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Grammatikalische Störungen bei Aphasie Einleitendes Eine Aphasie kann die verschiedenen Komponenten des Sprachsystems selektiv stören und zwar sowohl in der Produktion als auch im Verständnis. So kann in einem Fall die Fähigkeit gestört sein, Wörter einer bestimmten lexikalischen Klasse (z.B. Verben, Nomen, Adjektive, Adverbien) – Elemente der sog. „offenen Klasse“ - zu verwenden, wogegen die Fähigkeit, die grammatikalisch relevanten Wörter der sog. „geschlossenen Klasse“ (z.B. Präpositionen, Artikel, grammatikalische Morpheme (Prä-, Suffixe, usw.), Auxiliarverben) erhalten geblieben ist. Die Störung kann aber auch das umgekehrte Bild zeigen, was dann zu Problemen bei der Verarbeitung der grammatikalischen Strukturen führt. (Weitere Bezeichnung für diese beiden Klassen: „Inhaltswörter“ vs. „Funktionswörter“.) In der Literatur finden wir für jene Störungen, die ein grammatikalisches Defizit aufweisen, die Bezeichnungen: Agrammatismus und Paragrammatismus. Ganz allgemein wird ein sprachlicher Output als agrammatisch bezeichnet, wenn sehr häufig Artikel, Präpositionen, Auxiliare und Flexionen ausgelassen werden. In manchen Fällen kann somit das Sprechen des Patienten auf kurze Sätze mit Wörtern ohne personale Flexionsendungen (im Dt.) beschränkt sein (z.B.: „Dann...Krankenhaus... kommen.“). Beim Paragrammatismus hingegen finden wir keine solche „Verarmung“ der grammatikalischen Struktur, dafür aber oftmals falsch verwendete Tempora, Fehler in der Genuszuweisung und bei den Kasussuffixen, und auch die Verwendung falscher Präpositionen.

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Grammatikalische Störungen bei Aphasie

Einleitendes

Eine Aphasie kann die verschiedenen Komponenten des Sprachsystems selektiv stören und

zwar sowohl in der Produktion als auch im Verständnis. So kann in einem Fall die Fähigkeit

gestört sein, Wörter einer bestimmten lexikalischen Klasse (z.B. Verben, Nomen, Adjektive,

Adverbien) – Elemente der sog. „offenen Klasse“ - zu verwenden, wogegen die Fähigkeit,

die grammatikalisch relevanten Wörter der sog. „geschlossenen Klasse“ (z.B. Präpositionen,

Artikel, grammatikalische Morpheme (Prä-, Suffixe, usw.), Auxiliarverben) erhalten

geblieben ist. Die Störung kann aber auch das umgekehrte Bild zeigen, was dann zu

Problemen bei der Verarbeitung der grammatikalischen Strukturen führt. (Weitere

Bezeichnung für diese beiden Klassen: „Inhaltswörter“ vs. „Funktionswörter“.)

In der Literatur finden wir für jene Störungen, die ein grammatikalisches Defizit aufweisen,

die Bezeichnungen: Agrammatismus und Paragrammatismus. Ganz allgemein wird ein

sprachlicher Output als agrammatisch bezeichnet, wenn sehr häufig Artikel, Präpositionen,

Auxiliare und Flexionen ausgelassen werden. In manchen Fällen kann somit das Sprechen des

Patienten auf kurze Sätze mit Wörtern ohne personale Flexionsendungen (im Dt.) beschränkt

sein (z.B.: „Dann...Krankenhaus... kommen.“). Beim Paragrammatismus hingegen finden wir

keine solche „Verarmung“ der grammatikalischen Struktur, dafür aber oftmals falsch

verwendete Tempora, Fehler in der Genuszuweisung und bei den Kasussuffixen, und auch die

Verwendung falscher Präpositionen. {Beispiele: Hartje/Poeck: 113 bzw. 118/9}

Agrammatismus als ein Defizit der Produktion

Die ersten Hypothesen zum Agrammatismus gingen davon aus, dass der Agrammatismus

typischerweise ein Produktionsdefizit darstellt, da ja grammatikalische Morpheme

ausgelassen werden, die syntaktischen Strukturen der Sätze vereinfacht und die Phrasen

insgesamt ebenfalls wesentlich verkürzt werden, wobei das Verständnis offensichtlich nicht

besonders gestört ist. Bei den meisten Fällen ließ sich auch beobachten, dass der

Agrammatismus zusammen mit Dysarthrie, artikulatorischen Anstrengungen und einer

Verringerung der Sprechgeschwindigkeit auftritt. Alle diese Symptome zusammen sind

typisch für die Broca-Aphasie.

Bereits Pick (1913)1 schlug eine Erklärung für das agrammatische Sprechen vor, obwohl er es

nu als ein Symptom der motorischen Aphasie ansah. Dabei unterschied er zwischen dem sog.

1 A., Die agrammatischen Sprachstörungen. Berlin

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„Pseudoagrammatismus“ und dem „echten“ Agrammatismus. Im ersten Fall ergeben sich die

unvollständigen syntaktischen Strukturen nicht aus einem sprachlichen Defizit, sondern sind

ein Ergebnis der motorischen Aphasie und dem damit verbundenen verringerten verbalen

„Antrieb“. Beim „echten“ Agrammatismus hingegen ist die Produktionsstörung von der

motorischen Aphasie unabhängig und ergibt sich aus der Unfähigkeit grammatikalische

Strukturen zu erzeugen, die mit den abstrakten Satzstrukturen, die der Patient bildet,

übereinstimmen. Aufgrund dieses Konstruktionsdefizits wendet der Patient ein

„Ökonomieprinzip“ an und produziert nur mehr die (inhaltlich) „wichtigsten“ Wörter.

Nach Isserlin (1922)2 stellt die agrammatische Sprechweise eine Anpassung an die

Artikulationsschwierigkeiten dar und ergibt sich aus einer Verringerung der Anstrengung. Da

das Sprechen sehr anstrengend ist, plant der Patient absichtlich nur sehr einfache Sätze, aus

denen er für die Produktion nur jene herausgreift, die zur Vermittlung der jeweiligen

Kommunikationsabsicht notwendig sind. Auf diese Weise entsteht der sog. „Telegrammstil“

im Agrammatismus. Diese Überlegung, dass diese Phänomene aufgrund einer gewissen

Ökonomie der Anstrengung beim Sprechen beruht, wurde in ähnlicher Weise später wieder

aufgenommen (Kolk/Heeschen3).

Die Arbeiten Jakobsons (1956)4 waren die ersten, in denen nicht von klinischen Intuitionen

oder empirischen Beobachtungen ausgegangen wurde, sondern von einer Theorie des

ungestörten sprachlichen Systems. Nach Jakobson erfordert die normale

Sprachproduktion, dass zwei sprachliche Dimensionen ungestört funktionieren: die

paradigmatische Achse und die syntagmatische Achse. Analysen der Spontansprache von

agrammatischen Patienten ließen Jakobson zum Schluß kommen, daß die Störung bei

agrammatischen Patienten als eine Störung der Kontiguität zu interpretieren sind. Die

typische bei diesen Patienten zu beobachtende Störung ergibt sich aus einer Störung der

syntagmatischen Ebene, wobei allerdings die Verwendung der paradigmatischen Ebene

erhalten bleibt. Nach Jakobsons Überlegungen spielt das oft zusammen mit Agrammatismus

auftretende artikulatorische Defizit keine besondere Rolle in der Entstehung dieser Störung.

Die Vorschläge zur Interpretation des agrammatischen Defizits von Goodglass (1976)5 sind

von den Symptomen beeinflusst, die bei einer agrammatischen Broca-Aphasie auftreten.

Während – wie wir gesehen haben – Isserlin annimmt, dass die Vereinfachung der Sätze

bereits in einem frühen (Satz-)Planungsstadium auftritt, geht Goodglass davon aus, dass

2 M., Über Agrammatismus. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 75: 322-4103 H.H.J./C., Adaptation symptoms and impairment symptoms in Broca’s aphasia. Aphasiology 4: 221-2324 R., Fundamentals of Language. New York5 H., Agrammatism. In: Whitaker,H./Whitaker,H.A., Studies in Neurolinguistics, Vol.1. New York

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dieses Defizit erst zu einem späteren Zeitpunkt entsteht. Sein Überlegungen gehen dahin, dass

die Fähigkeit zur Satzplanung – sogar von komplexen Sätzen – erhalten ist, aber die

Aktivierungsschwelle für das Beginnen und Fortführen des Sprechens ist als Folge der

Hirnschädigung pathologisch erhöht. Von den im Planungsstadium ausgewählten Elemente

erreichen nur die „hervorstechendsten“ die Aktivierungsschwelle und werden somit

produziert. Obwohl also die agrammatischen Patienten grundsätzlich in der Lage sind, auch

komplexe Sätze zu planen, können sie nur die Wörter produzieren, die am salientesten sind

und die stärkste Betonung aufweisen – also Elemente, die eine besondere phonologische

Stellung einnehmen oder auch affektiven Wert besitzen.

Diese Hypothese wurde durch eine Reihe von Untersuchungen unterstützt, z.B. Goodglass et

al. (1972)6, die eine Aufgabe verwendeten, bei der Sätze vervollständigt werden mussten,

indem entsprechende grammatikalische Morpheme zu verwenden waren. Bei einem Subtest

wurden Fragesätze verwendet, die bejaht und verneint zu produzieren waren. Dazu mussten

die Vpn. die grammatikalischen Formen „do/did/“ und „don’t/didn’t“ verwenden. Da alle

diese Wörter am Anfang der Sätze auftreten und die Verneinung komplexer ist, sollten die

Leistungen bei den affirmativen Fragen besser sein als bei den negierten. Allerdings waren

die Ergebnisse bei der untersuchten Vpn. genau entgegengesetzt – es ergaben sich bei den

negierten Frage bessere Ergebnisse. Dieses scheinbar paradoxe Ergebnis wurde so erklärt: Im

Gegensatz zu „do/did“ am Satzanfang sind „don’t/didn’t“ phonologisch salienter, denn sie

sind – im Vergleich zu „do/did“ stärker betont. Erstere werden daher besser produziert, da sie

eher die notwendige hohe Produktionsschwelle erreichen.

Agrammatismus als ein Defizit zentraler Mechanismen

Die o.e. Theorien sehen im Agrammatismus ein Produktionsdefizit. Aber es wurden auch

Beziehungen zwischen der agrammatischen Produktion und dem Verständnis beobachtet, was

dazu führte, dass andere Autoren zu anderen Schlüssen kamen. Im Sinne der o.e. erwähnten

Überlegungen müsste man davon ausgehen, dass der rezeptive Agrammatismus und der

produktive Agrammatismus von einander unabhängige Defizite darstellen, aber es bestehen

eben auch andere Erklärungsmöglichkeiten.

In einer Untersuchung (Zurif/Caramazza/Myerson, 19727), bei der agrammatische Broca-

Patienten zuerst unterschiedlich lange und komplexe Sätze vorgelegt wurden und danach 3-

Wort-Phrasen aus diesen Sätzen, bei denen sie beurteilen mussten, welche 2 Wörter enger

6 H./Gleason,J.B./Bernholtz,N.A./Hyde,M.R., Some linguistic structures in the speech of a Broca’s aphasic. Cortex 8: 191-2127 E.B./A./R., Grammatical judgements of agrammatic aphasics. Neuropsychologia 10: 405-417

Page 4: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

zusammengehören, stellte sich heraus, dass die Patienten die grammatischen Wörter anders

bewerteten als die gesunden Kontrollpersonen. So betrachteten die agrammatischen Patienten

in der Kombination „The baby cries“ die Elemente „baby“ und „cries“ als am stärksten mit

einander verbunden, wogegen es in der Kontrollgruppe die Wörter „the“ und „baby“ waren.

In einer anderen Untersuchung (Goodenough/Zurif/Weintraub, 19778) wurden Broca-

Patienten und gesunden Kontrollpersonen bunte Plättchen gezeigt. Im Rahmen einer

Reaktionszeitstudie sollten die Vpn. Sätze wie „Touch the blue circle!“ oder „Touch a blue

circle!“ nachspielen. Die vorgegebenen Stimuli bestanden manchmal aus einem blauen Kreis

und zwei Plättchen von anderer Farbe oder Form, oder aus zwei blauen Kreisen und einem

andersfärbigen oder geformten. Die Anordnung der Stimulussätze ergab pragmatisch korrekte

Anordnungen („the“ bei einem Kreis und „a“ bei zwei Kreisen) und pragmatisch inkorrekte

(„the“ bei zwei Kreisen und „a“ bei einem Kreis). Die Kontrollpersonen reagierten auf die

nicht korrekten Sätze langsamer als auf die korrekten, dagegen reagierten die Patienten in

beiden Fällen gleich schnell. Dies zeigt, dass die Kontrollpersonen auf die nicht korrekte

Verwendung des Determinators reagierten.

Bei einem Satzverständnistest (Heilman/Scholes, 19769) mit agrammatischen BR-, Leitungs-

und Wernicke-Patienten wurden Sätze wie folgende präsentiert „She gives her baby the

pictures.“ und „She gives her the baby pictures.“, wobei es darum geht, die syntaktische

Struktur zur Interpretation zu nutzen – im speziellen die Stellung von „the“. Zur Überprüfung

des Verständnisses wurden Bilder benützt. Die agrammatischen Patienten wiesen wesentlich

schlechtere Ergebnisse auf als die anderen Patientengruppen.

In einer weiteren Studie (Caramazza/Zurif, 197610) wurden Patienten mit verschiedenen

Aphasiesyndromen mit einem Satz-Bildverifikationstest untersucht. Dabei bestanden die

Stimulussätze aus semantisch reversiblen Relativsätzen („The boy that the girl is chasing is

tall.“), semantisch irreversiblen Relativsätzen („The apple that the girl is eating is red.“),

semantisch nicht korrekten Sätzen („The boy that the dog is carressing is fat.“) und

Kontrollsätzen („The girl is eating a red apple.“). Wenn nun der Stimulus ein semantisch

reversibler Satz war und das Ablenkerbild die vom Stimulus umgekehrte Situation darstellte,

dann waren die Ergebnisse der Broca-Patienten mit agrammatischem Sprechen im

Zufallsbereich. Bei den semantisch nicht korrekten Sätzen lagen ihre Ergebnisse ebenfalls im

Zufallsbereich. Bei beiden Arten von Sätzen hängt das korrekte Verstehen von der richtigen

8 C./E.B./S., Aphasics‘ attention to grammatical morphemes. Language and Speech 20: 11-199 K.M./R.J., The nature of comprehension errors in Broca’s, conduction, and Wernicke’s aphasics. Cortex 12: 258-26510 A./E.B., Dissociation of algorithmic and heuristic processes in language comprehension: Evidence from aphasia. Brain and Language 3: 572-582

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Verarbeitung der grammatikalischen Morpheme ab. Dieselben Vpn. wiesen korrekte

Leistungen bei den irreversiblen und bei den Kontroll-Sätzen auf.

Viele Studien weisen darauf hin, dass der Agrammatismus auf ein zentrales Defizit

zurückgeführt werden könnte. Diese Studien versuchen nicht nur das gemeinsame Auftreten

von Störungen im Verständnis und in der Produktion bei ein und demselben Patienten

nachzuweisen, sondern auch, dass die agrammatischen Patienten dieselben Wörter weder im

Verstehen noch im Sprechen verarbeiten können. Diese Beobachtungen führten zur

Hypothese (Caramazza/Zurif, 1976), dass das agrammatische Defizit auf die Störung eines

grammatikalischen Prozessors, der sowohl beim Verstehen als auch bei der Produktion von

grammatikalischen Morphemen eingesetzt wird, zurückzuführen ist. Wenn also dieser

Prozessor gestört ist, dann wird versucht über andere Strategien zu einem Verständnis zu

gelangen, etwa über heuristische Strategien, was aber bei reversiblen Sätzen nicht

funktionieren kann. Diese Hypothese war die erste, die auf die Annahme zurückzuführen ist,

dass der Agrammatismus ein einheitliches und zentrales Defizit darstellt, d.h. dass er auf der

Schädigung einer Komponente des Sprachsystems beruht, die sowohl im Verstehen als auch

in der Produktion eine Rolle spielt.

Eine ähnliche Hypothese wurde auch von Bradley/Garrett/Zurif (1980)11 vorgeschlagen, die

mit agrammatischen Patienten und nicht-gestörten Kontrollpersonen einen lexikalischen

Entscheidungstest durchführten, bei dem Inhaltswörter (Nomen, Verben, Adjektive) und

grammatikalische Wörter als Stimuli dienten. Bei der Kontrollgruppe waren die

Reaktionszeiten auf die Inhaltswörter von der Häufigkeit des Stimulus abhängig, aber nicht

die Reaktionszeiten auf die grammatikalischen Wörter. Dagegen waren die Reaktionszeiten

der Patienten sowohl bei den Inhaltswörtern als auch bei den grammatikalischen Wörtern von

der Häufigkeit ihrer Verwendung abhängig. Diese Ergebnisse wurden als Unterstützung für

die Annahme gewertet, dass die Probleme mit den grammatikalischen Wörtern sowohl das

Verständnis als auch die Produktion betreffen. Dabei wird das agrammatische

Verständnisdefizit zumindest teilweise auch auf eine Störung jenes Mechanismus

zurückgeführt, der für den lexikalischen Zugang zu den Wörtern der geschlossenen Klasse

verantwortlich ist. Allerdings konnte die Ergebnisse dieser Studie in einer anderen

(Gordon/Caramazza, 198212) nicht wiederholt werden.

Eine andere Interpretation des agrammatischen Defizits mit den Wörtern der sog.

11 D.C./M.F./E.B., Syntactic deficits in Broca`s aphasia. In: Caplan, D. (ed.) Biological studies of mental processes. Cambridge, MA12 B./A., Lexical decision for open- and closed-class items: Failure to to replicate differential frequency sensitivity. Brain and Language 15: 143-160

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„geschlossenen“ Klasse geht dahin (Kean, 197713, Kean, 197914), dass diese Patienten nicht in

der Lage sind, die unbetonten Elemente eines Satzes zu verarbeiten. Anzumerken ist zu

diesem Problem, dass in mehreren Sprachen grammatikalische Morpheme auch unbetont

vorkommen können, so ist z.B. im Italienischen die prosodische Kontur in den beiden Sätzen

gleich: 1) „La bambina acarrezza la bambola.“ 2) (Auslassen der Artikel): „Bambina

accarezza bambola.“ Was in solchen Fällen zu keinem Verständnis-Problemen führen würde.

Somit könnte – wie Kean annimmt – ein phonologisches Defizit zu einer grammatischen

Störung der Produktion und des Verständnisses führen, wenn diese „schwach-„ bzw. „nicht-

„ betonten Wörter nicht verarbeitet werden. Dies zeigt sich etwa bei einem engl.-sprechenden

Aphasiepatienten bei der Produktion von „Plural –s“ bzw. „3.Person –s“, was wiederum von

der Syllabizität abhängig zu sein scheint. So zeigte sich, dass ein agrammatischer Patient das

auslautende –s ausließ, wenn sich dadurch keine Veränderung der Silbenstruktur ergab („pack

vs. packs“), dagegen wurde das auslautende –s weniger oft ausgelassen, wenn sich daraus

eine neue Silbe ergab („horse – horses“).

Wenn wir uns nun dem Verständnis zuwenden, dann könnte das Problem der Verarbeitung

von phonologisch „schwachen“ Wörtern eine unvollständige Repräsentation des Satzes

ergeben, was zu den beobachteten Verständnisdefiziten führen könnte. Natürlich sind dies

Hypothesen, aber sie sind zumindest – nach Jakobson – ein weiterer Versuch das für den

Agrammatismus verantwortliche Defizit durch eine linguistische Theorie zu erklären.

Die bisher besprochenen Hypothesen haben zumindest zwei Merkmale gemeinsam: Einmal

versuchen sie den Agrammatismus durch die Störung einer zentralen Komponente zu

erklären, woraus sich die Störung im Verständnis und der Produktion ergibt. Weiters handelt

es sich dabei um Theorien über die sog. „Funktionswörter“, die sich auf die Funktion (und

allen damit verbundenen sprachlichen Aspekte, wie geringere Betonung etc.) dieser Elemente

in einem Satz beziehen.

Trotzdem sollte noch auf eine weitere Hypothese hingewiesen werden, die sich auch auf ein

zentrales Defizit von agrammatischen Patienten bezieht (Saffran/Schwartz/Marin, 198015,

Schwartz/Saffran/Marin, 198016): Diese Theorie bezieht sich nicht auf die Funktionswörter,

sondern es geht um die „Abbildung von thematischen Rollen“ („thematic role mapping

deficit“). In den Untersuchungen wurden agrammatische Patienten getestet, inwieweit sie

13 M.L., The linguistic interpretation of aphasic syndromes: Agrammatism in Broca`s aphasia, an example. Cognition 5: 9-4614 M.L., Agrammatism, a phonological deficit? Cognition 7: 69-8315 E.M./M.F./O.S.M., The word order problem in agrammatism II: Production. Brain and Language 10: 263-28016 M.F./E.M./O.S.M., The word order problem in agrammatism I: Comprehension. Brain and Language 10: 249-262

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semantisch reversible Sätze verstehen bzw. produzieren konnten, und zwar sowohl im Aktiv

als auch im Passiv. Bei den Verständnisaufgaben wurde ein Bildzuordnungstest (2 Bilder)

verwendet, wobei der Ablenker die umgekehrte Rollenverteilung aufwies (z.B.: „Der Hund

jagt die Katze.“ bzw. vice versa). Bei den Produktionsaufgaben wurden dieselben Bilder

verwendet und die jeweilige Vpn. musste den Vorgang auf dem Bild beschreiben. Das

Ergebnis: Bei beiden Tests wurden die thematischen Rollen von agrammatischen Patienten

häufig vertauscht und bei den Produktionstests wurden häufig die thematischen Rollen falsch

zugeordnet sowie auch Funktionswörter ausgelassen. Aus diesen Ergebnisse wurde

geschlossen, dass es sich beim agrammatischen Defizit nicht um rein eine syntaktische

Störung handelt, sondern dass es eher die Unfähigkeit ist, die grammatikalischen und

semantischen Rollen zu erkennen bzw. abzubilden – und das sowohl im Bereich der

Produktion als auch des Verständnisses.

Dissoziationen zwischen Produktion und Verständnis

Bei den bisher besprochenen Hypothesen wird von einer gemeinsame Störung der Produktion

und des Verständnisses ausgegangen. Allerdings gibt es auch Untersuchungen, die zu andern

Ergebnissen kommen. So finden sich zahlreiche Studien, die auf eine Dissoziation im

Störungsbild zwischen Produktion und Verständnis hinweisen. So trat bei manchen Patienten

die grammatikalische Produktionsstörung nicht zusammen mit einem grammatischen

Verständnisdefizit auf (z.B.: Bastiaanse, 199517, Caramazza/Hillis, 198918). In anderen

Studien (z.B.: Caramazza/Berndt/Basili/Koller, 198119) wird die umgekehrte Störung

beschrieben – agrammatisches Verständnis ohne Produktionsdefizite. Solche Beobachtungen

führten zu einer weiteren Revision der Interpretation der grammatischen Störungen bei

Aphasie. Wenn das gemeinsame Vorhandensein von Defiziten im Verständnis und in der

Produktion nicht funktional notwendig ist, dann könnte die agrammatische Produktion sich

aus einer Störung von Mechanismen ergeben, die von jenen verschieden sind, deren Störung

zum Verständnisdefizit führt – und umgekehrt. In diesem Fall müsste man davon ausgehen,

dass die Mechanismen, die bei der Produktion der grammatikalischen Aspekte der Sprache

involviert sind, zumindest teilweise verschieden sind von jenen, die beim Verstehen benützt

werden.

17 R., Broca`s aphasia: A syntactic and/or a morphological disorder? A case study. Braina and Language 48: 1-3218 A./A.E, The disruption of sentence production: Some dissociations. Brin and Language 36: 625-65019 A./R.S./A./J., Syntactic processing deficits in aphasia. Cortex 17: 333-348

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Analysen grammatischer Produktionsdefizite

Wie wir gesehen haben, bestanden und bestehen die verschiedensten Überlegungen bezüglich

der Natur des Agrammatismus. So wurde er als reines Produktionsdefizit betrachtet, dann

wieder als ein Defizit, das die Produktion und das Verständnis gleichermaßen betrifft, und

manchmal wurde die Beziehung zwischen den Produktions- und Verständnisfehlern als rein

statistisches Problem betrachtet. Die agrammatischen Symptome wurden auf ein Problem mit

den Funktionswörtern (phonologisch, lexikalisch oder syntaktisch, je nach Autor)

zurückgeführt, oder auch auf ein Defizit im semantischen System oder auf ein Defizit in der

Verbindung („Interface“) zwischen dem semantischen und dem grammatikalischen System.

