen, deren Werte 1, 2 oder 3 sind. Dabei ließ sie, trotz der ihr noch in den Ohren nachklingenden Einwände Weierstrassas, der größeren Allgemeinheit wegen zu, dass λ die Anzahl der (natürlichen) Zahlen durchaus übersteigen durfte. Dann studierte Cantoria einfache Linienbilder TL über G, die dadurch ent-standen, dass sie eine beliebige Teilmenge T von G auswählte, um anschließend für jeden Punkt P G∈ zu postulieren, dass ( ), 2P zu TL gehört, wenn P in T liegt, und dass sich ( ),1P auf TL befindet, wenn P außerhalb von T zu suchen ist. Als Cantoria wenig später diejenige Menge T aller Punkte (Tupel) ( )1 2 1, ,..., , ,...m mk k k k G+ ∈ untersuchte, deren Komponenten von einer bestimmten, allerdings von Tupel zu Tupel verschieden sein könnenden, Stelle ab alle

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15den Wert 1 annehmen, registrierte sie kaum überrascht, dass das zugehörige Linienbild TL (im Sinne ihrer Kusine) nicht ausmalbar sein konnte, da jede Untersumme von TL den Wert 0 hat, während jede Obersumme von TL dem Flächeninhalt desjenigen Rechtecks entspricht, das durch G und der durch 2 verlaufenden Parallele zu G definiert ist. Wenn ich nun, so dachte Cantoria weiter, mit U das Komplement meiner speziell ausgewählten Menge T in G bezeichne, so enthält U mindestens { }2,3 λ κ∼ -viele Punkte, also, da es in U als Teilmenge von G auch nicht mehr als κ -viele Elemente geben kann, wegen des Satzes von Schröderita und Bernsteinora, genau κ -viele Punkte. Betrachte ich daher, sagte sich Cantoria, auf der linken Längsseite des Kirchenfensters irgendeinen echt zwischen 1 und 2 gelegenen Punkt S, dann existiert eine Bijektion „b“ zwischen den Punkten aus U und den sich zwischen 1 und S befindenden Punkten auf der linken Längsseite des Kirchenfensters. Demnach kann ich, war Cantoria jetzt klar, jeder Teilmenge V von U eindeutig ein, aus den bereits bekannten Gründen nicht ausmalbares Linienbild V

TL über G zuordnen, in dem ich fordere, dass ( ), 2P

zu VTL gehört, wenn P in T liegt, dass ( )( ),P b P dem Linienbild V

TL angehört, wenn P in V zu

finden ist, und dass in den dann noch verbleibenden Fällen ( ),1P ein Punkt von VTL sein soll.

Über G existieren also, freute sich Cantoria, wenigstens so viele nicht ausmalbare Linien-bilder über G wie es Teilmengen von κ gibt. Da aber 2Gκ κ κ= ⋅ � gilt und jedem Linien-bild über G eine Teilmenge des 2G entspricht, folgt daraus, so schloss Cantoria, dass nicht weniger als κκ -viele nicht ausmalbare Linienbilder über G existieren können. Andererseits gibt es aber überhaupt nur κκ -viele Linienbilder über G, so dass der Satz von Schröderita und Bernsteinora die Existenz von genau κκ -vielen nicht ausmalbaren Linienbildern über G impliziert.

Vielleicht, so vermutete Cantoria, die ihr Ausgangsproblem, den Nachweis der Existenz von κκ -vielen (im Sinne ihrer Kusine) ausmalbaren Linienbildern über G natürlich nicht ver-gessen hatte, lässt sich auch eine Teilmenge T von G finden, die κ -viele Elemente enthält und für die, was weniger kompliziert wäre als soeben, für jede Teilmenge U von T das zugehörige Linienbild UL ausmalbar ist. Aus diesem Grunde konzentrierte sich Cantoria auf die Menge T all derjenigen Punkte (Tupel) ( )1 2 1, ,..., , ,...m mk k k k G+ ∈ , deren Komponenten lediglich die Werte 1 und 3 annehmen. Da Cantoria G, wegen ihrer Überlegungen in der vergangenen Nacht, insbesondere mit der Menge aller Tupel ( )1 2 1, ,..., , ,...m mk k k k + , deren Komponenten die Werte 1 und 2 haben und für die von keiner Komponente ab ausschließlich die Zahl 2 auftreten darf, identifizieren konnte, folgerte Cantoria zunächst, dass die neuge-wählte Teilmenge T von G die geforderten κ -vielen Punkte enthält. Jede Untersumme von

