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Geschichte der DDR Ulrich Mählert

Geschichte der DDR - db-thueringen.de · 1945–1949: Der Weg in die Diktatur ... Jetzt, da die staatliche Teilung Deutschlands besiegelt schien, erwartete ... Bis in die Fünfzigerjahre

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Geschichteder

DDR

Ulrich Mählert

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Dr. Ulrich Mählert, geb. 1968, 1994 Promotion, bis 1998 wissenschaftlicher Angestellteram Arbeitsbereich IV des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung, UniversitätMannheim, 1998/99 Mitarbeiter des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, seit1999 wissenschaftlicher Referent bei der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Veröffentlichungen u. a.: Die Freie Deutsche Jugend 1945–1949. Von den „Antifaschisti-schen Jugendausschüssen“ zur SED-Massenorganisation: Die Erfassung der Jugend in derSowjetischen Besatzungszone. Paderborn 1995; (zus. mit Gerd-Rüdiger Stephan) BlaueHemden – Rote Fahnen. Die Geschichte der Freien Deutschen Jugend. Leverkusen 1996;Vademekum der DDR-Forschung. Leverkusen 1997; (seit 1996 Mithrsg.) Jahrbuch für Histo-rische Kommunismusforschung. Berlin 1993ff.

Herausgeber: Landeszentrale für politische Bildung ThüringenRegierungsstraße 7399084 Erfurtwww.lzt.thueringen.de3. Auflage 2005ISBN 3-931426-17-3

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3Inhalt1945–1949: Der Weg in die Diktatur................................................ 5Demokratischer Neuanfang 1945? ..................................................................... 8Einheitsdrang – Einheitszwang............................................................................ 11Der Weg in die Zweistaatlichkeit ....................................................................... 14Die Gründung des „Arbeiter-und-Bauern-Staates” .................................................... 17

Die DDR in den Fünfzigerjahren ............................................................ 19Klassenkampf „von oben” .................................................................................. 21Der 17. Juni 1953 erschüttert das politische System................................................ 25Der „Neue Kurs” .............................................................................................. 27Kurzes Tauwetter 1956 ..................................................................................... 30Ein letzter Schritt zum Sozialismus? ...................................................................... 32Die DDR am Abgrund ....................................................................................... 36

Die Sechzigerjahre: Konsolidierung im Schatten der Mauer............ 39„Wer nicht gegen uns ist, ist für uns“ .................................................................... 41

Die Siebzigerjahre: Die Ära Honecker ................................................ 45Die Absetzung Ulbrichts..................................................................................... 46Geliehener Wohlstand ...................................................................................... 49Deutsch-deutsche Annäherung............................................................................. 54Der „Fall Biermann” .......................................................................................... 56

Das letzte Jahrzehnt.................................................................................. 61SED-Staat und Kirche ........................................................................................ 63Deutsch-deutsche Beziehungen in den Achtzigerjahren ........................................... 64Perestroika? Nein Danke! Die SED zeigt sich reformunfähig ..................................... 67Die Opposition formiert sich .............................................................................. 68Die gelähmte SED ............................................................................................ 71Von der „Wende” zum Ende .............................................................................. 73Der Weg zur deutschen Einheit .......................................................................... 77

Weiterführende Literatur .................................................................................... 83

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1945–1949Der Weg in die

Diktatur

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6Für keinen der Parteiführer war es der ersteAufenthalt in Moskau. Die AltkommunistenWilhelm Pieck, Walter Ulbricht und FredOelßner hatten während der nationalsozia-listischen Diktatur viele Jahre im – wie es inder Propaganda hieß – „Vaterland allerWerktätigen” verbracht. Auch der einstigeSozialdemokrat Otto Grotewohl, der ge-meinsam mit Pieck der SED vorstand, warschon mehrfach in geheimer Mission imKreml gewesen. Und dennoch dürfte dieAnspannung der vier Funktionäre groß ge-wesen sein, als sie am 16. September1949 überstürzt nach Moskau flogen. AmVortag hatte der westdeutsche BundestagKonrad Adenauer zum Bundeskanzler ge-wählt. Jetzt, da die staatliche TeilungDeutschlands besiegelt schien, erwartetedie ostdeutsche Delegation endlich „grünesLicht” zur Gründung „ihres” Staates. Doch inMoskau angekommen, mussten die deut-schen Gäste – übrigens nicht zum erstenMal – erleben, dass sie wenig mehr alsBauern auf dem Schachbrett der StalinschenEuropapolitik waren. Nicht genug damit,dass der Generalissismus die Delegationüberhaupt nicht empfing, er ließ sie auch ta-gelang in der Regierungsdatsche Kunzewobei Moskau warten. Denn anders als für dieSED-Führung war die Oststaatsgründung fürStalin keineswegs ein Grund zur Freude.Schließlich war die sowjetische Deutsch-landpolitik seit Mitte der Vierzigerjahre dar-auf ausgerichtet, dauerhafte militärische Si-cherheit vor Deutschland zu erlangen, Re-parationslieferungen aus den westlichen In-dustrierevieren zu erhalten und zuverhindern, dass das deutsche Potentialganz oder überwiegend in die Hände derWestmächte fiel. Was die politische Ord-nung Deutschlands anging, zeigte sich dieSowjetunion durchaus realistisch. Das Mini-malziel war ein neutrales, der Sowjetunion

nicht feindlich gesonnenes Deutschland, miteiner bürgerlichen Demokratie, in der dieKommunisten an der Macht beteiligt seinmussten. Dies hätte die Voraussetzung dafürgeboten, um schließlich in absehbarer Zeitdoch noch das Maximalziel zu verwirk-lichen, das 1945 außerhalb der Reichweitewar: Die Installierung des eigenen Systemsin Deutschland.

Vier Jahre nach dem hart erkämpften Siegüber das „Dritte Reich” befand sich die So-wjetunion statt dessen in einem neuen –wenn auch noch kalten Krieg. Den Konfliktmit den einstigen Verbündeten hatte die ge-schwächte UdSSR nicht gewünscht, dessenEskalation jedoch wesentlich mitzuverant-worten. Mit der Weststaatsgründung imHerbst 1949 standen die sowjetischenDeutschlandpolitiker vor einem Scherben-haufen. Die Frontlinie des Kalten Kriegeszog sich mitten durch Deutschland und ließdas Gespenst eines neuerlichen Schlagab-tauschs mit dem alten Gegner wiederaufer-stehen, der diesmal – so die Angst – auf sei-ten der Atommacht Amerika ins Feld ziehenwürde. Angesichts dieser düsteren Perspek-tive verfolgten die Sowjets zwei wider-sprüchliche deutschlandpolitische Optio-nen. Einerseits hoffte der Kreml weiterhin,die Westmächte irgendwie doch noch dazuzu bringen, Deutschland als Pufferstaat zuneutralisieren. Andererseits schien es dieeigene militärische Sicherheit Ende der Vier-zigerjahre zu verlangen, zumindest den TeilDeutschlands zum Bollwerk gegen den We-sten auszubauen, dessen man 1945 hab-haft geworden war. Mit der bei Kriegsendegehegten Absicht, in der eigenen Besat-zungszone ein Modell für ganz Deutschlandzu etablieren, war die Sowjetunion 1949jedenfalls gründlich gescheitert. Ihre Besat-zungspolitik trug nicht nur zur Entstehung des

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7Kalten Krieges mit bei, sondern hatte die So-wjets auch bei der Mehrheit der Bevölke-rung in Ost- wie in Westdeutschland gründ-lich diskreditiert. Dabei waren es nicht ein-mal so sehr die seit Sommer 1945 unterdem Leitsatz der „antifaschistisch-demokra-tischen Umwälzung“ durchgeführten struktur-verändernden Maßnahmen in der ostdeut-schen Wirtschaft und Gesellschaft, die dengrößten Widerspruch hervorriefen. Dazuzählten die Bodenreform, die Enteignungenin der Industrie sowie Reformen im Bildungs-wesen, mochten sie auch später die Grund-lage für das kommunistische Herrschaftssys-tem bilden. Vielmehr war es der Besat-zungsalltag östlich der Elbe, die das dortpropagierte Modell beim größten Teil derBevölkerung frühzeitig in Verruf brachte: Dieerzwungene Vereinigung von KPD und SPDzur SED, deren Protektion durch die Besat-zungsmacht, die mit einer rücksichtslosenIndienstnahme der Partei für die eigenenInteressen einherging, die nicht enden wol-lenden Demontagen, der immer stärker wer-dende Druck auf die politische Opposition,die zahllosen Übergriffe der Besatzungs-macht, die Verhaftungsaktionen der sowje-tischen Geheimdienste, später die Berlin-Blockade und der zunehmende Gleich-schaltungsdruck in der Gesellschaft münde-ten schließlich 1948 in der offenenSowjetisierung von Politik, Wirtschaft undGesellschaft.

Der offensichtliche Widerspruch zwischendem politischen Wollen und dem poli-tischen Handeln der Sowjets hatte vielerleiUrsachen. Zum einen war Deutschland nurein – wenn auch wesentlicher – Schauplatzim Kalten Krieg, der die einstigen Verbünde-ten zu unerbittlichen Feinden werden ließ.Die Blockkonfrontation konnte Deutschlandnicht unberührt lassen. Zum anderen resul-

tierte der Widerspruch aus Fehleinschät-zungen und Fehlwahrnehmungen der sowje-tischen Besatzungsmacht. Moskau über-schätzte nicht nur den Stellenwert, den dieFrage der staatlichen Einheit im Bewusstseinder deutschen Bevölkerung hatte. Bis in dieFünfzigerjahre hinein glaubte der Kreml,dass die Aussicht auf die Wiedervereini-gung die westdeutsche Bevölkerung somanche politische Kröte schlucken ließe.Weiterhin machte man sich lange Zeit überdie Schlagkraft der westdeutschen Kommu-nisten und die Zugkraft der eigenen Ideolo-gie Illusionen. Beide – so war man fest über-zeugt – hätten sich in Westdeutschlandlediglich aufgrund der Repressionen derwestlichen Besatzungsmächte nicht entfaltenkönnen. So wurden die Verantwortlichen inMoskau zum Teil Opfer ihres eigenenWunschdenkens. Andererseits konnte dieBesatzungsmacht nicht verstehen, wieso diepolitische Realität in der SBZ vielen Men-schen als undemokratisch galt. Schließlichhatte man in dieser Hinsicht – gemessen ameigenen Staatswesen – in Ostdeutschlandgeradezu unvorstellbare Zugeständnisse ge-macht. Und offenbar liegt hierin ein Schlüs-sel zum Verständnis für die ostdeutscheNachkriegsentwicklung verborgen: Aufge-wachsen in einer Diktatur, sozialisiert zur Zeitdes politischen Terrors in der Sowjetunion derDreißigerjahre und von der Richtigkeit der ei-genen politischen Dogmen überzeugt, ver-folgten und beförderten die meisten Besat-zungsoffiziere – ob bewusst oder unbewusst– immer eine Politik, die dem eigenen Den-ken am nächsten kam. Darin wurden sie baldvon jenen Kräften in der SED bestärkt, die er-kannt hatten, dass eine Einigung der Sieger-mächte in der deutschen Frage beinahezwangsläufig mit dem eigenen Machtverlusteinhergehen würde. Spätestens seit demJahreswechsel 1947/48 galt für die SED-

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8Strategen ein Leitsatz, der auch im WestenDeutschlands die Politik bestimmen sollte:Lieber das halbe Deutschland ganz, alsdas ganze Deutschland halb. Dies darfjedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dassdie Weststaatsbildung in großer Über-einstimmung mit der betroffenen Bevölke-rung erfolgte. Im Osten war dies nicht derFall.

DemokratischerNeuanfang 1945?

Vier Jahre vor der Moskaureise der SED-De-legation im September 1949 war die skiz-zierte Entwicklung keineswegs vorhersehbargewesen. Als die deutsche Wehrmacht am8./9. Mai 1945 bedingungslos kapitu-lierte, half der Sieg der Anti-Hitler-Koalitionzunächst, die Spannungen zu verwischen,die aus den unterschiedlichen Gesellschafts-systemen des kapitalistischen Westens undder sozialistischen Sowjetunion erwachsensollten. Der Krieg hatte fast 55 MillionenMenschen das Leben gekostet. DurchEuropa zog sich eine Spur der Verwüstung.Deutschland glich einem Trümmerfeld.Sechs Millionen Deutsche waren an derFront, bei Luftangriffen, auf der Flucht oderin den Konzentrationslagern getötet wor-den. Die Zukunft war ungewiss. Das Landwar in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Inder Sowjetischen Besatzungszone (SBZ)nahm am 9. Juni 1945 die Sowjetische Mi-litäradministration in Deutschland (SMAD)ihre Arbeit auf.

Im Potsdamer Abkommen vom August 1945bekundeten die Siegermächte USA, Groß-britannien, Frankreich und Sowjetunionihre Absicht, die oberste Regierungsge-walt bei allen „Deutschland als ein gan-zes betreffenden Angelegenheiten“ gemein-sam auszuüben. Klare Aussagen zur staat-lichen Zukunft des Landes trafen sie indesnicht. Gesamtdeutsche Fragen waren Sa-che des Alliierten Kontrollrats. Doch dersollte bald vom zunehmenden Ost-West-Gegensatz gelähmt werden. Für die deut-sche Nachkriegsentwicklung erwies sichdeshalb der Grundsatz als bedeutsam, dassdie Ausübung der obersten Gewalt in denBesatzungszonen in den Händen derdortigen Oberbefehlshaber lag. Diesebegannen früh damit, ihr eigenes Systemauf den von ihnen besetzten Teil zu übertra-gen.

Zunächst schien ausgerechnet die sowje-tische Besatzungszone zum Motor eines de-mokratischen Neuanfangs in Deutschlandzu werden. Bereits fünf Wochen nach derKapitulation gestattete die SMAD mit ihremBefehl Nr. 2 vom 10. Juni die Gründungvon Parteien und Gewerkschaften in ihremHoheitsgebiet. Innerhalb weniger Wochenformierten sich die Kommunistische ParteiDeutschlands (KPD), die Sozialdemokrati-sche Partei Deutschlands (SPD), die Christ-lich-Demokratische Union (CDU) sowie dieLiberal-Demokratische Partei (LDP). Die Kom-munisten verzichteten in ihrem Gründungs-aufruf vom 11. Juni auf jegliche revolu-tionäre Rhetorik. Ohne den Begriff „Sozia-lismus“ überhaupt zu verwenden, fordertensie die „Vollendung“ der vom Bürgertum ge-tragenen Revolution von 1848. Sie bekann-ten sich zu „allen Rechten und Freiheiten fürdas Volk“ und traten für die „völlig ungehin-derte Entfaltung des freien Handels und der

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9privaten Unternehmerinitiative“ ein. Die Ein-führung des Sowjetsystems schloss die Par-tei zum damaligen Zeitpunkt ausdrücklichaus.

Anders als die taktierende KPD sprachensich die Sozialdemokraten in ihrem Grün-dungsdokument klar für „Demokratie in Staatund Gemeinde und Sozialismus in Wirt-schaft und Gesellschaft“ aus. Die CDUwurde zur Sammlungspartei des protestan-tisch-konservativen Lagers. Sie proklamierteeine christlich-soziale und demokratischePolitik und befürwortete die Verstaatlichungder Schlüsselindustrien sowie der Boden-schätze, ohne das Privateigentum jedochprinzipiell in Frage zu stellen. Die LDP

knüpfte an die liberalen parteipolitischenStrömungen Weimars an. Aufgrund ihrerablehnenden Haltung gegenüber einer so-zialistischen Politik fand sie schnell Rückhaltin der Bevölkerung. Mitte Juli bildeten dieParteien die „Einheitsfront der antifaschis-tisch-demokratischen Parteien“. Der Partei-enblock – von dem später die BezeichnungBlockparteien abgeleitet wurde – solltenach dem Prinzip der Einstimmigkeit, übereine gemeinsame Politik abstimmen. Ange-sichts der drängenden Gegenwartspro-bleme sowie der verhängnisvollen Zerstrit-tenheit der demokratischen Kräfte vor 1933,zu denen die KPD damals allerdings kaumgezählt werden konnte, erschien eine Zu-sammenarbeit vielen Menschen folgerichtig.

Blick auf Berlin, Mai 1947 (Foto: Bundesarchiv, S 75 799)

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Die Startbedingungen der Parteien warenvon Beginn an unterschiedlich. In den letz-ten Kriegstagen waren von der Sowjet-armee drei Gruppen deutscher Kommunis-ten nach Deutschland eingeflogen worden.Sie sollten die Besatzungsmacht bei derWiederingangsetzung der Verwaltung undVersorgung unterstützen. Die KPD-Partei-spitze und mit ihr Tausende deutsche Kom-munisten hatten im sowjetischen Exil aufihren Einsatz nach Kriegsende gewartet.Wolfgang Leonhard, das jüngste Mitgliedder „Gruppe Ulbricht“, berichtete später:„Wir sollten in Berlin die Bezirksverwaltung-en aufbauen und dazu die geeigneten Anti-

faschisten auswählen“. Dabei hatte die Di-rektive Walter Ulbrichts gegolten: „Es mussdemokratisch aussehen, aber wir müssenalles in der Hand halten.“ Auf diese Weisegelang es den Kommunisten, wichtigeSchlüsselstellungen innerhalb der Verwal-tung mit ihren Leuten zu besetzen. Hinzukam, daß die Besatzungsmacht dieKPD auch materiell – etwa mit Papier fürZeitungen und Flugblätter etc. – bevor-zugte.