Um nun zwischen den verschiedenen Erklärungsversuchen zu unterscheiden, wurden die

verschiedensten Untersuchungen durchgeführt, wo man sich vor allem auch auf möglichst

genaue Analysen des abweichenden sprachlichen Verhaltens der agrammatischen Patienten

stützt. Mit Hilfe eines solchen Verfahrens – möglichst genaue und detaillierte Beschreibungen

des agrammatischen Sprechens – hoffte man das Defizit besser beschreiben zu können und

dies sollte zu einem besseren Verständnis dieses Defizits führen.

So seltsam es auch klingen mag, eine solche ausführliche Analyse der agrammatischen

Produktion war notwendig, da es anfänglich nur wenig Datenmaterial gab und diese Daten

nur von Englisch sprechenden Patienten stammten. In der Folge wurden detaillierte Studien

für zahlreiche Sprachen durchgeführt. {s. Menn, Lise/Obler, Lorainne,K. (eds.) 1990

Agrammatic Aphasia. 3Bde}

Es stellte sich natürlich heraus, dass die Probleme mit den Funktionswörtern das Kennzeichen

des Agrammatismus schlechthin darstellen – kein Wunder, wenn das Auslassen von

grammatikalischen Morphemen ein Kriterium für die Klassifikation des Agrammatismus

darstellt. Aufgrund der sprachübergreifenden Untersuchungen konnte eine Differenzierung in

der Behandlung von freien und gebundenen grammatikalischen Morphemen beobachtet

werden. So wurde festgestellt, dass freie grammatikalische Morpheme von agrammatischen

Aphasiepatienten unabhängig von ihrer Sprache ausgelassen werden, wogegen die

gebundenen grammatikalischen Morpheme je nach Sprache unterschiedlich behandelt

werden. Die ursprünglich Annahme, dass auch gebunden grammatikalische Morpheme

ausgelassen werden, entwickelte sich aus Beispielen wie dem folgenden. Wenn z.B. ein

Englisch sprechender Aphasiepatient einen Satz wie „Boy run“ produziert – statt „The boy

runs“, so sieht das natürlich so aus, als wäre die Flexionsendung für die 3. Person Sg.

ausgelassen worden, aber es könnte genauso eine Ersetzung sein – Infinitiv statt flektierte

Verbform – denn im Englischen sind diese Formen (und auch weitere) nicht von einander

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unterscheidbar. Vergleicht man dazu deutsch sprechende Agrammatiker, dann lässt sich

feststellen, dass es in den Fällen, wo beim Verb ein gebundenes Flexionselement auftreten

sollte, dieses durch das Suffix ersetzt wird, das auch den Infinitiv signalisiert. Dies gilt nicht

nur für das Deutsche, sondern wir finden solche Beispiele auch in anderen Sprachen, wie z.B.

im Italienischen: Statt „I bambini corrono“ produzieren italienische Patienten: „Bambino

correre“; so zeigen auch die entsprechenden Studien zum Italienischen, dass alle Fehler, die

agrammatische Patienten bei den gebundenen Morphemen machen, Ersetzungen sind (z.B.

Miceli et al. 198920). Aufgrund dieser und weiterer Studien geht man heute allgemein davon

aus, dass die freien Morpheme ausgelassen werden und die gebundenen ersetzt werden.

Weiters wurde auch beobachtet, dass agrammatische Patienten mit den Verben auch dann

Probleme haben, wenn sie die Wurzel (Basis) produzieren sollen und nicht nur bei den

Flexionsendungen (s. Miceli et al. 1989).

Ein weiteres Problem, das in der Sprache der agrammatischen Patienten beobachtet werden

kann, betrifft die Wortstellung, dabei handelt es sich um eine Umstellung der thematischen

Rollen. In solchen Fällen wird z.B. ein Bild, auf dem eine Katze einem Hund nachläuft, mit

einem Satz wie „Hund nachlaufen Katze“ beschrieben. (Vgl. oben die „heuristischen“

Strategien!)

Ganz allgemein haben diese Analysen des agrammatischen Sprechens zu einer

vollständigeren und besseren Beschreibung geführt, wobei sich auch durchaus

unterschiedliche Merkmale beobachten lassen. Abgesehen von den Problemen mit den

grammatikalischen Morphemen wurden aber keine weiteren Symptome gefunden, die bei

allen Patienten, die als agrammatisch klassifiziert werden, auftreten.

Ein weiterer Aspekt ist die Vereinfachung von syntaktischen Strukturen, zwar lässt sich das

bei vielen Agrammatikern beobachten, doch manche produzieren auch ziemlich komplexe

Strukturen. Dieses Beispiel (s. Kopie) zeigt deutlich wie unterschiedlich die syntaktischen

Strukturen der als agrammatisch klassifizierten Patienten sind. Das erste Beispiel enthält viele

untergeordnete Sätze; das zweite weist unabhängige Sätze auf, die durch koordinierende

Konjunktionen verbunden sind; und im dritten treten holophrastische Äußerungen auf.

Ein weiteres „klassisches“ Symptom des Agrammatismus stellte die verringerte Länge der

Phrasen dar. Allerdings zeigte sich in einer Untersuchung der spontanen Produktionen

italienischer Agrammatiker (Miceli et al. 1989), daß die durchschnittliche Länge der Phrasen

bei den verschiedenen Patienten zwischen 3,1 und 10,5 Wörtern variierte; wobei der letzte

20 G./Silveri,M.C./Romani,C./Caramazza,A., Variation in the patternof omissions and substitutions of grammatical morphemes in the spontaneous speech of so-called agrammatic patients. Brain and Language 36: 447-492

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Wert nicht von der durchschnittlichen Länge der kognitiv nicht-gestörten Kontrollpersonen

abwich. Ein weiteres typisches – bzw. als typisch angesehenes – Merkmal waren Probleme

mit den Verben, was bei manchen Patienten zu schweren Problemen bei der Produktion von

Sätzen führen konnte; allerdings kann dieses Symptom bei anderen Patienten vollständig

fehlen (vgl. ital. Beispiel: G.F. lässt keine Verben aus). Ein letztes Beispiel für die Variabilität

der Symptome betrifft die Wortstellungsprobleme: So finden wir Studien, in denen häufig

Wortstellungsprobleme auftreten; in anderen wiederum treten nur wenige solche Fehler auf

und in manchen (Miceli et al. 1989) überhaupt keine. (Thematische Rollenvertauschungen).

Das beobachtete Verhalten von agrammatischen Patienten kann sich aus verschiedenen

unterschiedlichen Defiziten herleiten, wobei diese Defizite manchmal nicht die Grammatik

betreffen. So weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 199021), dass Probleme bei der

Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender Rede zu beobachten sind, sondern

auch beim Benennen, lauten Lesen und beim Schreiben, wo es um die Produktion von Verben

als Einzelwörter geht. So tendierten die Patienten dazu beim Benennen die Verben zu

Nominalisieren („to pray“ > „the prayer“) und manchmal waren sie überhaupt nicht in der

Lage eine Antwort auf die abgebildete Handlung zu geben. Ebenso ließen sich eher schlechte

Leistungen beim mündlichen und schriftlichen Benennen von Handlungen beobachten, was

für Nomen nicht gilt. Solche Beobachtungen führen nun zur Annahme, dass zumindest

teilweise dieses Problem mit dem Abrufen von Verben in der Spontansprache auf ein

lexikalisch-semantisches Defizit zurückzuführen ist, das eventuell unabhängig von den

Störungen bei der Produktion von syntaktischen Strukturen bzw. grammatikalischen

Morphemen ist.

Wesentlich problematischer ist die Interpretation der Produktionen, wo offensichtlich die

thematischen Rollen vertauscht sind. Wenn also ein Bild, das eine Katze, die einem Hund

nachläuft, zeigt, mit dem Satz „Hund verfolgen Katze“ beschrieben wird, dann stellt sich die

Frage, wie kommt dieser Fehler zustande. Liegt dieser Produktion eine allgemeine Inversion

der thematischen Rollen zugrunde, wobei auch ein Problem mit den grammatikalischen

Morphemen verbunden ist; d.h. wollte der Patient „Der Hund verfolgt die Katze“ produzieren,

was eine Rollenvertauschung enthält und zusätzlich das Auslassen der Artikel und die

Verwendung des Infinitivs. Andererseits könnte die eigentliche Produktion auch auf ein

Problem mit den grammatischen Morphemen zurückzuführen sein, wenn der Patient nämlich

einen Satz wie „Der Hund wird von der Katze verfolgt“ produzieren wollte, aber die

Morphologie des Passivs nicht produzieren kann. Es wären aber auch noch Probleme mit

21 L./R.S., Retrieval of nouns and verbs in agrammatism and anomia. Brain and Language 39: 14-32

Page 11: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

grammatischen Morphemen und dem Abrufen des Verbs möglich, dass er also einen Satz wie

„Der Hund läuft der Katze voraus“ produzieren wollte, aber Probleme beim Abrufen des

korrekten Verbs hatte (plus die zusätzlichen Probleme mit den grammatischen Morphemen).

Somit können also Probleme, die an der Oberfläche als eine Inversion von thematischen

Rollen auftreten, auf unterschiedliche Defizite zurückgehen, die nicht unbedingt die

grammatikalische Ebene betreffen müssen.

Paragrammatische Produktion

Der Paragrammatismus ist wesentlich weniger häufig untersucht worden als der

Agrammatismus, trotzdem ergeben sich aus den wenigen Studien auch einige sehr

interessante Fragestellungen.

Der Begriff Paragrammatismus wurde von Kleist (191422) für eine Störung als Folge einer

linken temporalen Läsion verwendet, die dadurch charakterisiert war, dass Fehler bei der

Auswahl und bei der Anordnung von Wörtern und grammatikalischen Formen auftraten.

Nach Kleist stellen diese Arten von Fehlern in deutlichem Gegensatz zu jenen bei

Agrammatismus dar, der gekennzeichnet ist durch eine „Verarmung“ der Syntax, dem

Auslassen von grammatikalischen Wörtern und dem sog. „Telegrammstil“.

Die Unterscheidung zwischen Agrammatismus und Paragrammatismus ist in der Literatur

auch weiterhin aufrecht. Allerdings waren die Versuche, die Eigenschaften, durch die sich die

beiden Phänomene unterscheiden, genau zu definieren, weniger erfolgreich. So wurden in

frühen Untersuchungen (Goodglass/Mayer, 195823, Goodglass/Hunt, 195824) beobachtet, dass

Auslassungen und Ersetzungen von grammatikalischen Morphemen häufiger im

agrammatischen Sprechen als im paragrammatischen Sprechen auftraten; allerdings wurde

auch eine große Überlappung der Fehler bei den Patienten festgestellt. Weiters wurde auch

beobachtet, dass der eigentliche unterscheidende Parameter, der die agrammatischen Patienten

von den paragrammatischen unterscheidet, die Tendenz der Agrammatiker ist, sehr kurze

Sätze zu produzieren – wobei sie sich auch von den anderen Formen der Aphasie ohne

grammatikalische Fehler unterscheiden. In einer Studie (Butterworth/Howard, 198725), in der

die Spontansprache von Kontrollpersonen und 5 Aphasiepatienten, die aufgrund der

grammatikalischen Fehler in ihrem flüssigen und neologistischen Sprechen als

paragrammatisch klassifiziert worden waren, untersucht wurde, wurde die Produktion der

Inhaltswörter, der grammatikalischen Wörter, der Flexionen sowie die Produktion der

22 K., Aphasie und Geisteskrankheit. Münchener medizinische Wochenschrift 61: 8-1223 H./J., Agrammatism in aphasia. Journal of Speech and Hearing Disorders 23: 99-11124 H./J., Grammatical complexity and aphasic speech. Word 14: 197-20725 B./D., Paragrammatism Cognition 26:1-37

Page 12: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

syntaktischen Strukturen untersucht. Die Fehler, die bei den paragrammatischen Vpn.

beobachtet werden konnten, entsprachen jenen, die auch bei den Kontrollpersonen zu finden

waren, allerdings traten sie wesentlich häufiger auf. Aber auch all jene Fehler, die für den

Agrammatismus typisch sind, wurden auch bei den paragrammatischen Sprechern festgestellt.

Aus diesen Beobachtungen wurde geschlossen, dass die Fehler, die im Paragrammatismus

beobachtet werden können, nicht auf einer grammatischen Störung beruhen – wie bei

Agrammatikern – sondern ihre Ursache in einer Störung des Kontrollmechanismus, der das

sprachliche Output-System kontrolliert, haben. Allerdings wurde auch festgestellt, dass es

offensichtlich nicht möglich ist, aufgrund der Charakteristika der Spontansprache deutlich

zwischen agrammatischen und paragrammatischen Sprechern zu unterscheiden, da sowohl

agrammatische als auch paragrammatische Phänomene bei ein und derselben Person auftreten

können.

Allerdings wird im AAT als ein sprachliches Leitsymptom – unter anderen – für die

Wernicke-Aphasie der Paragrammatismus angeführt. In diesem Zusammenhang werden die

paragrammatischen Äußerungen charakterisiert als: „komplex angelegter Satzbau mit

Satzteilverdoppelungen und Verschränkungen sowie mit falschen Funktionswörtern und

Flexionsformen [...]“ (Hartje,W./Poeck,K. (Hrsg.) 1997, Klinische Neuropsychologie

Stuttgart, p. 119). Es wird auch darauf hingewiesen, daß der Paragrammatismus bei allen

verschiedenen Typen der Wernicke-Aphasie26 auftritt, er aber bei den Unterformen mit

semantischen Paraphasien leichter zu erkennen ist. (Vgl. dazu Kopie 1).

Diesen unterschiedlichen Beurteilungen, inwieweit deutliche Unterschiede zwischen

Agrammatismus und Paragrammatismus sowohl empirisch als auch theoretische festgestellt

werden können, sollten zu weiteren Untersuchungen – möglichst sprachenübergreifend –

führen. Man könnte vielleicht zusammenfassend davon ausgehen, dass wir auf der einen Seite

den Agrammatismus haben, mit den bekannten kurzen Sätzen, Auslassungen von

grammatikalischen Morphemen etc., und auf der anderen Seite den Paragrammatismus, mit

komplex angelegten, langen Sätzen etc., und dazwischen gibt es verschiedene Abstufungen,

die einmal mehr Charakteristika der einen Seite, und ein anderes Mal mehr Phänomene der

anderen Seite aufweisen.

Probleme beim Untersuchen von klinisch definierten grammatikalischen Störungen

26 In der hier angesprochenen Beschreibung des Syndroms der Wernicke-Aphasie werden 4 Untertypen unterschieden: WE mit vorwiegend sem. Paraphasien, WE mit sem. Jargon, WE mit vorwiegend phonematischen Paraphasien und WE mit phonematischen Jargon. (Hartje/Poeck, 1997: 119)

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Im folgenden wollen wir auf einige Probleme eingehen, die sich bei den empirischen

Untersuchungen zum Sprechen und zur Sprache der von Patienten mit Sprachstörungen

ergeben.

Leider haben sich – zumindest zum Teil – die Hoffnungen, dass die entsprechenden Analysen

von agrammatischem bzw. paragrammatischem Sprechen zu einer besseren Definition und

somit auch zu einem besseren Verständnis dieser Störungsbilder führen würde, nicht erfüllt.

Zwar sind die Beschreibungsmöglichkeiten verfeinert worden, aber dadurch wurde die

Interpretation bzw. das Verständnis dieses Phänomens nicht wesentlich verbessert.

Dies hat sich ja auch bereits bei den bis jetzt erwähnten – und untersuchten – Fällen des

Agrammatismus gezeigt. So konnten wir feststellen, dass eigentlich keines der Merkmale, die

als für den Agrammatismus typisch angesehen werden, bei allen Patienten, die nach

entsprechenden klinischen Kriterien klassifiziert wurden, auch aufgetreten sind, wobei in

diesem Zusammenhang die – relative – Häufigkeit des Auslassens von grammatikalischen

Morphemen eine gewisse Ausnahme darstellt. Weiters kommt auch noch hinzu, dass – und

dies ist keineswegs ein seltenes Phänomen – z.B. alle jene Eigenschaften, die etwa den

Agrammatismus kennzeichnen, auch bei einem einzelnen Patienten zu beobachten sind; d.h.

es besteht eine große Variabilität zwischen den einzelnen Patienten. Ein zusätzliches Problem

ergibt sich auch daraus, dass manche der bei Agrammatismus beobachteten Phänomen auf

„echte“ grammatikalische Defizite zurückzuführen sind – also morphologisch oder

syntaktisch – aber andere können ihre Ursache auch in phonologischen oder lexikalisch-

semantischen Störungen haben. Solche unterschiedlichen Untersuchungsergebnisse lassen

natürlich auch die Vermutung zu, dass im Grunde genommen die Agrammatiker eine

heterogene Gruppe darstellen, wobei die unterschiedlichen Ergebnisse der verschiedenen

Untersuchungen auch auf methodische – und metatheoretische – Probleme, die sich aus der

jeweiligen Untersuchungsmethode ergeben – zurückzuführen sind.

So wiesen etwa Badecker/Caramazza (198527, 198628) darauf hin, dass das klinisch definierte

neuropsychologische Defizit bei Agrammatismus auf einigen wenigen a priori Kriterien

beruht (Auslassen von grammatikalischen Morphemen, Vereinfachung von syntaktischen

Strukturen, geringere Länge von Phrasen). Somit gestatten es diese Kriterien eigentlich nicht,

Patienten als von demselben kognitiven Defizit betroffene zusammen zu gruppieren. Daraus

kann gefolgert werden, dass die Patienten, die auf dieser Basis gruppiert werden, Personen

mit unterschiedlichen kognitiven Grundproblemen darstellen; d.h. das Verhalten dieser

27 W./A., On considerations of method and theory governing the use of clinical categories in neurolinguistics and cognitive neuropsychology: The case against agrammatism. Cognition 20: 97-11528 W./A., The case against agrammatism: A final brief. Cognition 24: 277-286

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Patienten bei einer spezifischen Aufgabe ergibt sich eigentlich aus unterschiedlichen

Störungen bei verschiedenen Patienten. Daraus kann weiters gefolgert werden, dass Studien,

die sich dieser Methodologie bedienen, zu Ergebnissen führen, die eigentlich nicht

interpretierbar sind und auch keine schlüssigen Ergebnisse ergeben, die für eine Theorie der

kognitiven Prozesse, die bei der Satzproduktion ablaufen, relevant sind. Es wird auch darauf

hingewiesen, dass die Annahme, dass eine Gruppe von a priori-Kriterien zur Identifizierung

von kognitiv homogenen Personen führt, eigentlich darauf hinausläuft, dass die Variabilität,

die bei den einzelnen Patienten festgestellt wird, rein zufällig ist – was auch bedeutet, dass sie

theoretisch irrelevant ist. Nach der Ansicht von Badecker/Caramazza ergeben sich die

Probleme bei der Analyse des Agrammatismus aus eben diesen metatheoretischen und

methodologischen Fehlern. Die Versuche aufgrund von empirischen Analysen die Störung

genauer zu definieren, hat keine besonderen Erfolge gebracht. Das Sammeln von

sprachübergreifenden Daten (vgl. Menn/Obler) bestätigte eigentlich die Problematik des

Versuchs eine objektive Definition für dieses Phänomen zu liefern.

Um diese Probleme zu umgehen, wurde ein anderes Vorgehen vorgeschlagen

(Badecker/Caramazza): Die Untersuchungen des agrammatischen Outputs sollten primär

nicht darauf abzielen, immer detailliertere Beschreibungen der Pathologie des Sprachsystems

zu liefern, oder Theorien über den Agrammatismus bzw. Paragrammatismus zu formulieren;

sondern die Hauptaufgabe dieser Untersuchungen sollte darin bestehen, Hypothesen über die

Struktur des nicht gestörten kognitiven Systems vorzuschlagen. Das bedeutet, dass der

Ausgangspunkt keine a priori identifizierte klinische Kategorie sein kann, sondern explizite

Hypothesen über die kognitiven Mechanismen, die dem grammatikalisch korrekten

sprachlichen Output bei hirngesunden Personen zugrundeliegen. Solche Hypothesen sind

notwendig – so dieser Ansatz – um die kognitive Läsion festzustellen, die für das

abweichende Sprechen des jeweiligen Patienten verantwortlich ist. Aufgrund der Komplexität

der Sprachproduktionsmechanismen können die Defizite, die aus der Schädigung einer oder

mehrere Komponenten dieser Prozesse resultieren, so variabel sein, dass man sie nicht a priori

identifizieren kann. Daher muss die funktionale Läsion, die für das agrammatische Verhalten

verantwortlich ist, a posteriori festgestellt werden, und zwar mittels theoriebestimmter,

detaillierter Analysen des abweichenden sprachlichen Verhaltens. Aufgrund der Komplexität

des Systems und der daraus folgenden Variabilität der möglichen Defizite wird es nicht sehr

wahrscheinlich sein, dass man kognitiv homogene Gruppen (= Gruppen von Patienten, die

dieselbe kognitive Störung aufweisen) finden wird, daher ist die beste Strategie zur

Untersuchung von agrammatischen Patienten die Einzelfallstudie.

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Dies ist eine mögliche Sichtweise des Problems des Agrammatismus. Allerdings haben

andere Autoren auch andere Positionen eingenommen (z.B. Caplan, 198629, Grodzinsky,

199130). Caplan ist zwar auch der Meinung, dass empirische Kriterien und vor-theoretische

Intuitionen nicht zu relevanten Schlüssen hinsichtlich einer Theorie über die Organisation der

normalen Sprache führen können; aber er ist nicht der Meinung, dass diese Probleme oder die

Einwände gegen den traditionellen Zugang ausreichen, um die Verwendung von a priori

identifizierten klinischen Kategorien in neuropsychologischen Studien des kognitiven

Systems aufzugeben. Wenn nämlich das Kriterium für die Kategorisierung auf einer

entsprechenden Theorie beruht, dann sollten klinische Kategorien in der klinischen Forschung

weiterhin benutzt werden. Was nun die grammatischen Störungen in der Sprachproduktion

und im Sprachverständnis betrifft, kann der Terminus „Agrammatismus“ durchaus verwendet

werden, vorausgesetzt diese Kategorie beruht auf einer Theorie, die unabhängig vom

Agrammatismus formuliert wurde. Dieser Vorschlag geht von einer sprachlichen Theorie aus,

die die grammatikalischen Morpheme als eine Klasse von Wörtern ansieht, die von den

anderen Wörtern einer Sprache verschieden sind. Weil nun – nach diesen Überlegungen – die

grammatikalischen Morpheme eine autonome Kategorie darstellen, erlaubt die Wahl des

Kriteriums der Auslassung von Funktionswörtern zur Klassifizierung eines Patienten als

agrammatisch die Identifizierung von kognitiv homogenen Patienten. Nach Caplan sollte der

Begriff Agrammatismus nur verwendet werden, um das Auslassen der grammatikalischen

Morpheme in der Spontansprache zu kennzeichnen; die anderen oft beobachteten Störungen

(syntaktische Vereinfachungen, verringerte Phrasenlänge, Schwierigkeiten mit Hauptverben)

sollten nicht in Betracht gezogen werden.

Um diese beiden Positionen zu überprüfen wurde eine Studie31 durchgeführt, in der die

Spontansprache von 20 Patienten untersucht wurde, die als agrammatisch klassifiziert worden

waren, weil sie grammatikalische Morpheme ausließen. Es wurden die Auslassungen und

Ersetzungen von 5 freien grammatischen Morphemen (definite und indefinite Artikel,

Präpositionen, Klitika (Enklise: schwach od. nicht betontes Wort verbindet sich mit

vorhergehenden Wort: „kommst du“ > „kommste“, Proklise: Verbindung mit folgendem

Wort: „das Fenster“ > „s’Fenster“), Hilfsverben) und drei gebundenen Morphemen

( nominale, verbale und adjektivische Flexionen) untersucht. Die Ergebnisse ergaben eine

große Variabiltität zwischen den Patienten und auch in Hinblick auf die Auslassungen und

29 D., In defence of agrammatism. Cognition 24: 263-27630 Y., There is an entity called agrammatic aphasia. Brain and Language 41: 555-56431 Miceli,G./Silveri,M.C./Romani,C./Caramazza,A., 1989, Variation in the pattern of omissions and substitutions of grammatcal morphemes in the spontaneous speech of so-called agrammatic patients. Brain and Language 36: 447-492

Page 16: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

Ersetzungen. Insgesamt unterstützen die Ergebnisse dieser Studie eher die erste o.e. erwähnte

Interpretation des Agrammatismus, denn obwohl die untersuchten Elemente der linguistisch

homogenen Gruppe der grammatikalischen Morpheme angehörten, ließen sich große

Variationen und Dissoziationen beobachten, und zwar sowohl zwischen den Patienten als

auch bei ein und demselben Patienten. (Auch Kritik an dieser Studie.)