TL belief sich auf 0. Gibt es aber auch, so fragte sich Cantoria, zu jeder (natürlichen) Zahl n

Obersummen von TL , deren Werte kleiner als 1n

sind? Zur Beantwortung dieser Frage

bezeichnete Cantoria den Abstand zwischen den Punkten 1 und 2 auf der linken Längsseite des Kirchenfensters mit A und die Länge von G, die evidenterweise auch den rechten Eck-punkt von G benennen darf, mit B. Dann teilte sie G, ähnlich wie in der gestrigen Nacht, nacheinander in 1 2 33 3 , 9 3 , 27=3 , ..., 3m= = äquidistante Teile ein und betrachtete an-schließend für eine beliebige (natürliche) Zahl m zugehörige Treppenbilder mT , welche durch folgende Bedingungen definiert sind: ( ), 2 ,mP T∈ wenn die ersten m Komponenten des P

entsprechenden Tupels ( )1 2 1, ,..., , ,...m mk k k k + nur aus den Zahlen 1 und 3 bestehen, und

( ),1 mP T∈ in allen dann noch nicht berücksichtigten Fällen. Ein Vergleich der Definition von

TL mit den Definitionen der Treppenbilder mT verdeutlichte Cantoria, dass zu jedem

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Treppenbild mT eine Obersumme mO von TL gehört. Mit Hilfe eines einfachen induktiven Arguments zeigte Cantoria weiter, dass jedes Treppenbild mT aus genau 2m Stufen der Höhe

A und der Länge 13m B⋅ besteht. Die übrigen Stufen von mT haben allesamt die Höhe 0, was

für Cantoria bedeutete, dass für mO die Gleichungen 1 223 3

mm

m mO A B A B = ⋅ ⋅ ⋅ = ⋅ ⋅

gelten.

Wählt man daher für eine fest vorgegebene (natürliche) Zahl n die (natürliche) Zahl m derart, dass m n A B> ⋅ ⋅ gilt, so folgt, wie Cantoria sofort nachrechnete, die gewünschte Un-

gleichung 1 .mOn

< TL war also ausmalbar. Da Cantoria diese für T durchgeführten

Reflexionen unmittelbar auf jede Teilmenge U von T übertragen konnte, hatte sie, wie Cantoria nicht ohne Stolz schriftlich fixierte, im Sinne ihrer Kusine die Existenz von κκ -vielen ausmalbaren Linienbilder über G und damit auch die Existenz von κκ -vielen möglichen Bebilderungen für Kirchenfenster bewiesen.

Freudig-zufrieden lag Cantoria wenig später, gestützt auf ihren rechten Ellenbogen, neben Pinselio im Bett. Im Mondlicht konnte sie seine kräftige, männliche Gestalt (Pinselio war ein leidenschaftlicher und sehr ausdauernder Schwimmer), sein friedliches, sanftmütiges und so offenes, liebes Gesicht recht gut erkennen, erhorchte sie sein ihr vertrautes zirpenartiges Schnarcheln, streichelte sie zärtlich sein Haar, küsste sie herzenswarm liebevoll seine Stirn und drehte sich endlich, beide Arme neben ihrem Körper über dem Bettlaken in Richtung auf ihre Beine hin ausstreckend, auf ihren Rücken. Morgen, dachte Cantoria, morgen werde ich Pinselio alles erklären, und Pinselio wird verstehen. Er wird mein letzttägliches uns vernachlässigendes Verhalten zustimmend, verzeihend entschuldigen, und lächeln. Schon ausgesöhnt durch diese Gedanken schlief Cantoria, todmüde wie sie war, unverzüglich ein.