Wichtig für das Verständnis der damaligenZeit ist der Umstand, dass die Erinnerung andas Versagen der bürgerlichen Mitte und

(Foto: Bundesarchiv, 32 584/3N)

Bodenreform in der sowjetischen Besatzungszone 1945

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11des Konservativismus vor 1933 europaweitzu einem Linksruck und zu einem starkenEinheitsdrang innerhalb der Arbeiterbewe-gung geführt hatte. Nicht zuletzt der Labour-Wahlsieg in Großbritannien mochte bei vie-len politisch interessierten Deutschen imSommer 1945 dazu geführt haben, dassihnen eine wie auch immer geartete sozia-listische Alternative für den WiederaufbauDeutschlands unausweichlich und richtig er-schien.

Innerhalb der Mitgliedschaft von SPD undKPD war der Drang im Sommer 1945 groß,die schmerzlich empfundene Spaltung derArbeiterbewegung zu überwinden. Viele er-klärten sich damit den Sieg der Nationalso-zialisten im Jahre 1933. Doch die KPD-Führung lehnte ein entsprechendes Angebotder SPD Ende Juni 1945 ab. Die aus demMoskauer Exil heimgekehrten Parteiführerwollten zunächst die eigene Partei wiederaufbauen und an der neuen Generallinieausrichten. Außerdem hofften sie, die So-zialdemokratie, die sie für diskreditierterachteten, beerben zu können. Man ver-einbarte jedoch eine enge Zusammenar-beit.

Im September ergriffen KPD und SPD unter-stützt von der SMAD die Initiative zur erstentiefgreifenden Umstrukturierung der Gesell-schaftsordnung: Durch eine Bodenreformwurden Großbauern, die über 100 haBoden besaßen sowie das Land von ehe-mals führenden Nationalsozialisten entschä-digungslos enteignet. Die Notwendigkeiteiner Bodenreform wurde durchaus auch in-nerhalb der bürgerlichen Parteien gesehen.Dort stieß jedoch das „wie“ auf heftige Kri-tik. Vor allem innerhalb der CDU forderteman eine Entschädigung. Auf Druck derSMAD mussten deshalb der CDU-Partei-

vorsitzende Andreas Hermes und sein Stell-vertreter Walter Schreiber ihre Ämter imDezember 1945 niederlegen. Ihre Nach-folge traten Jakob Kaiser und Ernst Lemmeran.

Im Oktober brachte man die Schulreformmit dem Ziel auf den Weg, alte Bildungs-privilegien zu überwinden. Nach einemVolksentscheid im Juni 1946 wurden inSachsen die bereits im Herbst 1945 vonder SMAD beschlagnahmten Betriebe von„Kriegs- und Naziverbrechern“ entschädi-gungslos enteignet. Unter der Losung „Ent-eignung der Kriegsverbrecher“ erfolgte bis1948 in der SBZ die Verstaatlichung vonfast 10.000 Unternehmen. All dies berei-tete den Boden für die spätere Planwirt-schaft.

Einheitsdrang –Einheitszwang

Im Herbst 1945 bahnte sich eine grund-legende Veränderung im Parteiensystem an.Seit September trat die KPD-Führung für einerasche Vereinigung der beiden Arbeiterpar-teien ein, die sie noch wenige Monate zu-vor brüsk abgelehnt hatte. Zwar war es denKommunisten in der Zwischenzeit gelungen,ihren Parteiapparat auszubauen, sie muss-ten jedoch feststellen, dass sie nicht überden erwarteten Rückhalt innerhalb der Be-völkerung verfügten. Zudem hatte die SPDmit zunehmendem Selbstbewusstsein einenpolitischen Führungsanspruch formuliert.

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12Die Sozialdemokraten reagierten uneinheit-lich auf die KPD-Initiative. Stand dieParteiführung um Grotewohl dem Einheits-drängen in den letzten Wochen des Jahres1945 immer ablehnender gegenüber, be-fürworteten zahlreiche Sozialdemokraten ander Basis sowie nicht wenige „Landesfürs-ten” ein Zusammengehen mit den Kommuni-sten. Hatten sie nicht Seite an Seite mit denkommunistischen Genossen gegen Hitlergekämpft und in den Konzentrationslagerngelitten? Das Bekenntnis der KPD zur De-mokratie schien frühere Gegensätze ver-wischt zu haben. Viele Sozialdemokratenglaubten, dass sie aufgrund ihrer zahlen-mäßigen Überlegenheit und ihrem Anseheninnerhalb der Bevölkerung in der gemein-

samen Partei den Ton angeben würden.Mitte Dezember 1945 war noch nichts ent-schieden. Immer häufiger gingen in der Ber-liner Parteizentrale Berichte ein, dass Ein-heitsgegner von der Besatzungsmacht unterDruck gesetzt und einige sogar verhaftetwurden. Kurt Schumacher, der damalsführende SPD-Politiker in den Westzonen,lehnte eine Verschmelzung der Parteien ka-tegorisch ab.

Wenige Tage vor dem ersten Friedensweih-nachtsfest gab die SPD-Führung dem massi-ven Druck von SMAD und KPD sowie ein-heitswilligen Parteiverbänden auf Bezirks-und Landesebene nach. Mit der These vom„besonderen deutschen“ und „demokrati-schen“ Weg zum Sozialismus war die KPDden Sozialdemokraten ideologisch entge-gengekommen. Nur in der ViermächtestadtBerlin gelang es, in der SPD eine Mitglie-derbefragung über die Verschmelzungdurchzusetzen. Dabei sprachen sich 82 Pro-zent der Teilnehmer gegen eine sofortigeVerschmelzung mit der KPD aus.

Am 21. und 22. April 1946 beschlossen507 Delegierte der KPD und 548 der SPDauf dem „Vereinigungsparteitag“ im BerlinerAdmirals-Palast die Gründung der Sozialisti-schen Einheitspartei Deutschlands, der SED.Noch schien der Weg der SED zur späterenstalinistischen Staatspartei nicht zwingendvorgezeichnet. Zentrale Funktionen warenin der neuen Partei mit ehemaligen Kommu-nisten und Sozialdemokraten paritätischbesetzt. In der Mitgliedschaft hatten die So-zialdemokraten sogar ein leichtes Überge-wicht. Doch dem einheitlichen Auftreten unddem von den Sowjets unterstützten Vor-machtanspruch der Kommunisten konntendie Sozialdemokraten in der gemeinsamenPartei bald nur noch wenig entgegensetzen.

KPD-Parteilokal im Bezirk Prenzlauer Berg (Berlin-Ost)(Foto: Bundesarchiv, H 27 971)

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13Während die Akteure auf der politischenBühne um den richtigen Weg stritten,machte sich im Alltag der Menschen endlichwieder ein Stück Normalität breit. Dieschlimmsten Versorgungsmängel wurdennach und nach überwunden, die Wahlenim Herbst 1946 als ein weiterer Schritt inRichtung Demokratie gedeutet. In Mecklen-burg, Thüringen und Sachsen errang dieSED gemeinsam mit den Stimmen der vonihr kontrollierten „Vereinigung der gegensei-tigen Bauernhilfe“ eine knappe Mehrheit inden Landesparlamenten. Dagegen erzieltenCDU und LDP in Brandenburg und Sachsen-Anhalt ein hauchdünnes Übergewicht. Dochdie Hoffnung, die Parteien würden im de-mokratischen Meinungsstreit auf ein einheit-liches, demokratisches Deutschland hinar-beiten, sollte sich als trügerisch erweisen.

Zwang und Repression gehörten seit Kriegs-ende zur politischen Realität, die in der Öf-fentlichkeit jedoch nicht diskutiert werdenkonnte. Unmittelbar nach Kriegsende hatte

die sowjetische Siegermacht in ihrer Besat-zungszone zehn sogenannte „Speziallager“errichtet, in denen nationalsozialistischeKriegsverbrecher und deren Handlanger in-terniert werden sollten. Inzwischen veröffent-lichte sowjetische Archivdokumente bele-gen, dass in den Lagern bis zu ihrer Auf-lösung im Jahre 1950 mehr als 120.000Deutsche einsaßen. Nach offiziellen Anga-ben verstarb dort jeder dritte Inhaftierte. DieVerhaftungen erfolgten zunehmend willkür-lich. Von den Internierten waren die wenig-sten NS-Verbrecher, da diese in der Regelabgeurteilt und in Gefängnisse in Deutsch-land oder in die Sowjetunion verbracht wur-den. So kam es, dass sich die Lagerzunächst mit zahlreichen Opfern von De-nunziationen und Jugendlichen unter Wer-wolfverdacht füllten. Mehr und mehr fandensich aber auch oppositionelle Sozial-demokraten, Anhänger der bürgerlichenParteien und sogar Kommunisten, die nichtbereit gewesen waren, sich der Parteilinieunterzuordnen, hinter Stacheldraht wieder.

Speziallager Buchenwald bei Weimar (Foto: Gedenkstätte Buchenwald)

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14Der Weg in dieZweistaatlichkeit

Auf den Außenministerkonferenzen in Mos-kau (März/April 1947) und London (No-vember/Dezember 1947) konnten sich dieSiegermächte nicht mehr auf eine gemein-same Deutschlandpolitik einigen. Die Wei-chen für eine Teilung Deutschlands wurdengestellt. In der Ostzone hatten die Bildungvon Zentralverwaltungen, die Vereinheitli-chung der Polizei etc. Voraussetzungen füreine Sonderentwicklung geschaffen. Ähnli-ches geschah in den Westzonen. Die Ameri-kaner riefen mit dem Marshall-Plan ein wirt-schaftliches Aufbauprogramm für Europa insLeben, von dem auch Westdeutschland profi-tieren konnte, und schlossen ihre Zone mit derbritischen zur Bizone zusammen. Deutsch-deutsche Einigungsbemühungen wie dieMünchener Ministerpräsidentenkonferenz imMai 1947 scheiterten. Angesichts der zuneh-menden Spannungen zwischen den einstigenVerbündeten begann die Sowjetunion 1947,die Formierung des Ostblocks voranzutrei-ben. 1948, als Titos Jugoslawien Stalin denGehorsam verweigerte, sollte der Sowjetisie-rungsdruck, dem sich die osteuropäischenStaaten ausgesetzt sahen, noch steigen.

Diese Entwicklungen spiegelten sich in derVerschärfung des politischen Klimas in derSBZ wider. Im Herbst 1947 rief die SED die„Volkskongressbewegung” ins Leben. Aus al-len Besatzungszonen sollten Delegierte zueinem „Deutschen Volkskongress” entsandtwerden, der die Position der Sowjets auf derLondoner Außenministerkonferenz propa-gandistisch zu unterstützen hatte. Nachdemdie Westmächte das allzuleicht durchschau-

bare Propagandaspektakel untersagten, be-schränkte sich die Kampagne auf die SBZ.Dort diente sie dazu, die CDU und die LDP,die bis dahin versucht hatten, eigene Poli-tikangebote zu entwickeln, dem einheitsso-zialistischen Kurs unterzuordnen. Die Frageder Beteiligung am „Volkskongress“ wurdezur Nagelprobe für die Bereitschaft, eine„antifaschistisch-demokratische“ Politik zuvertreten, wie es die SED für sich rekla-mierte. Als der CDU-Vorsitzende Jakob Kai-ser und sein Stellvertreter Ernst Lemmer dieTeilnahme ablehnten, wurden sie Mitte De-zember 1947 auf massiven Druck derSMAD ihrer Ämter enthoben.

Dies war der vorläufige Höhepunkt desTransformationsprozesses, den alle Parteienin der SBZ zwischen 1945 und 1952durchliefen und in dessen Verlauf die „Block-parteien“ CDU und LDP schließlich jeglicheEigenständigkeit verloren. Dazu trug insbe-sondere die von der SMAD initiierte undvon der SED organisierte Gründung der De-mokratischen Bauernpartei Deutschlands(DBD) und der National-DemokratischenPartei Deutschlands (NDPD) im Frühjahr1948 bei. Diese hätten im Falle einer Ver-weigerungshaltung von CDU und LDP ge-genüber der SED-Politik als „bürgerliche“Parteien den Anschein eines Parteienplura-lismus aufrecht erhalten. Anfang der Fünfzi-gerjahre erkannten alle Parteien denFührungsanspruch der SED auch formell inihrem Statut an. Gleiches galt für die von derSED kontrollierten „Massenorganisationen“.Dazu zählten u. a. der Freie Deutsche Ge-werkschaftsbund (FDGB), die Freie DeutscheJugend (FDJ) sowie der Demokratische Frau-enbund Deutschlands (DFD). Kennzeichnendfür diese Organisationen war, dass sie,1945/46 formal überparteilich gegründet,innerhalb weniger Jahre völlig den SED-Inte-

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(Foto: Bundesarchiv, Plakatsammlung)

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16ressen untergeordnet wurden und schließlichbis zum Ende der DDR als Transmissionsrie-men die Politik der SED in ihrer jeweiligenZielgruppe vermitteln sollten.

Aber auch die SED unterlag 1948/49einem Wandlungsprozess: Nach dem Vor-bild der KPdSU wurde sie zur stalinistischen„Partei neuen Typus“ umgeformt. Damit ein-her ging die Bekämpfung der in Teilen derParteimitgliedschaft noch vertretenen sozial-demokratischen Auffassungen sowie dieRücknahme der These vom „besonderendeutschen Weg“ zum Sozialismus.

Als sich die internationale Lage 1948 zu-spitzte, gewann der Kalte Krieg weiter anSchärfe und vertiefte den Riss, der sich quer

durch Deutschland zog. Eine getrennteWährungsreform zunächst in West-, dann inOstdeutschland beschleunigte die Auseinan-derentwicklung. Die westlichen Sieger-mächte wie auch die sowjetischen Besat-zungsorgane in Ostdeutschland bereiteten –mehr oder weniger offen – die Gründungzweier Separatstaaten vor, die in den je-weiligen Herrschaftsbereich eingebundenwerden sollten. Die Verkündigung des Bon-ner Grundgesetzes im Mai 1949, die Bun-destagswahlen im August und die WahlKonrad Adenauers zum ersten Bundeskanz-ler schufen eindeutige Fakten. Eine Verstän-digung zwischen den unterschiedlichen Sy-stemen schien zu diesem Zeitpunkt kaummehr möglich.

Moskau, Kreml (Foto: Bundesarchiv, 1987/0710/1)

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17Die Gründung des„Arbeiter-und-Bauern-Staates”

Vor dem Hintergrund dieser stürmischen Ent-wicklung übermittelte der sowjetische Staats-und Parteichef am 27. September 1949der in Moskau wartenden SED-Delegationseine Zustimmung zur DDR-Gründung. ZehnTage hatten Pieck, Grotewohl und Ulbrichtauf die erlösende Nachricht warten müssen.Sie eilten nach Berlin zurück. Jetzt ging allessehr schnell. Von der Dynamik der Ereig-nisse überrollt, ließen sich die Vorsitzendender Blockparteien CDU und LDP nicht nurdie Zustimmung zur DDR-Gründung abrin-gen, sondern auch zur Verschiebung derVolkskammerwahlen auf das Jahr 1950. Zu-gesicherte Minister- und Staatssekretärspos-ten erleichterten den widerstrebenden Politi-kern ihre Entscheidung.

Unter Ausschluß der Öffentlichkeit zeigtesich das wahre Demokratieverständnis derSED-Führung. Als der SED-Parteivorstand An-

fang Oktober zusammentrat, um die Grün-dungsvorbereitungen für den ersten „Arbei-ter-Bauern-Staat” abzusegnen, tönte der Par-teipropagandist Gerhart Eisler: „ ... wennwir eine Regierung gründen, geben wir sieniemals wieder auf, weder durch Wahlennoch andere Methoden”. „Das habeneinige noch nicht verstanden”, lautete Ul-brichts lapidarer Kommentar dazu.

Am 7. Oktober war es schließlich soweit:Der Volksrat, ein pseudoparlamentarischesGremium, das aus dem im Mai 1949 aufder Grundlage von Einheitslisten gewähltenIII. Volkskongress hervorgegangen war, er-klärte sich zur „Provisorischen Volkskam-mer“. Vier Tage später wählte das selbster-nannte Parlament Otto Grotewohl zum Mi-nisterpräsidenten und Wilhelm Pieck zumPräsidenten der Deutschen DemokratischenRepublik. Am Abend des 11. Oktoberließ der FDJ-Vorsitzende Erich Honecker200.000 FDJler mit Fackeln an der Staats-und Parteiführung vorbeidefilieren. Namensder „deutschen Jugend” gelobte der Sieben-unddreißigjährige der DDR „Treue, weil inihr die Selbstbestimmung des deutschenVolkes zum erstenmal im ganzen Umfanghergestellt sein wird”.

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Die DDRin den Fünfziger-

jahren

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20Das formal weiterbestehende Mehrparteien-system in der DDR konnte nicht darüberhinwegtäuschen, dass die SED, beauftragtund kontrolliert von ihrer sowjetischenSchutzmacht, zur allein bestimmenden Kraftin der DDR wurde. Die Strukturen in Gesell-schaft und Wirtschaft wurden immer mehrdem sowjetischen Modell angeglichen. DerIII. Parteitag der SED im Juli 1950 wählteWalter Ulbricht zum Generalsekretär. KurzeZeit später begann auf allen Ebenen eineweitreichende Parteisäuberung, der auchhohe Parteifunktionäre zum Opfer fielen. EinJahr nach Gründung der DDR hatte die SEDihre Position so weit gefestigt und die Bevöl-kerung eingeschüchtert, dass die „Wahlen“zur Volkskammer bei einer Beteiligung von98 Prozent 99,7 Prozent „Zustimmung“ fürdie Einheitsliste erbrachten. Mit der Auf-nahme der DDR in den Rat für GegenseitigeWirtschaftshilfe (RGW) im September1950 und dem Beginn des ersten Fünfjahr-plans im Januar 1951 wurde die Ostinte-gration der DDR vorangetrieben.