Grammatikalische Produktionsdefizite

Ergebnisse von Studien, wie der o.e., legten nahe, daß die kognitive Störung, die für die

agrammatische Produktion verantwortlich ist, nur a posteriori identifiziert werden kann. Weil

nur mittels expliziter Hypothesen über das Funktionieren der normalen Prozesse der Bereich

der Beobachtungen festgelegt werden kann, der notwendig ist, um die kognitive Läsion

festzustellen, die für das beobachtete Verhalten verantwortlich ist. Somit sollte den

Ausgangspunkt für die Analyse der aphasischen Produktion eine Theorie des normalen

Produktionssystems bilden.

Nun gibt es einige Modelle der sprachlichen Produktion, die auf der Analyse der Versprecher

von hirngesunden Personen beruhen (Dell, 198632, Garrett, 197533, 197634, 198035,

198236,198437, 199238, Lapointe/Dell 198939). Diese Modelle bieten explizite Hypothesen

bezüglich der verschiedenen Repräsentationsebenen, die an der Sprachproduktion beteiligt

sind, und auch bezüglich der Mechanismen, die bei der Verarbeitung dieser Repräsentationen

verwendet werden.

Verschiedene Repräsentationsebenen bei der Sprachproduktion

Wir wollen hier das Modell von Garrett (s.o.) als Beispiel herausgreifen, nicht zuletzt auch

weil es ein Produktionsmodell darstellt, das im Bereich der Aphasieforschung sehr oft für

Erklärungen herangezogen wurde und das auch Ergebnisse aus dem Aphasiebereich

einbezieht. 32 G., A spreading-activation theory of retrieval in sentence production. Psychological Review 93: 283-32133 M.F., The analysis of sentence production. In: G. Bower (ed.), The Psychology of learning and Motivation. (Vol. 9: 133-177), New York34 M.F., 1976. Syntactic processes in sentence production. In: R.J. Wales/E.C.T. Walker (eds.), New Approaches to Language Mechanisms (231-255), Amsterdam35 M.F., Levels of processes in sentence production. In. Butterworth,B. (ed.) Language production, vol. 1: Speech and talk. New York36 M.F., Production of speech: Observations from normal and pathological language. In: Elis, A.W.(ed.) Normality and pathology in cognitive functions. New York37 M.F., The organization of processing structure for language production: Application to aphasia research. In: Caplan/Lecours/Smith (eds.) Biological perspectives of language. Cambridge MA38 M.F., Disoders of lexical selection. Cognition 42: 143-18039 S./G., A synthesis of some recent work in sentence production. In: Tanenhaus/Carlson (eds.) Language processing and linguistic theory. Dordrecht

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Vor allem basierend auf der Analyse von Versprechern entwickelte Garrett40 ein Modell, das

davon ausgeht, dass die Produktion von Sprache eine Reihe von diskreten

Verarbeitungsebenen durchläuft. Es handelt sich dabei um ein serielles Modell (s. Abb.). Im

Bereich der syntaktischen Planung werden zwei Hauptstadien unterschieden: die funktionale

Ebene („functional level“) und die positionale Ebene („positional level“).

Auf der funktionalen Ebene ist die Wortstellung noch nicht explizit repräsentiert. Dagegen ist

der semantische Inhalt der Wörter bereits spezifiziert und den syntaktischen Rollen von

Subjekt und Objekt zugeordnet.

Auf der positionalen Ebene sind die Wörter dann explizit geordnet. Außerdem besteht eine

Trennung zwischen der syntaktischen Planung und dem Abrufen der Wörter: Garrett meint,

dass die Inhaltswörter und die Funktionswörter deutlich unterschiedliche Rollen in der

Sprachproduktion spielen, wobei die Inhaltswörter auf der funktionalen Ebene ausgewählt

werden und die Funktionswörter werden nicht vor der positionalen Ebene gewählt.

Im folgenden ein Überblick über die Produktion eines Satzes:

Wir beginnen mit der Absicht eine Äußerung mit einem bestimmten Inhalt zu machen, z.B.

dass jemand etwas kocht. Diese Ebene der Konzeptualisierung ist kaum untersucht, aber wir

können davon ausgehen, dass wir einmal ganz allgemein auswählen, was wir sagen wollen

und wie wir es sagen wollen. Bei der Produktion der Sprache müssen diese möglicherweise

parallel aufgetretenen Überlegungen linearisiert werden. Wir bilden abstrakte semantische

Spezifizierungen, in denen die funktionalen Beziehungen spezifiziert sind, die dann auf die

syntaktischen Funktionen abgebildet werden, d.h. es gibt ein Subjekt (= Mutter Konzept),

Verb (= kochen Konzept), Objekt (= Würstl Konzept), Zeit (= Gegenwart), Anzahl der

Objekte (= mehr als eins) – dies erfolgt auf der funktionalen Ebene.

Sollte es nun bei einem Versprecher mit einem falschen Wort – statt „Würstl“ „Leberkäse“ –

kommen, dann ist dies – nach Garrett – auf dieser Ebene passiert, da nur die funktionalen

Rollen der Wörter, aber nicht ihre absoluten Positionen festgelegt wurden.

Im nächsten Schritt wird ein syntaktischer Rahmen für den geplanten Satz erstellt, wie (Det)

N1 V (Präsens) (Det) N2 (+ Pl). Wobei Garrett davon ausgeht, dass die Funktionswörter einen

inhärenten Teil dieses Rahmens darstellen. Nun werden die phonologischen Repräsentationen

der Inhaltswörter aus dem Lexikon abgerufen und zwar über ihre semantischen

40 Garrett, M.F., 1975. The analysis of sentence production. In G. Bower (ed.), The psychology of learning and motivation. Vol. 9, New York: 133-177; ders. 1976. Syntactic processes in sentence production. In R.J. Wales/E.C.T. Walker (eds.), New approaches to language mechanisms. Amsterdam: 231-255; ders. 1980. Levels of processing in sentence production. In B. Butterworth (ed.), Language production Vol. 1 Speech and talk. London: 177-220; ders. 1988. Processes in language production. In. F. Newmeyer (ed.), Linguistics: The Cambridge survey: Vol. 3: Psychological and biological aspects. Cambridge: 69-96; ders. 1992. Disorders of lexical selection. Cognition 42: 143-180

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Repräsentationen und sie werden in den syntaktischen Rahmen eingefügt, wo dann ihre

endgültigen Positionen spezifiziert werden. Die Markierung +Pl sorgt dafür, dass in Sprachen

wie dem Deutschen auch die Funktionswörter entsprechend markiert sind (was dann „die“

statt „das“ ergibt). D.h. auf der positionalen Ebene sieht die Struktur dann in etwa so aus:

(Det+Sg+Nom) /Mutter/ /koch/ (+3.Ps Sg Präs) (Det+Pl) /Würstl/ (+Pl).

Im nächsten Schritt werden die Funktionswörter und die grammatikalischen Morpheme

phonologisch spezifiziert, woraus sich die Repräsentation auf der „Lautebene“ („sound level“)

ergibt (/di: mut/ /ko/ /di:/ /vstl/). Dies zeigt sich bei Versprechern darin, dass auf dieser

Ebene Vertauschungen von Lauten auftreten können, da die absoluten Positionen der Laute

nun festgelegt sind, und daraus ergibt sich eine Beschränkung aufgrund der Entfernung, was

sich darin zeigt, dass Lautvertauschungen immer eine große Nähe aufweisen.

Diese phonologische Repräsentation bildet den Ausgangspunkt für die entsprechende

Programmierung der Artikulatoren, wobei Garrett dazu nicht sehr viel mehr zu diesen

Vorgängen sagt.

Was spricht nun für das Modell von Garrett?

Nun in einem Versprecher wie „a weekend for maniacs“ (statt: „a maniac for weekends“)

zeigt der Austausch des Pl-Morphems „-s“, das dort auftritt, wo es geplant war, dass

offensichtlich das Inhaltswort („maniac“) unabhängig von seinem Pluralsuffix abgerufen

wurde. Das Belassen von gebundenen Morphemen an ihren ursprünglichen Stellen wird als

„Stranding“ („morpheme stranding“) bezeichnet. Offensichtlich verhalten sich Inhaltswörter

anders als grammatikalische Elemente, also gebundene Morpheme und Funktionswörter. Das

weist darauf hin, dass sie möglicherweise auf unterschiedlichen Verarbeitungsebenen

auftreten.

Weiters wurde in diesem Versprecher das Pl-Suffix korrekt produziert, also als [-s] und nicht

[-z], wie es eigentlich nach „weekend“ geplant war. Diese Anpassung an die phonologische

Umgebung weist darauf hin, dass die phonologische Spezifizierung der grammatikalischen

Elemente, was dann zur entsprechenden phonetischen Form führt, relativ spät im

Produktionsprozess erfolgt – zumindest nachdem die Inhaltswörter bereits abgerufen wurden.

Genau diese Dissoziation zwischen der Spezifizierung der phonetischen Struktur der

Inhaltswörter und der grammatikalischen Elemente spielt eine große Rolle in den Theorien

zur Sprachproduktion und taucht auch in den Diskussion von Störungen der Sprachproduktion

auf. Außerdem zeigte sich bei Versprechern, dass in Fällen, in denen Wörter vertauscht

wurden, die Satzbetonung sich nicht verändert hatte, was ebenfalls darauf hinweist, dass die

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Betonung unabhängig von den Inhaltswörtern spezifiziert ist.

Wie wir gesehen haben, besteht eine grundlegende Annahme dieses Modells darin, dass die

Wörter in zwei Klassen (geschlossene und offene Klasse) eingeteilt werden, wobei diese

Klassen durch unterschiedliche Mechanismen verarbeitet werden. Die Wörter der offenen

Klasse werden sowohl auf der funktionalen Ebene (hier aktiviert die auf der Mitteilungsebene

erzeugte semantische Information lexikalische Repräsentationen, die durch ihre syntaktischen

und semantischen Eigenschaften festgelegt sind) als auch auf der positionalen Ebene (wo den

lexikalischen Repräsentationen, die auf der funktionalen Ebene aktiviert wurden, ein

phonologischer Wert zugewiesen wird). Im Gegensatz dazu werden die Wörter der

geschlossenen Klasse nur auf der positionalen Ebene verarbeitet, auf der ein phonologischer

Wert jedem grammatikalischem Morphem zugewiesen wird, und zwar aufgrund der

Information, die in der Phrasenstruktur, die auf dieser Ebene konstruiert wird, enthalten ist.

Schädigung der morphosyntaktischen Mechanismen als Ursache für Störungen der

Produktion von grammatikalischen Morphemen

Diese erwähnte Unterscheidung in der Verarbeitung von Wörtern der offenen und der

geschlossenen Klasse ermöglicht nun vorauszusagen, dass eine Störung auf der positionalen

Ebene die Produktion von grammatikalischen Morphemen bei der Produktion von Sätzen

beeinträchtigt, aber nicht die Produktion von grammatikalischen Morphemen als

Einzelwörter. Weiters kommt noch hinzu, da die positionale Ebene nur in der Produktion

involviert ist, dass eine Störung auf dieser Ebene das Verständnis nicht betreffen sollte. Nun

wurden in der Literatur zwei Aphasiepatienten beschrieben, deren neuropsychologisches

Profil mit einem solchen Defizit auf der positionalen Ebene übereinstimmt (Caramazza/Hillis,

198941; Nespoulous et al., 198842).

Beide Patienten wiesen normales Verständnis auf, obwohl ein schweres Defizit bei der

Produktion von grammatikalischen Morphemen im phrasalen Kontext vorlag. Ihre

Spontansprache (mündlich und schriftlich) war gekennzeichnet durch häufige Auslassungen

(und weniger häufigen Ersetzungen) von freistehenden grammatikalischen Morphemen und

bei den Verben durch die Produktion von Infinitiven und Partizipien anstatt der korrekten

flektierten Formen.

Z.B.: M.L. (Caramazza/Hillis) bei einer Erzählung: 173 obligatorische Umgebungen für freie

grammatikalische Morpheme, 79 für gebundene grammatikalische Morpheme und 207 für

41 A./A.E., The disruption of sentence production: Some dissociations. Brain and Language 36: 625-65042 J.L./Dordain,M./Perron,C./Ska,B./Bub,B./Caplan,D./Mehler,J./Lecours,A.R., Agrammatism in sentence production without comprehension deficits: Reduced availability of syntactic structures and/or grammatical morphemes? Brain and Language 33: 273-295

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Wörter der offenen Klasse; Ergebnisse: ungebundene grammatikalische Morpheme: 62,4%

Auslassungen und 2,3% Ersetzungen; gebundene gramm. Morpheme: 18,5% „Auslassungen“

der gesamten Flexionen – ein englischsprachiger Patient; aber nur wenige Probleme mit den

Wörtern der offenen Klasse; aber keine Probleme bei Lautlesen, Wiederholen von

morphologisch komplexen Wörtern, wenn sie isoliert dargeboten wurden. (Ähnliche

Ergebnisse von Mr. Clermont (Nespolous et al.).) Diese Ergebnisse, dass nämlich die

Produktion von grammatikalischen Morphemen als Einzelwörter nicht gestört ist, können im

Sinne der o.e. Annahme interpretiert werden, dass eine Störung auf der positionalen Ebene

vorliegt, auf der die grammatikalischen Morpheme in die von der phrasalen Struktur

bereitgestellten Leerstellen eingefügt werden.

Im Modell von Garrett wird davon ausgegangen, daß die Repräsentationen auf der

positionalen Ebene phonologisch spezifiziert sind; was aber nicht klar ist, ist, ob ein und

dieselbe Repräsentation auf der positionalen Ebene für alle Produktionsaufgaben zuständig

ist, oder ob es unterschiedliche, modalitätsspezifische Repräsentation auf der positionalen

Ebene für Sprechen und Buchstabieren bestehen. Die Leistungen der o.e. Patienten zeigen

ähnliche Fehler bei den grammatikalischen Morphemen sowohl in der lautlichen als auch in

der schriftlichen Produktion. Dies würde auf eine modalitätsunabhängigen Repräsentation –

also eine die sowohl für das Sprechen als auch das Schreiben zuständig ist – hinweisen. Es

gibt allerdings auch andere Beobachtungen, die eher auf eine alternative Erklärung

hinauslaufen, bei der unterschiedliche Repräsentationen auf der positionalen Ebene für die

schriftliche und lautliche Produktion angenommen werden. Z.B. wies der Patient P.B.S.

(Rapp/Caramazza, 199743) Störungen sowohl im lautlichen als auch im geschriebenen Output

auf; wenn er aber aufgefordert wurde, dasselbe Bild schriftlich oder lautlich zu beschreiben,

dann zeigte er verschiedene Verhaltensweisen: Beim Sprechen produzierte er die

grammatikalischen Wörter exakt, aber die Versuche Inhaltswörter zu produzieren, ergaben

viele Neologismen; beim Schreiben dagegen wurden die grammatikalischen Wörter häufig

ausgelassen, wogegen die Inhaltswörter korrekt produziert wurden. Ein Beispiel dazu: Bei der

Beschreibung eines Bildes auf dem ein Junge ein Auto wäscht, produzierte der Patient:

„the /wVd/ are /rVzd/ the /rud/ with /Ivd/ and /tVv/ in a /redId/“ , aber sofort danach schrieb

er „BOY WASHED CAR“. Es gibt auch noch weitere Untersuchungen, die Patienten mit

ähnlichem Verhalten beschreiben. Nun können solche Beobachtungen eigentlich nur so

erklärt werden, indem man annimmt, dass es bei der Produktion von Sätzen offensichtlich zu

unterschiedliche Repräsentationen auf der positionalen Ebene für Sprechen und Schreiben

43 B.C./A., The modality-specific organization of grammatical categories: Evidence from impaired spoken and written sentence production. Brain and Language 56: 248-287

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kommt.

Eine Störung der lexikalischen Morphologie als Ursache für die Probleme bei der Produktion

von grammatikalischen Morphemen

Die bisher besprochenen Untersuchungen weisen darauf hin, dass ein Defizit auf der

positionalen Ebene zu Schwierigkeiten bei der Produktion von grammatikalischen

Morphemen in Sätzen kommen kann. Da aber auch andere Komponenten des

Produktionssystems bei der Verarbeitung dieser Morpheme beteiligt sind, können Probleme

auch aufgrund von anderen Schädigungen als jenen der morphosyntaktischen Prozesse

entstehen. So könnten die Probleme mit den grammatikalischen Wörtern auch auf eine

Schädigung des lexikalisch-semantischen Systems zurückzuführen sein. Ein solches Defizit

kann auch zu grammatikalischen Produktionsfehlern führen, weil eben die morphologische

Struktur auch eine Dimension in der Organisation des lexikalisch-semantischen Systems

darstellt.

Die Hypothese, dass die morphologische Struktur eine zentrale Rolle in der sprachlichen

Organisation spielt, wurde auch häufig in linguistischen und neuropsychologischen Studien

zur Verarbeitung von Einzelwörtern und der Produktion von Sätzen vorgeschlagen. (So

ergaben sich z.B. entsprechende Belege aus der Untersuchung des Patienten F.S.44 Dieser

Patient wies zusätzlich noch viele Fehler bei der Produktion von morphologisch komplexen

Nomen, Adjektiven und Verben (im Italienischen flektiert und manchmal auch abgeleitet) auf,

auch wenn sie isoliert dargeboten/produziert wurden.)

Dass eine hohe Anzahl von morphologischen Fehlern beim Nachsprechen von isoliert

dargebotenen Wörtern auftreten kann, weist darauf hin, dass morphologische Prozesse im

Lexikon ablaufen müssen, und dass die Morphologie eine Dimension der lexikalisch-

semantischen Organisation darstellt. Da es auch zu einer Dissoziation zwischen

Flexionsprozessen ((bei F.S.) stark gestört) und derivationalen Prozessen /

Ableitungsprozessen (zum Großteil nicht gestört) kommen kann, weist ebenfalls darauf hin,

dass die zwei Arten von morphologischen Prozessen in unterschiedlichen Komponenten des

Lexikons ablaufen. Diese Trennung wird auch durch theoretisch und empirische

Beobachtungen gestützt. So wird auch in morphologischen Theorien zwischen

Flexionsprozessen und Derivationsprozessen unterschieden (Bybee, 198545). Weiters wird

auch eine Unterscheidung bei den Prozessen der Flexion und Derivation in einigen

44 Miceli,G./Caramazza,A., 1988, Dissociation of infletional and derivational morphology: Evidence from aphasia. Brain and Language 35: 24-6545 J.L., Morphology. A study of the relation between meaning and form. John Benjamins

Page 22: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

psycholinguistischen Produktionsmodellen angenommen. So wird etwa bei Garrett

angenommen, dass die Basisform eines abgeleiteten Wortes auf der funktionalen Ebene in die

phrasale Struktur eingesetzt wird, und zwar aufgrund der semantischen Information (wie eben

auch Wörter der offenen Klasse); dagegen wird die Flexion auf der positionalen Ebene

ausgewählt, und zwar aufgrund der Information der phrasalen Struktur. Weitere empirische

Beobachtungen an agrammatischen Patienten stützen diese Überlegungen einer Trennung in

der Verarbeitung von Flexionen und Derivationen.

Die Unabhängigkeit der morphosyntaktischen Mechanismen von jenen der Zuweisung von

thematischen Rollen

Bei der Produktion von Sätzen wird die Informantion, die auf der Mitteilungsebene

verarbeitet wird, verwendet, um die entsprechenden thematischen Rollen/semantischen

Funktionen den lexikalischen Repräsentationen zuzuweisen, die aufgrund der konzeptuellen

Information ausgewählt wurden. Die grammatikalischen Rollen/Funktionen werden nun

aufgrund der thematischen Rollen zugewiesen. Wenn wir uns einen Satz ansehen, wie „Der

Junge gibt dem Mädchen das Auto.“, dann werden die grammatikalischen Rollen/Funktionen

des Subjekts, des direkten und indirekten Objekts, dem Agens („Junge“), dem

Patiens/Objektiv („Auto“) und Benefaktiv („Mädchen“) zugewiesen.

Nun gibt es neuropsychologische Beobachtungen, die darauf hinweisen, dass eine cerebrale

Läsion ganz spezifisch die Zuweisung der thematischen Rollen stören kann, wobei die

Produktion der grammatikalischen Morpheme nicht gestört ist. So zeigte ein Patient in einer

Studie46, in der Bilder beschrieben werden mußten, wobei es sich um die schriftliche und

mündliche Produktion von einfachen, semantisch reversiblen Aussagesätze im Aktiv und

Passiv handelte, kaum Fehler (0,02%) im morphologischen Bereich, dagegen aber deutlich

mehr Fehler (16,7%) bei den thematischen Rollen, die er vertauschte. Dazu ist noch

anzumerken, dass die grammatikalischen Morpheme auch in jenen Sätzen korrekt produziert

wurden, in denen die thematischen Rollen vertauscht waren. Dieses Fehlermuster ist nicht

ganz einfach zu interpretieren. Die Zuweisung von thematischen Rollen ist das Endergebnis

von komplexen kognitiven Operationen und könnte trotz eines semantischen Defizits korrekt

erfolgen (dazu Untersuchung). Diese Zuweisung beinhaltet Mechanismen auf der lexikalisch-

semantischen Ebene (Wissen um die Verbstruktur, um festzulegen, welche thematischen

Rollen vom jeweiligen Verb zugewiesen werden) und auch syntaktische Mechanismen (zum

Abbilden der syntaktischen Rollen (Subjekt usw.) auf thematischen Rollen wie Agens etc.).

46 Caramazza,A./Miceli,G., 1991, The selctive impairment of thematic role assignment in sentence processing. Brain and Language 41: 402-436

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Da die dabei ablaufenden Prozesse sehr komplex sind, könnten die Fehler in der Zuweisung

thematischer Rollen, auf verschiedenen Störungen beruhen. Im Falle einer lexikalisch-

semantischen Störung bei der die konzeptuelle Information über das Verb ausgenommen ist,

aber die Verb-Argument-Struktur nicht abrufbar ist, könnten die für die Zuweisung der

thematischen Rollen verantwortlichen Prozesse – obwohl nicht gestört – die Rollen falsch

zuordnen. Im Falle einer syntaktischen Störung kann zwar die Information über einzelne

Wörter (einschließlich der Verb-Argument-Struktur) ungestört sein, aber die Störung der

Prozesse zur Zuweisung der thematischen Rollen zu Fehlern wie Rollenvertauschungen

führen.

Die (auch o.e.) Beobachtungen an Patienten mit ähnlichen Leistungen führen, unabhängig von

der jeweiligen spezifischen Störung (lexikalisch-semantisch oder syntaktisch), zu zwei

Überlegungen: Das Defizit (Schwierigkeiten bei der Zuweisung thematischer Rollen ohne

wesentliche Probleme bei der Produktion von grammatikalischen Morphemen) ergänzt das

Problem von Patienten, die Schwierigkeiten bei der Produktion von grammatikalischen

Morphemen haben, aber nicht bei der Zuweisung semantischer Rollen. Diese doppelte

Dissoziation könnte darauf hinweisen, dass bei der Satzproduktion die morphosyntaktischen

Prozesse unabhängig von jenen Prozessen sind, die die thematischen Rollen zuweisen. Geht

man von diesen Überlegungen aus, dann kann das gemeinsame Auftreten von Problemen bei

der Produktion von grammatikalischen Morphemen und Problemen bei der Zuweisung von

thematischen Rollen, nicht als Resultat ein und derselben Störung betrachtet werden. In

diesem Zusammenhang ist es vielleicht besser anzunehmen, dass die kognitiven Läsionen

unterschiedliche Komponenten des Produktionsprozesses betreffen.