Cantoria mochte vielleicht 2 bis 3 Stunden geschlafen haben, als Pinselio bereits wieder wach wurde. Leise und ganz behutsam lupfte er, um nur Cantoria nicht zu wecken, das Bett-laken, nahm seine Kleidung an sich und trippelte zehenspitzig in die Küche. Hier legte er Cantorias nächtliche Berechnungen sorgfältigst auf die Ablage des Küchenschranks, kleidete sich danach behelfsmäßig an und ging anschließend in den Garten, um sich, wie er es so gerne mochte, über dem Brunnen prustend und glucksend zu waschen. Dann kehrte er erfrischt und gar nicht übel gelaunt (ihm war als hätte das Wasser all seine vortäglich-abend-lichen Sorgen einfach weggespült) ins Haus zurück, bekleidete sich vollends, bereitete, dieses Mal ohne verärgertes Murren, sein Frühstück vor und lauschte, während er aß und trank, ins Schlafzimmer, ob sich Cantoria vielleicht doch schon rührte. Aber Pinselio vernahm nur Cantorias Schlaf, ihr gleichmäßiges ruhiges Ein- und Ausatmen und ihre Wohligkeit. Nach dem Frühstück kehrte es daher ins Schlafzimmer zurück, wiederentdeckte dort Cantorias mädchenhaften feingliedrigen Körper und dachte daran, wie unschuldig, wie zart, hilflos und beschützenswert sie doch ist, und, dass er sich noch heute ausführlich mit ihr aussprechen wolle. Panikartig überfiel ihn dabei die Angst, dass Bacchus Intolerantus seine gestern-abendlichen Sorgen um Cantorias Seele missverstanden oder gar, immer gleich das schlecht-hin Böse vermutend, überinterpretiert haben könnte. Sehr hastig rannte er deshalb in die Küche zurück, teilte Cantoria auf einem Zettel mit, dass alles gut werden würde und sie folglich keinerlei Sorgen zu haben brauche und verließ schließlich übereilig das Haus, um irgendwie noch Bacchus Intolerantus zu erreichen, bevor dieser im Hinblick auf Cantorias Seelenheil zu ganz falschen Schlussfolgerungen käme.

Das von Pinselio durch das Schließen der Haustür verursachte Geräusch weckte nun auch Cantoria. Sich nur flüchtig ihren Morgenmantel über ihre Schulter werfend, trottete sie noch sehr schlaftrunken in die Küche, entdeckte dort glücklicherweise sofort ihre letztnächtlichen Aufzeichnungen, nahm sie so vorsichtig und behutsam, als gelte es ihr Neugeborenes zu wiegen, vom Küchenschrank und breitete sie dann mit großer Eigenliebe vor sich auf dem

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17Küchentisch aus. Dabei fand sie den Zettel Pinselios, den sie jedoch, weil für sie unverständ-lich und auf Grund der Gewissheit, sich noch heute Abend mit Pinselio auszusprechen, nicht weiter beachtete. Ihre Papiere durchblätternd fiel ihr stattdessen auf, dass die von ihr in der vergangenen Nacht untersuchten Linienbilder über G ohne Ausnahme die impizite realitäts-ferne und ihr deshalb im Nachhinein sehr unsinnig erscheinende Forderung beinhalteten, aus-schließlich völlig flächenlose Strecken unterhalb eines Linienbildes ausmalen zu müssen. Deswegen, so dachte Cantoria, deswegen ist es im Grunde viel wirklichkeitsnäher, wenn man ein Linienbild L über G, das den von ihrer Kusine aufgestellten Bedingungen genügt, erst dann als ausmalbar bezeichnet, wenn zu jedem Punkt ( )',P P auf L und jeder (natürlichen)

Zahl n Punkte ''P und '''P auf der P mit 'P bzw. auf der 'P mit der oberen Kante K des Kirchenfensters verbindenden, parallel zur linken Längsseite des Kirchenfensters

verlaufenden, Strecke existieren, die von 'P einen kleineren Abstand als 1n

haben, und denen

Rechtecke ''PR bzw. '''PR zugeordnet werden können, für welche die P mit ''P bzw. die 'P mit K verbindende Strecke die rechte oder linke Längsseite darstellt, welche, falls 'P weder auf G noch auf K liegt, von 0 verschiedene Flächeninhalte ''PF bzw. '''PF haben und welche sich zudem vollständig unterhalb von L bzw. vollständig oberhalb von L befinden. Falls jedoch 'P zu G bzw. K gehören sollte, dann kann natürlich lediglich verlangt werden, dass