Und dennoch stand die Entwicklung in derDDR nach wie vor unter dem Vorbehalt einer– wenn auch immer unwahrscheinlicher er-scheinenden – Einigung der einstigen Alli-ierten. Stalin, der die Gründung der DDR imHerbst 1949 in einem Grußtelegramm als„Wendepunkt in der Geschichte Europas”bezeichnet hatte, da „die Existenz einesfriedliebenden demokratischen Deutschlandneben dem Bestehen der friedliebenden So-wjetunion die Möglichkeit neuer Kriege inEuropa” ausschließen würde, hatte seinedeutschlandpolitischen Ziele der Nach-kriegszeit noch nicht zu den Akten gelegt.Als zum Jahreswechsel 1951/52 die mi-litärische Integration der Bundesrepublik indie westliche Allianz vorbereitet wurde, lei-tete die Sowjetunion Mitte Februar 1952

eine neue deutschlandpolitische Initiativeein. Am 10. März forderte Moskau dieWestmächte zum wiederholten Male auf,die „schleunigste Bildung” einer gesamt-deutschen Regierung einzuleiten. Der alsStalin-Note in die Geschichte eingegan-gene Vorstoß sah ein neutralisiertes Deutsch-land mit eigenen Streitkräften in den Gren-zen von 1945 vor, aus dem sich die Sie-germächte ein Jahr nach Abschluss des Frie-densvertrages zurückziehen sollten. Dieablehnende Reaktion der Westmächte ver-deutlichte zwei Wochen später, dass dieWestintegration der Bundesrepublik nichtmehr aufzuhalten war. Vor diesem Hinter-grund verordnete Stalin den in Moskauweilenden SED-Führern Pieck, Grotewohlund Ulbricht Anfang April einen abruptenKurswechsel. Jetzt galt es, die Sicherheitsbe-lange der Sowjetunion am Status quo aus-zurichten. „Volksarmee schaffen – ohne Ge-schrei. Pazifistische Periode ist vorbei” und„Demarkationslinie gefährliche Grenze”, no-tierte sich Wilhelm Pieck nach den Ge-sprächen mit Stalin am 1. und am 7. April,der eine umfassende militärische Aufrüstungder DDR angeordnet hatte. Auch solltedie sozialistische Umgestaltung der Land-wirtschaft durch die „Schaffung von Pro-duktiv-Genossenschaften im Dorfe” voran-getrieben werden. Allerdings: „Niemandzwingen. Nicht schreien Kolchosen –Sozialismus. Tatsachen schaffen”, mahnteder sowjetische Parteichef, der die SED-Führer einige Jahre zuvor schon einmal mitden ungestümen „Teutonen” verglichenhatte. Dies hinderte ihn jedoch nicht daran,gleichzeitig eine härtere innenpolitischeGangart in der DDR zu verlangen: „Pro-zesse durchführen”, „kein Pazifismus” no-tierte sich Pieck und das Versprechen, „ErfülltEuch mit Kampfgeist, wir werden Euch hel-fen”.

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21Klassenkampf„von oben”

Im Juli 1952 war es schließlich soweit. Aufder II. SED-Parteikonferenz proklamierteWalter Ulbricht den „Aufbau des Sozia-lismus” in der DDR. Er rief den Teilnehmernder Konferenz zu: „Wir werden siegen,weil der große Stalin uns führt“. Die Dele-gierten erklärten den „Sturz der BonnerRegierung” zur Voraussetzung für die deut-sche Einheit. Etwaigen Widerspruch inder Gesellschaft wollte man mit einer „Ver-schärfung des Klassenkampfes” begegnen.Um den „feindlichen Widerstand zu bre-

chen und die feindlichen Agenten unschäd-lich zu machen”, forderte die SED ent-sprechend der sowjetischen Weisungendazu auf, „die Heimat und das Werk dessozialistischen Aufbaus durch die Organi-sierung bewaffneter Streitkräfte zu schüt-zen”. Die Abriegelung der innerdeutschenGrenze und die Auflösung der fünf Län-der zugunsten von 14 Verwaltungsbezirken– letzteres kam der zentralistischen SED-Politik entgegen – stellten weitere Etappenbei der Umformung der DDR nach sowje-tischem Vorbild dar. Darüber hinaus be-schloss die Parteikonferenz nicht nur dieGründung Landwirtschaftlicher Produktions-genossenschaften (LPG), sondern auch von„Produktionsgenossenschaften des Hand-werks”.

Margot Feist vor Jungen Pionieren 1952 (Foto: Bundesarchiv, 183/14852/138)

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Die Beschlüsse der II. Parteikonferenz hattendem über der SED schwebenden Damokles-schwert einer plötzlichen deutschlandpoliti-schen Übereinkunft Moskaus mit den West-mächten viel von seiner Bedrohung genom-men. Doch der Preis, den die Berliner Partei-und Staatsführung für die weitere Integrationihres Protektorats in den Ostblock zahlenmusste, war hoch. Die Kosten für den ost-deutschen Militärbeitrag zum sowjetischenSicherheitssystem und der damit einherge-hende forcierte Ausbau der Schwerindustriesollten den jungen Teilstaat binnen Jahresfristpolitisch und wirtschaftlich vor die Zerreiss-probe stellen.

Mittels der Steuer- und Abgabenschraubeversuchte die Parteiführung, nicht nur ihrenenormen Finanzbedarf aus dem Mittelstandzu pressen, sondern diesen auch in die Ge-nossenschaften zu drängen. Trotz der halb-herzigen Mahnung, „Überspitzungen” beider Kollektivierung der Landwirtschaft zuvermeiden, tobte im Herbst 1952 auf demLande der „Klassenkampf”. Wer von denGroß- und Mittelbauern das festgesetzte„Soll” unterschritt, sah sich rasch als „Schie-ber” oder „Spekulant” kriminalisiert. BisEnde Januar 1953 wurden gegen mehr als1.200 Bauern Strafverfahren angestrengt.Auch bei dem Versuch, das private Hand-

(Foto: Bundesarchiv, 183/14852/277)

IV. Parlament der Freien Deutschen Jugend in Leipzig. FDJlerinnen mit Kleinkalibergewehren ziehen durch dieStadt.

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werk zum Beitritt in die Produktionsgenos-senschaften zu bewegen, setzte die SEDmehr auf das Wirtschaftsstrafrecht als aufÜberzeugungsarbeit. Ab Oktober 1952sorgte das „Gesetz zum Schutz des Volks-eigentums” selbst bei kleinsten Diebstählenfür drakonische Strafen. Zwischen Juli 1952und Mai 1953 verdoppelte sich die Zahlder Gefängnisinsassen auf über 66.000.Doch der „Klassenkampf” der SED be-schränkte sich nicht allein auf den wirt-schaftlichen Bereich. Nachdem zum Jahres-wechsel 1952/53 Schauprozesse gegenFunktionäre der Blockparteien für Aufsehengesorgt hatten, ging die SED Anfang 1953

zum offenen Terror gegen die kirchliche Ju-gendarbeit über.

Seit Sommer 1952 war die SED-Politik zueinem kalten Krieg gegen die gesamte Be-völkerung eskaliert. Längst regte sich auch inder Arbeiterschaft der Unmut gegen die inihrem Namen ausgeübte Herrschaft. MitEinsparungen und Plädoyers zur Erhöhungder Arbeitsproduktivität allein ließen sich derzusätzliche Finanzbedarf ebensowenigdecken wie durch die immer drückendereSteuer- und Abgabelasten für den Mittel-stand. So setzte die SED-Führung in ihrerNot zunehmend auf Preissteigerungen,

(Foto: Bundesarchiv, 183/13469/4)

Grundsteinlegung für den Wohnungsbau in Ost-Berlin

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(Foto: Ullstein)

Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck, Otto Grotewohl (v. l.)

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25strich Subventionen und erhöhte die Ak-kordsätze. Gleichzeitig verschlechterte sichdie Versorgungslage stetig. In der Bevölke-rung gärte es.

Trotz des flächendeckenden Informationsap-parates der Partei und des 1950 gegründe-ten Ministeriums für Staatssicherheit ver-kannte die SED die Situation völlig. NochEnde Mai erhöhte sie die Arbeitsnormen inder Industrie und im Bauwesen. Es bedurfteder Anweisung der sowjetischen „Bruder-partei“, um den forcierten Aufbau des So-zialismus in der DDR zu stoppen. Obwohl inder Parteispitze der KPdSU nach Stalins Todim März 1953 ein Machtkampf entbranntwar, bewies man dort genügend Weitsicht,um den verhängnisvollen Charakter derSED-Politik zu erkennen. Als die Partei am9. Juni auf Anweisung der sowjetischen Be-satzungsmacht einen „Neuen Kurs“ verkün-dete und „eine Reihe von Fehlern“ einge-stand, ohne jedoch die Normenerhöhungzurückzunehmen, brachte sie das Fass zumÜberlaufen.

Der 17. Juni 1953erschüttert daspolitische System

Mit derlei halbherzigen Schritten ließ sichdie aufgebrachte Bevölkerung nicht mehrberuhigen. Am 16. Juni legten die Bauar-beiter in der Berliner Stalinallee ihre Arbeitnieder und zogen in einem Protestmarschdurch die Ostberliner Innenstadt. Wer nach

einem Auslöser für das große Ereignis unterdem sommerlichen Gewitterhimmel Berlinssucht, der findet ihn wahrscheinlich in jenerominösen ‘Dampferfahrt’, die in vielen Quel-len genannt, deren konkreter Ablauf jedocherst nach Öffnung der ostdeutschen Archiverekonstruiert werden konnte.

Am Samstag, dem 13. Juni, verwandeltesich ein geselliger Betriebsausflug von fünf-bis sechshundert Arbeitern und Angestelltender Baustelle des Krankenhauses Friedrichs-hain in der Gaststätte „Rübezahl“ am Müg-gelsee in eine hochpolitische Streikver-sammlung. Wie ein Lauffeuer verbreitetesich am Montag die Nachricht von demzwei Tage zuvor ausgerufenen Streik auf derKrankenhausbaustelle. Als Volkspolizistenam Morgen des 16. Juni das Krankenhausumstellten, legten auch die Bauarbeiter derStalinallee die Arbeit nieder. Ein Beteiligtererinnert sich: „Die Situation unserer Kollegenwurde kurz bekanntgegeben. Innerhalbganz kurzer Zeit kamen die Kollegen, in Ar-beitskleidung, so wie wir waren, in Holz-pantinen und nur mit Hemd usw. bekleidet,zusammen. Dann haben wir uns formiert zueinem Zug von etwa 300 bis 500 Leutenund sind auf der Straße zum Krankenhausmarschiert.“ In den folgenden Tagen kam esin rund 600 Städten und Gemeinden zuStreiks und Demonstrationen. Rasch gesell-ten sich zu den ökonomischen Forderungender Ruf nach Demokratie, Einheit und freienWahlen. Die Partei- und Staatsführung er-wies sich als ohnmächtig. Die sowjetischeBesatzungsmacht musste Panzer schickenund im ganzen Land den Ausnahmezustandverhängen, um die Lage wieder unter Kon-trolle zu bringen. Für die SED-Führung einSchock: „Es war doch ein Stoß in die Herz-gegend – mit welcher Liebe haben wir diePartei aufgebaut – zu erkennen, dass uns

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27Teile der Partei im Stich ließen, dass uns dieJugend im Stich ließ! Das tut doch weh. (...)Was ist denn mit der höchsten Instanz unse-rer Partei hier los? Wir sitzen da, als hättenwir uns in die Hosen gemacht.” Vier Tagenach dem Arbeiteraufstand am 17. Juni1953 fasste der damals 74jährige, einstigeSozialdemokrat Otto Buchwitz, der nurnoch repräsentative Funktionen innehatte,die Stimmung in der SED-Führung zusam-men. Die Statthalter Moskaus fürchteten dieRache des Volkes, aber auch die Abrech-nung der eigenen Parteibasis. Kein anderesEreignis in der Geschichte der DDR hat dievon der SED gehegte Mär vom Arbeiter-und Bauernstaat deutlicher entlarvt als dieRebellion der Arbeiter in jenen Junitagen.Der spontane und ohne Führung ausgebro-chene Widerstand konnte in den folgendenWochen zwar gebrochen werden, dochdauerten die Unruhen noch bis in den Julihinein an. In der Zeit nach dem 17. Juniwurden mehr als 10.000 Bürger festge-nommen. Mindestens fünfzig Menschen hat-ten ihr Leben verloren. Bis 1989 versuchtedie SED in der politischen Propaganda undGeschichtsschreibung, den Aufstand als vonaußen gelenkte „faschistische Provokation“zu denunzieren. Doch schon im Dezember1953 musste der Leiter der Staatssicherheit,Ernst Wollweber, vor der Parteiführung ein-räumen, „dass es uns bis jetzt nicht gelun-gen ist, nach dem Auftrag des Politbüros dieHintermänner und die Organisatoren desPutsches vom 17. Juni festzustellen“.

Der „Neue Kurs”

In den Monaten nach dem 17. Juni 1953verfolgte die SED-Führung eine doppelteStrategie. Einerseits erfolgte die Abrech-nung mit Funktionären, die während desAufstandes politisch „geschwankt” hatten.Dabei gelang es Ulbricht, seine ärgsten Wi-dersacher, darunter den Staatssicherheits-minister Wilhelm Zaisser sowie den Chef-redakteur des „Neuen Deutschland” RudolfHerrnstadt, zu entmachten. Andererseitsbemühte sich die Staats- und Parteiführung,die Bevölkerung durch die Verbesserung derLebensverhältnisse zu beruhigen. In seinemBuch „Durch die Erde ein Riss“ erinnert sichder Schriftsteller Erich Loest: „Täglich wur-den Verordnungen und Bestimmungen be-kanntgegeben: Rückkehr zu den Normendes 1. April, Erhöhung der Mindestrentevon 65,– auf 75,– Mark, der Witwenrentevon 55,– auf 65,– Mark. Die Anrechnungder Kuren auf den Urlaub wurde aufgeho-ben. [...] Verstärkter Wohnungsbau, mehrReparaturen an Wohnungen, 30 Millionenzusätzlich für sanitäre Einrichtungen in Volks-eigenen Betrieben, 40 Millionen zusätzlichfür Feierabendheime und Kindergärten!Was als wichtige, längst fällige Verbes-serung empfunden wurde: Die täglichenStromabschaltungen in den Haushalten soll-ten aufgehoben werden. [...] Der Benzin-preis fiel von 3,00 Mark auf 1,80 Mark.[...] Lebensmitteltransporte aus der Sowjet-union rollten an, dreitausend Waggons ineiner Woche, beladen mit Butter, Schmalz,Speiseöl und Fischkonserven, die SU ver-sprach für das Jahr 1953 fast eine MillionTonnen Getreide.“ Dennoch gab sich dieParteiführung offenbar nicht der Hoffnunghin, mit diesen Maßnahmen das Vertrauen

Seite 26 unten17. Juni 1953, Potsdamer Platz in Berlin

(Foto: Bundesarchiv, 80/105/21A)

Seite 26 obenStalin-Allee 8. 4. 1953

(Foto: Bundesarchiv, 183/19113/1)

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der Bevölkerung gewinnen zu können. Fie-berhaft begann sie mit dem Ausbau desSpitzelsystems der Staatssicherheit, um sol-che Unruhen in Zukunft frühzeitig unter-drücken zu können. Auch ihren Führungsan-spruch schränkte die SED in keiner Weiseein.

Dass die Beruhigung der Bevölkerung allen-falls in Ansätzen gelang, belegen die Flücht-lingszahlen. 1954 verließen 184.000 und1955 252.000 Menschen für immer dieDDR. Im Vergleich zu den 331.000 Bür-gern, die der DDR im Krisenjahr 1953 denRücken kehrten, stellte dies allerdings einenspürbaren Rückgang dar.

Im Sommer 1955 zerstreuten die Sowjetsdie Befürchtungen der SED-Spitze, dieSchutzmacht könnte die Existenz der DDRfür ein wie auch immer geartetes neutralesDeutschland opfern. Auf einer Kundgebungverkündete der Erste Sekretär der KPdSU,Nikita Chruschtschow, die „Zwei-Staaten-Theorie“, nach der eine WiedervereinigungDeutschlands nur unter Wahrung der „sozia-listischen Errungenschaften“ der DDR erfol-gen könnte. Der „Vertrag über die Bezie-hungen zwischen der DDR und der UdSSR“vom September gleichen Jahres garantierteder DDR formal die volle Souveränität. Im Ja-nuar 1956 trat die DDR dem WarschauerPakt bei.

(Foto: Bundesarchiv, 183/22205/1)

Lebensmittellieferung aus der Sowjetunion im November 1953

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(Foto: Ullstein, Joachim Jung)

Im Aufnahmelager Marienfelde werden Flüchtlingeaus der DDR zusammengeführt.

Leninstatue vor dem sowjetischen Hauptquartier inWünsdorf bei Berlin

(Foto: Ullstein, Dietmar Horn)

Zehn Jahre nach Kriegsende war der öst-liche Teil Deutschlands fest in den kommunis-tischen Machtbereich integriert. Dem Bür-ger, der die SED-Politik ablehnte, blieb nurdie Anpassung an die Verhältnisse oder dieÜbersiedlung in den Westen, einen Wegden jährlich Zehntausende wählten. Ange-sichts der Präsenz sowjetischer Truppenschien eine Wende zum Besseren auf ab-sehbare Zeit wenig wahrscheinlich.

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30Deutschland zurückkehren durften, waren inder DDR zum Schweigen verpflichtet worden.

Bis Oktober 1956 erfolgte die Entlassungvon insgesamt rund 21.000 Häftlingen. Un-ter ihnen befanden sich zahlreiche Männerund Frauen, die in den späten Vierziger- undfrühen Fünfzigerjahren in tatsächlicher odervermeintlicher Opposition zur Politik derSED gestanden hatten. Zugleich wurde einTeil der innerparteilichen Gegner Ulbrichtsrehabilitiert, die zu Beginn der Fünfziger-jahre sowie nach dem 17. Juni 1953 ent-machtet und zum Teil aus der Partei aus-geschlossen worden waren. EhemaligeSpitzenfunktionäre wie Anton Ackermann,Franz Dahlem, Elli Schmidt oder Hans Jen-dretzky sollten ihren alten Einfluss jedochnicht wieder zurückerlangen.