Obwohl – wie wir gesehen haben – es durch die vielen Studien zu Fortschritten im

Verständnis der Störungen, die dem Agrammatismus zugrundeliegen könnten, gekommen ist,

sind viele Probleme, die in den empirischen Arbeiten angesprochen wurden, noch keineswegs

gelöst. Viele Antworten auf diese Fragen hängen natürlich auch von der Entwicklung von

ausführlichen kognitiven Modellen der Sprachproduktion ab. So haben z.B. die derzeitigen

Modelle größte Probleme die unterschiedliche Behandlung von freien und gebundenen

grammatikalischen Morphemen zu erklären, oder auch mit Erklärungen für das

modalitätsspezifische Auftreten von Störungen in der agrammatischen Produktion. So kann

man nur davon ausgehen, dass der dialektische Prozeß der gegenseitigen Beeinflussung von

Theorien über die normale Sprache und den theorie-geleiteten, empirischen Untersuchungen

zur Sprache von Aphasiepatienten zu detaillierteren Hypothesen über die Repräsentationen

und Prozesse bei der Produktion und beim Verstehen von Sprache führen werden.

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Grammatikalische Verständnisdefizite

In vielen Studien, die wir bisher angesprochen haben, wurde neben der Produktion auch

häufig das Sprachverständnis untersucht. Wobei das Ziel natürlich auch war, zu einer

einheitlichen Erklärung für – in unserem Fall – besonders das agrammatische Verständnis zu

kommen. Die Untersuchungen zum Verständnis führten zur Beschreibung von allgemeinen

Merkmalen des Verständnisprozesses, aber die daraus resultierenden Hypothesen führten

ebenfalls zu keinen ausreichend expliziten Modellen. Somit wollen wir auch hier mit den im

folgenden zu besprechenden Beispielen vor allem auf die möglichen Problembereiche bei der

Modellierung der Verständnisprozesse hinweisen.

Die Probleme beim Verstehen von grammatikalischen Strukturen, so wurde angenommen,

sind auf Defizite im phonologischen Kurzzeitgedächtnis zurückzuführen (z.B. Shallice,

198847). Diese Hypothese beruht auf der Annahme, dass das Verstehen von Sätzen auf der

Erstellung einer phonologischen Repräsentation beruht, die durch eine Komponente des

Arbeitsgedächtnisses48 aktiv gehalten wird. Diese phonologische Kette, die im

Kurzzeitgedächtnis gespeichert ist, wird nun von einem sog. syntaktischen „Parser“

verarbeitet, um die syntaktische Repräsentation aufzubauen, die für die folgenden Stadien des

Verstehens notwendig ist. Nach diesen Überlegungen ist ein normales phonologisches

Gedächtnis notwendig, um eine vollständige syntaktische Repräsentation zu konstruieren.

Wenn nun das phonologische Kurzzeitgedächtnis gestört ist, dann kann der Parser nur mit

kürzeren als normalen phonologischen Ketten arbeiten, was zu Problemen beim Verstehen

führen kann. Diese Interpretation des (agrammatischen) Verständnisses ist nicht unumstritten.

So wurde diese Annahme nicht aufgrund von theoretischen Modellen vorgeschlagen, sondern

ergab sich aus den empirischen Beobachtungen, dass in den frühen Beschreibungen von

agrammatischem Verständnis die Verständnisprobleme zusammen mit schlechten Leistungen

bei der verbalen Gedächtnisspanne auftraten. Damit aber kann nicht ausgeschlossen werden,

daß andere, nicht-phonologische Gedächtnissysteme, eine Rolle im Verstehen von Sätzen

spielen. (So könnte der Parser auch mit anderen – ebenfalls abstrakten – aber nicht

phonologischen Informationen arbeiten und diese Informationen müßten nicht im

phonologischen Kurzzeitgedächtnis gespeichert sein.)

Wir finden nun tatsächlich Untersuchungen (z.B. Martin, 198749), in denen die Patienten ein

47 T., Information-processing models of consciousness: Possibilities and problems. In: Marcel,A.J./Bisiach,E.(eds.) Consciousness in contemporaray science. Oxford48 Arbeitsgedächtnis (working memory): das Bereithalten von (bzw. die aktuelle verfügbare Menge von) Informationen und Sach-, Entscheidungs- bzw. Lösungsstrategien während der Beschäftigung mir einer Aufgabe.

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schweres Defizit des phonologischen Kurzzeitgedächtnisses aufwiesen (nachgewiesen mit

Tests zur Gedächtnisspanne), aber andererseits überraschend gute Ergebnisse beim Verstehen

von komplexen Sätzen aufwiesen. Diese Beobachtungen weisen nun darauf hin, dass

offensichtlich keine kausale Beziehung zwischen dem gestörten phonologischen

Kurzzeitgedächtnis und dem Verständnis von syntaktischen Strukturen besteht. Daraus folgt,

dass, wenn man weiter davon ausgeht, dass das Verständnisdefizit auf ein Gedächtnisdefizit

zurückzuführen ist, dann muss wohl angenommen werden, dass das gestörte

Kurzzeitgedächtnissystem nicht-phonologischen Ketten abgespeichert hat.

Wenn nun das Verständnisproblem für die grammatikalischen Strukturen auf eine Störung des

Gedächtnisses (phonologischer oder anderer Natur) zurückzuführen ist, ist es ebenso

plausibel, dass das asyntaktische Verstehen auf ein tatsächliches syntaktisches Defizit

zurückzuführen sein könnte. So zeigte etwa bereits eine frühe Studie50, in der ein

Verständnistest mit agrammatischen Aphasiepatienten durchgeführt wurde, wobei zwei Arten

von Satzstimuli verwendet wurden, die zwar eine ähnliche Länge aufwiesen, aber von

unterschiedlicher syntaktischer Komplexität waren: a) koordinierte Sätze: „The man is

greeted by the wife and is smoking the pipe.“, b) Hauptsätze mit untergeordneten Teilsätzen:

„The man greeted by the wife is smoking the pipe.“ Die agrammatischen Vpn. erzielten

bessere Ergebnisse bei den Sätzen vom Typus a) als bei b).

Allerdings wurden auch entsprechende Überlegungen bezüglich der syntaktischen (und

semantischen – bei Annahme einer Interaktion von Syntax und Semantik) angestellt.

Weitere Untersuchungen51 nahmen als Ausgangspunkt die Rektions- und Bindungstheorie

(government and binding) von Chomsky und versuchten die schlechten Leistungen der

agrammatischen Patienten beim Satzverständnis mit der Unfähigkeit die sogenannten

„Spuren“ zu verarbeiten, zu erklären. Diese Hypothese wird als Trace-Deletion-Hypothesis

bezeichnet. Von den Problemen beim Satzverständnis sind allerdings nicht alle Satzstrukturen

in gleicher Weise betroffen, so sind etwa Aktivsätze leichter als Passivsätze oder Relativsätze.

Daher schlug Grodzinsky (s. Fn. 48) vor, dass nicht die gesamte syntaktische Komponente

betroffen ist, sondern nur ein Teil – eben die sog. Spuren (traces). (Nach der GB-Theorie: In

einem Passivsatz („Elsa wird vom Schwan geküsst.“ ist die NP „Elsa“ in der sog. D-Struktur

nach „küssen“ repräsentiert; in der S-Struktur wird nun „Elsa“ (= ein Argument des Verbs) in

die Subjektposition bewegt, wobei allerdings das bewegte Argument eine Spur mit einem 49 R.C., Phonological and articulatory deficits in short term memory and their relation to syntactic processing. Brain and Language 32: 159-19250 Goodglass,H./Blumstein,S.E/Gleason,J.B./Hyde,M.R./Green,E./Statlender,S., 1979, The effect of syntactic encoding on sentence comprehension in aphasia. Brain and Language 7: 201-20951 Grodzinsky,Y., 1987(?), Language deficits and the theory of syntax. Brain and Language 1: 135-159; Grodzinsky,Y., 1990, Theoretical perspectives on language deficits. Cambridge, MA

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Index hinterlässt. Die Spuren sind dann wichtig, wenn die syntaktischen Rollen („wer tut wem

was“) verteilt werden. Der Rollen-Verteilungs-/Zuschreibungsalgorithmus erwartet nun die

Rolle des „Themas“ (die von der Aktion affizierte Entität) an ihre Position in der D-Struktur,

direkt nach dem Verb, findet sie aber nicht, dafür aber die Spur mit dem Index und kann so

die Rolle des Themas der entsprechenden NP zugeschrieben werden.)

Grodzinsky meint nun, daß diese Spuren in den Repräsentationen der Agrammatiker nicht

vorhanden sind – „trace-deletion-hypothesis“ (TDH); daraus folgt, dass die Rollenzuweisung

für aus ihrer ursprünglichen Position bewegte Argumente nicht mehr möglich ist, aber für

nicht-bewegte schon. Nun könnte beim Passiv ja die Zuschreibung der Rolle des Agens (im

Englischen) aufgrund der „by-Phrase“ erfolgen, womit die übrigbleibende NP die Rolle des

Themas erhielte. Nach G. wird eine solche Zuweisung „overruled“ durch eine obligatorisch

anzuwendende Wortstellungs-Heuristik („default-principle“): Wenn die erste NP eines Satzes

als Konsequenz der Spurentilgung keine thematische Rolle erhalten hat, dann wird sie

automatisch zu einem Agens – oder erhält eine andere passende Rolle. Wenn nun die Rolle

des Agens bereits von der „by-Phrase“ besetzt ist, dann kommt es zu einem Konflikt, von dem

angenommen wird, dass ihn der Patient durch Raten löst, was die Ergebnisse im

Zufallsbereich bei Sätzen mit bewegten Argumenten und nicht kanonischer Satzstruktur

erklären soll.

Kritik an der TDH: Problem mit dem „default-principle“ – Dieses Prinzip beruht nicht auf

grammatikalischen Prinzipien, warum sollte nun der Agrammatiker bei diesem Prinzip

bleiben, wenn es in Konflikt mit der Information steht, die er aus der Rollenzuweisung von

nicht-bewegten Argumenten erhält. Das führte zu zwei Reformulierungen der TDH, wobei es

zwar eine Anzahl von Unterschieden hinsichtlich der sprachlichen Repräsentation gibt, aber

beide ersetzen das „default-priciple“ durch eine Strategie, aufgrund der die Patienten

zwischen den Möglichkeiten wählen, die übrig bleiben, nachdem die direkte Rollenzuweisung

erfolgt ist.

Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt: die empirische Evidenz für die TDH. Das Verständnis war

nicht wie vorausgesagt für: a) Passivsätze ohne „by-Phrase“52, b) hebräische Passivsätze mit

postverbalen Subjekten53 und c) der Matrixsatz in Sätzen mit einem zentral eingebetteten

Relativsatz 54.

Hinzu kommt auch noch, dass nur eine kleine Gruppe von agrammatischen Patienten (ca. 1/3) 52 Martin,R.C./Frederick-Wetzel, W. et al., 1989. Syntactic loss versus processing deficit. An assessment of two theories of agrammatism and syntactic comprehension deficits. Cognition 32: 157-19153 Druks,J./Marshall,J.C., 1991. Agrammatism: An analysis and critique , with new evidence from four Hebrew-speaking aphasic patients. Cognitive Neuropsychology 8: 415-43354 Kolk,H.H.J./Weijts,M., 1996. Judgements of semantic anomaly in agrammatic patients: Argument movements, syntactic complexity and the use of heuristics. Brain and Language 54: 86-135

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bei Passivsätzen Leistungen im Zufallsbereich aufweisen

In diesen Untersuchungen wird explizit eine linguistische Theorie als Ausgangspunkt für die

Erklärung des Verständnisdefizits herangezogen, allerdings ist einschränkend hinzuzufügen,

dass damit – möglicherweise – ein spezifisches Defizit für eine spezifische Satzstruktur mit

Hilfe einer linguistischen Theorie erklärt werden kann, aber die Probleme im Verstehen von

syntaktischen Strukturen können durchaus umfassender sein und viele verschiedene

Strukturen betreffen (vgl. Passiv, Topikalisierungen (bei mehrwertigen Verben!), etc.).

In anderen Studien, die sich mit Grammatikalitätsurteilen über Sätze befaßten, zeigte sich,

dass einige Patienten, die sehr große Probleme beim Verstehen von mündlich vorgegebenen

einfachen Aussagesätzen aufwiesen, wesentlich besser in der Lage waren – zwar nicht

fehlerlos – zu beurteilen, ob ein mündlich präsentierter, komplexerer, Satz grammatikalisch

korrekt oder inkorrekt war. Ähnliche Ergebnisse wurden auch erzielt, wenn die Prosodie

weggelassen wurde. Solche Ergebnisse weisen darauf hin, dass Patienten mit

Verständnisproblemen durchaus in der Lage sein können, die Grammatikalität eines Satzes zu

beurteilen. Solche und ähnliche Ergebnisse führten zur Überlegung, daß diese Patienten,

wiewohl sie genügend syntaktisches Wissen aktivieren können, um die Grammatikalität von

Sätzen zu beurteilen, dieses Wissen nicht ausreicht, um eine ausführliche Repräsentation eines

Satzes zu konstruieren, um zum Verständnis dieses Satzes zu gelangen. So zeigte sich in einer

Studie (Linebarger et al., 198355), dass jene Sätze für die agrammatischen Patienten am

schwierigsten waren, bei denen Verletzungen der grammatikalischen Regeln Wörter betraf,

die im Satz eher weit von einander entfernt waren. So hatten die Vpn. große Probleme beim

Beurteilen von Sätzen mit sog. „tag-questions“, die eine Übereinstimmung im Nomen und

Verb verlangen, wo aber einige Elemente dazwischen auftreten (z.B.: „The little boy fell

down, didn`t he?“). Solche Probleme könnten darauf hinweisen, dass die agrammatischen

Patienten nicht in der Lage sind, eine umfassende syntaktische Repräsentation eines Satzes zu

bilden, obwohl sie in der Lage sind, lokal eingeschränkte syntaktische Repräsentationen

darzustellen. So zeigte auch eine weitere Studie56, dass agrammatische Patienten die

pronominale Referenz besser verstehen, wenn das Pronomen und der Referent näher bei

einander stehen („The boy watched the chef bandage himself.“) als wenn sie weiter

auseinander stehen („The boy watching the chef bandaged himself.“) {Satzstruktur!}

Das schlechte Verstehen könnte auch auf die Probleme beim Verarbeiten der Information, die

die grammatikalischen Morpheme tragen, zurückzuführen sein. So können Sätze wie „Die

55 M.C./Schwartz,M.F./Saffran,E.M., Sensitivity to grammatical structure in so called agrammatic aphasisc. Cognition 13: 361-39256 Blumstein,S.E./Goodglass,H./Statlender,J./Biber,C. , 1983, Comprehension strategies determining reference in aphasia: A study of reflexivization. Brain and Language 18: 115-127

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Katze verfolgt den Hund.“ („The dog is chased by the cat.“) nur dann korrekt verstanden

werden, wenn die grammatikalischen Morpheme entsprechend verarbeitet werden können.

Bei syntaktischen Verständnisproblemen wurden auch immer wieder Probleme bei der

Verarbeitung von grammatikalischen Morphemen beobachtet (Bradley et al., 198057;

Heilamn/Scholes, 197658; u.a.) und davon können die verschiedenen grammatikalischen

Morpheme in verschiedener Weise betroffen sein. So zeigte sich59, dass Patienten mit

agrammatischem Verständnis weniger Probleme bei der Verarbeitung von Präpositionen

hatten, wenn diese eine stärkere semantische „Ladung“ aufwiesen – sogenannte „lexikalische“

Präpositionen – wie z.B. in dem Satz „Der Bub steht auf dem Tisch.“. In diesem Fall ist die

Beziehung zwischen „Bub“ und „Tisch“ vollständig durch die Präposition festgelegt.

Daneben gibt es aber auch Präpositionen, die semantisch „leerer“ sind – sogenannte

„obligatorische“ Präpositionen, wie z.B. in dem Satz: „Antonia hofft auf einen schönen

Sommer.“ oder in: „Die Vase fällt auf den Boden.“. In diesen Fällen trägt die jeweilige

Präposition weniger zur Bedeutung des Satzes bei als im ersten Beispiel. In diesen Fällen

zeigten die Patienten deutlich größere Probleme bei der Verarbeitung der Präpositionen.

Weitere Ergebnisse, die für die Interpretation der Verständnisstörungen relevant sind, ergaben

sich aus Studien, die sich mit dem Verstehen von reversiblen Sätzen befaßten (z.B.: Schwartz

et al., 198060; Caplan/Futter, 198661;Weinrich/McCall/Weber, 199562). Dabei zeigte sich, dass

die Patienten große Probleme bei der Zuweisung der jeweiligen thematischen Rollen hatten,

wenn es sich um reversible Sätze handelte. So ist natürlich das Verstehen von Sätzen wie

„Das Mädchen küßt den Jungen.“ bzw. „Der Junge küßt das Mädchen.“ von der korrekten

Zuweisung der thematischen Rollen abhängig, was aber wiederum das korrekte Verstehen der

grammatikalischen Morpheme voraussetzt. D.h. also, dass die Patienten nicht in der Lage

waren, die grammatischen Rollen/Funktionen auf den thematischen/semantischen

Rollen/Funktionen abzubilden. Es zeigte sich aber auch, daß diese Patienten mit

agrammatischem Verständnis bei Grammatikalitätsurteilen keine Fehler machten, trotz der

Verständnisprobleme bei reversiblen Sätzen.

57 Bradley,D.C./Garrett,M.F./Zurif,E.B., Syntactic deficits in Broca’s aphasia. In: Caplan,D. (ed.) Biological studies of mental processes. Cambridge, MA58 K.M./R.J., The nature of comprehension errors in Broca’s, conduction, and Wenickes’s aphasics. Cortex: 12: 258-26559 Friederici,A.D., 1982, Syntactic and semantic processes in aphasic deficit: The availability of prepositions. Brain and Language 15: 249-258; 1985, Levels of processing and vocabulary types: Evidence from on-line comprehension in normals and agrammatics. Cognition 19: 133-16660 M.F./Saffran,E.M./Marin,O.S.M., The word order problem in agrammatism I: Comprehension, Brain and Language 10: 249-26261 D./C., Assignment of thematic roles to noun in sentence comprehension by an agrammatic patient. Brain and Language 27: 117-13462 M./D./C., Thematic role assignment in two severely aphasic patients: Associations and dissociations. Brain and Language 48: 221-237

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Sicherlich ist zu beachten, dass diese Erklärung nicht die einzig mögliche ist, sondern, dass

bei den Problemen der Zuweisung der thematischen Rollen auch weitere Defizite eine Rolle

spielen können. Wir können davon ausgehen, dass die Zuweisung von thematischen Rollen

nicht-gestörte lexikalisch-semantische Mechanismen benötigt (für die mit dem Verb

mitgespeicherten Rollen) und auch nicht-gestörte syntaktische Mechanismen, die den Satz in

seine Konstituenten zerlegen und in der Folge jeder Konstituente ihre thematische Rolle

zuweisen. Somit könnten die Fehlleistungen im Verständnis auch auf ein lexikalisch-

semantisches Defizit oder ein syntaktisches Defizit zurückgehen. So besitzen lexikalische

Verben nicht nur eine konzeptuelle Information (Inhalt), sondern sie weisen auch eine

Prädikat-Argument Struktur auf, die die Zuweisung der thematischen Rollen festlegt.

Allerdings könnte das Defizit auch syntaktisch sein, das trotz der erhaltenen konzeptuellen

Information über das jeweilige Verb, zu einer falschen Rollenzuweisung bei reversiblen

Sätzen führt. Es scheint noch nicht möglich zu sein, eine entsprechende Entscheidung in die

eine oder die andere Richtung der Hypothesen zu treffen, so daß man eigentlich vorerst davon

ausgehen kann, dass Patienten mit Problemen bezüglich der Zuweisung von thematischen

Rollen im Satzverständnis kognitiv gesehen heterogene Fälle darstellen.

Wie wir gesehen haben variieren die grammatikalischen Schwierigkeiten von agrammatischen

Patienten nicht nur mit der Satzart, sondern auch mit der Art der Aufgabe. So zeigte sich, dass

Agrammatiker, die bei Satz-Bild-Aufgaben bei reversiblen Passivsätzen Zufallsergebnisse

erreichen, gute Ergebnisse erzielen können, wenn sie die Grammatikalität von Sätzen – nicht

nur passive sondern auch andere komplexe Sätze (vgl. Linebarger a.a.O.) – beurteilen sollen.

Solche Ergebnisse sind natürlich mit den o.e. linguistischen Ansätzen schlecht zu erklären.

Für dieses Verhalten – der Dissoziation zwischen Verstehen und Beurteilen – gibt es zwei

Erklärungsmöglichkeiten: a) das agrammatische Problem ist nicht die Satzzerlegung (das

„Parsen“), sondern das Abbilden der syntaktischen Repräsentation auf einer semantischen; b)

die Hypothese einer beschränkten Kapazität, die davon ausgeht, dass das Verständnis, das

sowohl Parsing als auch Abbilden erfordert, die Verarbeitungskapazitäten des

agrammatischen Patienten überlastet; denn für das Beurteilen von Sätzen, was nur das Parsing

erfordert, gibt es genug Kapazität63.

Ein Vorteil dieser Hypothese der beschränkten Kapazität besteht darin, dass sie, da die

Beschränkung unterschiedlich sein kann, die verschiedenen Schweregrade erklären kann.

Kapazitätstheorie64: Es besteht eine einzelne Beschränkung in der Arbeitsgedächtniskapazität,

63 vgl. Kolk, H.H.J./Weijts, M., 1996. Judgements of semantic anomaly in agrammatic patients Argument movement, syntactic complexity and the use of heuristics. Brain and Language 54: 86-13564 Just, M.A./Carpenter, P., 1992. A capacity theory of comprehension: Individual differences in working memory. Psychological Review 99: 122-149; Miyake, A./ Carpenter, P.A./Just, M.A., 1994. A capacity approach

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die bezüglich der Schwere variieren kann, und die nicht nur den unterschiedlichen

Verständnisfähigkeiten innerhalb der normalen Population zugrunde liegt, sondern auch dem

aphasischen Verständnis. Möglicherweise steht dies auch im Zusammenhang mit

Verständnisproblemen von älteren Leuten. Bei der Untersuchung von Miyake et al.65 zeigte

sich, dass verschiedene Subgruppen von Hirngesunden unterschiedliche Leistungsprofile

zeigten: ein spezifischer Satztypus konnte für eine Subgruppe relativ einfach sein, aber relativ

schwer für eine andere, womit sich eine „doppelte Dissoziation“ innerhalb der normalen

Erwachsenen ergab. Manche dieser Dissoziationen verschwanden nach wiederholten Tests,

andere blieben stabil. Was eine ziemliche Herausforderung dafür ist, dass den

neurolinguistischen Patienten routinemäßig spezifische Defizite auf der Ebene von speziellen

Komponenten des Sprachsystems zugeschrieben werden.

Damit stellt sich aber auch die Frage, handelt es sich um eine allgemeine

Kapazitätsbeschränkung oder eine eingeschränkte. Die Kapazitätshypothese wird aber auch in

Frage gestellt66. So wurde bei Alzheimerpatienten (haben auch Kapazitätsreduktion)

festgestellt, dass die Leistungen nur bei Sätzen schlechter waren, die 2 Ereignisse (= 2

Propositionen) enthielten und es gab keinen Effekt der Kanonizität wie bei Aphasiepatienten.

Diese Dissoziation zwischen Kanonizität und der Anzahl der Propositionen weist darauf hin,

dass man zwischen – mindestens – zwei Arten von Kapazitäten, die sich auf die Sprache

beziehen, unterscheiden muss: a) eine rein syntaktische und b) eine, die sich mit verbalem

Schließen („reasoning“) – eine Unterstützung für die Annahme von zwei separaten

Fähigkeiten für die syntaktische und die semantische Analyse.

Eine große Zahl von Forschern hat behauptet, dass diese Kapazitätsbeschränkung auf das

Parsen beschränkt ist67. Die Parsingbeschränkung bezieht sich nur auf Agrammatiker, auf

Agrammatiker und Paragrammatiker oder auf alle Aphasiepatienten mit

Verständnisstörungen. Parsing hat natürlich viele Aspekte, so dass nicht ausgeschlossen ist,

dass die Kapazitätsbeschränkung noch selektiver ist.