'''PF bzw. ''PF von 0 verschieden ist. Cantoria hatte kaum diese neuerliche Definition eines ausmalbaren Linienbildes über G aufgeschrieben, als ihr bereits, was ihrem Selbstbewusstsein sehr wohltat, auffiel, dass ihr realistischer Begriff eines ausmalbaren Linienbildes über G, der darüber hinaus auf obere und untere Ausmalungen bzw. Ober- und Untersummen verzichten konnte, zu ihrer ursprünglichen Definition eines Linienbildes, als eine durch Treppenbilder gleichmäßig approximierbare, von der linken nach der rechten Seite eines Kirchenfensters verlaufenden Linie, äquivalent sein musste. Als Cantoria sogleich den Beweis für diesen, wie ihr schien, interessanten Sachverhalt erbringen wollte, den sie dann noch heute Nachmittag der Riemänn’schen unter die Nase zu halten beabsichtigte, drangen türkrachend, polternd und rücksichtslos, mit Platz beanspruchenden breitbeinigen Schritten einige Soldaten des Bischofs in ihre Wohnung. Und, noch ehe Cantoria ihre so urplötzlich veränderte Situation überhaupt erfassen konnte, hatten die Soldaten sie bereits mit zur Routine gewordenen flinken Hand-griffen an schweres Eisen gekettet. Sämtliche schriftlichen Aufzeichnungen Cantorias, die sie finden konnten, mitnehmend, schleppten sie sie (ein mögliches Sichwehren Cantorias hatten sie durch einige gezielte Peitschenhiebe gar nicht erst zugelassen), nahezu unbekleidet, wie sie war, in den Kerker des Doms, wo man ihr ein baldiges Verhör in Gegenwart des Bischofs mehr androhte als versprach.

Inzwischen hatte der Bischof Bacchus Intolerantus der ihm zugetragen wordenen Bitte Pinselios um ein baldiges Gespräch zugestimmt und Pinselio, nachdem ihm soeben die schriftlichen Aufzeichnungen Cantorias gebracht worden waren, ausrichten lassen, wobei er bereits mit vor Neugier zitternden Händen in den Papieren Cantorias blätterte, dass er ihn nach der Erledigung einiger unaufschiebbar dringlicher Amtsgeschäfte unverzüglich auf-suchen werde. Dann bat er seine Dienerschaft peinlichst genau darauf zu achten, dass man ihn in den nächsten Stunden keinesfalls störe und vertiefte sich alsbald in die Lektüre der Auf-zeichnungen Cantorias. Sofort, und ohne das geringste Verständnis für Cantorias Ab-leitungen ihrer Theoreme, verspürte Bacchus Intolerantus in den Sätzen Cantorias die unmittelbare, bedrohende Gegenwart des Antichristen. Durch greuelhafte, hochstelzend da-herkommende, scheinbar gelehrte Schlussfolgerungen, die aber nichts anderes waren als Argheit, List und Täuschung Luzifers, wurde hier Gott nicht nur vorgeschrieben, wie viele Bebilderungen für Kirchenfenster er kennen oder bemalen könne und damit seine Allmächtig-keit und Freiheit (natürlich kann Gott so viele Bebilderungen für Kirchenfenster erdenken und erschaffen, wie es ausschließlich Ihm beliebt) in gotteslästerlichster Weise bezweifelt;