Die Kritik an der stalinistischen Herr-schaftspraxis der SED wurde immer lauterund richtete sich bald auch gegen derenführenden Repräsentanten, Walter Ulbricht.Während der größte Teil der Bevölkerungder Entwicklung weitgehend unbeteiligt ge-genüberstand, gärte es in der Partei und un-ter den Intellektuellen. Vor allem jene Teileder jungen Generation, die Mitte der Fünf-zigerjahre an den Hochschulen und Univer-sitäten studierten und die die humanistischenIdeale des Sozialismus ernst nahmen, littenunter dem Widerspruch zwischen Anspruchund Wirklichkeit in der DDR. Sie suchten ei-nen „dritten Weg“ zwischen dem Kapitalis-mus der Bundesrepublik und dem stalinisti-schen Sozialismus der DDR. Um den Partei-philosophen Wolfgang Harich und den Lei-ter des Aufbau-Verlages, Walter Janka,formierte sich eine Oppositionsgruppe, diein ihrer programmatischen „Plattform” klar-stellte: „Wir wollen auf den Positionen desMarxismus-Leninismus bleiben. Wir wollen

Kurzes Tauwetter1956

Doch der Eindruck, dass Walter Ulbricht imAuftrage Moskaus unangefochten an derSpitze einer einheitlichen, alles beherr-schenden Partei das Schicksal der DDR be-stimmte, erwies sich als trügerisch. Als dieFlüchtlingszahlen 1955 wieder deutlich an-stiegen, reifte innerhalb der SED-Führungdie Einsicht, dass mit der bloßen Intensivie-rung überkommener Propagandaformen derAbwanderung kein Einhalt zu gebieten war.Es war die Zeit des politischen „Tauwetters”,das damals im gesamten Ostblock Hoffnun-gen auf umfassende Reformen weckte. DerXX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956löste nicht nur in der Sowjetunion heftigeReaktionen aus. Die Enthüllungen Chruscht-schows über die Verbrechen Stalins stürztendie gesamte kommunistische Bewegung ineine Krise. Eilfertig erklärten jene SED-Funk-tionäre, die bereits zu Weimars Zeiten dem„großen Stalin“ gehuldigt hatten: „Was dieWürdigung Stalins anbelangt, so müssenwir unsere bisherigen Anschauungen einerRevision unterziehen ... In den letzten fünf-zehn Jahren seiner leitenden Arbeit sind Feh-ler und Irrtümer in seinem Wirken aufgetre-ten, durch die der Sache des SozialismusSchaden entstanden ist.“ Dies mag insbe-sondere in den Ohren jener Menschen bittergeklungen haben, die in den Dreißigerjahrenin die Mühlen des Stalinschen Terrors geratenwaren. Tausende Genossen, die im „Vater-land der Werktätigen“ Schutz vor denVerfolgungen des Nationalsozialismus ge-sucht hatten, verschwanden damals in sowje-tischen Lagern. Die wenigen, die das Gulagüberlebt hatten und oft erst nach Jahren nach

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aber weg vom Stalinismus.” Die Harich-Gruppe forderte die Wiederherstellung derMeinungsfreiheit, Rechtssicherheit, die Ab-schaffung der politischen Geheimpolizeiund innerparteiliche Demokratie. Die „so-zialistische” Demokratisierung der DDRsollte die Grundlage für die Wiedervereini-gung schaffen, für die Harich in geheimenGesprächen die westdeutsche SPD gewin-nen wollte.

Nach dem Aufstand in Ungarn im Herbst1956, der nur durch den Einmarsch derSowjetarmee niedergeschlagen werdenkonnte, gewann Ulbricht wieder Auftrieb.

(Foto: Bundesarchiv, 51730/8)Karl Schirdewan 1957 vor der Volkskammer

Die Destabilisierungstendenzen im Ostblockführten zu einem jähen Ende des „Tauwet-ters“. Mit der Verhaftung Wolfgang Harichsund Walter Jankas sowie weiterer Mitstrei-ter, die zu hohen Zuchthausstrafen verurteiltwurden, signalisierte Ulbricht, dass er Diskus-sionen über „dritte Wege“ nicht duldenwürde. Vor der Parteiöffentlichkeit verbor-gen, setzten sich die Auseinandersetzungeninnerhalb der Parteispitze noch bis 1958fort. Im Frühjahr 1958 gelang es Ulbricht,seine schärfsten Kritiker und Konkurrenten inder Parteiführung, darunter das Politbüromit-glied Karl Schirdewan und den Staatssicher-heitsminister Ernst Wollweber, zu entmachten.

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Ein letzter SchrittzumSozialismus?

Auf dem V. Parteitag der SED (Juli 1958)war die Position Ulbrichts unangefochten.Die Delegierten beschlossen die „Vollen-dung“ des sozialistischen Aufbaus. Bis1961 sollte die DDR die Bundesrepublikwirtschaftlich ein- und schließlich überholen.

321958/59 erfolgte eine für die Bevölkerungspürbare Konsolidierung der DDR-Wirt-schaft. Erholungs- und Ferienheime der Ge-werkschaft, Kulturhäuser, Kinderhorte undPolikliniken wurden als „Errungenschaften“des Systems angenommen. Der Ausbau derKonsumgüterindustrie zeitigte erste Erfolge.Die letzten Lebensmittelkarten wurden end-lich abgeschafft. Der Lebensstandard derBevölkerung stieg. Viele Menschen began-nen, sich mit dem System zu arrangieren,das vor allem Arbeitern bisher ungekannteAufstiegschancen bot. Die Flüchtlingszahlensanken 1959 mit 143.917 auf den tiefsten

Propaganda für Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften 1960(Foto: Ullstein)

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(Foto: Stadtarchiv Erfurt)

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(Foto: Bundesarchiv, Plakatsammlung)

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35Stand seit 1949. Die Parteiführer fühltensich auch durch die internationale Lage inihrem Selbstvertrauen gestärkt. Die Sowjet-union hatte 1957 mit dem „Sputnik” den er-sten künstlichen Satelliten in den Weltraumgebracht und damit nicht nur ihren Vor-sprung in der Raketentechnik demonstriert,sondern zu verstehen gegeben, dass sichnun auch das amerikanische Festland in derReichweite östlicher Atomwaffen befand.Schließlich glaubte man sich auch durch dieBewältigung einer neuerlichen Berlin-Kriseaufgewertet. Zwar war der Vorstoß der So-wjetunion im November 1958 gescheitert,den Abzug der Westmächte aus Westberlinzu erzwingen; Moskau hatte ultimativ dieUmwandlung Westberlins in eine „freie undentmilitarisierte Stadt” gefordert. Doch ander Krisensitzung der Außenminister derGroßmächte in Genf nahmen erstmals auchDelegationen der DDR und der Bundesrepu-blik beratend teil. Demgegenüber war diesozialistische Umgestaltung der Wirtschaftund Gesellschaft seit dem Juni-Schock desJahres 1953 ins Stocken geraten. Das Ar-rangement vieler Menschen mit dem Staatals Zustimmung fehldeutend, glaubte dieParteiführung, den Transformationsprozess

im Jahre Zehn der DDR abschließen zu kön-nen. Wenn es gelang, die letzten Reste der„kapitalistischen Basis” in der DDR zu besei-tigen, würde sich die sozialistische Ideeendlich auch im „Überbau”, also im Denkenund Handeln der Bevölkerung, durchsetzen.So kündigte die SED den zerbrechlichen„Burgfrieden“ zwischen Partei und Bevölke-rung auf. Bauern wurden wieder zum „frei-willigen“ Eintritt in die LandwirtschaftlichenProduktionsgenossenschaften genötigt, wi-derstrebende Hofbesitzer von der Staats-sicherheit verhaftet. In den Städten und Ge-meinden wurden zahlreiche Handwerker inProduktionsgenossenschaften gepresst. DerAnteil des privaten Handwerks am hand-werklichen Gesamtprodukt sank von 93 Pro-zent im Jahre 1958 auf 65 Prozent 1961.

Gleichzeitig gelang es Ulbricht, seine Posi-tion weiter auszubauen. Nach dem TodeWilhelm Piecks im September 1960 über-nahm er den Vorsitz des neugeschaffenenStaatsrates. Als Generalsekretär der SEDund Vorsitzender des Nationalen Verteidi-gungsrates vereinte er damit alle entschei-denden Funktionen der DDR in seiner Per-son.

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36Die DDR am Abgrund

Der Preis, den die SED für die vermeintlichletzte große Etappe der „sozialistischen Um-gestaltung” bezahlen musste, war hoch. DieVersorgungsschwierigkeiten, die aus derüberstürzten Kollektivierung der Landwirt-schaft erwuchsen, und der verschärfte politi-sche Kurs der SED, ließen den Strom derBürger, die ihrem Staat für immer denRücken kehrten, zu einer neuerlichen Mas-senflucht anwachsen. Die DDR brauchteeine Atempause, eine ökonomische Konsoli-dierung und gesellschaftliche Befriedung,sonst drohte der Kollaps.

In großen Teilen der DDR-Bevölkerung ver-stärkte sich im Frühsommer 1961 dieÜberzeugung, dass die SED und ihreSchutzmacht Sowjetunion etwas unterneh-men würden, um das Ausbluten ihres west-lichen Vorpostens zu verhindern. Immer

neue Gerüchte über das „Wie“ kursierten,und viele Bürger wurden nach einer interna-tionalen Pressekonferenz mit Walter Ulbrichtam 15. Juni 1961 hellhörig. Auf die Frageeiner Journalistin der Frankfurter Rundschau,ob die DDR plane, eine „Staatsgrenze amBrandenburger Tor“ zu errichten, hatte die-ser geantwortet: „Ich verstehe ihre Frage so,dass es in Westdeutschland Menschen gibt,die wünschen, daß wir die Bauarbeiter derHauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eineMauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt,dass eine solche Absicht besteht. [...] Nie-mand hat die Absicht, eine Mauer zuerrichten.“ Im Juli stieg die Zahl der Flücht-linge auf 30.415, in den ersten beidenWochen des Monats August gar auf47.433 an.

Doch für die meisten Menschen ging das Le-ben weiter wie bisher. Zu viele Krisen hatteman in Berlin bereits er- und überlebt. Undso widmete man sich dem Sommerschluss-verkauf oder besuchte den auf dem Marx-

Das Brandenburger Tor 1959. Blick von Osten.(Foto: Bundesarchiv, 64682/5)

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37Engels-Platz gastierenden Zirkus Busch.Westberliner Kulturbeflissene freuten sich aufdie „Hochzeit des Figaro“, auf „La Traviata“oder „Madame Butterfly“, die von der Deut-schen Staatsoper nach der Spielpause fürEnde August angekündigt worden waren.Ostberliner konnten im Westteil der Stadtmit DDR-Geld Westzeitungen bzw. -Zeit-

schriften kaufen sowie die Theater und Kinosbesuchen. In der Nacht zum 13. August fei-erte das DDR-Fernsehen mit einer Sendungaus dem „Rafena-Werk“ in Radeberg den„millionsten“ Fernsehapparat, der in derDDR hergestellt worden war. Doch eben indieser Nacht, im zwölften Jahr der DDR,sollte sich alles schlagartig ändern.

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vakat

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Die 60er JahreKonsolidierung

im Schattender Mauer

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40Das Unvorstellbare geschah in den frühenMorgenstunden des 13. August 1961. Um2 Uhr morgens gingen bei der WestberlinerPolizei die ersten Meldungen über die Ab-sperrung des Ostteils der Stadt ein. Passan-ten und Anwohner hatten beobachtet, wiePioniereinheiten im Schutz schwerbewaffne-ter Volkspolizisten und NVA-Soldaten damitbegannen, die Straßen zu den Westsekto-ren mit Stacheldraht und Spanischen Reiternabzuriegeln. Eine Viertelstunde später rissder Lärm von Presslufthämmern die Anwoh-ner der Friedrich-Ebert-Straße aus ihremSchlaf. SED-Betriebskampfgruppen errichte-ten Barrikaden aus Asphaltstücken und Pflas-tersteinen. Um halb drei wurde die West-berliner Polizei in Alarmzustand versetzt.

Eine Stunde später rollten Panzer durch denOstteil der Stadt. Sie bezogen an zentralenPunkten, Unter den Linden, am Alexander-platz und an der Oberbaumbrücke, Stel-lung. Immer enger wurde der Absperrungs-ring um Westberlin. Noch gelang eseinzelnen Flüchtlingen, die Grenzbefesti-gungen an unübersichtlichen Stellen zudurchbrechen. Einige durchschwammenkurz entschlossen Kanäle und Gewässer.Fassungslos strömten die Berliner in denMorgenstunden zu Tausenden an die inzwi-schen hermetisch abgeschlossene Grenze,wo sie sich, getrennt durch Stacheldraht undschwerbewaffnete Volkspolizei, hilflos ge-genüberstanden. In den folgenden Tagenersetzten Bautrupps die provisorischen Be-

Mitglieder der DDR-Kampfgruppen am 13. 8. 1961 vor dem Brandenburger Tor.(Foto: Bundesarchiv)

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41festigungen durch eine feste Mauer. DieDDR war abgeriegelt, die Spaltung Deutsch-lands nun auch „architektonisch“ vollzogen.Die Westmächte reagierten verhalten. Dievon US-Präsident Kennedy am 25. Juli for-mulierten wesentlichen Punkte der ameri-kanischen Berlin-Politik – die Anwesenheitder westlichen Truppen und der freie Zu-gang nach Berlin – waren von den Ereig-nissen des 13. August nicht angetastet wor-den.

„Wer nicht gegenuns ist, ist für uns“

Der Mauerbau stellte einen tiefen Einschnittin der Geschichte der DDR dar. Zum Ver-bleib in der DDR gezwungen, mussten sichdie Menschen mehr denn je mit dem Systemarrangieren. Zum Jahreswechsel 1961/62versachlichte sich das Verhältnis zwischenPartei und Bevölkerung. Die Schikanen lo-kaler Parteifunktionäre gegenüber „Bumme-lanten“ und „Staatsfeinden“ unmittelbarnach dem Mauerbau ebbten ab. Diezweite Welle der Entstalinisierung, die vomXXII. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961ausging, wirkte sich auch auf das innenpoli-tische und kulturelle Klima in der DDR aus.Die Einheitspartei versuchte, ihre Herr-schaftsmethoden an die Erfordernisse einerimmer komplexer werdenden Industriege-sellschaft anzupassen. Die Bevölkerungsollte politisch neutralisiert werden. DerSpruch „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“kehrte sich um. Mit der Einführung des„Neuen Ökonomischen Systems der Pla-

nung und Leitung“ nach dem VI. Parteitagder SED Anfang 1963 sollte das Wirt-schaftssystem modernisiert und dessen Effi-zienz erhöht werden. Die Staatsparteibemühte sich um ein neues Verhältnis zu denFrauen; sie sollten „beim Aufbau des Sozia-lismus mehr als bisher zur Geltung kom-men“. Ziel der Jugendpolitik sei es nicht, sobetonten die Verantwortlichen, „spießbür-gerliche Musterknaben“ zu erziehen. DieFDJ versuchte, ihr „muffiges“ Image abzule-gen. Der FDJ-Vorsitzende Horst Schumanntanzte in aller Öffentlichkeit den bis dahinverbotenen Modetanz Twist. Kritische jungeLyriker und Liedermacher wie Wolf Bier-mann, Heinz Kahlau oder Armin Müller la-sen und sangen vor überfüllten Sälen. DieLosung „Die Republik braucht alle, alle brau-chen die Republik“ hob sich wohltuend vonder Atmosphäre der klassenkämpferischenFünfzigerjahre ab.

Im Januar 1962 führte die DDR die allge-meine Wehrpflicht für die 1956 gegründeteVolksarmee ein. Andererseits erkannte sie1964 als erster Staat des Ostblocks dieWehrdienstverweigerung aus Gewissens-gründen an. Nach dem Tod des SED-Mitbe-gründers Otto Grotewohl im Jahre 1964übernahm Willi Stoph das Amt des Minis-terpräsidenten. Im Februar 1965 erfolgteeine weitere Reform des Bildungswesens.Vorschulerziehung, zehnklassige allgemein-bildende polytechnische Oberschule, Inge-nieur- und Fachschulen sowie Angebote zurAus- und Weiterbildung von Erwachsenensollten allen Bürgern das Recht auf Bildunggarantieren.

Ende 1965 fand der Reformkurs im Bereichder Kultur ein jähes Ende. In den Augen der„Falken“ in der SED-Führung hatte die indem nun liberaleren Klima laut gewordene

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42Kritik an den bestehenden Verhältnissen dieGrenze des Erträglichen überschritten. Aufdem 11. ZK-Plenum im Dezember 1965kritisierte die SED „schädliche Tendenzen“in Filmen und Fernsehsendungen, in Thea-tern und der Literatur. Gleichzeitig nahmman die Reformen im Wirtschaftssystemzurück und ordnete die DDR-Volkswirtschaftwieder verstärkt den Erfordernissen derSowjetunion unter. Die erneute Ideologisie-rung und der damit verbundene kulturelleKahlschlag lähmten das intellektuelle Leben.Die SED belegte Künstler mit Auftrittsver-boten und zensierte kritische Filme undBücher.

(Foto: Ullstein, Kindermann)

Manfred Krug als Hannes Balla in dem DDR-Film„Die Spur der Steine“, der nicht in die Kinos kam.