Spezifische Kapazitätsstörungen variieren bezüglich der Natur der Beschränkung: räumlich

oder zeitlich. Räumlich: die Größe des syntaktischen Buffers ist zu gering; temporal: 2 Arten:

to syntactic comprehension disorders: Making normal adults perform like aphasic subjects. Cognitive Neuropsychology 11: 671-71765 Miyake, A./Carpenter, P.A./Just, M.A., 1994. A capacity approach to syntactic comprehension disorders: Making normal adults perform like aphasic patients. Cognitive Neuropsychology 11: 671-71766 vgl. Rochon, E./Waters, G.S./Caplan, D., 1994. Sentence comprehension in patients with Alzheimer’s disease. Brain and Language 46: 329-349; Waters, G.S./Caplan, D./Rochon, E., 1995. Procssing resources and sentence comprehension in patients with Alzheimer’s disease. Cognitive Neuropsychology 12: 1-3067 z.B.: Friederici, A.D./Frazier, L., 1992. Thematic analysisin agrammatic comprehension: Thematic tsructures and task demands. Brain and Language 42: 1-29; Caplan, D./Hildebrandt, N. 1988. Disorders of syntactics comprehension . Cambridge, Mass.

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entweder die Aktivierung der grammatikalischen Information ist verlangsamt oder die

Ergebnisse des Parsings zerfallen aus pathologischen Gründen äußerst schnell.

Dieser kurze Überblick über die Probleme des Satzverständnisses hat gezeigt, daß es noch

nicht möglich ist sich ein einigermaßen kohärentes Bild vom Defizit des grammatikalischen

Verständnisses zu machen. Es hat sich auch gezeigt, dass es sicherlich notwendig sein wird,

detailliertere Modelle des Verständnisses zu entwickeln, um zu umfassenderen Erklärungen

zu gelangen.

Klinisch-anatomische Korrelate der grammatikalischen Störungen

Abschließend wollen wir noch ganz kurz – so weit bekannt – auf klinisch-anatomische

Korrelate der grammatikalischen Störungen eingehen. Bereits in der ersten Hälfte des 20.Jhdt.

gab es erste detaillierte Beschreibungen der Läsionen von agrammatischen Patienten. So

wiesen zwei Patienten nach chirurgischen Eingriffen in der Nähe des Broca Areals

Agrammatismus und motorische Aphasie auf68. Nach Pick (191369) sind bei Patienten mit

Agrammatismus meist die frontalen Areale der linken Hemisphäre von Läsionen betroffen.

Auch Kleist (193470) betonte die Rolle, die eine Läsion im unteren Teil des dritten frontalen

Gyrus bei der Entstehung von agrammatischen Sprechen spielt, und jene der temporalen

Strukturen (Brodmann Area 22) für agrammatisches Verständnis.

In neuerer Zeit hat die Verwendung von nicht-invasiven bildgebenden Verfahren dazu

geführt, dass eine große Zahl von Patienten in Hinblick auf die klinisch-anatomischen

Korrelate untersucht werden konnten. In einigen Studien71 zeigte sich eine Korrelation

zwischen Broca-Aphasie mit Agrammatismus und Läsionen im unteren Teil der dritten

frontalen Hirnwindung der linken Hemisphäre. Diese Ergebnisse entsprechen den klinischen

Beobachtungen, dass Agrammatismus häufig bei Broca-Aphasie beobachtet werden kann.

Allerdings gibt es auch andere Studien72, die darauf verweisen, dass eine andauernde Broca-

Aphasie mit Agrammatismus nur nach Läsionen zu beobachten ist, die zusätzlich zum Broca-

Areal auch postrolandische und perisylvische Bereiche einschließen. So zeigte sich auch, dass

selbst eine beidseitige Läsion des Broca-Areals nicht ausreicht, um eine Broca-Aphasie mit

Agrammatismus zu verursachen.

68 Bonhoeffer,K., 1902, Zur Kenntnis der Rückbildung motorischer Aphasien. Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie 10: 203-22469 A., Die agrammatischen Sprachstörungen. Berlin70 K., Kriegsverletzungen des Gehirns in ihrer Bedeutung für die Hirnlokalisation und Hirnpathologie. Leipzig71 z.B.: Kertesz,A./Harlock,W./Coates,A., 1979, Computer tomographic localization and prognosis in aphasia and nonverbal impairment. Brain 108: 34-5072 Mohr,J.P. et al., 1978, Broca aphasia: Pathology and clinical. Neurology 28.311-324

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Selbst wenn man den Agrammatismus allein – und nicht nur als ein Symptom der Broca-

Aphasie – betrachtete, ergaben sich heterogene anatomisch-klinische Korrelate. Bei einer

Untersuchung von 26 Patienten73, die nur aufgrund ihrer sprachlichen Störung als

agrammatisch klassifiziert wurden, stellte sich heraus, dass die häufigsten Läsionen nicht das

Broca-Areal betrafen, sondern die Insel – einen Bereich, der üblicherweise nicht mit der

Verarbeitung von Sprache in Verbindung gebracht wird.

Studien, die sich also mit den klinisch-anatomischen Korrelaten der agrammatischen

Störungen befassten, führten zu durchaus heterogenen Ergebnissen. Aus diesen läßt sich

herauslesen, dass bei rechts-händigen Personen die von der mittleren Hirnarterie versorgten

Bereiche der linken Hemisphäre eine Rolle bei der Verarbeitung grammatischer Aspekte der

Sprache spielen, wobei unter ihnen die prärolandischen Bereiche wichtiger zu sein scheinen

als die postrolandischen. Trotzdem muss darauf hingewiesen werden, dass keine präzisen

Korrelationen möglich sind, und daß die Untersuchungen zeigen, dass grammatikalische

Störungen bei Patienten mit unterschiedlichen Läsionen auftreten können. Die

unterschiedlichen Ergebnisse kommen allerdings nicht ganz überraschend, wenn man sich die

Kriterien für die Klassifizierung der Patienten näher ansieht. In manchen Fällen war das

Einteilungskriterium die Broca-Aphasie und nicht der Agrammatismus. In anderen Fällen

wiederum wurden die Patienten als agrammatisch klassifiziert und zwar aufgrund Merkmalen

in ihrer Spontansprache (Auslassen von grammatischen Morphemen, kurze Sätze), wobei dies

– wie wir gesehene haben – nicht unbedingt zu kognitiv homogenen Gruppen führt. Somit

kann man eigentlich nur davon ausgehen, dass detailliertere Korrelationen zwischen dem

neuronalen Substrat und den kognitiven Mechanismen, die für die Verarbeitung des

grammatischen Aspekts der Sprache in Produktion und Verständnis verantwortlich sind, erst

dann zu erwarten sind, wenn es explizitere Hypothesen bezüglich der kognitiven bzw.

sprachlichen Mechanismen gibt, die in der Produktion und dem Verständnis von Sätzen

involviert sind. Solche Überlegungen werden wir in der Folge besprechen.

Defizite im Satzverständnis

Eigentlich erfolgte dies schon seit Untersuchungen in den 70ern zeigten, dass auch

73 Vanier,M./Caplan,D., 1990, CT-scan correlates of agrmmatism. In: Menn,L./Obler,L.K./Goodglass,H. (eds.) Agrammatic aphasia: Cross-language narrative source book. Baltimore

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Aphasiepatienten mit gutem Verständnis von Einzelwörtern Probleme im Bereich des

Satzverständnisses aufwiesen74. D.h. dass ein Patient die Bedeutung der Wörter „Hund“,

„Katze“, „kratzt“, „schwarz“ kennt, aber den Satz „Die Katze, die den Hund kratzt, ist

schwarz.“ nicht versteht – also nicht erkennt, wer kratzt und wer schwarz ist. Diese

fehlerhafte Zuordnung der (thematischen) Rollen (semantischen Funktionen) der Nomen in

der jeweiligen Satzstruktur zeigte sich besonders deutlich bei sogenannten „reversiblen“

Sätzen, wie z.B. „Das Mädchen küsst den Jungen.“ oder „Das Mädchen wird vom Jungen

geküsst.“, aber bei einem strukturell ähnlichen Satz, wie „Der Briefträger wird vom Hund

gebissen.“, hatten dieselben Patienten kaum Probleme mit der korrekten Rollenzuordnung.

Aufgrund solcher Untersuchungsergebnisse lag der Schluss nahe, dass diese Patienten dann

Probleme beim Satzverständnis haben, wenn sie die (morpho-)syntaktische Struktur des

Satzes für die Rollenzuweisung benötigten. Verständlich, dass diese Ergebnisse begeistert

aufgenommen wurden und zwar innerhalb und außerhalb der Aphasiologie, schiene doch

dieses Ergebnisse auf die selektive Störung eines Verarbeitungsmoduls hinzuweisen, dass

unabhängig von der Semantik war75.

Diese frühen Erkenntnisse zum Satzverständnis schienen mit den Theorien zur

Satzverarbeitung aus den 60ern übereinzustimmen, die ein deterministisches Regelset für das

Parsen annahmen. D.h. also ein Set von PS-Regeln und Transformationen, um die

syntaktische Struktur eines Satzes zu erzeugen76. Dabei wurde angenommen, dass diese

Regeln rein syntaktisch sind und auf eine Abfolge von Wörtern auf der Basis der

Wortkategorie (z.B. Nomen, Verb, Adjektiv...) angewendet werden und nicht aufgrund der

Bedeutung. Wenn nun das ganze Regelset aufgrund einer Schädigung des Gehirns gestört ist,

würde man auch erwarten, dass die jeweiligen Patienten bei jeder Aufgabe, die eine

syntaktische Analyse verlangt, dementsprechend schlechte Leistungen zeigen. In einer

durchaus einflussreichen Arbeit77 wurde angenommen, dass Patienten mit Broca-Aphasie ein

Defizit in allen Bereichen der syntaktischen Verarbeitung aufweisen; d.h. ihre agrammatische

Produktion und ihre Probleme beim Verstehen von reversiblen Sätzen werden auf ein

allgemeines Defizit im syntaktischen Parsen zurückgeführt. Allerdings stehen dieser

Annahme einige problematische Untersuchungsergebnisse gegenüber.

So zeigten sich durchaus Dissoziationen zwischen der agrammatischen Sprachproduktion und 74 z.B.: Von Stockert, T./Bader, L., 1976. Some relations of grammar and lexicon in aphasia. Cortex 12: 49-6075 z.B.: Caramazza, A./Berndt, R.S., 1978. Semantic and syntactic processes in aphasia: A review of the literature. Psychological Bulletin 85: 898-91876 z.B.: Fodor, J./Garrett, M., 1967. Some syntactic determinants of sentential complexity. Perception and Psychophysics 2: 289-29677 Berndt, R.S./Caramazza, A., 1980. A redefinition of the syndrome of Broca’s aphasia: Implications for a neuropsychological model of language. Applied Psycholinguistics 1: 225-278

Page 34: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

den Problemen beim Satzverständnis78. In mehreren Studien wurde auf die abgestufte

Satzverständnisstörung der Patienten hingewiesen; d.h. der Grad der Störung hing von der

Schwierigkeit der syntaktischen Strukturen ab, wobei die Patienten bei z.B. einfachen

Passivsätzen bessere Leistungen zeigten als bei den komplexen Relativsätzen79. Dem könnte

man nun entgegenhalten, dass diese Ergebnisse trotzdem aufgrund eines syntaktischen

Defizits erklärbar sind, denn es könnten ja unterschiedliche syntaktische Regeln

unterschiedlich betroffen sein, wobei verschiedene Patienten Störungen bei verschiedenen

Regeln aufweisen. D.h. gute Leistungen würden sich ergeben, wenn bestimmte Sätze nicht

auf diese Regeln zurückgreifen und Zufallsergebnisse finden sich dann, wenn diese Regeln

involviert sind. Allerdings zeigte sich auch, dass sogar für eine bestimmte Struktur (z.B.

Passiv) abgestufte Leistungen beobachtbar waren, wobei die Ergebnisse zwischen vollständig

korrekt und zufällig lag80.

Zusätzlich wurde auch festgestellt, dass die Leistungen der Patienten bei der Verarbeitung von

Sätzen auch von der jeweiligen Aufgabe abzuhängen scheint. So zeigte sich, dass Aphasiker

mit fast zufälligen Ergebnissen bei einem Test mit reversiblen Passivsätzen

(Bildzuordnungsaufgabe) bessere Ergebnisse aufwiesen, wenn die Aufgabe ein

Grammatikalitätstest war81. Als Erklärung nahmen die Autoren dieser Studie an, dass die

Patienten keine Probleme mit dem syntaktischen Parsen hatten, sondern mit dem Abbilden der

grammatischen Funktionen der jeweiligen Elemente im Satz auf den thematischen Rollen.

Wie wir gesehen haben, hat es eigentlich von Beginn der Untersuchungen an eine starke

Betonung der rein syntaktischen Faktoren beim Parsen von Sätzen gegeben. Allerdings haben

– spätere – Untersuchungen gezeigt, dass auch lexikalische und semantische Merkmale ein

Rolle spielen. So stellte sich etwa heraus, dass das die Präferenz für das „Anhängen“

(„attachment“) einer Präpositionalphrase an das Verb (Modifikation des Satzes) oder an ein

Nomen in einem ambigen Satz wie „He saw the girl with the binoculars.“ vom Verb

beeinflusst wird und zwar insofern als es sich entweder um ein perzeptives Verb („saw“) oder

ein Handlungsverb („hit“) handelt82.

Weitere Ergebnisse von Untersuchungen weisen darauf hin, dass lexikalisch-semantische

Aspekte und sogar die Semantik auf der Diskursebene anfängliche Parsingentscheidungen

78 Miceli, G./Mazzucchi, A./Menn, L./Goodglass, H., 1983. Contrasting cases of Italian agrammatic aphasia without comprehension disorder. Brain and Language 19: 65-9779 Caplan, D./Hildebrandt, N., 1988. Disorders of syntactic comprehension. Cambridge, MA.80 Kolk, H./van Grunsven, M., 1985. Agrammatism as a variable phenomenon. Cognitive Neuropsychology 2: 347-38481 Linebarger, M./Schwartz, M./Saffran, E., 1983. Sensitivity to grammatical structures in so-called agrammatic aphasics. Cognition 13: 361-39282 Spivey-Knowlton, M./Sedivy, J., 1995. Resolving attachment ambiguities with multiple constraints. Cognition 55: 226-267

Page 35: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

beeinflussen83. Wenn z.B. Sätze mit „The evidence examined...“ bzw. „The woman

examined...“ beginnen, so könnte in beiden Fällen „examined“ das Hauptverb oder ein Teil

eines verkürzten Relativsatzes (z.B.: „The evidence examined by the lawyer.“ oder „The

woman examined by the lawyer.“) sein. Die Testergebnisse (Trueswell et al., 1994) zeigten,

dass die Wahrscheinlichkeit, dass das erste Nomens ein Agens ist, bzw. die

Wahrscheinlichkeit, dass es sich beim ersten Nomen um das Thema (Objektiv) des Satzes

handelt, einen Einfluss darauf ausübt, ob die anfänglichen Entscheidungen des Parsers in

Richtung der Hauptverb- bzw. reduzierten Relativsatz-Interpretation ging. somit würde bei

diesen Beispielen die Hauptverbinterpretation bevorzugt werden, wenn das erste Nomen

„woman“ ist und die reduzierte Relativsatz-Interpretation, wenn das erste Nomen „evidence“

ist, da es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass „evidence“ als Agens von „examine“ auftritt. Die

Überlegungen gehen also dahin, dass das semantische und das syntaktische System

unabhängig von einander entsprechende Beschränkungen erzeugen84, aber die vielen

Beschränkungen (syntaktisch, lexikalisch, semantisch und diskursiv) agieren gleichzeitig, um

die anfängliche Satzinterpretation festzulegen.

Grundsätzlich schließen allerdings diese Ergebnisse, dass nicht-syntaktische Faktoren die

syntaktische Analyse beeinflussen, nicht die Möglichkeit aus, dass das Wissen bezüglich

allgemeiner syntaktischer Beschränkungen unabhängig von der lexikalisch spezifizierten

syntaktischen Information und der semantischen Information repräsentiert ist. Allerdings

scheinen diese Ergebnisse doch darauf hinzuweisen, dass während der Satzverarbeitung die

auf der Syntax beruhenden Regeln keine solche zentrale Rolle spielen, dass sie nicht von

anderen Informationsquellen beeinflusst werden können. Diese Ergebnisse weisen aber auch

darauf hin, dass an jenen Stellen, die mehrdeutig sind, parallel verschiedene mögliche

Strukturen mit unterschiedlichen Gewichtungen aktiviert werden könnten, wobei die

jeweiligen Gewichtungen aufgrund unterschiedlicher Faktoren erfolgt. Ein Beispiel für ein

Modell, das zwar in bezug auf die Repräsentation Unabhängigkeit aber bei der Verarbeitung

Interaktion annimmt, ist das Modell von Boland85 („concurrent model“):

83 Trueswell, J./Tanenhaus, M./Garnsey, S. 1994. Semantic influences on parsing: Use of thematic role information in syntactic ambiguity resolution. J. of Memory and Language 33: 285-318; Spivey, M./Tanenhaus, M., 1998. Syntactic ambuguity resolution in discourse: Modeling the effects of referential context and lexical frequency. J. of Experimental Psychology: Learnin, Memory, and Cognition 24: 1521-1543; van Berkum, J./Brown, C,/Hagoort, P., 1999. Early referntial context effects in sentence processing: Evidence from event-related brain potentials. J of Memory and Language 41: 147-18284 Boland, J./Cutler, A., 1996. Interaction with autonomy: Multiple output models and the inadequacy of the Great Divide. Cognition 58: 309-32085 Boland, J., 1997. The relationship between syntactic and semantic processes in sentence comprehension. Language and Cognitive Processes 12: 423-484

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Bei diesem Modell wird angenommen, dass all jene syntaktischen Strukturen, die mit dem

Input übereinstimmen, sobald eben das jeweilige Wort verarbeitet ist, parallel generiert

werden. Dabei variiert die Gewichtung der verschiedenen Strukturen aufgrund der

Häufigkeiten, die mit der spezifischen lexikalischen Information verbunden ist. Gleichzeitig

werden semantische Interpretationen erstellt, wobei den nominalen Konstituenten

wahrscheinliche Rollen aufgrund von lexikalischer und pragmatischer Information

zugewiesen werden. Der Output des syntaktischen Systems wird ebenfalls an das semantische

System weitergegeben. Wenn nun mehr als eine syntaktische Struktur möglich ist, wird sofort

die semantische Information genützt, um die wahrscheinlichste syntaktische Struktur

auszuwählen. Im Falle des Beispiels oben („The evidence examined...“) würde das

syntaktische System sowohl die Hauptverb-Interpretation als auch die reduzierte Relativsatz-

Interpretation erzeugen und zwar mit einer stärkeren Gewichtung der Hauptverb-

Interpretation, weil ja reduzierte Relativsatzkonstruktionen weniger häufig vorkommen.

Gleichzeitig würde aber das semantische System versuchen plausible Beziehungen zwischen

„evidence“ und „examined“ herzustellen, wobei es zu einer stärkeren Gewichtung von

„evidence“ als Thema/Objektiv als als Agens kommt. Nachdem die beiden möglichen

syntaktischen Analysen an das semantische System weitergegeben werden, würde die

reduzierte Relativsatz-Interpretation gewählt werden; d.h. also die Thema/Objektiv-

Interpretation von „evidence“. Diese Beispiel zeigt die stärkere Gewichtung dieser

Interpretation von „evidence“ aufgrund des semantischen Systems. D.h. die Hauptverb-

Interpretation des syntaktischen Systems wird außer Kraft gesetzt. Im Gegensatz dazu würde

bei der Variante „The woman examined...“ die Hauptverbinterpretation favorisiert werden, da

eine stärkere Gewichtung dieser Interpretation im syntaktischen System dazu führt, dass die

relativ geringe Gewichtung im semantischen System aufgehoben wird – „relativ“ schwach,

deswegen weil die Agens- bzw. Thema-/Patiens-Rollen eher gleich wahrscheinlich sein

könnten. In diesem Modell sind die semantische und syntaktische Information unabhängig

von einander repräsentiert, aber die Ergebnisse der unterschiedlichen Analysen werden bei

der Verarbeitung eines jeden Wortes integriert.

{Ähnlicher Ansatz von Spivey, M./Tanenhaus, M., 1998. (Syntactic ambiguity resolution in

discourse: Modeling the effects of referential context and lexical frequency. J. of

Semantic system

Syntactic systemLexical processingsystem

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Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 24: 1521-1542) (p. 297f).}

Bei diesem Modell handelt es sich um ein sogenanntes „constraint-based“ Modell, da

verschiedene Arten von Beschränkungen die syntaktischen Interpretation eines Satzes

(mit-)bestimmen. Im Grunde genommen ermöglichen diese Modelle unterschiedliche

Gewichtungen des Outputs der verschiedenen Verarbeitungsbereiche (Domänen, Module).

Entsprechend den Annahmen in andere Bereichen der kognitiven Verarbeitung kann eine

Schädigung des Gehirns nun den Output eines oder mehrerer Verarbeitungsbereichs

schwächen oder – in einem interaktiven Aktivierungsmodell – die Stärke der Verbindungen

zwischen verschiedenen Knoten schwächen. D.h. es wird angenommen, dass die einzelnen

Verarbeitungsbereiche nicht keinen Output produzieren, sondern eine abgeschwächten. Das

würde etwa im Modell von Boland bedeuten, dass – wenn das syntaktische System

geschwächt ist – die korrekten syntaktischen Alternativen trotzdem erzeugt werden würden,

aber eben mit verminderten Gewichtungen. Diesen Ansätzen entsprechend sollte es möglich

sein, das Patienten selektive Defizite in unterschiedlichen Bereichen der Satzverarbeitung

aufweisen; so z.B. bei der Erstellung syntaktischer Strukturen oder bei der Verwendung der

semantischen Struktur für die Verarbeitung der thematischen Rollen. Wenn man von einer

Schwächung des Outputs (eines Systems) ausgeht, kann man nicht notwendigerweise

erwarten, dass entweder ein vollständiger Erhalt oder eine vollständige Störung der

Verarbeitung vorhanden ist. Diese Ansätze implizieren aber auch, dass der Einfluss des

geschwächten Systems auf die Interpretation eines Satzes von den Gewichtungen des Outputs

der anderen Systeme abhängig ist. So wird bei einem Satz bei dem starke Gewichtungen von

anderen Systemen kommen, der Output des geschwächten Systems wahrscheinlich

vollständig aufgehoben werden, wogegen – wenn keine solchen starken Beschränkungen

vorliegen – der Output des geschwächten Systems einen gewissen Einfluss auf die

Satzinterpretation haben kann.

Die Unabhängigkeit von Syntax und Semantik

Erhaltene Syntax und gestörte Semantik

Auf den Erhalt der Syntax beim Vorhandensein von semantischen Störungen weisen eine

Anzahl von Studien mit Alzheimer Patienten oder mit Patienten mit progressiver Aphasie

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hin86. Ein Beispiel dazu ist die Fallstudie von Hodges et al. (1994)87, wo die Patientin PP mit

semantischer Demenz88 gestörte Leistungen bei einer Reihe von semantischen Aufgaben,

darunter Bildbenennen, Wort-Bild-Zuordnungen und Aufgaben wie das Finden von

Kohyponymen zu einem Hyperonym. Ihre syntaktischen Fähigkeiten wurden mittels „word

monitoring“ untersucht. Dabei wird ein Zielwort vorgegeben und danach ein Satz und die

Probanden müssen sofort reagieren, wenn dieses Wort auftritt. Dabei hat sich herausgestellt,

dass die Zeit, die die Probanden dafür brauchen, von semantischen und syntaktischen

Wohlgeformtheit der Sätze abhängig ist. Die Leistungen von PP waren bei syntaktisch

wohlgeformten Sätzen schneller als bei Sätzen mit falschen Wortstellungen, was auch den

Ergebnissen mit normalen Probanden entspricht89. Jedoch anders als bei normalen Probanden

ergab sich kein Effekt, wenn die Sätze zwar syntaktisch korrekt aber nicht semantisch korrekt

waren: Die Ergebnisse von PP entsprachen in diesen Fällen fast genau jenen wie bei

semantisch und syntaktisch korrekten, wogegen die normalen Probanden eine Verlängerung

der Reaktionszeiten bei den semantisch inkorrekten aufwiesen. Daraus wurde geschlossen,

dass das Defizit dieser Patientin sich deutlich auf ihre Fähigkeit semantische Information

während des Satzverständnisses zu verarbeiten auswirkt, ihre Fähigkeit Syntax zu verarbeiten

aber ausgespart ist.