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18nein darüber hinaus hatte sich der Leibhaftige hier in Gottes ureigenstes Terrain, nämlich das der Unendlichkeit vorgewagt, in dem er dieses uns Ehrfurcht gebietende Attribut Gottes mit unglaublicher Dreistigkeit durch unzumutbare Ungleichungen wie κω κ κ< < sogar zu hierarchisieren trachtete, und dies alles in Gottes eigenem Haus, seinem Dom und den ihm zu Ehren zu bebildernden Domfenstern. Bacchus Intolerantus erschrak. Hier ging es nicht, wie es Pinselio Malmitlust in seiner gottvertrauenden Naivität geglaubt hatte, um irgendeine Allerweltsbesessenheit, die durch einen stinknormalen Exorzismus mit lockerer Geste hätte vertrieben werden können, hier handelte es sich um eine offene Rebellion gegen Gott und seine heilige christliche Kirche, hier hatte sich Ahriman mit grausamen Betrug des Leibes eines zarten, so zerbrechlich wirkenden und daher starkes Mitgefühl erregenden Weibes be-mächtigt, um in der Maske der Unschuld zum Generalangriff gegen Gott und seine Ge-meinde zu blasen. Aber, so lachte Bacchus Intolerantus bitter in sich hinein, der Engel mit todbringendem Schwert sollte sich getäuscht sehen, er hatte nämlich die Wachsamkeit des Bacchus Intolerantus unterschätzt, der, das walte Gott, mit ganzem Herzen entschlossen war, die revoltierende Teufelsbrut, von der Cantoria sicherlich nur ein Teil war, mit Kreuz und Schwert, Weihwasser und Feuer bis tief in ihre Höllenwurzeln hinunter, auszurotten. Verständliche Zornesröte im Gesicht läutete Bacchus Intolerantus nach seinem Sekretär, welcher ihm auf der Stelle Pinselio Malmitlust herbeischaffen sollte. Dieser träumende Künstler sollte wissen, mit wem er in den letzten Tagen sein Ehebett geteilt hatte.

Nachdem Pinselio Malmitlust seinen Bischof Bacchus Intolerantus eine Spur untertäniger als sonst begrüßt hatte, gab er ihm, erfüllt von wiedergefundener aufrichtiger, zärtlicher und teilhabend-verstehender Liebe zu Cantoria, sogleich zu bedenken, dass er sich in bezug auf Cantorias Besessenheit in seinen gestrigen, dem Bischof gegenüber vorgebrachten, Äußerungen wahrscheinlich, nein ganz sicher, geirrt habe. Daraufhin nickte Bacchus Intole-rantus wohlwollend mit seinem Kopf, was Pinselio, der überhaupt nicht mit dieser spontanen positiven Reaktion des Bischofs gerechnet hatte, sofort verstummen ließ, drückte herzlichst Pinselios Hand, wobei er ihm nach echter Männerart aufrichtig, geradeheraus und offen in die Augen sah und sagte, dass er seinen Freund Pinselio sehr gut verstehe, dass Cantoria in ihrer Unschuld vorspiegelnden zerbrechlichen Zartheit selbst ihn beinahe getäuscht hätte, und dass gegenüber dem sich Cantorias bemächtigt habenden schlechthinnigen Gottesgegner nur die radikalste Vorgehensweise angezeigt wäre, worauf er Pinselio, ständig wütender werdend, in allen Einzelheiten die ungeheuere Gottesfeindlichkeit in Cantorias Schriften auseinander-setzte. Als Bacchus Intolerantus während seiner Ausführungen, hochsensibel wie er nun ein-mal war, bemerkte, dass Pinselio Malmitlust, wohlmöglich wegen seiner recht harten und sehr direkt vorgetragenen Erörterungen, immer blasser wurde, ihm offenbar schwindelte und er sich sowohl rechts- als auch linkshändig in die Armlehnen seines Stuhls verkrampfte, mäßigte Bacchus Intolerantus seine Stimme etwas und gab Pinselio tröstend zu verstehen, dass er sich um auf ihn zukommende, leider nicht vermeidbare, Unkosten für Hexenstecher, Folter- und Henkersknechte, für Materialverschleiß von Streckbank, Daumen-und Bein-schrauben, Prügelbock, Schwitzkasten und Brandpfählen sowie Eisennägeln und Zangen oder je nach Bedarf auch anderen Instrumenten und Werkzeugen, für Gerichtsbarkeit, Scheiter-haufen, Pfahl, Feuer, Bestattung usw. keinerlei Sorgen machen müsse, da er, sein Freund der Bischof Bacchus Intolerantus, durchaus bereit wäre, alle anfallenden Auslagen großzügig mit Pinselios Honorar für die Bebilderungen der Domfenster zu verrechnen. Im übrigen könne er sich, wenn er sich nun wieder mit ganzer Kraft der künstlerischen, gottlobenden Gestaltung der Domfenster widme, der Dankbarkeit und des Trosts von Gott und Kirche gewiss sein. Damit entließ Bacchus Intolerantus den völlig verwirrten Pinselio.