VII. Parteitag der SED 1967. Walter Ulbricht auf dem Höhepunkt seiner Macht.(Foto: Bundesarchiv, F 0 419/01/52)

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Nach einer „Volksaussprache“ und einemdarauf folgenden „Volksentscheid“ trat1968 eine neue Verfassung in Kraft; diesewar im Gegensatz zu der bis dahin gültigenvon 1949 stärker an die politische Realitätangepasst. So erhielt in Artikel 1 derFührungsanspruch der SED Verfassungs-rang. Trotz proklamierter Gewissens- undGlaubensfreiheit oder der „Freiheit derPresse, des Rundfunks und des Fernsehens“war die DDR von rechtsstaatlichenGrundsätzen weit entfernt. Es blieb die SED-Führung, die den Rahmen der persönlichenFreiheit und der Grundrechte absteckte undnach Bedarf erweiterte oder einschränkte.

Wenn es der SED-Führung bis Mitte derSechzigerjahre gelungen war, bei größerenTeilen der Bevölkerung – wenn auch kriti-sche – Zustimmung zu erzielen, so hatte siedieses Kapital am Ende des Jahrzehnts wie-der verspielt. Als am 21. August 1968 Trup-pen des Warschauer Paktes in der Tsche-choslowakei einmarschierten, walzten diesowjetischen Panzer nicht nur den von Alex-ander Dubcek propagierten „Sozialismusmit menschlichem Antlitz” nieder. Überall imOstblock hatten sich die Blicke derjenigenerwartungsvoll nach Prag gerichtet, die sicheinen modernen Sozialismus auch für ihrLand erträumten. Die moralische Wirkung

(Foto: Bundesarchiv, G 1105/30/1)

Sowjetische Interventionstruppen kehren im November 1968 in ihre Standorte in der DDR zurück.

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44der Invasion war verheerend. Fassungslosstanden vor allem junge Menschen – unddabei längst nicht nur Intellektuelle und Stu-dierende – in der DDR vor den Trümmernihrer Hoffnungen und Ideale. Tausendejunge Armeeangehörige in allen Teilen der

Deutschen Demokratischen Republik hattenin jenen Tagen ihren Marschbefehl bekom-men. Zum ersten Mal seit dem ZweitenWeltkrieg stand eine deutsche Armeekampfbereit an den Grenzen eines benach-barten Staates.

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Die 70er JahreDie Ära Honecker

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46Ende April 1971, die Vorbereitungen zuden alljährlichen Maifeierlichkeiten liefenauf Hochtouren, bereitete sich das Polit-büromitglied Werner Lamberz in Berlinauf eine geheime Mission vor. An einemfrühen Nachmittag, das genaue Datum istnicht überliefert, wurde der zweiundvierzig-jährige Honeckervertraute von Juri Bassi-stow, einem ranghohen Mitarbeiter derGruppe der sowjetischen Streitkräfte inDeutschland, vom Sitz des Zentralkomiteesam Werderschen Markt abgeholt. Selbstdie engsten Mitarbeiter von Lamberz sowiesein Personenschutz vom MfS gingen davonaus, dass der Spitzenfunktionär einen Vor-trag vor sowjetischen Militärs halten sollte.Im Hauptquartier der sowjetischen Streit-kräfte in Wünsdorf angekommen, wurdedem begleitenden Staatsicherheitsoffizier

bedeutet, dass seine Anwesenheit nichtmehr nötig sei, da die Weiterreise in denRaum Magdeburg in einem sowjetischenMilitärfahrzeug erfolgen würde. Tatsächlichhatte Lamberz ein ganz anderes Ziel, vondem nur eine Handvoll sowjetischer unddeutscher Spitzenfunktionäre wissen durften.In großer Eile fuhr Bassistow mit Lamberzzum nur wenige Kilometer entfernten Militär-flughafen Sperenberg, wo der Politbürokratin eine abflugbereite sowjetische Militär-maschine stieg. Auch die Piloten wusstennicht, wer ihr einziger Passagier war,wohl aber das Ziel: Moskau. Bereits amfolgenden Tag kehrte ein sichtlich gut ge-launter Lamberz aus der sowjetischenHauptstadt zurück, um sogleich seinen Ver-trauten in der Parteiführung Bericht zu erstat-ten.

Die AbsetzungUlbrichts

Mehr als zwei Jahrzehnte sollten vergehen,bis die Nachricht von diesem Blitzbesuchdie Vorgänge um ein Ereignis weiter erhel-len konnte, welches am 3. Mai 1971 eineÄra beendete. Am Nachmittag diesen Ta-ges, es war ein Montag, wurde im Fernse-hen und Rundfunk der DDR ein kurzes Kom-muniqué des Zentralkomitees verlesen, dasmit den Worten begann: „Das Zentralkomi-tee der SED beschloss einstimmig, der Bittedes Genossen Walter Ulbrichts zu entspre-chen und ihn aus Altersgründen von derFunktion des Ersten Sekretärs des Zentral-

Werner Lamberz(Foto: Bundesarchiv, L 1025/344)

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47komitees zu entbinden, um diese Funktion injüngere Hände zu geben.” In „Ehrung sei-ner Verdienste” habe das ZK Ulbricht zumVorsitzenden der SED gewählt. Ein Treppen-witz der Geschichte: Erst im Moment seiner– wie sich bald herausstellen sollte – völli-gen Entmachtung rückte Ulbricht formal andie Spitze der Partei, die er seit den Dreißi-gerjahren in unterschiedlichen Positionenmaßgeblich beherrscht hatte.

Westliche Beobachter vermuteten sogleich,dass der plötzliche „Rücktritt” Walter Ul-brichts mit seiner seit den Sechzigerjahrenstarrsinnigen Betonung eines national ge-prägten Sozialismus gegenüber der Sowjet-union zusammenhing. Die Akten im SED-Parteiarchiv bestätigen dies. Schon 1964,kurz nach dem Sturz Nikita Chruscht-schows, hatte Ulbrichts selbstherrliche Artdas Missfallen des neuen ersten Mannesin der Sowjetunion, Leonid Breschnew, er-regt. In einem persönlichen Gespräch mitErich Honecker vertraute Breschnew die-sem im Juli 1970 an: „Du weißt, damals1964 Datsche (Döllnsee) – er stellt einfachmeine Delegation auf die Seite (Tichonowetc.), presst mich in ein kleines Zimmerund redet auf mich ein, was alles falschist bei uns und vorbildlich bei euch. Eswar heiß. Ich habe geschwitzt. Er nahmkeine Rücksicht. Ich merkte nur, er will mirVorschriften machen, wie wir zu arbeiten,zu regieren haben, lässt mich gar nicht erstzu Wort kommen. Seine ganze Überheb-lichkeit kam dort zum Ausdruck, seine Miss-achtung des Denkens, der Erfahrung ande-rer.“

Die DDR hatte sich mittlerweile zur zweit-stärksten Industriemacht im Ostblock ent-wickelt. Mit gestiegenem Selbstbewusstseinerhob Walter Ulbricht den Anspruch, dem

Aufbau der DDR nach 1945 Modellcharak-ter für hochindustrialisierte sozialistischeStaaten zuzuschreiben. Auch im Bereich derIdeologie betonte Ulbricht eine größere Ei-genständigkeit gegenüber der Sowjetunion.Während er die sowjetische Entspannungs-politik in Mitteleuropa anfangs nur halbher-zig unterstützte, traten während des Ost-blockgipfels im Sommer 1970 in Moskaudie unterschiedlichen Vorstellungen Ulbrichtsund der sowjetischen Parteiführung in derdeutschen Frage für die Verhandlungsteil-nehmer deutlich zu Tage. Zwar galt für Ul-bricht wie für Breschnew die formelle Aner-kennung der DDR durch die Bundesrepublikals unabdingbar. Demgegenüber wolltendie Sowjets den weitergehenden Plänen Ul-brichts nicht folgen. Dieser setzte auf denAusbau der wirtschaftlichen Beziehungenmit dem westlichen Nachbarn, der die DDRin die Lage versetzen sollte, an der BonnerRepublik ökonomisch vorbeizuziehen, umso irgendwann die Einheit Deutschlands„auf der Grundlage von Demokratie und So-zialismus” wiederherzustellen. Für die So-wjets hatte sich diese Frage indes längst er-ledigt: „Deutschland gibt es nicht mehr. Dasist gut so. [...] Die Zukunft der DDR liegt inder sozialistischen Gemeinschaft”, schriebBreschnew seinen ostdeutschen Genossenins Stammbuch. Zwei Jahre nach demEinmarsch in Prag erinnerte er daran: „Wirhaben unsere Truppen bei Ihnen. Das istgut so und wird so bleiben.” Dann stellte erunmissverständlich klar: „Es gibt, es kannund es darf zu keinem Prozess der Annähe-rung zwischen der DDR und der BRD kom-men.”

Jetzt schlug die Stunde Erich Honeckers. Derwusste die prekäre ökonomische Situation,für die er die verfehlte Wirtschaftspolitik Ul-brichts verantwortlich machte, zur schrittwei-

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sen Demontage seines politischen Ziehva-ters zu nutzen. Politische Beobachter warenseit längerem davon ausgegangen, dass Ul-bricht den Saarländer durchaus als geeig-neten Nachfolger betrachtete. Schrittweisehatte er ihm die Zuständigkeit für die Kader-arbeit, den Parteiapparat sowie die innereSicherheit übertragen. Allerdings dürfte sichUlbricht die Machtübergabe etwas andersvorgestellt haben. Honecker gelang es, dieMehrheit des Politbüros nach und nach aufseine Seite zu ziehen. Wieder und wiederdenunzierten er und seine Vertrauten die po-litischen Ansichten des eigenen Parteichefsbei der östlichen Brudermacht. Mitte Januar

1971 entschlossen sich zehn der vierzehnMitglieder und drei der sechs Kandidatendes SED-Politbüros, den „teuren Genossen”der sowjetischen Führung in einem Brief zuempfehlen, Ulbricht zum „freiwilligen” Rück-tritt zu drängen.

Als Werner Lamberz Ende April 1971 das„grüne Licht” aus Moskau überbrachte,wusste der in innerparteilichen Machtfragenversierte Ulbricht aus jahrzehntelanger Par-teierfahrung, dass weiterer Widerstand ge-gen die Entmachtung sinnlos war. Diszipli-niert willigte der Parteisoldat schließlich indas vorbereitete Szenario ein.

(Foto: Bundesarchiv, 28139)

Erich Honecker (rechts) als FDJ-Vorsitzender 1952.

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49GeliehenerWohlstand

Es begann die Ära Honecker. Auf demVIII. Parteitag der SED im Juni 1971 erklärteder neue Erste Sekretär des ZK die „weitereErhöhung des materiellen und kulturellen Le-bensniveaus des Volkes“ zur „Hauptauf-gabe“ der SED. Der neue politische Kurssah vor, die „Werktätigen” stärker als bisheran den Früchten ihrer Arbeit teilhaben zu

VIII. Parteitag der SED. Leonid I. Breshnew umarmt Erich Honecker(Foto: Bundesarchiv, K 0616/1/102 N)

lassen. Sozialmaßnahmen sollten die unte-ren Einkommensschichten sowie die Schwa-chen in der Gesellschaft, die Kranken undAlten stärker berücksichtigen. Tatsächlichschien die DDR-Wirtschaft Anfang der Sieb-zigerjahre einen Aufschwung zu verzeich-nen. Der Lebensstandard wuchs, wennauch in bescheidenem Rahmen. Allerdingssetzte bald ein verhängnisvoller Schulden-kreislauf ein. Um die sozialpolitischen Leis-tungen (die „zweite Lohntüte” mit billigenWohnungen und kostenloser medizinischerVersorgung, Kindergeld, Renten usw.) zufinanzieren, mussten Kredite im westlichen

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(Foto: Bundesarchiv, Plakatsammlung)

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(Foto: Bundesarchiv, Plakatsammlung)

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Ausland aufgenommen werden. Die Zinsenwurden zunehmend mit neuen Krediten be-zahlt. Honeckers Wirtschafts- und Sozialpo-litik hatte von Beginn an ihre Tücken. Aller-dings verschaffte sie der Staats- undParteiführung zunächst ein bis dahin nicht er-reichtes Maß an erwartungsvoller Zustim-mung. Es wurden vorsichtige Schritte in Rich-tung einer stärkeren Einbindung des Bürgersin lokale Entscheidungsprozesse gemacht.Die SED gab es auf, die Jugend in jedemBereich zu reglementieren. Fragen derMode oder der Musik sollten nicht mehr indas Korsett der „Fortschrittlichkeit“ gepresstwerden. Honeckers Arbeitsstil war anfangsvon größerer Sachlichkeit geprägt. Mit sei-ner beiläufigen Bemerkung im Jahre 1973,die westlichen Medien könne „bei uns jeder

(Foto: Bundesarchiv, M 0730/743)

Berlin 1973, X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten

Seite 53Berlin 1973, X. Weltfestspiele der Jugend und Stu-denten

(Foto: Bundesarchiv, M 0730/751)

nach Belieben ein- oder ausschalten“, ak-zeptierte die SED den vorher erbittertbekämpften Empfang westdeutscher TV- undRadiosender. All dies bedeutete jedochnicht, dass die SED ihren Vormachtanspruchin allen politischen, wirtschaftlichen und ge-sellschaftlichen Bereichen in irgendeinerForm einschränkte. Und dennoch machtesich in der DDR der frühen Siebzigerjahre soetwas wie Aufbruchstimmung breit. Dazutrugen auch die schrittweisen Verbesserun-gen in den deutsch-deutschen Beziehungenseit 1971 bei.

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54Deutsch-deutscheAnnäherung

Als sich nach der Bildung der „Großen Ko-alition“ im Jahre 1966 ein Wandel in derBonner Deutschland- und Osteuropapolitikabzeichnete, reagierte die SED auf die Ent-spannungspolitik des westlichen Nachbarnmit einer schroffen Kehrtwende. Hatte siebis dahin im Bewusstsein der ablehnendenHaltung der Bundesrepublik unentwegt dieLosung „Deutsche an einen Tisch“ propa-giert, betonte sie nun das Trennende zwi-schen den beiden deutschen Staaten. „Le-serbriefe“ im „Neuen Deutschland“ versi-cherten, dass „eine Vereinigung zwischenunserem sozialistischen Vaterland und dervom Monopolkapitalismus beherrschtenBundesrepublik unmöglich“ sei. In der Be-völkerung sollten keine Hoffnungen auf eineWiedervereinigung der beiden deutschenStaaten geweckt werden. Vor Grenztruppenbetonte Honecker Anfang 1972: „UnsereRepublik und die BRD verhalten sich zuein-ander wie jeder von ihnen zu einem ande-ren dritten Staat. Die BRD ist somit Ausland,und noch mehr: Sie ist imperialistisches Aus-land.“ Zahlreiche Organisationen und Insti-tutionen mussten die Begriffe „Deutschland“und „deutsch“ aus ihren Namen tilgen. DieDeutsche Akademie der Wissenschaftennannte sich fortan Akademie der Wissen-schaften der DDR, der Deutschlandsenderhieß nun Stimme der DDR. Eine Verfassungs-änderung im Jahre 1974 wandelte den Ar-tikel 1 Satz 1 der Verfassung von 1968,„Die Deutsche Demokratische Republik istein sozialistischer Staat deutscher Nation“in „Die Deutsche Demokratische Republik istein sozialistischer Staat der Arbeiter und

Bauern“ ab. In Artikel 6 erklärte die DDR,fortan „für immer und unwiderruflich mit derUnion der Sozialistischen Sowjetrepublikenverbündet“ zu sein.

Eine solche Abgrenzung schien der SED-Führung damals dringend geboten. Umjeden Preis musste vermieden werden, dassdie zu Beginn der Siebzigerjahre einsetzen-den deutsch-deutschen Vertragsverhandlung-en in Moskau oder im eigenen Landeals Ouvertüre für ein engeres Zusammen-rücken der ungleichen Nachbarn missver-standen werden konnten. Am Anfang standdas im Dezember 1971 unterzeichneteTransitabkommen mit der Bundesrepublik.Im Frühjahr 1972 folgte der Verkehrsver-trag. Im Juni 1972 begannen die Verhand-lungen über den Grundlagenvertrag zwi-schen den beiden deutschen Staaten. Zielder DDR war es, darin ihre völkerrechtlicheAnerkennung durch die Bundesrepublikfestzuschreiben. Dies lehnte die Bundesre-publik strikt ab. Allerdings erklärten die bei-den Vertragspartner in dem im Dezember1972 unterzeichneten Papier, sie gingen„von dem Grundsatz aus, dass die Hoheits-gewalt jedes der beiden Staaten sich aufsein Staatsgebiet beschränkt. Sie respektie-ren die Unabhängigkeit und Selbständigkeitjedes der beiden Staaten in seinen innerenund äußeren Angelegenheiten.“ Für dieBundesrepublik bedeutete dies jedoch aus-drücklich weder den Verzicht auf die imGrundgesetz geforderte Wiedervereini-gung der beiden Teile Deutschlands nochwurde die Frage der Staatsangehörigkeitgeklärt.

Der Grundlagenvertrag markierte auch dasEnde der westdeutschen „Hallstein-Doktrin“.Sie hatte seit 1955 den Staaten, die dieDDR diplomatisch anerkannten, den Ab-

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bruch diplomatischer Beziehungen ange-droht (so 1957 Jugoslawien). Bis 1978 er-folgte die völkerrechtliche Anerkennung derDDR durch 123 Staaten.