Weitere Untersuchungen90 weisen darauf hin, dass solche Patienten basierend auf Satzstruktur

und Verb-Argument-Strukturen thematische Rollen zuweisen können. Dabei wurde eine

modifizierte Form der üblichen Satz-Bild-Zuordnungsaufgaben verwendet, wobei die

Patienten zwei Tiere in einer semantisch reversiblen Handlung sahen (z.B.: Ein Tiger verfolgt

86 z.B.: Breedin, S./Saffran, E., 1999. Sentence processing in the face of semantic loss: A case study. J. of Experimental Psychology: General 128: 547-562; Hodges, J./Patterson, K./Tyler, L., 1994. Loss of semantic memory: Implications for the modularity of mind. Cognitive Neuropsychology 11: 505-542; Schwartz, M./Marin, O.S.M./Saffran, E., 1979. Dissociation of language function in dementia: A case study. Brain and Language 7: 277-30687 s. Fn. 13)

88 semantische Demenz: Eine Form von progressiver flüssiger Aphasie mit folgenden Charakteristika: (1) selektive Störung des semantischen Gedächtnisses, was zu schweren Benennstörungen, gestörtem Einzelwortverständnis (sowohl gesprochen als auch geschrieben), geringere Produktion von Beispielen bei Kategorieflüssigkeitstests und verringertem Allgemeinwissen führt; (2) relativ ausgespart sind davon andere Komponenten des sprachlichen Outputs, im speziellen Syntax und Phonologie; (3) normale perzeptuelle Fähigkeiten und nonverbale Problemlösungsfähigkeiten; (4) relativ gut erhaltenen autobiographisches und episodisches (Tag-für-Tag) Gedächtnis; (5) eine Lesestörung nach dem Muster der Oberflächendyslexie {Beeinträchtigung des Ganz-Wort-Lesens, d.h. das Wort erkennen und auch auszusprechen, aber lautierend ist Lesen möglich, daher entstehen große Probleme beim Lesen von irregulären Wörtern (im E z.B.: „pint“ gelesen als „pinnt“)} Hodges et al. p. 507;

Bei DAT ist fast immer auch das episodische Gedächtnis schwer gestört und meist sind auch andere kognitive Bereiche, z.B. visuell-räumliche, betroffen.89 Tyler, L., 1992. Spoken language comprehension: An experimental approach to disordered and normal processing. Cambridge, MA90 Schwartz, M./Marin, O.S.M./Saffran, E., 1979. Dissociation of language function in dementia: A case study. Brain and Language 7: 277-306; Breedin, S./Saffran, E., 1999. Sentence processing in the face of semantic loss: A case study. J. of Experimental Psychology: General 128: 547-562

Page 39: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

einen Löwen.). Die Patienten hörten einen Satz, der die Handlung beschrieb und sie sollten

auf eines der Tiere zeigen – z.B.: „The lion was chased by the tiger. Show me the lion.“ In

diesen Fällen konnten die Patienten das gefragte Tier korrekt zeigen – also wenn der Satz die

Handlung korrekt beschrieb. Sie wählten aber das falsche Tier, wenn im Satz die Rollen der

Tiere umgedreht waren, also z.B. „The tiger was bitten by the lion. Show me the lion.“ mit

einem Bild, auf dem ein Tiger einen Löwen beisst, dabei wurde nun der Tiger gewählt. D.h.

die Wahl dieser Patienten beruhte nicht auf der lexikalischen Semantik, sondern auf der

thematischen Rolle, die die genannte Entität im Satz spielte. In diesem Satz ist „lion“ das

grammatikalische Objekt der by-Phrase, spielt aber die thematische Rolle des Agens. Vom

Patienten wurde aber jene Entität im Bild gewählt, die das Agens des Verbs zu sein schien.

Diese Vorgangsweise zeigte sich bei Patient DM (Breedin et al., 1999) auch bei Aktivsätzen

wie „The lion carried the tiger. Show me the lion.“, bei Subjekt- und Objekt-cleft-Sätzen („It

is the lion that carried the tiger.“ bzw. It is the lion that the tiger carried.“). Die Ergebnisse

dieser Untersuchungen weisen darauf hin, dass manche Patienten mit schweren semantischen

Defiziten grammatikalische Strukturen verarbeiten können – sogar das Abbilden von

grammatikalischen Strukturen auf thematische Rollen.

Andere Studien wiederum berichten von Dissoziationen in die andere Richtung – Patienten

mit gestörter syntaktischer Verarbeitung bei erhaltener semantischer Verarbeitung. So wies

der Patient JG91 eine deutliche Störung der syntaktischen Leistungen, aber relativ gut

erhaltene lexikalisch-semantische Fähigkeiten. Bei Satz-Bild-Zuordnungen zeigte er schlechte

Ergebnisse, wenn das Ablenkerbild die Vertauschung von Agens und Patiens aufwies –

dagegen gute Leistungen, wenn das Ablenkerbild eine lexikalische Ersetzung aufwies. Bei

Grammatikalitätsurteilen ergaben sich ebenfalls schlechte Leistungen. Bei

Wortmonitoringaufgaben, die sich auf die Verarbeitung von Wörtern in Satzkontexten

bezogen, zeigte sich deutliche Probleme bei den verschiedenen grammatikalischen

Verletzungen der Satzstruktur – etwa bei Flexions- und Derivationsmorphologie oder bei

Verletzungen der Wortstellung. Allerdings zeigte er bei semantischen Primingaufgaben

dieselben Effekte wie normale Probanden.

Interaktionen zwischen Syntax und Semantik

Diese Beispiele weisen darauf hin, dass zumindest einige Aspekte der semantischen und der

syntaktischen Information unabhängig von einander repräsentiert sein könnten. Allerdings

bedeutet das noch nicht, dass semantische und syntaktische Beschränkungen während der

91 Ostrin, R./Tyler, L., 1995. Dissociations of lexical function: Semantics, syntax, and morphology. Cognitive Neuropsychology 12: 345-389

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Satzverarbeitung nicht mit einander interagieren. Man könnte nun annehmen, dass bei

manchen Patienten das syntaktische Wissen geschwächt, aber nicht vollständig gestört ist.

Eine Konsequenz daraus könnte sein, dass die am wenigsten häufigen Strukturen davon

betroffen sind. Nimmt man nun an, dass die Prozesse, die bei der Zuweisung der thematischen

Rollen aufgrund von semantischer und pragmatischer Information mitwirken, bei diesen

Patienten erhalten sind, könnten eben bei der Rollenzuweisung die semantischen Faktoren die

syntaktischen außer Kraft setzen und zwar besonders bei den weniger häufigen syntaktischen

Strukturen. Wenn nun die semantische Information schwächere Beschränkungen bietet, dann

könnte eben der Einfluss der syntaktischen Struktur beobachtet werden.

So wiesen in einer Untersuchung92 Patienten mit asyntaktischen Verständnismustern bei Satz-

Bildzuordnungen (5 Broca, 1 Leitungsaph., 1 transkort.-motor.) einen deutlichen Effekt der

semantischen Beschränkungen auf das Abbilden thematischer Rollen auf. Es wurden 2 Arten

von Sätzen verwendet: 1) mit Beschränkungen, die auf dem Verb beruhten und 2) mit

Beschränkungen, die auf der Proposition beruhten. Bei jenen Sätzen mit Verbbeschränkungen

konnte ein Nomen nicht für eine thematische Rolle bei diesem Verb in Frage kommen,

dagegen konnte das zweite Nomen beide Rollen ausfüllen. Z.B. im Satz „The cat barked at

the puppy.“ kann ein junger Hund bellen oder auch angebellt werden, wogegen eine Katze nur

angebellt werden kann. Bei den Sätzen mit den propositionellen Beschränkungen konnten

beide Nomen jede Rolle einnehmen, aber bei der nicht-plausiblen Version des Satzes war die

Proposition insgesamt nicht plausibel. So z.B. im nicht-plausiblen Satz „The insect ate the

robin.“ können sowohl Insekten als auch Rotkehlchen fressen und gefressen werden, aber es

ist eben nicht plausibel. dass so etwas Kleines wie ein Insekt ein Rotkehlchen frisst. Die

gesunden Kontrollpersonen waren weniger genau beim Entdecken von nicht plausiblen Sätze

bei jenen mit „Verbbeschränkungen“ im Vergleich zu jenen mit propositionellen

Beschränkungen (4,7% vs. 1,3%) – was auf eine gewisse Tendenz hinweist die nicht

plausiblen Sätze mit „Verbbeschränkungen“ zu interpretieren, indem Nomen jener Stelle

zugeschrieben werden, die semantisch am plausibelsten ist, auch wenn die Syntax dagegen

spricht. Bei den Patienten zeigte sich dieser Unterschied noch wesentlich deutlicher (45,7%

Fehler vs. 22,9% Fehler), was auf einen großen Effekt der Plausibilität der thematischen

Rollenzuweisung von Nomen zu den jeweiligen Rollen hinweist. So ein Satz wie „The deer

shot the hunter.“ wurde von den Patienten oft als plausibel eingestuft – wahrscheinlich weil

die Rollenzuweisungen eher aufgrund semantischer Beschränkungen als aufgrund der

syntaktischen Struktur erfolgte. Die wesentlich besseren Leistungen bei den propositionellen

92 Saffran, E,/Schwartz, M./Linebarger, M., 1998. Semantic influences on thematic role assignments: Evidence from normals and aphasics. Brain and Language 62: 255-297

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Beschränkungen deuten doch darauf hin, dass diese Patienten doch eine gewissen Sensibilität

gegenüber den syntaktischen Strukturen aufwiesen. Was auf einen geschwächten aber nicht

vollständig gestörten Einfluss der syntaktischen Struktur und stärkeren semantischen

Einflüssen bei Satzverständnis hinweist.

Ein weiterer Hinweis auf eine Interaktion zwischen Semantik und Syntax kommt aus einer

anderen „Wort-Monitoring-Studie93 mit einem agrammatischen Patienten (DE), der schon in

einer früheren Studie94 Probleme bei der syntaktischen Strukturierung von Sätzen aufgewiesen

hatte. {Beispiele:

Normal Prose:

Everyone was outraged when they heard. Apparently, in the middle of the night some thieves

broke into the church and stole a golden crucifix.

Anomalous Prose:

Everyone was exposed when they ate. Apparently, at the distance of the wind some ants

pushed around the church and forced a new item.

„Scrambled“ Prose:

They everyone when outraged heard was. Of middle apparently the some the into the broke

night in thieves church and crucifix stole a golden.

Gemessen RT (Reaktionszeit auf „church“)

Bei normalen Hörern bleiben die Reaktionszeiten in den „scrambled“ Ketten über die Sätze

hinweg konstant. Offensichtlich weil für den Hörer keinerlei strukturelle Information

vorhanden ist, um die Latenzen zu beeinflussen. Hingegen werden die Latenzen zunehmend

schneller bei der normalen und anormalen Prosa, was darauf hinweist, dass die Hörer

syntaktische und semantische Informationen verwenden, um eine Repräsentation auf höherer

Ebene zu erstellen. (Die schnelleren Reaktionszeiten bei der anormalen Prosa können nicht

auf semantische Assoziationen zwischen den Wörtern zurückgeführt werden, da in der

Originalstudie95 dieselben Wörter bei anormalen Prosa und der „scrambled“ Prosa verwendet

wurden und ein Effekt der Position des Wortes nur für die anormale Prosa gefunden wurde.)

DE wies dasselbe Muster von Reaktionszeiten auf wie die normalen Hörer bei der normalen

und bei der „scrambled“ Prosa. Er unterschied sich aber bei der anormalen Prosa, wobei seine

Reaktionszeiten nahmen über den Satz hinweg nicht ab, sondern blieben – wie bei der

„scrambled“ Prosa – gleich (Tyler, 1985 s. Fn 21). Diese Ergebnisse werden so interpretiert, 93 Tyler, L., 1989. Syntactic deficits and the construction of local phrases in spoken language comprehension. Cognitive Neuropsychology 6: 333-35594 Tyler, L., 1985. Real-time comprehension problems in agrammatism: A case study. Brain and Language 26: 259-27595 Marslen-Wilson, W.D./Tyler, L., 1980. The temporal structure of spoken language comprehension. Cognition 6: 1-71

Page 42: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

dass DE zwar eine Äußerung semantisch interpretieren konnte, er aber nicht in der Lage war,

syntaktische Information in geeigneter Weise zu verwenden, um eine Repräsentation zu

erstellen. Allerdings zeigte sich auch, dass DE nicht vollständig unsensibel gegenüber allen

Aspekten der syntaktischen Struktur war, denn der Mittelwert seiner Reaktionszeiten auf alle

Zielwörter bei der anormalen Prosa war doch signifikant schneller als jener bei der

„scrambled“ Prosa. Was nicht zuletzt zur u.e. Studie führte. Denn wenn DE nicht in der Lage

ist syntaktische Information zu verwenden – worauf das Fehlen eines Effekts der Position des

Wortes bei anormalen Prosa hinweist – warum sind dann die Gesamtmittelwerte bei der

anormalen Prosa schneller als bei der „scrambled“ Prosa? In einer anderen Studie96 wurde

gezeigt, dass, wenn normale Hörer anormale Prosa verarbeiten, sie den Input in lokalen

Phrasen organisieren, die sowohl syntaktisch als auch prosodisch vollständig sind. Diese

lokalen Phrasen werden in größere Einheiten integriert und zwar mit Hilfe der allgemeinen

prosodischen Struktur der gesamten Äußerung. Dies ist die Ursache für den

Wortpositionseffekt bei anormaler Prosa. Wenn nun DE in der Lage ist Wörter zu lokalen

Phrasen zu verbinden, indem er dieselben Informationen nützt wie normale Hörer, dann

würde das sein schnelleren Gesamtlatenzen bei der anormalen Prosa im Vergleich zu

„scrambled“ Prosa erklären. D.h. das Fehlen des Wortpositionseffekts bei der anormalen

Prosa würde aufgrund der Unfähigkeit diese lokalen Phrasen in eine globale Repräsentation

einzufügen entstehen.}

Ein Beispielsatz aus dieser neueren Studie:

Anormale Prosa:

An orange dream/was loudly watching/the house/during smelly lights/because within these

signs/a slow kitchen/snored/with crashing leaves.

Scrambled Prosa:

Because within these signs/during smelly lights/was loudly watching/the house/an orange

dream/a slow kitchen/snored/with crashing leaves.

Syntaktische Unterbrechung:

An orange dream/was loudly watching/the house/during smelly lights/because within these

signs/a slow very kitchen/snored/with crashing leaves.

In dieser neueren Studie zeigte sich, dass DE lokalen syntaktischen Verletzungen („slow very

kitchen“) gegenüber durchaus sensibel war und zwar in Sätzen, die ansonsten syntaktisch

wohlgeformt waren, aber semantisch nicht korrekt. Aber bei bedeutungsmäßig korrekten

96 Tyler, L./Warren, P., 1987. Local and global structures in spoken language comprehension. J. of Memory and Language 26: 638-657

Page 43: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

Sätzen wurden die Reaktionszeiten von solchen lokalen syntaktischen Unterbrechungen nicht

beeinflusst. Da diese Wortstellungsfehler innerhalb einer phonologischen Phrase eigentlich

nur kleine Umstellungen betreffen (z.B. „very hot kitchen“ zu „hot very kitchen“), sind ja die

wichtigsten Inhaltswörter weiterhin in der Phrase vorhanden und da DE bereits den Großteil

des Satzes gehört hat, hat er offensichtlich aufgrund der Bedeutung der lokalen Phrasen und

entsprechender (pragmatischer) Inferenzen eine bedeutungsvolle Repräsentation erstellt. Wie

sich in einer anderen Studie97 mit diesem Patienten gezeigt hatte, scheint der Patient doch eine

gewisse Sensibilität gegenüber bestimmten lokalen syntaktischen Verletzungen zu besitzen –

wie gegenüber Verletzungen der Subkategorisierung. Dies scheint darauf hinzuweisen, dass

er, wenn er ein Verb verarbeitet, auf sein syntaktischen (und semantischen) Eigenschaften

zugreifen kann – darunter eben auch die Subkategorisierung. Wenn nun die syntaktische

Verletzung es nicht erlaubt, die für die Interpretation (Subkategorisierungsverletzung)

notwendige korrekte Struktur zu erstellen, dann ist seine Fähigkeit den Input zu verarbeiten

deutlich gestört.

Das Abbilden von grammatischen und thematischen Rollen

Kurze Besprechung von einigen weiteren Aspekten der syntaktischen Verarbeitung.

Wie schon erwähnt, kann man feststellen, dass manche Patienten bei Satz-Bild-

Zuordnungsaufgaben (auch beim „Nachspielen“) große Satzverständnisprobleme aufweisen

aber nicht, wenn sie die Grammatikalität dieser Sätze beurteilen sollen. Im allgemeinen wurde

diese Dissoziation auf ein Defizit in der Zuweisung grammatischer Rollen und thematischer

Rollen zurückgeführt. Wenn allerdings die Patienten überhaupt nicht in Lage wären diesen

Abbildungsprozess auszuführen, dann sollten sie eigentlich bei allen Satzstrukturen

entsprechende Probleme aufweisen – also auch bei einfachen (kanonischen) Sätzen. Zwar gibt

es auch Patienten, die Verständnisprobleme für einfache Sätze aufweisen, jedoch haben sie

typischerweise wesentlich größere Probleme mit Sätzen mit nicht-kanonischen

Wortstellungen, wie z.B. Passivsätze oder Objektrelativsätzen.

Wenn wir noch einmal auf die o.e. „Gewichtungen“ zurückkommen, könnte sich daraus eine

mögliche Erklärung für diese Muster ergeben. Wie erinnerlich wird in diesem Modell davon

ausgegangen, dass bei ambigen Sätzen parallel mehrere syntaktische Repräsentation erstellt

97 s. Fn. 21) Es wurden Sätze verwendet, bei denen die Beziehung zwischen dem Verb und seinem Argument korrekt war („The crowd was waiting eagerly. The young man grabbed the guitar and...“), das Argument (semantische) Selektionsrestriktionen des Verbs verletzte („The crowd was waiting eagerly. The young man drank the guitar and...“) und wo das Argument die Subkategorisierungsbeschränkungen des Verbs verletzte („The crowd was waiting eagerly. The young man slept the guitar and...“). Ergebnisse: längere Latenzen bei Selektionsrestriktionen aber nochmals signifikant längere bei Verletzung der Subkategorisierung.

Page 44: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

werden, wobei sie unterschiedlich gewichtet werden und zwar je nach ihrer Häufigkeit.

Obwohl in den meisten Fällen davon ausgegangen wird, dass diese Gewichtungen lexikalisch

spezifiziert sind (s. z.B. Boland, 1977, s. Fn. 12), wird doch auch von einigen angenommen,

dass die Häufigkeiten des Auftretens der verschiedenen syntaktischen Strukturen unabhängig

von den spezifischen lexikalischen Elementen gespeichert sind und dass diese Häufigkeiten

eine Rolle im Verständnis spielen98. Bei dieser Betrachtungsweise würde sogar in einem

nicht-ambigen Satz wie „The boy that the girl pushed...“ die Zuweisung der Objektposition an

„boy“ (in bezug auf das Verb des eingebetteten Satzes) eine relativ geringe Gewichtung

aufweisen und zwar weil eben dieser Typus von Objektrelativkonstruktion nicht sehr häufig

auftritt. Man könnte nun weiter annehmen, dass – obwohl die Patienten eine syntaktische

Analyse durchführen – die Gewichtungen im gesamten System aufgrund der Schädigung des

Gehirns „geschwächt“ wurden. Damit würde sich dieses Problem mit jenem beim Abbilden

der Rollen und Funktionen verbinden, woraus sich besonders deutliche Defizite beim

Abbilden von selteneren Strukturen ergeben.

Eine solche Erklärung geht davon aus, dass diese Patienten zwei Defizite aufweisen und nicht

nur eines. Wenn allerdings die syntaktische Analyse und der Abbildeprozess unabhängige

Prozesse sind, dann sollte es auch Patienten geben, die nur ein Defizit im Abbildeprozess

aufweisen.

Ein solcher Fall findet sich in der Literatur99 in einer Untersuchung zu Verbdefiziten. Dieser

Patient, LK, hatte Probleme, wenn er bei einer Satz-Bild-Zuordnungsaufgabe zwischen zwei

Bildern wählen musste, wovon der Ablenker sozusagen die „umgekehrte Rollenverteilung“

darstellte – also wenn der Zielsatz das Verb „chase“ enthielt und der Ablenker das Verb „flee“

(„buy“ vs. „sell“) darstellte, also die thematischen Rollen gleich bleiben, aber ihr Abbilden

auf die grammatikalischen Rollen/Funktionen sich unterschied. Aufgrund weiterer Tests

zeigte sich, dass das Problem dieses Patienten offensichtlich darin lag, dass er große

Schwierigkeiten hatte, zwischen Verben zu unterscheiden, die eine sehr ähnliche semantische

Repräsentation aber unterschiedliche Abbildungen bezüglich der grammatikalischen

Rollen/Funktionen und thematischen Rollen hatten. Dies wird von den Autoren als ein

selektives Problem beim Abbilden der thematischen Rollen interpretiert. Allerdings wäre hier

auch zu beachten, ob dieses beobachtete Defizit nicht mit Problemen der Repräsentation

dieser spezifischen Verben zusammenhängen könnte. Denn es zeigte sich auch, dass LK

98 Mitchell, D./Cuetos, F./Corley, M./Brysbaert, M., 1996. Exposure-based models of human parsing: Evidence for the use of coarse-grained (non-lexical) statistical records. J. of Psycholinguistic Research 24: 469-48899 Breedin, S./Martin, R., 1996. Patterns of verb deficits in aphasia: An analysis of four cases. Cognitive Neuropsychology 13: 51-91

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besonders dann Probleme hatte, wenn es sich um Verben handelte, die ähnliche semantische

Repräsentationen hatten, aber unterschiedliche Abbildungen hinsichtlich der

grammatikalischen Rollen und der thematischen Rollen. Es scheint so zu sein, dass der Patient

eine Ahnung davon hat, dass diese Verben (z.B. „lend“ vs. „borrow“) bedeuten, dass ein

Objekt betroffen ist und dass der Besitzer dieses Objekts jemand anderen erlaubt, dieses

Objekt für eine Zeit zu besitzen. Aber LK weiß nicht, dass im Falle von „lend“ die Rolle des

Agens dem dauerhaften Besitzer zugeschrieben wird, im Falle von „borrow“ ist das Agens

jene Person, die da Objekt für eine Zeit übernimmt. Somit könnte es sich in manchen Fällen

auch um Probleme mit der Repräsentation von Verben handeln.

Zur Rolle des Arbeitsgedächtnisses

Die o.e. unterschiedlichen Aspekte der Probleme bei der syntaktischen Verarbeitung und der

Einfluss der Semantik auf die syntaktische Zerlegung haben dazu geführt, dass in manchen

Untersuchungen angenommen wird, dass die Verständnisproblemen der Aphasiepatienten

nicht auf spezifische Störungen des „Parsens“ oder anderen Mechanismen der

Satzverarbeitung zurückzuführen sind, sondern eher auf eine Verringerung der Kapazität des

Arbeitsgedächtnisses100. Wenn man allerdings annimmt, dass die syntaktischen Defizite – wie

bereits erwähnt – nicht alles oder nichts sind, sondern eben differenziert zu sehen sind, dann

kann man zwar noch immer von einem syntaktischen Defizit sprechen, aber eines, das eine

Reduzierung im Ausmaß des Beitrags der Syntax zur Satzinterpretation widerspiegelt.

es sicher der Fall. dass manche Aphsiker eine eingeschränkte Spanne des verbalen

Kurzzeitgedächtnisses aufweisen101. Wenn gesunde Kontrollpersonen in der Lage sind sich

eine Liste von 5 oder 6 Wörtern und 7 oder 8 Ziffern zu merken, haben Aphasiepatienten oft

Spannen, die von 1 – 3 Wörtern reichen. Wenn man davon ausgeht, dass solche Aufgaben, die

die Gedächtnisspanne messen, keine syntaktische Verarbeitung erfordern, dann ist es möglich,

dass die eingeschränkten Spannen der Patienten ein Defizit widerspiegeln, dass von einem

syntaktischen Defizit, das zu den Problemen der Satzverarbeitung beiträgt, unabhängig ist.