Noch am Nachmittag dieses Tages suchte Bacchus Intolerantus Cantoria auf. Er teilte ihr mit, dass ein freimütiges, umfassendes Geständnis ihrerseits für sie Gnade oder wenigstens Milde bedeuten könne, also vielleicht Freiheit, zumindest aber den schnellen reinigenden Tod auf dem Scheiterhaufen. Doch Cantoria, die noch die Kraft ihres Geistes über die Schwäche ihres Körpers stellte (die wenigen ihr erteilten Peitschenhiebe hatten diesen Glauben nicht er-

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19schüttern können), wollte kein bischöfliches Entgegenkommen für den Preis einer Lüge er-kaufen. Daher entgegnete sie Bacchus Intolerantus, dass sie mit Hilfe ihrer Berechnungen lediglich Gott habe besser verstehen wollen, dass sie stets eine gute Christin gewesen sei, und dass sie sich ohne jede Schuld fühle. Da lächelte Bacchus Intolerantus, der nur zu gut die boshaft arglistigen Schliche seines Gegners kannte, winkte kopfschüttelnd seine Diener-schaft herbei und verließ Cantoria wieder.

Bereits am frühen nächsten Morgen, nachdem sich in der Nacht zuvor nahezu alle Wärter an Cantoria, dieser schrecklich eingebildeten Schnepfe, vergangen, und sie beschimpft, bespuckt und geschlagen hatten, drangen weitere rohe Knechte in ihr Verlies und zerrten sie vor ein aus ihr wohlbekannten Herren zusammengesetztes Gericht, in dem Bacchus Intolerantus persönlich den Vorsitz führte, wo man ihr sogleich, sie dabei zu einem sie erleichternden, nichts auslassenden Geständnis auffordernd, die Instrumente zeigte, deren Einsatz bei weiterer Leugnung Cantorias unvermeidbar wäre. Da schrie Cantoria mit der Stimme des gehetzten, keinerlei Ausweg habenden, tief verzweifelten Menschen den Bischof an, dass nicht sie, sondern er der leibhaftige Satan sei, woraufhin sich die Herren des Gerichts zustimmendes Einvernehmen bekundende Blicke zuwarfen, wussten sie doch, dass Luzifer, dieser mächtige Verführer und ständige Falschmünzer, stets die Unwahrheit zur Wahrheit und die Wahrheit zur Unwahrheit umlog.

Ein kurzer Fingerzeig des Bischofs genügte und die nun notwendig gewordene peinliche Befragung Cantorias begann. Hierbei lernte Cantoria Schmerzen kennen, die all ihre Sinne, ihren sie nach und nach verlassenden Verstand, ihr ganzes bisheriges Leben ausschließlich auf einzelne Stellen ihres Körpers konzentrierte; und Cantoria gestand, gestand in einem Umfange, welcher die Gerichtsherren erbleichen ließ, so dass sie als Cantorias Kaffee-kränzchen bereits verloren war, die peinliche Befragung abbrachen, um sie am nächsten Morgen mit frischem, von Gott gnädig gewährtem, Mut fortzusetzen.

Bacchus Intolerantus aber kehrte in seine Residenz zurück, wo er sich alsbald eine dreipfündige Hammelkeule und einen soliden Tropfen des frischen Castello di Amao ein-verleibte. Während des Essens und Trinkens blätterte er, von verhängnisvoller Neugier ge-trieben, noch einmal in den Aufzeichnungen Cantorias, und Bacchus Intolerantus begann zu begreifen, was er zwar spontan, instinktiv verdrängend, unterband, in dem er, sich an sein Kruzifix klammernd, seinem Sekretär befahl, die Schriften Cantorias unverzüglich zu ver-brennen, was ihn aber trotzdem, einmal anflugsweise nachgedacht habend, sicherlich die Kardinalswürde und vielleicht sogar die Tiara gekostet hat.