Im September 1974 wurden die beidenDeutschlands in die Vereinten Nationen auf-genommen. Beide Staaten saßen als gleich-berechtigte Staaten am Verhandlungstischder „Konferenz über Sicherheit und Zusam-menarbeit in Europa“ (KSZE) in Helsinki. Aufdem Höhepunkt des Verständigungsprozes-ses überreichten am 20. Juni 1974 die Lei-ter der Ständigen Vertretungen in Ostberlin

und Bonn, Günter Gaus und Michael Kohl,ihre Beglaubigungsschreiben. Hannover-sche Straße 30 lautete die Adresse der bun-desdeutschen Vertretung in Ostberlin. Dort,wo die Friedrichstraße in die Chaussee-straße übergeht, stellten sich Günter Gausund seine Mitarbeiter in einem unauffälli-gen, fünfstöckigen Bau ihrer heiklen Auf-gabe. Nur die Posten der Volkspolizei unddas Schild mit dem Bundesadler wiesenden Passanten darauf hin, dass sich hier einStück Bundesrepublik im Herzen der Haupt-stadt der DDR befand. Botschaft durfte sichdieser Ausdruck einer späten und schlep-

(Foto: Bundesarchiv, N 0625/347)

Gebäude der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin

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56penden Normalisierung im geteilten Nach-kriegsdeutschland nicht nennen. Dem standdie noch offene deutsche Frage entgegen,wie die Bundesrepublik Deutschland – inden Augen vieler Zeitgenossen wider alleVernunft – immer wieder betonte. Die vonkonservativer Seite in Westdeutschland hef-tig attackierte faktische Anerkennung derDDR durch die Bundesrepublik, die dem ost-deutschen Teilstaat die von ihm angestrebteinternationale Aufwertung brachte, wurdezur Grundlage für die westdeutsche Politikder kleinen Schritte. Diese sollte die Folgender Spaltung lindern, die Lebensverhältnisseder in Ostdeutschland lebenden Menschenverbessern und so den Zusammenhalt derNation festigen.

Der „Fall Biermann”

Trotz aller Fortschritte machte sich in derzweiten Hälfte der Siebzigerjahre in derDDR-Bevölkerung erneut Unzufriedenheitbreit. Die internationale Ölkrise ließ den Le-bensstandard stagnieren. Die von Honeckerzu Beginn des Jahrzehnts geweckten Hoff-nungen hatten sich offenkundig nicht erfüllt.Doch die neuerliche Krise besaß nicht nurökonomische Ursachen.

Am 16. November 1976 ging eine kurzeMeldung der amtlichen NachrichtenagenturADN über die Ticker von Presse, Rundfunkund Fernsehen, deren Sprengkraft wohl kei-ner der Verantwortlichen voraussehenkonnte. Danach habe sich ein Wolf Bier-mann mit „seinem feindseligen Auftreten”gegenüber der DDR „den Boden für die wei-

tere Gewährung der Staatsbürgerschaftentzogen”. Die meisten Menschen in Ostund West wurden erst durch das Aufsehen,das die Ausbürgerung Biermanns erregte,auf den Liedermacher und Dichter aufmerk-sam, der am Tag zuvor seinen vierzigstenGeburtstag gefeiert hatte. Tatsächlich warBiermann jedoch seit den sechziger Jahrenzu einer Galionsfigur der kritischen DDR-Intelligenz geworden. Wortgewaltig – undnicht selten mit ätzender Schärfe – geißelteer in seinen Liedern und Gedichten dieWidersprüche zwischen der sozialistischenIdee und der DDR-Wirklichkeit. Bereits1965 hatte die Staatsmacht ihren unbe-quemen Kritiker mit einem Auftrittsverbotbelegt. Mundtot konnte sie den überzeugtenKommunisten, der 1953 von Hamburg indie DDR übergesiedelt war, damit nichtmachen. Obwohl seine Schallplatten nur inder Bundesrepublik erscheinen konnten,waren Tonbandmitschnitte unter Intellektuel-len und Studenten in der DDR weit ver-breitet. 1973 entwarf die Staatssicherheitein Szenario, Biermann unter dem Vorwurfder „staatsgefährdenden Hetze” den Pro-zess zu machen. Als alternative Variantenschlug man vor, ihn gegen seinen Willen indie Bundesrepublik abzuschieben odernach einem Besuch in Westdeutschlanddie Wiedereinreise in die DDR zu verwei-gern. Mitte November 1976 glaubtenHonecker und Mielke, die Gunst der Stundenutzen zu können. Am 13. des Monatshatte der Liedermacher auf Einladung derIG Metall in Köln ein Konzert gegeben.Trotz seines dabei vorgetragenen eindeuti-gen Bekenntnisses zur DDR wollte oderkonnte das SED-Politbüro den Hohn undSpott des Barden nicht mehr länger ertra-gen. So ordneten sie Biermanns Ausbürge-rung an, von der DDR-Kulturminister Hans-Jo-achim Hoffmann erst aus der „Aktuellen Ka-

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57mera”, der Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens, erfuhr.

Doch das Kalkül der Herrschenden, dasssich der Unmut der Beherrschten über die-sen Schritt in Grenzen halten würde, solltesich nicht erfüllen. Als das Westfernsehennach Bekanntgabe der Ausbürgerung Bier-manns Konzert ausstrahlte, konnte sich dieDDR-Bevölkerung von der Absurdität derVorwürfe überzeugen. In Ostberlin verfass-ten zwölf namhafte Schriftsteller, darunterStephan Hermlin, Christa Wolf, VolkerBraun, Heiner Müller und Stephan Heymeine Protesterklärung, in der sie die Partei-und Staatsführung aufforderten, „die be-schlossenen Maßnahmen zu überdenken”.93 weitere Künstler erklärten sich in jenenNovembertagen mit dem Aufruf solidarisch,die meisten von ihnen prominente und bisdahin durchaus loyale Künstler, Schauspie-ler (u.a. Manfred Krug, Angelica Domröse,Armin Mueller-Stahl), Sänger (u. a. NinaHagen, Eva-Maria Hagen, Reinhard La-komy) und viele weitere Schriftsteller (soetwa Günter de Bruyn, Jürgen Fuchs, UlrichPlenzdorf). Aber auch manch namenloserDDR-Bürger, ohne jenen Schutz, den Promi-nenz verlieh, machte seinem Unmut in Flug-blättern und nächtlichen Parolen an Häuser-wänden Luft. Doch die Parteiführung hattesich mit diesem Schritt verrannt. Mit Zucker-brot und Peitsche wurde versucht, die Peti-tenten zur Rücknahme ihrer Unterschrift zunötigen. Es hagelte Parteistrafen, Aus-schlüsse aus der SED oder dem Schriftstel-lerverband, Publikationsverbote und weitereSchikanen aller Art.

Die Biermann-Ausbürgerung war weit mehrals nur ein neuerlicher kulturpolitischer Kli-mawechsel, von denen es in der DDR-Geschichte mehrere gab. Sie markierte

einen Einschnitt, in dessen Folge große Teileder kritischen DDR-Intelligenz von der IdeeAbschied nahmen, die DDR mit bzw. in derSED reformieren zu können. Nicht wenigehatten gerade in jenen Jahren ihre Hoff-nungen auf den Eurokommunismus gesetzt,der eine Demokratisierung der kommunis-tisch regierten Staaten und größere Un-abhängigkeit von Moskau möglich erschei-nen ließ. Die starre Haltung der eigenenStaats- und Parteiführung ließ sie immermehr resignieren. Viele Intellektuelle verab-schiedeten sich nicht nur von den politischenIdealen ihrer Jugend sondern auch vomeigenen Staat: Jahr für Jahr stieg die Zahlder kritischen Menschen, die die DDR nachWesten verließen; die meisten für immer,einige wenige, vor allem Künstler undSchriftsteller, mit einem Pass, der die Rück-kehr erlaubte. Während die SED-Führungdie Bevölkerung mit Mauer, Stacheldrahtund Selbstschussanlagen zum Bleibenzwang, schien sie den Exodus ihrer kulturel-len Elite nicht selten zu fördern. Drei Jahr-zehnte nach Gründung der DDR hatten sichGeist und Macht östlich der Elbe nur nochwenig zu sagen.

Doch die Mächtigen betrieben nicht nureine intellektuelle Selbstentblößung. Seit denSechzigerjahren hatten viele Reformer beialler Kritik an stalinistischen Strukturen ihrepolitische Heimat innerhalb der SED gese-hen. Als die SED-Führung in der zweitenHälfte der Siebzigerjahre unmissverständ-lich klarstellte, dass sie einen „Marsch durchdie Institutionen” nicht dulden würde,drängte sie ihre Kritiker in eine grundsätzli-chere Opposition. Diejenigen, die im Landeverblieben, entfernten sich weiter und weitervon der „führenden Partei”. Angesichts derRüstungsspirale in Ost und West und der zu-nehmend bedrohlicheren Umweltverschmut-

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(Foto: Ullstein, Wilfried Zeckai)Wolf Biermann bei seinem Konzert 1976 in Köln

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zung entstanden meist unter dem schützen-den Dach der Kirche in den AchtzigerjahrenUmwelt- und Friedensgruppen, die zum Sam-melbecken einer langsam aber stetig wach-senden Oppositionsbewegung wurden.

Die Parteiführung geriet jedoch nicht nur sei-tens der Intellektuellen unter Druck. Mit derinternationalen Anerkennung, der schrittwei-sen Normalisierung im deutsch-deutschenVerhältnis und den vertraglichen Reiserege-lungen ließ sich die mit dem Mauerbau an-gestrebte Abschottung der DDR-Bevölkerungvor „westlichen Einflüssen” weniger dennje aufrechterhalten. Zwischen 1969 und1975 verdreifachte sich die Zahl der Bun-

desbürger, die in die DDR kamen. Währendin den Sechzigerjahren Westberliner kaumin die DDR oder in den Ostteil der Stadt rei-sen konnten, waren es 1975 über 3,5 Mil-lionen. In umgekehrter Richtung fuhrendreißig Jahre nach Kriegsende außer denRentnern rund 40.000 DDR-Bürger in drin-genden Familienangelegenheiten nach Wes-ten; ein Rinnsal nur und dennoch ein Fort-schritt, gemessen an der Zeit nach demMauerbau. Die deutsch-deutschen Verhand-lungen sollten nicht nur die Lebensverhält-nisse in der DDR ein Stück weit verbessern,sondern stets auch – entgegen der Absichtder SED-Führung – die Besonderheit desdeutsch-deutschen Verhältnisses und die Of-fenheit der deutschen Frage unterstreichenund so der Entfremdung zwischen denLandsleuten in Ost und West entgegenwir-ken.

Inzwischen nahmen immer mehr DDR-Bürgerdie von Erich Honecker 1975 unterzeich-nete KSZE-Schlussakte von Helsinki beimWort, in der sich die DDR-Führung zur Re-spektierung der Grundrechte verpflichtete,zu denen auch das Recht auf Freizügigkeitzählt. So stieg in den Achtzigerjahren dieZahl derjenigen, die einen Ausreiseantragin der DDR stellten kontinuierlich an. Warenes 1984 rund 32.000 Bürger, die auf eineÜbersiedlung nach Westdeutschland warte-ten, sollten es 1988 über 110.000 sein.Daran konnten auch die zunehmenden Schi-kanen seitens der Partei und ihrer Staatssi-cherheit nichts ändern.

(Foto: Ullstein, Günter Schneider)

1984 in Leipzig

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vakat

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Das letzteJahrzehnt

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62Drei Jahrzehnte nach Gründung der DDRstand die Staats- und Parteiführung voreinem unauflösbaren Dilemma. Kein ande-res Ostblockland konnte mit einem ver-gleichbaren Lebensstandard aufwarten. Ver-fügte Mitte der Siebzigerjahre erst jedervierte Haushalt über einen PKW, war es1979 bereits jeder dritte. Auch der Ausstat-tungsgrad mit hochwertigen Konsumgüternwie Fernsehapparaten (90 %), Kühlschrän-ken (fast 100 %) oder Waschmaschinen(80 %) konnte sich mit nicht wenigen west-lichen Industriestaaten messen. Ein ehrgeizi-ges Wohnungsbauprogramm linderte denWohnungsnotstand. Die Einkommen undRenten stiegen. Der Staat investierte großeSummen in das Gesundheitswesen und das

Bildungssystem. Und dennoch wuchs derUnmut in der Bevölkerung. Anders als vonder SED-Führung erwartet, sahen die Men-schen keine Veranlassung, die „sozialen Er-rungenschaften” mit politischem Wohlver-halten und Loyalität zu danken. Auch dersteigende Lebensstandard konnte die feh-lende Demokratie und die staatliche Gän-gelung zwischen Oder und Elbe nicht ver-gessen machen. Außerdem hatten die voll-mundigen Versprechungen der Wirtschafts-pläne und das Westfernsehen längst nochhöhere Erwartungen geweckt, die ange-sichts der angespannten wirtschaftlichenLage einfach nicht zu verwirklichen waren.Allen Abgrenzungsbemühungen der Führungzum Trotz blieb die Bundesrepublik für die

Wohnungsbau in Dresden. Um Kosten zu sparen, werden die Häuser aus vorgefertigten Teilen zusammen-gesetzt.

(Foto: Bundesarchiv, U 0911/7)

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63Mehrheit der Ostdeutschen die Beziehungs-gesellschaft, mit der sie die eigenen Lebens-verhältnisse verglichen. Da half es wenig,dass die DDR im osteuropäischen Vergleichin vielen Bereichen eine Spitzenstellung ein-nahm.

Die SED-Führung reagierte mit einem Zick-zackkurs zwischen einer „harten” und einer„weichen” Politik. Wie in vorausgegange-nen Krisensituationen (und ebenso vergeb-lich) versuchte sie, die eigene Partei und dieihr untergeordneten Massenorganisationenund Blockparteien organisatorisch zu festi-gen und in stärkerem Maß als bisher für dieanstehenden Aufgaben zu mobilisieren.Gleichzeitig intensivierte sie die politischePropagandaarbeit. Hinzu kam der weitereAusbau des Überwachungsstaates. Seit denspäten Sechzigerjahren hatte sich nicht nurder hauptamtliche Apparat der Staatssicher-heit mit 91.000 Mitarbeitern nahezu ver-doppelt. Auch die Zahl der Inoffiziellen Mit-arbeiter war seit 1968 binnen sieben Jah-ren von 100.000 auf rund 180.000 ange-stiegen.

Andererseits unternahm die Parteiführunggroße Anstrengungen, um die Wirtschaftwieder anzukurbeln. Bis zuletzt sollte sie dieHoffnung nicht verlieren, die unzufriedeneBevölkerung mit einer Steigerung des Le-bensstandards zumindest neutralisieren zukönnen. Doch die Investitionsprogramme imBereich der Mikroelektronik oder die halb-herzigen Wirtschaftsreformen im Plange-füge vermochten die Stagnation nicht zuüberwinden. Weder in der Politik noch inder Wirtschaft war die SED bereit, ihre„führende Rolle” einzuschränken, um aufdiese Weise Spielraum für kreative Energie,eigenständiges Denken und vor allem Han-deln zu bieten.

So mag es in der historischen Rückschauzunächst befremdlich erscheinen, dass trotzdieser scheinbar so offensichtlichen Krisen-erscheinungen das Handeln aller politi-schen Akteure innerhalb und außerhalb derDDR am Status quo, d. h. am Bestehenden,orientiert blieb. Dies galt zuvorderst für dieSED, die mit ihren Parteitagen, ihren Auf-märschen und ihrer Propaganda Zuversichtdemonstrierte und in den Achtzigerjahrenschließlich jeden sechsten Erwachsenen inihren Reihen zählte. In den Wahlen zurVolkskammer und den Kommunalparlamen-ten erzielten die Einheitslisten die gewohnte99prozentige Zustimmung. Die Bevölkerungwar nach außen hin durch ein Netz vonMassenorganisationen und Parteien in dasSystem mit eingebunden.

SED-Staat und Kirche

Auch die einzige nicht gleichgeschalteteInstitution in der DDR, die Kirche, richteteihr Handeln am Status quo aus. Seit denSiebzigerjahren hatte insbesondere dieevangelische Kirche in Fragen der Friedens-sicherung, der individuellen Menschen-rechte und des Umweltschutzes den kriti-schen Dialog mit der SED begonnen. Inden Achtzigerjahren suchte und fand diesich formierende DDR-Bürgerrechtsbewe-gung unter dem Dach der Kirche Schutz.Die Kirchenleitungen sahen sich dabei mitErwartungen konfrontiert, die eine ständigeÜberprüfung des eigenen Selbstverständnis-ses und Handlungsspielraumes abverlang-ten. „Kirche im Sozialismus” lautete seit1971 die Ortsbestimmung des Protestantis-

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64mus in der DDR: „In dieser so geprägtenGesellschaft, nicht neben ihr, nicht gegensie”, sollte kirchliches Handeln erfolgen.

An der Nahtstelle der Blöcke erwuchs derevangelischen Kirche eine Mittlerfunktionzwischen Ost und West, die eine ständigeGratwanderung erforderte. Voraussetzungdafür war Vertrauensbildung in beide Rich-tungen. Doch Vertrauen erfordert auch Ver-traulichkeit. So offenbarte sich das Geflechtder Staat-Kirche-Beziehungen in der DDR erstnach 1989. Als nach Öffnung der Archivedie Stasi-Verstrickung einzelner kirchlicherWürdenträger und Funktionäre bekanntwurde, geriet die Kirche ins Kreuzfeuer derKritik. Plötzlich galt sie für manche als einevon der Staatssicherheit infiltrierte und weit-gehend von der SED gelenkte Institution.

Angesichts einer staatlichen Kirchenpolitik,die seit Jahrzehnten zwischen Unterdrückungund Dialog pendelte, fiel es der Kircheschwer, ihren Handlungsspielraum zu jedemZeitpunkt zu überschauen und zu nutzen.Schließlich blieb die Strategie der SED-Kir-chenpolitik stets am Fernziel ausgerichtet, dieKirchen in der DDR irgendwann einmal ab-zuschaffen. Unstrittig ist heute, dass es derStaatssicherheit an einigen Stellen gelang,die Kirchen zu unterwandern. Unstrittig istauch, dass es in jahrelanger Zusammenar-beit hinter den Kulissen zu manch –- plumper– Vertraulichkeit zwischen den Verhandlungs-partnern kam. Dennoch muss festgehaltenwerden, dass das bisher vorherrschende Bildder evangelischen Kirche als ein Widerpartstaatlicher Allmacht, eine Förderin desdeutsch-deutschen Dialogs und jenes einerKirche, die konspirativ mit SED-Führern undder Staatssicherheit verhandelte und dabeistellenweise die eigene Integrität gefährdete,zwei Seiten derselben Medaille darstellen.