Aus den Untersuchungen von gesunden Personen ist bekannt, dass die Leistungen bei Testen

von Gedächtnisspannen stark vom Behalten des phonologischen Codes abhängig ist102. So

kann also davon ausgehen, dass zumindest bei einigen Patienten die verringerten Spannen auf

einem spezifischen Defizit beim Behalten der phonologischen Codes zurückzuführen sind. 100 z.B.: Miyake, A./Carpenter, P./Just, M., 1994. A capacity approach to syntactic comprehension disorder: Making normal adults perform like aphasic patients. Cognitive Neuropsychlogy 11: 671-717101 z.B.: Martin, N./Saffran, E.M., 1997. Language an auditory-verbal short-term memory impairments: Evidence for common underlying processes. Cognitive Neuropsychology 14: 641-682102 Baddeley, A,/Gathercole, S./Papagno, C., 1988. The phonological loop as a language learning device. Psychological Review 105: 158-173

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Nun wurde angenommen, dass eben diese Probleme bei Behalten des phonologischen Codes

zu Problemen bei der syntaktischen Verarbeitung führen können. So wurde darauf

hingewiesen, dass etwa Funktionswörter und grammatikalische Marker wenig an

semantischer Information beinhalten und daher könnte das Behalten dieser Wörter während

der Satzverarbeitung stark vom Behalten der phonologischen Codes abhängig sein. Weiters

wurde darauf hingewiesen, dass bei bestimmten Satzstrukturen, wie z.B. Objektrelativsätzen

(„Der Bub, den das Mädchen küsst, hat rote Haare.“), die Rolle von einzelnen Elementen im

Satz (z.B. „Bub“) erst, nachdem bereits weitere Wörter verarbeitet wurden, festgelegt werden

kann. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit diese Wörter in einer phonologischen Form zu

behalten, bis die Rolle festgelegt werden kann.

Obwohl diese Argumente sehr plausibel sind, haben doch Untersuchungsergebnisse gezeigt,

dass ein Defizit im phonologischen Speichern zu keinen Problemen bei der Verarbeitung von

komplexen Sätzen zu führen scheint103. Eine Zusammenfassung von verschiedenen Studien104

scheint diese Ansicht auch zu bestätigen. Diese Ergebnisse werden im Sinne einer

„Unmittelbarkeit der Verarbeitung“ („immediacy of processing“) während der verrabeitung

eines Satzes verstanden. D.h. wenn ein Satz verstanden wird, dann greifen wir auf die

syntaktischen und semantischen Spezifizierungen eines jeden Wortes zu, und zwar sobald wir

es hören, und wir konstruieren syntaktische und semantische Interpretationen des Satzes auf

einer Wort-für-Wort Basis – natürlich nur in dem Ausmaß, in dem es möglich ist. Was aöso

für die Satzverarbeitung wichtig ist, ist, dass diese syntaktischen und semantischen

Interpretationen gespeichert werden und nicht die phonologischen Formen, die dafür die Basis

bilden. Bei einem Satz wie „The dog was chased by the cat.“ würde der Hörer das Wort „was“

als Auxiliarverb (= Funktionswort) im Past (Pt) eines bestimmten Typs enkodieren und beim

Hören von „chased“ würde er wissen, dass es sich um eine Passivstruktur handelt. D.h. es

besteht kein Grund „was“ in einer uninterpretierten phonologischen Form für einen längeren

Zeitraum zu speichern, bevor also die Rolle dieses Wortes im Satz festgelegt wurde. Zwar

könnte man sagen, dass im Falle von Objektrelativsätzen („The boy that the girl carried had

red hair.“) die Rolle von „boy“ länger nicht festgelegt ist, aber der Hörer könnte „boy“ im

Sinne seiner syntaktischen und semantischen Spezifizierungen gespeichert halten und nicht in

seiner phonologischen Form.

Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass manche Arten von Problemen mit der

Gedächtnisspanne bei Patienten zu Verständnisproblemen führen können. Jedoch handelt es

103 Diskussion: Martin, R.C./Romani, C., 1994. Verbal working memory and sentence processing: A multiple components view. Neuropsychology 8: 506-523104 Waters, G./Caplan, D., 1999. Verbal working memory and sentence comprehension. Behavioral and Brain Sciences 22: 77-126

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sich dabei eher um Defizite bei Speichern von lexikalisch-semantischer Information als um

phonologische Informationen. Patienten mit Problemen beim Erhalten der lexikalisch-

semantischen Information haben Schwierigkeiten beim Verstehen von Sätzen, in denen die

Integration von einzelnen Wortbedeutungen in die Proposition verzögert ist. So z.B. bei einem

Satz mit mehreren pränominalen Adjektiven (z.B.: „the rusty old red pail“), wo die

Verbindung von „rusty“ mit „pail“ (= 1. Adjektiv mit N) im Vergleich zu einem Satz wie

„The pail was old, red, and rusty...“) verzögert wird, wo nun die Adjektive postnominal

auftreten. Somit muss die Bedeutung der Adjektive im ersten Fall (pränominal) in einer

lexikalisch-semantischen Form für einige Zeit gespeichert bleiben bevor sie intergriert werden

können. Ähnliches kann auch für Sätze gelten, bei denen mehrer Nomen einem Verb

vorangehen (z.B.: „Die Vase, der Spiegel und die Tischplatte zerbrachen.“) oder einem Verb

folgen (z.B.: „Die Kinder zerbrachen die Vase, den Spiegel und die Tischplatte.“). Wenn

nämlich die Nomen dem Verb vorausgehen, dann wird die Zuordnung ihrer Rollen in bezug

auf das Verb etwas verzögert als etwa im Vergleich zum Auftreten der Nomen nach dem

Verb. Dies zeigte sich in Untersuchungen105, wo zwei Patienten (ML und AB) bei Aufgaben

zur Überprüfung der Korrektheit von Sätzen bei jenen Testitems, bei denen 2 oder 3

Adjektive einem Nomen oder 2 oder 3 Nomen einem Verb vorangingen, Ergebnisse im

Zufallsbereich aufwiesen, aber bessere Ergebnisse zeigten, wenn die Adjektive dem Nomen

bzw. die Nomen dem Verb folgten. Dagegen zeigte ein Patient (EA) mit einem Defizit

bezüglich der phonologischen Speicherung nicht dieses Muster, sondern lag im Bereich der

Kontrollgruppe.

Es wurde auch ein Modell zur Erklärung dieses Verhaltens vorgeschlagen106 - also ein Modell,

dass sich speziell mit diesen Anforderungen an das Arbeitsgedächtnis für das Behalten die

Integration von syntaktischer und semantischer Information auseinandersetzt. Demnach

müssen, wenn eine Entität verarbeitet wird, die in die vorangegangene lexikalisch-

semantische Information integriert werden muss, dann müssen diese früheren lexikalischen

Repräsentation reaktiviert werden. Je weiter zurück nun diese im Satz sind, d.h. je mehr

inhaltliche Information nun dazwischen liegt, desto schwieriger wird die Reaktivierung und

Integration – d.h. auch dass die bestehende Aktivierung dieser zurückliegenden Information

dementsprechend schwächer ist.

105 Martin, R.C./Romani, C., 1994. Verbal working memory and sentence processing: A multiple components view. Neuropsychology 8: 506-523106 Gibson, E., 1998. Linguistic complexity: Locality of syntactic dependencies. Cognition 68: 1-76

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Die Abbildung von Form auf der Bedeutung: Die Anforderungen an den Satzprozessor

Inhaltliches: die erforderlichen „Ingredienzien“ eines Satzprozessors und die mögliche

Beziehung zwischen den Charakteristika der Architektur der Verarbeitung und den

Eigenschaften der Grammatik; die spezifischen Charakteristika der neurokognitiven

Untersuchungen zum Satzverständnis und ihre Konsequenzen für die psycholinguistische

Modellierung.

Von der Form zur Bedeutung

Grundaufgabe der Architektur des Verständnisapparates ist das Abbilden der Form einer

perzipierten Äußerung auf der zugehörenden Bedeutung. Dabei kann es sich um

unterschiedliche Formen des Inputs handeln: Lautsprache, Schriftsprache oder auch

Gebärden. Für eine effektive Kommunikation in Echtzeit muss dieses Abbilden sehr schnell

erfolgen und es muss inkrementell ablaufen, d.h. es muss versucht werden, die Menge an

Bedeutung, die an jedem möglichen Punkt innerhalb des Inputs zugeordnet wird, zu

maximieren. Das bedeutet, dass auch dann Entscheidungen getroffen werden müssen, wenn

vollständige oder gewisse Informationen noch nicht vorhanden sind, da das

Verständnissystem nicht auf das Ende des Satzes warten kann, um mit der Verarbeitung zu

beginnen. Um dies zu leisten, muss der Satzprozessor die folgenden Operationen ausführen

können:

Für das inkrementelle Verständnis notwendige Eigenschaften muss das Verarbeitungssystem:

a) so schnell wie möglich dem Input eine Struktur zuordnen (Strukturaufbau, „structure

building“);

b) dieser Struktur die „maximale“ (d.h. detaillierteste) Bedeutung zuordnen, die aufgrund

der vorhandenen Information möglich ist („linking“);

c) die bisher zugeordnete Struktur/Bedeutung verwenden, um Voraussagen bezüglich des

noch kommenden Inputs zu machen („prediction“);

d) sich im Falle der Ambiguität des Inputs für eine Interpretation entscheiden

(„ambiguity processing“);

e) wenn überhaupt möglich, Verarbeitungskonflikte effizient lösen („conflict

resolution“);

f) die vollständig interpretierte Information speichern („storage“).

Der Strukturaufbau wird durch die Grammatik der zu verarbeitenden Sprache eingeschränkt,

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vgl. „the red bus“ vs. „l’autobus rouge“. Dadurch wird das Verarbeitungssystem auch mit

Wissen über die Einheiten des Inputs in den Strukturen und ihr Erkennen versorgt. So spielt

die Wortart (-kategorie) eine wichtige Rolle, aber wie die verschiedenen Kategorien erkannt

werden, unterscheidet sich von Sprache zu Sprache (z.B. aufgrund distributioneller oder

morphologischer Kriterien).

Die Verbindung der zum jeweiligen Zeitpunkt „maximalen“ Bedeutung mit der Struktur

(„linking“) legt die Art und Weise fest, wie eine Struktur mit einer Interpretation in

Verbindung gebracht wird, was wiederum von den durch die Grammatik gegebenen

Beschränkungen abhängig ist. Wenn man etwa Deutsch und Englisch vergleicht, dann hat

Englisch eine festgelegte Subjektposition und in einem Aktivsatz entspricht das Subjekt

immer der höchstgereihten thematischen Rolle („John hits...“), womit die Verbindung

zwischen der Subjektposition und dem dort anzutreffenden Argument daher seht stark

eingeschränkt ist. Im Deutschen finden wir keine dem ähnliche Position des Subjekts, vgl. „...,

dass dem Jungen der Hund entlaufen ist.“ oder „Ein Fehler unterlaufen ist noch keinem

Linguisten.“, womit die Beziehung/Abbildung zwischen einer strukturellen Position und einer

bestimmten Interpretation weniger eingeschränkt ist.

Voraussagen (Vorausannahmen, „prediction“) ist eine in der gesamten Architektur der

Verarbeitung vorkommende Eigenschaft, d.h. wir finden sie auf verschiedenen Ebenen der

Verarbeitung. So wird z.B. aufgrund der internen Struktur der Satzkonstituenten (z.B. NPs,

VPs, die alle aus einem Kopf bestehen, der auf die Phrase und weitere Elemente projiziert)

beim Auftauchen eines Nicht-Kopfes in einer Konstituente, deren Kopf noch nicht verarbeitet

wurde, ein Kopf voraus angenommen. Das gilt auf der nicht-strukturellen (relationalen)

Ebene. Wenn etwa in Sprachen, die das Tilgen eines Subjekts nicht erlauben, ein eindeutig als

Objekt markiertes Element auftritt, wird dementsprechend auf ein Subjekt geschlossen.

Die Verarbeitung von Ambiguität wurde schon lange als eine der faszinierendsten

Eigenschaften des Verarbeitungssystems gesehen. Ambiguitäten treten in der Sprache häufig

auf und speziell im unvollständigen Input, auf dem das inkrementelle Verständnis beruht;

womit die Fähigkeit, mit Ambiguitäten effizient umzugehen – d.h. ohne deutliche

Verzögerungen in der Verarbeitung – ein zentrales Merkmal der Architektur des

Verarbeitungssystem darstellt.

Das Lösen von Konflikten in der Verarbeitung ist ein Erfordernis, das Hand in Hand mit dem

Vorhandensein von Ambiguitäten geht. Wenn also eine für das Lösen einer Ambiguität

verwendete Heuristik scheitert, und zwar in dem Sinne, dass sie dazu führt, dass das System

die falsche Alternative wählt, entsteht an jenem Punkt ein Konflikt, an dem die

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Disambiguierung in Richtung der nicht-bevorzugten Lesart erfolgt. Diese Situation ergibt sich

bei den klassischen Holzwegsätzen („The horse raced past the barn fell.“). Die Notwendigkeit

von einer Lesart auf eine andere umzuschwenken erhöht die Verarbeitungskosten. Die

Holzwegeffekte variieren deutlich bezüglich ihrer Stärke, von leicht (nicht bewusst, aber

messbar) bis stark (Nichtverstehen des Satzes und bewusste Wiederverarbeitung). Beispiele

für diese Stärkeunterschiede107:

a) John knows the truth hurts.

b) While Philip was washing the dishes crashed onto the floor-

c) The boat floated down the river sank.

Die Speicherung, d.h. die Notwendigkeit Zwischenergebnisse der Verarbeitung zu behalten

bis sie vollständig interpretiert werden können, ist zweifellos für das Verstehen von Sätzen

notwendig. Es gibt verschiedene Vorschläge, wie die Komponenten dieses Speichersystems

aussehen könnten108, aber die genauen, dieser Komponente des menschlichen

Verständnissystems zugrundeliegenden Mechanismen, nämlich die genaue Architektur, wie

die Information aufgenommen wird und wie diese Information wieder abgerufen wird, ist

derzeit keineswegs vollständig untersucht. Es scheint darauf hinauszulaufen, dass das

„Arbeitsgedächtnis“ des Sprachverständnisses als ein aktivierter Teil des

Langzeitgedächtnisses zu sehen ist und nicht als ein getrennter Bufferspeicher (s. Fn. 47).

Satzverständnis: Die Hauptfragen

Viele der Anforderungen (s.o.) an einen Satzprozessor (Parser) hängen eng mit der Frage

zusammen, wie eine Ambiguität behandelt wird (z.B. über den Aufbau der Struktur

(„structure building“) und der Zuordnung der Bedeutung („linking“) oder z.B. über die

Lösung von Verarbeitungskonflikten („conflict resolution“). Die Hauptfragen der

Forschungen zum Satzverständnis werden anhand eines Satzfragments mit einer Ambiguität

erläutert:

a) „Nach dem Wettkampf erfuhren alle, dass [die Kufen] [des Schlittens]...“

Es geht in der folgenden Diskussion um die Analyse der komplexen NP „die Kufen des

Schlittens“. Dieses Argument ist ambig hinsichtlich seines Kasus als NP Nom oder NP Akk

und daher auch hinsichtlich seiner Lesart als Subjekt oder Objekt.

Serielle vs. parallele Verarbeitung

107 Sturt, P./Crocker, M.W., 1996. Monotonic syntactic processing: A cross-linguistic study of attachment and reanalysis. Language and Cognitive Processes 11: 449-494108 z.B. Lewis, R.L./Vasisht, S./Van Dyke, J.A., 2006. Computational principles of working memory in sentence comprehension. Trends in Cognitive Sciences 10: 447-454

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Einen wichtigen Aspekt in der Diskussion einer solchen lokalen Ambiguität wie in a) stellen

die Überlegungen dar, ob das Verarbeitungssystem erkennt, dass der Input mehrere Analysen

zulässt, oder ob der Input so verarbeitet wird wie dies bei einer nicht ambigen Struktur erfolgt

(in diesem Fall ein kasusmarkiertes Subjekt). D.h. wenn die Ambiguität erkannt wird, werden

dann (in diesem Fall) beide Analysen, während weiter verarbeitet wird, weiter verfolgt – ist

das der Fall, dann kann das Verarbeitungssystem als parallel bezeichnet werden. Die

verschiedenen vorgeschlagenen parallelen Modelle gehen davon aus, dass die mehreren

möglichen Lesarten, die weiter verfolgt werden, in bezug auf ihre Präferenz geordnet sind (s.

Abb. u. (p.96)). (Ein globaler Parallelismus, d.h. einer ohne Rangordnung, wird in der

Literatur zur Satzverarbeitung nicht ernsthaft diskutiert, da ein solches Modell nicht erklären

könnten, warum bestimmte Lesarten anderen vorgezogen werden.) Diese verschiedenen

parallelen Modelle mit Rangordnungen unterscheiden sich darin, wie die Gewichtung der

einzelnen unterschiedlichen Lesarten erfolgt und auch hinsichtlich der Frage, ob Lesarten mit

einem sehr niedrigem Rang getilgt werden, d.h. nicht weiter verfolgt werden.

Serielle Modelle haben gemeinsam, dass nur eine Lesart über die ambige Stelle hinaus weiter

verfolgt wird. Sie unterscheiden sich allerdings hinsichtlich ihres Standpunktes bezüglich der

„Sehbarkeit“ (Erkennbarkeit) der Mehrdeutigkeit: So wird z.B. in einem kennzeichnenden

(markierenden) seriellen System („flagged serial“), die Ambiguität erkannt und der Punkt, an

dem die Ambiguität auftritt, wird markiert, so dass eine neuerliche Verarbeitung im Falle

eines Konflikts erleichtert wird.

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1a: Frazier, L./Fodor, J.D., 1978. The sausage machine: A new two-stage parsing model. Cognition 6: 291-326;

Frazier, L., 1987. Sentence processing: A tutorial review. In M. Coltheart (ed.), Attention and performance. Vol.

12: The psychology of reading. Hove, Erlbaum: 559-586

1b: Traxler, M./Pickering, M.J./Clifton, C. Jr., 1998. Adjunct attachment is not a form of lexical ambiguity

resolution. J. of Memory and Language 39: 558-592

2: Inoue, A./Fodor, J.D., 1995. Information-paced parsing of Japanese. In: R. Mazuka/N. Nagai (eds.), Japanese

sentence processing. Hillsdale, N.J.: 9-63

3: Altmann, G.T.M./Steedman, M., 1988. Interaction with context during human sentence processing. Cognition

30: 191-238

4: Kurtzmann, H., 1985. Studies in syntactic ambiguity resolution. PhD Thesis, MIT; Gorrell, P., 1987. Studies

of human sentence processing: Ranked-parallel versus serial models. PhD. Thesis, Univ. of Connecticut; Gibson,

E., 1991. A computational theory of linguistic processing: Memory limitations and processing breakdown. PhD.

Thesis, Carngie Mellon Univ.

5: wird in Psyli nicht angenommen (s. präferierte Lesarten)

Berwick, R.C./Weinberg, A.S., 1984. The grammatical basis of linguistic performance. Cambridge, MA;

Pritchett, B.L., 1988. Garden path phenomena and the grammatical basis of language processing. Language 64:

539-576

Abhängig vom jeweils angenommenen Modell (s. Abb. o.) ergibt sich für die NP „die Kufen“

eine Interpretation als Subjekt oder diese Annahme wird parallel mit der Lesart Objekt

weiterverfolgt, wobei allerdings erstere höher rangiert/stärker gewichtet ist.

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Modulare vs. interaktive Verarbeitung

Unabhängig davon, ob eine paralleles oder serielles Modell zur Lösung der Ambiguität

angenommen wird, besteht bei den meisten Ambiguitäten eine Präferenz für eine Lesart.

Dabei stellt sich nun die Frage, welche Informationen führen zu einer solchen Präferenz? Im

o.e. Beispiel können wir davon ausgehen, dass im Deutschen die Wortstellung keinen

eindeutigen Hinweis auf die grammatikalische Funktion darstellt, trotzdem besteht eine

deutliche Präferenz, „die Kufen“ als Subjekt zu interpretieren. Dies hängt wohl damit

zusammen, dass diese Lesart mit einer wesentliche einfacheren Struktur verbunden ist als eine

Objektlesart, wo bei immer zu beachten ist, dass eine solche Lesart immer auch ein Subjekt

voraussetzt. Was aber die Subjektlesart beeinträchtigen kann, ist, dass Subjekte von einem

thematischen Standpunkt aus im allgemeinen die höherrangigen Argumente darstellen, wie

Agens, Erfahrender („experiencer“), Verursacher usw., und somit ist ein unbelebtes Argument

weniger typisch für eine Subjektinterpretation.

Daraus ergeben sich nun zwei Möglichkeiten für die Bestimmung der Präferenz: a) Die

Präferenz wird vollständig von den strukturellen Eigenschaften bestimmt (Belebtheit spielt

keine Rolle) – dies wird von einer Gruppe von Modellen angenommen, die als „modular“,

„autonom“ oder „Syntax zuerst“ („syntax-first“) bezeichnet werden; b) beide relevanten

Informationen können interagieren, um so die Gesamtpräferenz zu ergeben, was von

„interaktiven“ („interactive“) oder „constraint-satisfaction“ Modellen angenommen wird. Im

Falle eines Modells der seriellen Ambiguitätsauflösung würde eine Interaktion zwischen

Struktur und Belebtheit entweder in der Umkehrung der Präferenz (sodass nur mehr die

Objektlesart weiter verfolgt wird) oder in einer Zunahme des Verhältnisses jener Fälle, in

denen eine Objektlesart gewählt wird, resultieren. Letzteres wird von (nicht-

deterministischen) probabilistischen seriellen Modellen angenommen, die davon ausgehen,

dass die präferierte Lesart von Fall zu Fall verschieden sein kann, auch wenn immer nur eine

einzige Lesart verfolgt wird109. Das Verhältnis der Fälle, in denen die eine oder anderen Lesart

gewählt wird, hängt davon ab, wie stark die Präferenz für eine Lesart gegenüber einer anderen

ist, d.h. wenn die Präferenz sehr stark ist, wird die alternative Lesart eigentlich nie verfolgt.

Dagegen würde in einem parallelen Modell die Interaktion zwischen den beiden Faktoren

(Struktur und Belebtheit) dazu dienen, die relative Distanz zwischen den beiden Lesarten (im

Sinne ihrer Gewichtungen) zu modifizieren und zwar mit dem Ergebnis einer allgemeinen

Rangordnung in Abhängigkeit von der relativen Stärke der beiden Informationstypen.

109 Van Gompel, R.P.G./Pickering, M.J./Pearson, J./Liversedge, S.P., 2005. Evidence against competition during syntactic ambiguity resolution. J. of Memory and Language 52: 284-307; van Gompel, R.P.G./Pickering, M.J./ Traxler, M.J., 2001. Reanalysis in sentence processing: Evidence against current constraint-based and two-stage models. J. of Memory and Language 45: 225-258

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(Theoretisch ist serielles vs. paralleles Verarbeiten und modulares vs. interaktives Verarbeiten

orthogonal; in der Praxis wird eine starke Korrelation zwischen den beiden angenommen,

sodass modulare Modelle typischerweise seriell sind und interaktive Modelle parallel.)

Zwar ist der Unterschied zwischen modularen und interaktiven Modellen theoretisch deutlich

festgelegt, aber empirisch sind die beiden nur schwer zu unterscheiden. D.h. im Beispiel o.

kann der Unterschied zwischen den konkurrierenden Voraussagen nur untersucht werden,

wenn die disambiguierende Information an einem späteren Zeitpunkt im Satz auftritt.

Allerdings müssen die im disambiguierenden Bereich gemessenen Unterschiede nicht

unbedingt auf die ursprüngliche Auswahl zurückzuführen sein, da sie auch auf die

Unterschiede in der Reanalyse zurückgehen können: So könnte z.B. Belebtheit keinen

Einfluss auf die erste Analyse der ersten NP als Subjekt haben, aber sie könnte die Reanalyse

des Arguments in Richtung der nicht-bevorzugten Objektlesart erleichtern.