In der nachfolgenden Nacht, in der Pinselio, der zwischenzeitlich schon unzählige Male vergeblich in der bischöflichen Kanzlei vorgesprochen hatte, vor Angst, Trauer und Sorge um Cantoria wiederum nicht schlafen konnte, verstarb Cantoria, nachdem sie, wie schon in der vorhergehenden Nacht, wieder und wieder von den Kerkerknechten, deren diesbezügliches Verhalten, um sie durch das Gefühl der Machtteilhabe in ständiger hündischer Ergebenheit zu halten, vom bischöflichen Büro durchaus, wenn auch augenverschließend und zähne-knirschend, geduldet wurde, missbraucht, geschlagen und getreten worden war.

Um diesen Tod Cantorias gegenüber Pinselio, dessen Schaffenskraft und Arbeitsmut Bacchus Intolerantus seinem visionärem Domprojekt zuliebe auf jeden Fall erhalten wollte, zu vertuschen, ließ er Cantorias Leichnam für den nächsten Nachmittag in weiße Gewänder hüllen, ihr Gesicht engelhaft zurecht modellieren und anschließend neben Bernsteinora, Schröderita, Weierstrassa und ihrer Kusine an den Pfahl inmitten eines so hoch aufgerichteten Scheiterhaufens binden, dass der zerknickte, geschundene und gequälte Körper Cantorias nicht zu erkennen war. Als guter Freund unterrichtete Bacchus Intolerantus währenddessen Pinselio persönlich von der bevorstehenden Verbrennung Cantorias und versicherte ihm mit tränenschwerer Stimme, dass Gott in seiner Gnade der durch Feuer endgültig gereinigten Seele Cantorias glücklichen Einzug ins Paradies gewähren würde. Pinselio, dessen Furcht und innere Zerrissenheit in den vergangenen beiden Nächten unerträglich geworden war, nahm diese Mitteilungen seines Bischofs mit Erleichterung auf; und als er dann, das sich auch im

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20Feuer nicht verzerrende, engelhaft-sanfte Gesicht Cantorias betrachtete, da bebte sein Herz vor Dankbarkeit, Ergriffenheit und Liebe.

Als sich Cantoria wieder ihrer selbst bewusst wurde, saß sie sehr bequem in einem großzügig gediegen eingerichteten Büro in einem Sessel aus feinstem Hirschleder, der einer, wohl für Besucher bestimmten, größeren Sitzgruppe angehörte. Eine junge, sehr attraktive Dame, die sich Cantoria gegenüber als Kiki vorstellte, bot ihr allerlei Erfrischungen an, die Cantoria allerdings dankend ablehnte, und bat sie, die Verspätung Herrn Luzifers, der Cantoria jedoch sogleich zur Verfügung stünde, zu entschuldigen. Herr Luzifer, der tatsäch-lich wenige Minuten später erschien, erwies sich als ein elegant gekleideter, recht gut aus-sehender und nicht unsympathisch wirkender Mann mittleren Alters, der Cantoria freundlich begrüßte und sie mit charmant lässiger Geste aufforderte, doch Platz zu behalten. Dann lobte Herr Luzifer Cantorias kirchenfenstrige Ergebnisse, die ihm Kiki soeben vorgelegt hatte, als durchaus anerkennenswerte sportlich-intellektuelle Leistung, die in ihrer Realitätsferne leider aber ohne jede Praxisrelevanz sei. Cantoria werde doch einsehen, so erörterte Herr Luzifer weiter, dass es nicht darauf ankäme, mögliche Bebilderungen zu zählen, sondern sie zu schaffen, dass zur Verwirklichung von Fortschritt, Humanität und Wohlstand weitblickende, arbeitsübereifrige Menschen mit dem Willen zur Tat, welche die Welt nicht bloß verstehen und erklären sondern voranbringen und verbessern wollen, wie z.B. ein Richelieu, ein Mazarin, ein Louvois, ein Vauban oder ein Colbert, vonnöten seien, und dass sich wirklich voranbringende Verbesserungen nur durch visionäre, kreative Ideen realisieren ließen, deren Erfolg oder Scheitern sich immer in der Praxis und niemals in der Theorie erwiese. Darüber hinaus könne Cantoria wohl verstehen, erklärte Herr Luzifer eindringlich, dass visionäre Ideen, deren Realisierung Menschen beträfe, konsequenterweise die Bereitschaft zur vollen Verantwortung für die betroffenen Menschen einschlösse. Seine Mitarbeiter und er, ereiferte sich Herr Luzifer nun, wären bereit zur Verantwortung für alle Menschen; und dass diese Bereitschaft von kleinwurmigen, machthungrigen Gegnern manchmal als Allmächtig-keitsanspruch seitens seiner Mitarbeiter und ihm ausgelegt würde, gehöre mit zu den Ungerechtigkeiten, denen seine Mitarbeiter und er permanent ausgesetzt seien. Für Cantoria, das unterstrichen ihre Aufzeichnungen bedauerlicherweise überdeutlich, wäre in seinem Team allerdings kein Platz. Im übrigen, fügte Herr Luzifer noch hinzu, wenn Cantoria etwa gedenke, sich jetzt an Gott zu wenden, so könne sie dies ruhig versuchen. Er seinerseits kenne jedoch keinen Gott, womit er seine Existenz selbstverständlich nicht leugnen wolle, gestände aber zu, dass er den Glauben an ihn, als einen ihm im Grunde überlegenen Gegner, zur Zeit noch nach Kräften fördere, weil sich dieser Glaube bisher im Rahmen von, zur Durchsetzung seiner Ideen, notwendigen Maßnahmen stets als äußerst nützlich erwiesen habe. Mit dem Verweis auf weitere unaufschiebbare Termine bedankte sich Herr Luzifer nach diesen Äußerungen über Gott bei Cantoria für das hochinteressante Gespräch und ließ Cantoria, die sich in ihrer Meinung bestätigt fühlte, dass die Logik der Phrase einen wichtigen Eckpfeiler der Macht darstellt, von Kiki hinausgeleiten.