Deutsch-deutscheBeziehungen in denAchtzigerjahrenUnd schließlich orientierte sich auch dasdeutsch-deutsche Verhältnis in den Achtzi-gerjahren bis zuletzt an der politischen Rea-lität, die eine plötzliche Implosion des so-wjetischen Imperiums kaum vorstellbar er-scheinen ließ. Heute verblasst die Erinne-rung an die Zeit vor dem Epochenwandel inOsteuropa 1989 immer stärker. Dabei stan-den sich die beiden Machtblöcke seit denausgehenden 70er Jahren in neuer Feindse-ligkeit gegenüber. Der Westen hatte die Sta-tionierung sowjetischer Mittelstreckenrake-ten in Osteuropa mit dem Nato-Doppelbe-schluss beantwortet. Bei vielen Menschen –in Ost und West – wuchs die Angst voreinem Atomkrieg. Die Sowjetunion war1979 in Afghanistan einmarschiert und diepolnische Führung bekämpfte die Gewerk-schaftsbewegung „Solidarität” 1981 mitdem Kriegsrecht, um nur einige Eckpunkteder damaligen Situation in Erinnerung zurufen. Angesichts des Wiederauflebens desKalten Krieges erschien es nicht nur Bonn,sondern zunehmend auch Ostberlin alsvordringliches Ziel, im Rahmen der immerengeren Handlungsspielräume Schadens-begrenzung zu leisten. Die west- und nochmehr die ostdeutsche Deutschlandpolitikwar stets eine Politik unter Vorbehalt. KeineSeite genoss in dieser Frage volle Souverä-nität.

Die großen, grundsätzlichen Streitpunkte inder Deutschlandpolitik waren bereits in denSiebzigerjahren zur Zeit der neuen sozial-liberalen Ostpolitik ausgetragen worden.

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65Auch der Regierungswechsel im Jahre1982 änderte nichts wesentliches am mitt-lerweile parteiübergreifenden Konsens indieser Frage. Nicht deutschlandpolitischeMaximalziele standen im Mittelpunkt dieserPolitik, sondern der Versuch, die Folgen derdeutschen Teilung vor allem für die Bevölke-rung im Osten erträglicher zu gestalten unddas im Westen schwindende Gefühl natio-naler Zusammengehörigkeit wachzuhalten.Auch im vierten Jahrzehnt der deutschen Tei-lung schien die deutsche Frage auf ab-sehbare Zeit nicht auf der „Tagesordnungder Weltgeschichte” zu stehen. In allenpolitischen Lagern herrschte weitgehendEinigkeit, dass die Wiedervereinigung al-lenfalls im Rahmen einer europäischen Frie-densordnung verwirklicht werden könne, mitder die Spaltung Europas überwundenwürde.

Für Ostberlin hätte das Parkett der deutsch-deutschen Beziehungen Anfang der Acht-zigerjahre kaum glatter sein können. Ange-sichts der neuen Eiszeit auf internationalerEbene drohte der innerdeutsche Dialogzum Schweigen gebracht zu werden. Trotzaller ideologischer Abgrenzung nachWesten war sich die DDR-Führung jedochwohl bewusst, dass die ostdeutsche Volks-wirtschaft zunehmend von der Kooperationmit den westlichen Industriestaaten – undhier vor allem mit der Bundesrepublik –abhing.

In dieser diffizilen Situation war es ausge-rechnet Erich Honecker, der im Oktober1980 unverhofft auf Konfrontationskursging. Vor Parteifunktionären in Gera for-derte er nachdrücklich die Anerkennungeiner DDR-Staatsbürgerschaft sowie die Auf-wertung der Ständigen Vertretungen in Bonnund Ostberlin zu regulären diplomatischen

Botschaften. Auch über die innerdeutschenBeziehungen schien sich ein neuer „Frost”zu senken.

Die zeitgenössischen Beobachter mut-maßten nicht zu Unrecht, dass die Po-litbürokraten die innenpolitischen Auswir-kungen ihrer Deutschlandpolitik damals mitSorge betrachteten. Mit der Öffnung derGrenzen für den Warenverkehr gelangtenauch neue Ideen und damit Hoffnungenauf eine Veränderung des Systems in dieDDR. Der eigentliche Anstoß für dieseunvermittelte Brüskierung der Bundesregie-rung kam jedoch aus Moskau. Mit zu-nehmender Skepsis überwachte mandort die regen Kontakte der DDR mit demWesten. Bis hinauf in ihr Politbüro war dieSED mit Gewährsmännern des Kremlsdurchsetzt. Als der Honecker-Intimus undZK-Sekretär für Wirtschaft Günter Mittagam 22. April 1980 dem Politbüro überein Treffen mit Bundeskanzler Schmidt undanderen Spitzen der Bundesrepublik amRande der Hannover Messe berichtete,läuteten bei den Männern Moskaus dieAlarmglocken. „Wir wissen ... nicht, obdas, was er dem Politbüro mitgeteilthat, überhaupt stimmt. Wir beide habenZweifel daran und glauben, dass der Be-richt von Günter Mittag im Politbüro eine`extra schön aufgemachte Information´ vonErich Honecker und Günter Mittag für dasPolitbüro und die KPdSU ist, um beide poli-tisch zu befriedigen”, petzten Werner Kro-likowski und Willi Stoph nach Moskau.Selbst der schönfärberische Bericht würdedeutlich machen, „dass Günter Mittag nichtals ein Vertreter der festgefügten sozialis-tischen Staatengemeinschaft und ihrer ein-heitlichen Außenpolitik, sondern als Teilneh-mer eines deutsch-deutschen Techtelmech-tels aufgetreten ist. Im Grunde genommen

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hat er mit Schmidt auf einem Stuhl gesessen,den Schmidt hingestellt hat, um zwischender Sowjetunion und der DDR zu differen-zieren.”

Mit seinen Geraer Forderungen versuchteHonecker, solche Befürchtungen zu zer-streuen. Der Parteichef wusste sehr wohl,was für ihn auf dem Spiel stand. Er selbsthatte zehn Jahre zuvor seinen einstigenMentor Ulbricht mit dem Hinweis auf des-sen unkalkulierbare Deutschlandpolitik beiBreshnew angeschwärzt und damit dessenSturz eingeleitet.

Tatsächlich sollten die zwischenstaatlichenKontakte in den Achtzigerjahren schließlichdennoch einen ungeahnten Aufschwung er-fahren. Erich Honecker und seine SED wur-den zu umworbenen Gesprächspartnern.Mit Ausnahme der Grünen pflegte jedewestdeutsche Partei eifersüchtig „ihrenDraht” zum kleineren Nachbarn. Für dieCDU/CSU entwickelten Franz Josef Straußund Alexander Schalck-Golodkowski eineMännerfreundschaft. Die SPD ließ ihreGrundwertekommission mit den Parteistrate-gen der SED über den „Streit der Ideologienund die gemeinsame Sicherheit” diskutie-

(Foto: Bundesarchiv 0311/103 N)

Alexander Schalck-Golodkowski und Franz Josef Strauß treffen sich im Rahmen der Leipziger Frühjahrsmesse1984

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67ren. Davon inspiriert, stellte der FDP-Vor-sitzende Hans-Dietrich Genscher bei einemseiner regelmäßigen Gespräche mit demVordenker der SED, Otto Reinhold, imAugust 1987 fest, „es wäre sehr gut, wenneine Möglichkeit gefunden würde, auchmit Vertretern der FDP kontinuierlicheGespräche zu führen”. Schon einmal – imJuli 1986 – hatte der Bonner Außenministerdie Frage aufgeworfen, ob man nicht„einen inoffiziellen Kanal finden” könne,„außerhalb der staatlichen und diploma-tischen Verbindung, auf dem Meinungenund Positionen ausgetauscht” werden könn-ten.

Perestroika?Nein Danke!Die SED zeigt sichreformunfähig

Die mit dem Amtsantritt Gorbatschows ein-setzende Entkrampfung der internationalenBeziehungen bestätigte die deutsch-deut-schen Entspannungsbemühungen. Aus der„Koalition der Vernunft”, so hatte Bundes-tagspräsident Philipp Jenninger diese Kon-takte 1984 charakterisiert, entwickelte sichschließlich eine De-facto-Anerkennung desHonecker-Regimes, auf die der alternde„rote Zar” in Ostberlin so erpicht war. DerBesuch Erich Honeckers in Bonn auf Einla-dung von Helmut Kohl im September 1987„und die durchgesetzte politische und proto-kollarische Behandlung des Genossen ErichHonecker als Staatsoberhaupt eines ande-ren souveränen Staates dokumentierten voraller Welt Unabhängigkeit und Gleichbe-rechtigung beider deutscher Staaten, unter-strichen ihre Souveränität und den völker-rechtlichen Charakter ihrer Beziehung”, wiees zweifellos nicht unzutreffend im internenBesuchsbericht für das SED-Politbüro hieß.Doch während der ostdeutsche Parteiführerdiese Früchte des „neuen Denkens” in derSowjetunion gerne in Anspruch nahm,stießen „Glasnost” und „Perestroika” bei derSED-Führung auf kaum verhüllte Ablehnung.Nach der Wende aufgefundene interne Ge-sprächsprotokolle illustrieren das zuneh-mende Unvermögen der beiden Parteifüh-rer, die Probleme des jeweils anderen zuverstehen. Aus der Sicht Gorbatschows wareine Modernisierung der sowjetischen Par-teiherrschaft eine unabdingbare Notwen-

(Foto: Bundesarchiv, 1987/0907/19)

September 1987: Erich Honecker besucht die Bun-desrepublik Deutschland

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68digkeit. Honecker und seine Führungsmann-schaft spürten dagegen, dass die aus demOsten vordringende Reformdiskussion dieeigene Macht im Lande untergraben würde.Denkverbote, in der DDR seit Jahrzehnten zueinem hohen Preis aufrecht erhalten, wur-den plötzlich vom östlichen Bruder in Fragegestellt. Verbittert mussten die greisen Polit-bürokraten im Herbst 1986 zur Kenntnisnehmen, dass der prominente sowjetischeAutor Jewgeni Jewtuschenko im Westber-liner Fernsehen „von einer einheitlichen deut-schen Literatur” sprach. Gegenüber Gorba-tschow etikettierte Honecker den Auftritt als„konterrevolutionär”. Nach Jahrzehnten dertotalen Abhängigkeit und bedingungsloserUnterordnung mutete Honeckers Klage fasttragisch an: „Für uns ist es wichtig, an einerund nicht an zwei Fronten kämpfen zu müs-sen.”

1988/89 sollten sich die mit der Annä-herung an die Bundesrepublik sowie mitdem Fortgang der sowjetischen Reformenverbundenen Befürchtungen der Hardlinerin der SED auf drastische Weise bestätigen.Im November 1988 informierte der Leip-ziger Jugendforscher Walter Friedrich denals Honecker-Kronprinzen angesehenenZK-Sekretär Egon Krenz in einer strengvertraulichen Analyse über den stetigwachsenden Einfluss der BRD in Fragen derWirtschaft und Kultur. Die gravierenden„Mängel und Schwächen im eigenen Land(z. B. Versorgungs-, Ersatzteilprobleme, In-formationspolitik, Schönfärberei, reale de-mokratische Mitgestaltung etc.) werden im-mer deutlicher wahrgenommen und immerkritischer bewertet. An der Überlegenheitdes Sozialismus wird immer mehr ge-zweifelt. Die Nichtöffnung in Richtung derPerestroika-Strategie spitzt alles noch zu.”Die Parteiführer verfügten zu diesem Zeit-

punkt jedoch weder über alternative po-litische Konzepte noch über materielleRessourcen, um dem wachsenden Unmut inder Bevölkerung durch eine kurzfristigeVerbesserung des Lebensstandards zu be-gegnen. Die Bemühungen der SED-Führung,die eigene Macht mit Durchhalteparolenund Repression zu behaupten, griffen insLeere.

Die Oppositionformiert sich

Die tiefe politische Krise, in der sich die DDRbefand, trat vor und nach den Kommunal-wahlen vom Mai 1989 schlaglichtartig zu-tage. Bereits im Vorfeld der Wahlen hattenoppositionelle Gruppen erklärt, dass sie diebis dahin üblichen Wahlfälschungen nichtmehr hinnehmen würden. Doch angesichtsder zugespitzten Lage war die Parteiführungweniger denn je bereit, ein politisches Stim-mungsbild durch unmanipulierte Wahlenzuzulassen. Zwar lag der Grad der Zu-stimmung zu den Einheitslisten wie auchdie Wahlbeteiligung erstmals knapp unter99 Prozent, doch auch diese Zahlen warenwie seit Jahren gefälscht. Doch erstmals tra-ten Wahlbeobachter aus den Friedens- undÖkologiegruppen massiv an die Öffentlich-keit. Protestresolutionen, sogar kleinere De-monstrationen und Hunderte von Strafanzei-gen wegen Wahlfälschung demonstriertendas wachsende Selbstvertrauen der Bürger-rechtler. Angesichts der starren Haltung derParteiführung und einer immer offensicht-

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(Foto: Bundesarchiv, 97/1/32)

Ausreisewillige besetzen die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag

licheren Versorgungkrise war die Zahl derAusreisewilligen Ende 1988 auf über113.000 Menschen angestiegen. Als Un-garn im Mai 1989 damit begann, seineGrenzsperren zu Österreich abzubauen,suchten Hunderte staatsmüde DDR-Bürgerüber Budapest ihren Weg in den Westen.Ausreisewillige besetzten die dortige bun-desdeutsche Botschaft. Bald sollten auchdie Bonner Vertretungen in Prag und War-schau mit DDR-Bürgern überfüllt sein. Ohnemit der DDR-Regierung Rücksprache zu neh-men, öffnete Ungarn am 10./11. Septem-ber seine Grenzen nach Westen. Daraufhinsetzte in der DDR ein Massenexodus ein. In-nerhalb weniger Wochen verließen auf

diese Weise über 25.000 Menschen dasLand.

Die SED-Führung reagierte mit hilflosemStarrsinn. Im August reimte Honecker vor Er-furter Mikroelektronikern: „Den Sozialismusin seinem Lauf hält weder Ochs noch Eselauf.” Den Flüchtlingen weine man „keineTräne” nach, ließ der kranke Generalse-kretär im Oktober auf dem Höhepunkt derFluchtbewegung verlauten.

Falls das Politbüro im Sommer noch mit demGedanken gespielt hatte, eine massenhafteAusreisewelle als Ventil zu nutzen, um dieaufgeheizte Situation im Lande abzukühlen,

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um nur einige zu nennen. In Leipzig erfuhrendie Montagsdemonstrationen trotz Massen-festnahmen und Schlagstockeinsatz durchdie Staatsmacht einen ständigen Zulauf. Alsdie DDR-Führung am 7. Oktober 1989 an-lässlich des vierzigsten Jubiläums der Staats-gründung zu einer letzten Massendemonst-ration mobilisierte, demonstrierten Bürger imganzen Land für demokratische Reformen.Über das Westfernsehen drang nicht nurder Ruf vieler zehntausender friedlicher De-monstranten „Wir sind das Volk!” in dieWohnzimmer in Ost und West, sondernauch das brutale Vorgehen der „Volks”- Poli-zei.

so machte die allerorts stürmisch wach-sende Bürgerrechtsbewegung dem endgül-tig einen Strich durch die Rechnung. Aus„Wir wollen raus!”, dem Protestruf der Aus-reiswilligen, wurde in den Sommermonatendes Jahres 1989 ein trotziges „Wir bleibenhier!”. Überall im Lande formierten sich poli-tische Gruppen, die für eine demokratischeUmgestaltung der DDR eintraten: Bereits imJuli hatten sich Menschen mit dem Ziel zu-sammengefunden, eine sozialdemokrati-sche Partei ins Leben zu rufen. Im Septem-ber beantragten das „Neue Forum” und„Demokratie jetzt” ihre Zulassung. Im Okto-ber folgte der „Demokratische Aufbruch”,

(Foto: Bundesarchiv, 97/1/33)

1989: Zehntausende Menschen aus der DDR flüchten über Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei in denWesten.

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71Die gelähmte SED

Seit den traumatischen Erfahrungen des17. Junis hatte die SED alles versucht, umeinen neuerlichen „Tag X”, an dem es dasVolk ein weiteres Mal wagen könnte, dieMacht im Staate herauszufordern, im Keimzu ersticken. Flächendeckend war das Landmit offiziellen und inoffiziellen Geheim-dienstmitarbeitern überzogen worden, fastalle Oppositionsgruppen durch die Staatssi-cherheit infiltriert. Die Arsenale der Betriebs-kampfgruppen, der Volkspolizei und -armeewaren hochgerüstet. Und dennoch erschien

die SED-Spitze im Angesicht der Krise wiegelähmt. Schenkt man den späteren Recht-fertigungsversuchen ehemaliger SED-Spit-zenfunktionäre Glauben, dann war in denFührungsgremien auf zentraler wie auf Be-zirksebene in den Achtzigerjahren die Not-wendigkeit von Reformen durchaus erkanntworden. Schließlich häuften sich in dieserZeit die Berichte der Staatssicherheit unddes eigenen Apparats über die desolatewirtschaftliche und politische Situation imLande. Dennoch wagte niemand demselbstherrlichen und starrsinnigen RegimeErich Honeckers, der zentrale Entscheidung-en immer häufiger mit seinem Staatssicher-heitsminister Mielke und dem Wirtschafts-

Juni 1989: Erich Honecker wird in Moskau von Michail Gorbatschow empfangen(Foto: Bundesarchiv, 1989/0628/35 N)

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72verantwortlichen Günter Mittag im Allein-gang traf, zu widersprechen. Anders als beider Ulbricht-Ablösung 1971 konnte derlängst gealterte politische Nachwuchs inder zweiten Hälfte der Achtzigerjahre nichtmehr auf die Unterstützung der sowjetischenBruderpartei hoffen. 1986 hatte Gorbat-schow die „Selbständigkeit jeder Partei, ihrRecht auf souveräne Entscheidung über dieEntwicklungsprobleme ihres Landes“ erklärt.Doch es dürfte weniger die Sorge vor derallgegenwärtigen Staatssicherheit gewesensein, die Egon Krenz und Genossen zau-dern ließ. Viel stärker wog angesichts derVielzahl der unlösbar scheinenden Pro-bleme die eigene Konzeptionslosigkeitund das Unvermögen, sich den Zusammen-bruch des eigenen Systems vorstellen zukönnen.

Von der eigenen Führung alleingelassenhatte im Zwei-Millionen-Heer der SED-Mit-gliedschaft in den späten Achtzigerjahrenein Erosionsprozess stattgefunden, der denStillstand des Systems perfekt machte. Mitwachsender Erbitterung reagierten 1989auch die meisten Parteimitglieder auf dieSprachlosigkeit der eigenen Führung.Schließlich mussten sie Tag für Tag an denWerkbänken und in den Büros die sich ver-

schlechternde Versorgungslage begründen,die Verlogenheit der Presse verteidigen underklären, warum man von der SowjetunionGorbatschows nicht mehr „siegen lernen”wolle. So wurde die einst monolithische Par-tei in ihrer Zerrissenheit zum Spiegelbild derGesellschaft. Alte Kader forderten ein hartesVorgehen gegen die politische Opposition.Vor allem jüngere Mitglieder, Intellektuelleund Künstler hofften vergeblich auf „Glas-nost” und „Perestroika”. Die Meisten steck-ten ihren Kopf in den Sand und warteten aufein Wunder.

Die Zahl derer, die im Spätsommer 1989eine gewaltsame „chinesische Lösung”gutgeheißen hätten, war immer kleinergeworden. Auch die Sowjets zeigten –anders als 36 Jahre zuvor – keine Bereit-schaft, die Staats- und Parteiführung vordem eigenen Volk mit Panzern zu schützen.

Im Gegenteil. Am Rande der Feierlichkeitenzum vierzigsten Jahrestag der DDR-Grün-dung schrieb Michail Gorbatschow demSED-Politbüro ins Stammbuch: „Wer zuspät kommt, den bestraft das Leben”. Dochda war die Entwicklung in der DDR denHerrschenden längst aus dem Ruder gelau-fen.

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73Von der „Wende”zum Ende

Als am Abend des 9. Oktober 70.000Menschen zur Leipziger Montagsdemon-stration strömten, stand die Situation aufMessers Schneide. Sicherheitskräfte stan-den bereit, die Kundgebung gewaltsamaufzulösen. Doch setzten sich in der Leip-ziger SED-Bezirksleitung die besonnenenKräfte durch. In einem von Kurt Masur, demKapellmeister des Leipziger Gewandhau-ses, initiierten und im Rundfunk verlesenenAufruf appellierten u. a. auch drei Sekre-täre der SED-Bezirksleitung für einen fried-lichen Ablauf des Geschehens. Jetzt über-schlugen sich die Ereignisse. Immer mehrBürger schlossen sich den Oppositionsgrup-pen an und nahmen an den Kundgebungenteil.

Als am 16. Oktober schließlich über100.000 Demonstranten in Leipzig demo-kratische Reformen einklagten, versuchtenTeile der Parteiführung noch eine „Wende”in ihrem Sinne „einzuleiten”. Egon Krenz,der Berliner SED-Bezirkschef Günter Scha-bowski, der Vorsitzende der Einheitsgewerk-schaften Harry Tisch und MinisterpräsidentWilli Stoph sowie einige weitere Mitgliederder SED-Spitze verständigten sich, ErichHonecker abzusetzen. So hofften sie, dasangeschlagene System vor dem völligenZusammenbruch zu retten. Erich Honeckerahnte nichts, als das Politbüro wie jedenDienstag, so auch am 17. Oktober zueiner Sitzung zusammentrat. Nach seineneinleitenden Worten unterbrach ihn WilliStoph, der vorschlug, die Tagesordnungzu ändern und über die Absetzung des

Generalsekretärs zu beraten. Mit „einemsteinernen Gesicht”, so erinnerte sichSchabowski später, ließ Honecker dieDebatte zu, an deren Ende beschlossenwurde, das Zentralkomitee sollte Honeckeram folgenden Tag „auf eigenen Wunsch”von allen Ämtern entbinden. So wähltedas ZK am 18. Oktober Egon Krenz zumneuen SED-Generalsekretär. Sechs Tagespäter ließ sich der langjährige FDJ-Vor-sitzende zum Vorsitzenden des Staatsratesund des Nationalen Verteidigungsrateswählen. Krenz versprach eine „Wende”.Nach einigen Korrekturen an der Partei-linie hoffte er offenbar, zum politischenTagesgeschäft übergehen zu können. Dochdie halbherzigen personellen Veränderung-en und politischen Absichtserklärungenkonnten die aufgeheizte Stimmung imLand nicht abkühlen. Die Menschen ver-langten grundlegende politische Refor-men.

Der erste Staatsbesuch führte den neuge-wählten Generalsekretär nach Moskau.Dort erklärten Krenz und Gorbatschow am1. November übereinstimmend, das ThemaWiedervereinigung stehe „nicht auf der Ta-gesordnung”. Wenige Tage später solltesich die Dynamik der Ereignisse jedochweiter beschleunigen. Auf der größtenMassendemonstration in der Geschichteder DDR forderten am 4. November rundeine Million Menschen auf dem OstberlinerAlexanderplatz Presse-, Reise-, Meinungs-und Versammlungsfreiheit sowie freieWahlen. Jetzt begann sich in der SED dasFührungskarussell immer schneller zu dre-hen. Bis Mitte November waren fast alleehemaligen Spitzenfunktionäre auf zentra-ler, Bezirks- und Kreisebene abgelöst wor-den. Der als Reformer geltende DresdnerSED-Bezirkschef Hans Modrow wurde ins

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Politbüro berufen und am 13. Novembervon der Volkskammer zum neuen Regierungs-chef gewählt.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ein anderes Er-eignis die politische Landschaft bereits

grundlegend verändert. In der Nachtvom 9. auf den 10. November öffnetedie SED-Führung – beinahe beiläufig undohne Absprache mit der Sowjetunion –die Grenzen zwischen Ost- und Westber-lin.

Bald sollte deutlich werden, dass derMauerfall nicht nur das Ende der SED-Dik-tatur markierte, sondern auch das Endeder DDR eingeleitet hatte. So gestaltetensich die letzten Monate der DDR als Vor-geschichte der deutschen Wiedervereini-gung, die hier nur knapp skizziert werdenkann.

(Foto: Bundesarchiv, 1989/1113/27)

Egon Krenz (rechts) am 13. 11. 89 in der Volkskammer

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Demonstrationszug am 4. November 1989 in Berlin

(Foto: Bundesarchiv, 1989/1104/30 N)

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(Foto: Bundesarchiv, 1989/1114/19 N)November 1989

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77Der Weg zurdeutschen Einheit

Der Übergang zur Demokratie vollzog sichzwischen Oder und Elbe ebenso rasch wiewidersprüchlich. Binnen weniger Wochenverlor die SED eine Machtposition nachder anderen. Am 1. Dezember wurde die„führende Rolle” der Partei aus der Verfas-sung gestrichen. Von den Stützen ihrer Herr-schaft, den Betriebskampfgruppen und derStaatssicherheit entblößt, versuchte die SED,auf einem außerordentlichen Parteitag MitteDezember zu retten, was noch zu retten war.

Die Mehrheit der Delegierten stimmte gegendie Forderung, die Partei aufzulösen. Unterdem Namen „SED – Partei des Demokrati-schen Sozialismus” (PDS) hoffte man aufeinen wie auch immer gearteten Neuan-fang. Der Parteitag wählte den Rechtsan-walt Gregor Gysi an die Spitze eines neu-geschaffenen Parteivorstandes, in dem sichkaum noch Mitglieder des alten ZK befan-den. Die neue alte Partei proklamierte einendiffusen „dritten Weg jenseits von stalinisti-schem Sozialismus und Herrschaft transna-tionaler Monopole”.

Formal hatten während der vierzigjährigenDDR-Geschichte die politischen Struktureneiner parlamentarischen Demokratie fort-

Wahlkampf zur Volkskammerwahl(Foto: Bundesarchiv, 1990/0214/26 N)

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(Foto: Bundesarchiv, 1990/0312/21 N)

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79bestanden. Nach dem Zusammenbruchder SED-Diktatur eigneten sich die Block-parteien und Massenorganisationen ebensowie die Volksvertretungen von der Ge-meinde- bis zur zentralen Ebene die ihnenbis dahin versagte Autonomie sowie diein der DDR-Verfassung verankerten Funktio-nen an. So entstand die merkwürdige Situa-tion, dass die – mit wenigen Ausnahmen –gleichen Politiker und Funktionäre, die we-nige Monate zuvor noch Ergebenheits-adressen an die SED-Führung gerichtet hat-ten, sich mit „gewendeten” Positionen andie Spitze des politischen Neuanfangs inder DDR stellten. Auf diese Weise konnteauch die SED als stärkste Volkskammerfrak-tion noch bis Frühjahr 1990 der Regierungvorstehen, zumal ihre sofortige Entmachtung

angesichts der schwer zu kalkulierendenHaltung der Sowjetunion kaum möglichschien.

Um auf die politische Entwicklung Einflussnehmen zu können, richtete die Bürgerbe-wegung bis zum Jahresende auf allen politi-schen Ebenen und in zahllosen Städten undGemeinden „Runde Tische” ein, an denenVertreter aller politischer Gruppen Platz nah-men. In viele Richtungen gespalten, fiel esden Vertretern der Bürgerbewegung jedochschwer, sich gegen den machterprobten Ap-parat der alten politischen Kräfte durchzu-setzen.

Anfang 1990 wurde deutlich, dass die po-litischen Kräfte des Herbstes 1989, von der

Mitglieder des Bürgerkomitees überwachen das Einlagern von Ausrüstungen und Aktenmaterial des Amtes fürNationale Sicherheit in Gera.

(Foto: Bundesarchiv, 1990/0108/27N)

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Viele der ehemals begehrten DDR-Produkte konnten im Wettbewerb nicht bestehen und erwiesen sich gegenDM als unverkäuflich.

(Foto: Bundesarchiv, ADN, Bernd Wüstneck)

ehemaligen Staatspartei über die Blockpar-teien bis hin zu den zahlreichen politischenOppositionsgruppen, die die SED-Diktaturerfolgreich herausgefordert hatten, das Heftdes Handelns zunehmend aus der Hand ge-nommen bekamen. Seit dem Mauerfall hat-ten Millionen DDR-Bürger die Bundesrepu-blik und Westberlin besucht. Angesichts derdabei gewonnenen Eindrücke verloren dieMenschen zwischen Elbe und Oder raschdas Interesse an einer „anderen” DDR. Ausder Parole „Wir sind das Volk” wurde dieübermächtige Losung „Wir sind ein Volk”.Nach vier Jahrzehnten stand die Frage derWiedervereinigung plötzlich auf der politi-schen Tagesordnung. Im Februar signali-

sierte Moskau, dass die Sowjetunion keineprinzipiellen Einwände mehr gegen eineVereinigung der beiden deutschen Staatenhabe. Nach anfänglichem Zögern spran-gen fast alle Parteien und die meisten politi-schen Gruppierungen auf den Einheitszugauf. Kontrovers diskutiert wurde nur nochdas Prozedere. Voraussetzung für alle wei-teren Schritte waren freie Volkskammerwah-len, die von Mai auf den 18. März vorver-legt wurden. Der Wahlkampf verdeutlichtedie Sogkraft des westlichen Nachbarn.Schnell hatten sich in der DDR die politi-schen Konstellationen der Bonner Republiketabliert. Die CDU förderte nach Kräften diegleichnamige einstige Blockpartei. Die FDP

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813. Oktober 1990, Tag der deutschen Einheit, aus der Fahne wurde das DDR-Staatsemblem herausgeschnitten.

(Foto: Bundesarchiv, ADN, Jan Bauer)

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82nahm die LDP unter ihre Fittiche. Ausgestattetmit ihren alten Ressourcen und einem funk-tionierenden Apparat (Presse, Gebäudeusw.) genossen die früheren Bündnispartnerder SED gegenüber der neugegründetenSPD sowie der zersplitterten Bürgerbewe-gung einen Startvorteil, den sie zu nutzenwussten. So ging am Abend der Wahl daskonservative Bündnis „Allianz für Deutsch-land”, gebildet aus Ost-CDU, Demokrati-schem Aufbruch und Deutscher-SozialerUnion (DSU), mit über 48 Prozent der Stim-men als Sieger aus den ersten freienWahlen in Ostdeutschland seit 1946 her-vor. Die Liberalen erzielten etwas mehr alsfünf Prozent, die SPD knapp 22. Immerhinjeder sechste Wähler stimmte für die PDS.Auch die Kommunalwahlen im Mai änder-ten an diesem Bild nicht mehr viel. Der Bür-gerbewegung hatte das Wahlvolk im Märzmit noch nicht einmal fünf Prozent der Stim-men das Mandat für die Gestaltung derdeutschen Einheit versagt. Aus der Sicht derBevölkerung hatte die Avantgarde desHerbstes 1989 offenbar ihre Schuldigkeitgetan. Und dennoch blieb nicht allein diefriedliche Revolution ihr historischer Ver-dienst. Ihrer Beharrlichkeit ist es vor allem zuverdanken, dass es Anfang Januar 1990zur Auflösung des umbenannten Staatssi-cherheitsministeriums, des Amtes für Natio-nale Sicherheit, kam, und dass nicht nur dieAktenvernichtung der Stasi ein Ende nahm,sondern das papierene Erbe des Geheim-dienstes heute der Öffentlichkeit zugänglichist.

Angesichts der überwältigenden Aufgaben-fülle bildeten die „Allianz für Deutschland”zusammen mit der SPD und den Liberaleneine große Koalition. Die letzte DDR-Regie-

rung unter dem Ministerpräsidenten Lotharde Maizière war in keiner beneidenswertenSituation. Zahllose Verfassungs- und Geset-zesänderungen mussten in kürzester Fristausgearbeitet und umgesetzt werden. Bren-nende wirtschaftliche und soziale Problemeließen die Bevölkerung immer ungeduldigerwerden. Stasi-Enthüllungen erschütterten dieGlaubwürdigkeit des neuen Establishments.Nur schleppend gelang es, alte Strukturenund Seilschaften aus der Zeit der Diktatur inder öffentlichen Verwaltung sowie in derWirtschaft zu zerschlagen.

Als am 1. Juli 1990 die Wirtschafts- und So-zialunion in Kraft trat, mit der die D-Mark imOsten Einzug hielt, waren auch auf interna-tionaler Ebene die Weichen für die Wie-dervereinigung gestellt. Jetzt ging alles ra-send schnell. Am 23. August 1990 be-schloss die Volkskammer mit überwältigen-der Mehrheit den Beitritt zur BundesrepublikDeutschland nach Artikel 23 des Grundge-setzes zum 3. Oktober. Der Entscheidungwaren heftige Kontroversen vorausgegan-gen, die zum Ende der großen Koalition ge-führt hatten. Die Beitrittsprozedur sollte einEinigungsvertrag regeln, der eine Wochespäter von Bundesinnenminister WolfgangSchäuble und DDR-Staatssekretär GüntherKrause unterzeichnet wurde.

Am 3. Oktober 1990, nur vier Tage vorihrem 41. Jahrestag, hörte die DDR auf, alsStaat zu existieren. In den Köpfen der Men-schen lebt die Erinnerung an das, was war,wohl noch lange fort; im Osten wie im We-sten. Um die Zukunft zu gestalten, bedarf esdieser Erinnerung, die frei von neuen oderalten Legenden sein sollte. Nur so kann zu-sammenwachsen, was zusammengehört.

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83WeiterführendeLiteratur

Das war die DDR. Eine Geschichte des an-deren Deutschlands. Hrsg. von Wolf-gang Kenntemich, Manfred Durniok undThomas Karlauf. Berlin 1993.

Eppelmann, Rainer / Horst Möller / GünterNooke / Dorothee Wilms (Hrsg.): Lexi-kon des DDR-Sozialismus. Das Staats-und Gesellschaftssystem der DeutschenDemokratischen Republik. Paderborn1996.

Herbst, Andreas / Winfried Ranke / JürgenWinkler: So funktionierte die DDR.3 Bände. Reinbek bei Hamburg 1994.

Kleßmann, Christoph: Die doppelte Staats-gründung. Deutsche Geschichte 1945bis 1955. 5., überarbeitete und erwei-terte Auflage, Göttingen 1991.

Loth, Wilfried: Stalins ungeliebtes Kind.Warum Moskau die DDR nicht wollte.Berlin 1994.

Mitter, Armin / Stefan Wolle: Untergangauf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte. München 1993.

Staritz, Dietrich: Geschichte der DDR.1949–1990. Erweiterte Neuausgabe,Frankfurt am Main 1996.

Weber, Hermann: Die DDR 1945–1990.2. überarbeitete und erweiterte Auflage,München 1993.

Nakath, Detlef / Stephan, Gerd Rüdiger(Hrsg.): Countdown zur deutschen Ein-heit. Eine dokumentierte Geschichte derdeutsch-deutschen Beziehungen 1987–1990. Berlin 1996.

Weber, Hermann: Geschichte der DDR.2. Auflage, München 1986.

Wer war wer in der DDR. Ein biographi-sches Handbuch. Hrsg. von Bernd-RainerBarth, Christoph Links, Helmut Müller-Enbergs und Jan Wielgohs. Frankfurt amMain 1995.

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