Auf der Suche nach Gott irrte Cantoria noch einige Jahrhunderte durch die Himmels- und Weltgeschichte, bis sie endlich in Kastalien, dessen Hauptförderer sich als ein Herr Luzifer entpuppte, Aufnahme fand. Hier studierte Cantoria dann so erfolgreich Mathematik, dass sie sich bereits nach 5 bis 6 Jahren den wirklich tiefen Problemen ihres Faches zuwenden konnte.

Unterdessen war Bacchus Intolerantus ins politische – und daher karrieretötende – Abseits geraten. Bemüht, seine durch einmaliges flüchtiges Nachdenken entstandenen Zweifel vor Geistlich- und Weltlichkeit zu verbergen, hatte er nämlich bei der Verfolgung weiterer Satansmenschen einen derartigen, jeden politischen Instinkt, der ihn früher so auszeichnete, vermissen lassenden Übereifer entwickelt, dass die Kirche sich gezwungen sah, Bacchus In-tolerantus vollständig zu entmachten.

Es heißt, dass Bacchus Intolerantus diese Ungerechtigkeit niemals verkraften konnte, er deshalb der Trunksucht verfiel und sehr bald starb.

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21Pinselio Malmitlust hingegen konnte seine geliebte Frau Cantoria niemals vergessen.

Angesichts seines wütend verfolgenden Bischofs zweifelte er zudem bald an der Gottgefäl-ligkeit des Feldzuges des Bacchus Intolerantus gegen die Satansmenschheit. So war er außer-stande die Bebilderungen der Domfenster zu vollenden, fiel daher bei seinem Bischof in Ungnade und konnte sich seiner Verhaftung nur durch rechtzeitige Flucht nach Brandenburg entziehen, wo ihn der „große Kurfürst“ äußerst gnädig aufnahm. In Brandenburg jedoch ver-fiel Pinselio Malmitlust in tiefe Schwermut und malte nur noch Heidelandschaften, wobei er jedes Mal versucht war, die zu malenden Sandkörner durchzuzählen, da er ganz sicher war, Cantoria fragen zu hören, wie viele Sandkörner sich wohl in solch einer Heide befinden könnten? Und jedes Mal verbat sich Pinselio, zunächst sanftmütig, dann aber zunehmend ungehaltener, diese gotteslästerliche Frage Cantorias.

Der Dom aber, dessen Fenster niemals endgültig bebildert wurden, ist als der berühmte „Unvollendete Dom“ in die Geschichte der Baukunst eingegangen.