Erklärungen aufgrund der Frequenz

Ein bekanntes Phänomen im Bereich der Verarbeitung von Wörtern besteht darin, dass das

Worterkennen mit seiner Frequenz korreliert110. Womit sich die Frage stellt, ob ein ähnlicher

Mechanismus nicht bei der Satzverarbeitung zur Anwendung kommt111. Auf das Beispiel

oben angewendet heißt das, dass man sich fragen kann, ob die Präferenz für eine spezifische

Interpretation der komplexen NP („die Kufen des Schlitten“) von der Wahrscheinlichkeit

moduliert oder sogar determiniert wird, dass eine unbelebte NP in dieser Position das Subjekt

des Teilsatzes ist. Abhängig von der Art des angenommenen Modells können unterschiedliche

Häufigkeiten mit einander interagieren, um die allgemeine Präferenz festzulegen: a) Wie oft

ist eine NP in dieser Position ein Subjekt? b) Wie oft sind unbelebte NPs Subjekte? c) Wie oft

ist eine unbelebte NP in dieser Position ein Subjekt? d) Was ist die

Übergangswahrscheinlichkeit zwischen zwei oder drei neben einander stehenden Wörtern

(Bigramm oder Trigramm-Frequenz), d.h. die Wahrscheinlichkeit des Determinators „die“

nach „dass“ als Realisierung eines Subjektlesart? Solche frequenzabhängige Ansätze bieten

eine elegante Art, um Unterschiede in der Stärke von Präferenzen abzuleiten, nämlich

aufgrund der relativen Frequenzgewichtungen der involvierten Faktoren.

Trotz dieser „Attraktivität“ von frequenzbasierenden (probabilistischen) Ansätzen ergeben

sich auch eine Reihe von Fragen. a) Wenn auch ein Phänomen aufgrund der

Auftretenshäufigkeit erklärt werden kann, bleibt die zugrundeliegende Ursache der

110 Jurafsky, D., 2003. Probabilistic modelling in psycholinguistics: Linguistic comprehension and production. In R.Bod/J. Hay/S. Jannedy (eds.), Probabilistic Linguistics. Cambridge, MA: 39-96111 Levy, R., 2008. Expectation-based syntactic comprehension. Cognition 106: 1126-1177; Hale, J., 2006. Uncertainty about the rest of the sentence. Cognitive Science 30: 643-672

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Frequenzverteilung immer noch zu erklären. b) Ausgehend von den Messmöglichkeiten der

Häufigkeit (s. o. a) – d)) stellt sich die Frage nach der Basis der Voraussagen aufgrund der

Frequenz. c) In manchen Fällen, in denen Einflüsse der Häufigkeit festgestellt wurden, hat

sich bei weiteren Untersuchungen herausgestellt, dass diese Einflüsse nicht alles sind, um die

Verarbeitungspräferenzen abzuleiten. So wurden empirische Hinweise112 für eine

frequenzbasierende Modulierung von sog. „NP-S“ Ambiguitäten (eine NP kann entweder das

direkte Objekt des Matrixsatzverbs sein oder das Subjekt eines Satzkomplements: „The

student forgot the solution.“ vs. „The student forgot the solution was incorrect.“) festgestellt.

Erklärung: Die Analyse der ambigen NP („the solution“) wird dadurch festgelegt, wie oft das

Matrixsatzverb zusammen mit einem direkten Objekt vs. einem Satzkomplement auftritt.

Allerdings wies eine andere Untersuchung113 Effekte der Plausibilität des direkten Objekts im

ambigen Bereich nach, und zwar auch für Verben, die einen Häufigkeitsbias in Richtung

intransitive Lesart hatten. Daher wird vorgeschlagen, dass die anfänglichen Auswahlen bei

Verarbeitung nicht vollständig von der Frequenz bestimmt sind, sondern auch von einem

„Informativitätsfaktor“ beeinflusst werden, der auch einschließt, wie testbar die Annahme

einer bestimmten Lesart ist.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Rolle der Frequenz auf der Ebene der

Satzverarbeitungsprozesse kontroversiell bleibt. Auf der anderen Seite findet sich deutliche

Korrelationen zwischen der Frequenz und der Verarbeitung auf der lexikalischen Ebene (bis

hin zu Effekten auf der Satzebene). Es erscheint also nicht sehr plausibel, dass die Häufigkeit

keine Rolle bei der Verarbeitung von morphosyntaktischer Information auf der Satzebene

spielt, wobei es allerdings zur Zeit nicht einfach ist, die genaue Rolle dieser Art von

Information und wie weit ihre Konsequenzen gehen, festzustellen.

Die Verarbeitung von obligatorischer vs. nicht-obligatorischer Information

Viele Studien zum Satzverständnis haben auch die Verarbeitung von nicht obligatorischen

Konstituenten (Modifikatoren wie PP oder Relativsätze) untersucht. Die festgestellte

Variabilität über einem weiten Bereich von Phänomenen in diesem Bereich steht in

deutlichem Kontrast zu den robusten Präferenzen, die bei der Verarbeitung der

Hauptkomponenten (d.h. obligatorischen Argumente) beobachtet wurden. Das führt zum

Vorschlag114, dass Modifikatoren („secondary relations“) grundlegend anders verarbeitet 112 Trueswell, J.C./Tanenhaus, M.K./Kello, C., 1993. Verb-specific constraints in sentence processing: Separating effects of lexical preference from garden-paths. J. of Experimental Psychology: learning, Memory and Cognition 19: 528-553113 Pickering, M.J./Traxler, M./Crocker, M.W., 2000. Ambiguity resolution in sentence processing: Evidence against frequency-based accounts. J. of Memory and Language 43: 447-475114 Frazier, L./Clifton, C., Jr., 1996. Construal. Cambridge, MA.

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werden als obligatorische Information („primary relations“). In der „Construal-Hypothese“

wird davon ausgegangen, dass nur primäre Relationen anfänglichen strukturbasierenden

Verarbeitungspräferenzen unterzogen werden, wogegen sekundäre Relationen mit einer

bestimmten strukturellen Domäne nur „assoziiert“ sind, so dass ihre endgültige Interpretation

einem wesentlichen weiteren Kreis von Einflüssen (z.B. Plausibilität, Frequenz etc.)

ausgesetzt sein kann. Dieser Vorschlag erklärte nicht nur einen großen Bereich von ansonsten

verwirrenden Phänomenen, sondern er erscheint im Sinne des grundlegenden Unterschieds

zwischen den beiden Konstituententypen plausibel. Obligatorische Informationen können

vorhergesagt werden und auch Voraussagen hervorrufen, was bei Modifikatoren nicht der Fall

ist: z.B.: „Whom did the boy see on Sunday?“

Das Argument „the boy“ lässt sich aufgrund von zwei Informationsquellen voraussagen: das

wh-Pronomen ist eindeutig als Objekt markiert und führt daher zur Vorausnahme eine

Subjekts; eine ähnliche Vorausannahme ergibt sich an der Position von „did“. In ähnlicher

Weise würde eine Wh-Phrase wie „to whom“ die Voraussage eines Subjekts und eines

direkten Objekts auslösen. Dagegen kann die PP „on Sunday“ von keiner Informationsquelle

vorausgesagt werden. (Modifikatoren können strukturelle Vorausannahmen lenken, indem

bestimmte Teile eines Satzes abgegrenzt werden, z.B. das linke Ende der VP.)

Ein weiterer wichtiger Aspekt bezüglich der Verarbeitung von obligatorischer vs.

modifizierender Information ist die Präferenz von „argument-over-adjuct“: Eine Konstituente,

die hinsichtlich ihrer Lesart als Argument oder Adjunkt ambig ist, wird bevorzugt als

Argument interpretiert115: Beispiel (Boland/Boehm-Jernigan)

„John gave a letter to his son to a friend a month ago.“

Bei ersten Erkennen der PP „to his son“ wird sie bevorzugt als Argument von „give“

analysiert (d.h. als Argument des Verbs); sobald nun in der Folge die zweite PP („to a friend“)

erkannt wird, muss die ursprüngliche Analyse in Richtung einer Adjunktinterpretation

verändert werden. Im Sinne von Construal könnte diese „argument-over-adjunct“ Präferenz

interpretiert werden als das „Bemühen“ des Verarbeitungssystems die inkrementelle

Interpretation zu optimieren. Wenn also nun die Interpretation von modifizierenden

Elementen im Vergleich zu obligatorischen verzögert wird, ergibt sich daraus eine Präferenz

für Argumente.

115 Schütze, C.T./Gibson, E., 1999. Argumenthood and English prepositional phrase attachment. J. of Memory and Language 40: 409-431; Boland, J./Boehm-Jernigan, 1998. Lexical constraints and prepositional phrase attachment. J. of Memory and Language 39: 684-719

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Die neurokognitive Perspektive

Die neurowissenschaftlichen Methoden können zusätzliche feinere („feinkörnigere“)

Informationen liefern, die dazu verwendet werden können, um Details der

Verarbeitungsarchitektur zu untermauern. Während Maße wie Grammatikalitätsurteile oder

Reaktionszeiten eine eindimensionale Perspektive bezüglich der Verarbeitungschwierigkeiten

bieten, sind die neuronalen Reaktionen inhärent multidimensional und das bezieht sich

sowohl auf die Messungen mittels ERPs als auch auf fMRI (funktionale Neuroanatomie). In

beiden Fällen können – zumindest prinzipiell – inhärente Aspekte der mit dem Stimulus

zusammenhängenden Verarbeitung von den Outputcharakteristika, also aufgabenbezogenen

Verarbeitungserfordernissen, unterschieden werden. Daher können Veränderungen, die im

Output eindimensional erscheinen, mit Hilfe dieser Methoden weiter aufgeschlüsselt werden,

im speziellen, wenn eine einzelne kritische Manipulation in verschiedenen experimentellen

Umgebungen untersucht wird. Zwar bieten neurokognitive Methoden nicht per se eine

informativere Darstellung der Grammatik, die dem Verarbeitungssystem zugrunde liegt, aber

sie erlauben eine feinkörnigere Charakterisierung der sprachlichen Architektur, indem sie

helfen auseinander zu halten, welche Aspekte des Outputsignals von allgemeinen Systemen

(z.B. kognitive Kontrolle) stammen und welche den inhärenten Eigenschaften der

linguistischen Manipulation zuzuschreiben sind.

Trotzdem bestehen einige Einschränkungen in bezug auf empirische Bewertungen von

psycholinguistischen Modellen, so z.B. hinsichtlich der Diskussion über Modularität vs.

Interaktivität im Rahmen der ersten Auswahlen in der Verarbeitung. Zwar bieten

neurokognitive Methoden multidimensionale Maße, aber sie können das Problem nicht lösen,

dass jeder Effekt, der am Punkt der Disambiguierung gemessen wird in bezug auf die

Mechanismen der anfänglichen Auswahl nicht mehr informativ ist, weil a) die Präferenz an

diesem Punkt durch einen post-initialen Mechanismus moduliert hätte sein können oder b) die

Modulationen des beobachtbaren Effekts könnten auf einen Unterschied bei der

Konfliktlösung zurückzuführen sein.

Trotzdem werden neurokognitive Experimente – vor allem ERPs – herangezogen, um dieses

Problem zu lösen, wobei sogenannte „Verletzungsparadigmen“ („violation paradigms“)

angewendet werden. Dabei handelt es sich um einen Vergleich zwischen einem

ungrammatischen Satz, der eine Verletzung hinsichtlich einer sprachlichen Eigenschaft

aufweist, und einem minimal verschiedenem Kontrollsatz. Die Logik hinter diesem Design

besteht darin, dass die Verletzung zu Verarbeitungsproblemen innerhalb dieses Teils der

Verständnisarchitektur führen sollte, der für die Verarbeitung jenen Informationstypus

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zuständig ist, der die Verletzung hervorruft. So sollte z.B. eine Verletzung der Phrasenstruktur

eine Reaktion von jenem System hervorrufen, das für die Verarbeitung der Phrasenstruktur

zuständig ist. (Vgl. z.B. die Untersuchungen zur N400.)

Aus der Sicht der psycholinguistischen Modellierung können Experimente mit dem

Verletzungsparadigma herangezogen werden, um das o.e. „Reanalyseproblem“ zu

überwinden, weil sie ein Mittel für die Untersuchung der Mechanismen der unmittelbaren

inkrementellen Verarbeitung darstellen. Somit kann die Reaktion auf Verletzungen, die von

verschiedenen Informationstypen hervorgerufen werden, an der Position desselben kritischen

Inputelements kontrastiert werden, was eine Untersuchung ihres relativen Timings und ihrer

Unabhängigkeit oder gegenseitigen Abhängigkeit erlaubt.

Konstituentenstruktur

Die psycholinguistischen Untersuchungen auf der Satzebene mussten sich von Beginn an der

Frage stellen, wie kombiniert das Verarbeitungssystem die einzelnen Inputelemente (Wörter)

zu größeren Konstituenten. Wobei dies aufgrund der Ergebnisse von Untersuchungen, die

zeigten, dass Wörter im Satzkontext schneller und leichter abgerufen werden konnten als die

Wörter von Wortlisten mit derselben Anzahl von Wörtern116, eine Notwendigkeit wurde. Es

wurde daher angenommen, dass aufgrund der schnellen Strukturierung der Inputelemente in

größere Einheiten die Konstituentenstruktur die Anzahl der Elemente, die im

Arbeitsgedächtnis gehalten werden müssen, deutlich reduziert und so die Verarbeitung

erleichtert117.

Während die Notwendigkeit einer Konstituentenstruktur weder in der theoretischen Linguistik

noch in der Psycholinguistik in Frage gestellt wird, ist ihre genaue Rolle im Verstehen in

Realzeit etwas kontroversieller. {Die genaue Repräsentation der Konstituentenstruktur hängt

natürlich von der jeweiligen grammatischen Theorie ab, aber die meisten Ansätze haben eine

Anzahl an grundlegenden Charakteristika gemeinsam, wie etwa die Annahme, dass

Konstituenten aus einem projizierenden Kopf und zusätzlichen (abhängigen) Konstituenten

(Argumenten) bestehen.} Es gibt nun unterschiedliche Positionen hinsichtlich dieses

Problems, wobei die beiden Extreme so beschrieben werden können: a) die Strukturierung in

116 Johnson, N.F., 1970. Chunking and organization in the process of recall. In G.H. Bower (ed.), The psychology of learning and motivation. New York; Miller, G.A./Isard, S., 1964. Free recall of self-embedded English sentences. Information and Control 7: 292-303117 Frazier, L./Fodor, J.D., 1978. The sausage machine: a new two-stage parsing model. Cognition 6: 291-326

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Konstituenten ist die Voraussetzung für alle weiteren Verarbeitungsschritte, sowohl

syntaktische als auch interpretative, und b) die Konstituentenstruktur spielt keine spezifische

Rolle, sondern interagiert mit allen greifbaren Informationstypen (z.B. Belebtheit, Frequenz,

thematischen Rollen), um die Satzstruktur und die Interpretation zu bestimmen. Erstere

Ansicht steht in Verbindung mit 2-stufigen Modellen (wie „garden path“) und letztere wird

von interaktiven (oder auf Beschränkungen basierenden, „constraint-based“) Modellen

angenommen.

Die Diskussion hinsichtlich des Status der Konstituentenstruktur hängt auch mit der Frage

zusammen, ob unterschiedliche Arten von Information mit unterschiedlichen Profilen des

zeitlichen Verlaufs in Beziehung stehen. So nehmen die „Syntax-zuerst“-Modelle einen

zeitlichen Vorrang der Konstituentenstruktur vor den anderen Arten der Information an,

wogegen stark interaktive Modelle davon ausgehen, dass eine solche zeitlich Ordnung

entweder nicht vorkommt oder es wenigstens bestimmte Beispiele dafür gibt, dass andere

Informationsarten eine gleiche frühe Reaktion zeigen.

Wie sich gezeigt hat, ergeben sich bei der Verwendung von ambigen Strukturen einige

Probleme (s.o.), was dazu führte, dass man für die Untersuchungen zum Status der

Konstituentenstrukturen während der Verarbeitung nun versucht die Profile des zeitlichen

Verlaufs der verschiedenen kritischen Informationsarten in nicht ambigen Strukturen zu

untersuchen. In diesen Untersuchungen wurden die kritischen Veränderungen über die

Verwendung des „Fehlerparadigmas“ („violation paradigm“) untersucht. So wurde die

Verarbeitung der Phrasenstruktur-(Wortkategorie-)information mit der thematischen

Information kontrastiert118:

a) *Some people hastily books. (PS-Fehler)

b) *Some people amuse books. (thematischer Fehler)

c) *Some people agree books. (Subkategorisierungsfehler)

d) Some people love books. (gramm. Kontrollbedingung)

Dabei wurde eine schnellere SAT-Dynamik („speed-accuracy trade-off“) von ca. 100ms für

Sätze wie a) im Vergleich zu Sätze wie b) festgestellt. Dieses Ergebnis weist – zumindest im

Bereich der obligatorischen Konstituenten – darauf hin, dass die PS mit einem schnelleren

zeitlichen Verlauf der Verarbeitung verbunden ist als die interpretative Struktur wie eben die

thematische Information. {Zusätzliche unterstützenden Hinweise für diese Annahme ergaben

sich aus einem weiteren Experiment, in dem die Verarbeitung derselben Informationsarten in

118 McElree, B./Griffith, T., 1995. Syntactic and thematic processing in sentence comprehension. J. of Experimental Psychology: Learning, Memory and Cognition 21: 134-157

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Cleft-Sätzen untersucht wurden.119.} Allerdings wurde auch festgestellt, dass

Subkategorisierungsinformation (s. c)) genauso schnell wie PS-Information verarbeitet wurde.

Es wurde nun argumentiert, dass diese Daten mit einem modifizierten zwei-stufigen Modell

vereinbar sind, in dem der lexikalische Zugang die erste Stufe der Verarbeitung mit

Kategorien- und Subkategorisierungsinformation bildet.

Unterschiede in der Verarbeitung der Konstituentenstruktur im Vergleich zu anderen

Informationstypen wurde auch in früheren Studien120 festgestellt (visuelle Präsentation):

a) *The man admired Don’s of sketch the landscape. (PS-Fehler)

b) The man admired a sketch of the landscape. (Kontrolle für a))

c) *The man admired Don’s headache of the landscape. (semantischer Fehler)

d) The man admired Don’s sketch of the landscape. (Kontrolle für c))

Dabei ergaben sich eine frühe negative Reaktion (N125) gefolgt von einer späten Positivität

bei der PS-Verletzung (s. a)), wogegen die semantische Verletzung zu einem klassischen

N400-Effekt führte. Diese relative große Differenz (ca. 250ms) zwischen den kritischen

Effekten weist darauf hin, dass die beiden Informationstypen tatsächlich mit zwei

unterschiedlichen zeitlichen Profilen in Beziehung stehen. Diese Ergebnisse wurden auch für

das Deutsche unter Verwendung der auditiven Modalität repliziert121:

a) *Der Freund wurde im besucht. (PS-Verletzung)

b) *Die Wolke wurde begraben. (semantische Verletzung)

c) Der Finder wurde belohnt. (grammatikal. Kontrollbedingung)

Strukturen wie a) wiesen eine frühe links-anteriore Negativität (ELAN, gefolgt von einer

späten Positivität) auf, wogegen Sätze wie b) eine N400 erzeugten (s. Abb. u. (p. 110)).

119 McElree, B./Griffith, T., 1998. Structural and lexical effects in filling gaps during sentence processing: A time-course analysis. J. of Experimental Psychology: Learning, Memory and Cognition 24: 432-460120 Neville, H.J./Nicol, J./Barss, A./Forster, ./Garrett, M.F., 1991. Syntactically based sentence processing classes: Evidence from event-related potentials. J. of Cognitive Neuroscience 6: 233-255121 Friederici, A.D./Pfeifer, E./Hahne, A., 1993. Event-related brain potentials during natural speech processing: Effects of semantic, morphological, and syntactic violations. Cognitive Brain Research 1: 183-192

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Neben den Unterschieden im zeitlichen Verlauf der Verarbeitung der Konstituentenstruktur

und der Semantik (Selektionsrestriktionen) ergaben die ERP-Studien auch eine hierarchische

Abhängigkeit der semantischen Information von der Konstituenteninformation. Dies zeigte

sich, wenn die kritischen Verletzungstypen in einem Wort auftraten122:

*Das Gewitter wurde im gebügelt.

Die kombinierte Verletzung erzeugt genau dieselbe Reaktion wie die PS-Verletzung allein,

nämlich eine ELAN (+ eine späte Positivität), aber keine N400. Offensichtlich kann die PS-

Information die Verarbeitung der Semantik (Selektionsrestriktionen) blockieren. Somit

erscheinen die PS-Beziehungen eine notwendige Vorbedingung für die Verarbeitung der

Semantik (Selektionsrestriktionen) darzustellen.

Problematisch ist bei dieser Untersuchung allerdings, dass die beiden kritischen

Informationstypen sich auch in der auditiven Präsentation eines Wortes unterscheiden: Im o.e.

Beispiel besteht eine hohe Korrelation zwischen der PS-Verletzung und dem „ge“-Präfix am

Partizip, wogegen die semantische Information nicht vor dem Wortstamm verfügbar ist. Man

könnte also von einem interaktiven Standpunkt aus argumentieren, das eine hierarchische

Abhängigkeit auch in die andere Richtung herbeigeführt werden könnte, wenn man die

zeitliche Verfügbarkeit der kritischen Informationen innerhalb des Wortes umdreht. Ein

122 Hahne, A./Friederici, A.D., 2002. Differential task effects on semantic and syntactic processes as revealed by ERPs. Cognitive Brain Research 13: 339-356

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Untersuchung123 mit Sätzen wie „*Het vrouwtje veegde de vloer met een oude kliederde

(verschmutzt: -de zeigt Verb an und semantische Verletzung, wird vom Stamm angezeigt)

gemaakt van twijgen.“ Im kritischen Wort „kliederde“ ergibt sich also eine semantische

Verletzung (im Stamm) und eine der Wortkategorie (s. –de). Die Kategorieverletzung wurde

ca. 300ms nach der semantischen Verletzung deutlich – als „Kategorieverletzungspunkt“

bezeichnet. Es wurde eine N400 beobachtet, eine Reaktion auf den unpassenden Teil und

zwar mit einem Beginn noch vor dem Kategorieverletzungspunkt. Danach folgte eine

anteriore Negativität und eine späte Positivität, was wiederum als eine Widerspiegelung der

falschen Kategorie aufgrund des Suffix gesehen werden kann. Daraus kann man schließen,

dass die N400 die ELAN nicht blockieren kann.

In einer weiteren Untersuchung124 war das Suffix, das die Kategorieinformation trägt, in einer

Silbe mit dem Stamm, der ja die semantische Information beinhaltet:

a) Der Strauch wurde verpflanzt von einem Gärtner...

b) *Das Buch wurde verpflanzt von einem Verleger... (semantische Verletzung)

c) *Der Strauch wurde trotz verpflanzt von einem Gärtner... (PS-Verletzung)

d) *Das Buch wurde trotz verpflanzt von einem Verleger... (doppelte Verletzung)

Obwohl hier die semantische Information früher verfügbar war als die Information über die

Wortkategorie wurde für die doppelte Verletzung dasselbe Muster wie für die PS-Verletzung

beobachtet: eine (E)LAN und eine Positivität ohne eine N400. (In diesem Experiment war die

ELAN zeitlich verzögert, womit sie in einem Zeitfenster auftrat, das typischerweise mit einer

linken anterioren Negativität (LAN) in Verbindung steht. Diese etwas längere Latenz könnte

damit zusammenhängen, dass die kritische Information für die Wortkategorie im auditiven

Signal später auftrat. Das weist auf eine wichtige Überlegung hin, die man bei der

Interpretation von ERP-Daten beachten sollte: Komponenten-/Effekt-Latenzen sind eher

relativ als absolut; d.h. dass die Latenz eines Effekts sich abhängig von den

Präsentationsbedingungen (z.B. auditiv od. visuell) verändern kann und eben auch

Unterschiede in der Verfügbarkeit bestimmter Informationstypen von diesen Veränderungen

der Bedingungen abhängen.)

{Beachte: In Satz d) wäre aber „trotz“ an dieser Stelle grundsätzlich eine korrekte

Möglichkeit für die Fortführung des Satzes – hat das einen Einfluss? Wenn ja, welchen?}

123 van den Brink, D./Hagoort, P., 2004. The influence of semantic and syntactic context constraints on lexical selection and integration ind spoken word comprehension as revealed by ERPs. J. of Cognitive Neuroscience 16: 1068-1084124 Friederici, D.A./Gunter, T.C./Hahne, A./Mauth, K., 2004. The relative timing of syntactic and semantic processes in sentence comprehension. Neuroreport 15: 165-169

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Die beiden o.e. Experimente scheinen eher auf eine hierarchisch organisierte Struktur des

Verarbeitungssystems hinzuweisen, wobei die Verarbeitung der PS-Struktur die Verarbeitung

der „semantischen“ Information dominiert: ELAN-Effekte blockieren N400, aber eine N400

blockiert nicht den ELAN, auch wenn sie früher auftritt.

Der Vergleich der beiden Studien weist auch darauf hin, dass möglicherweise ein sogenanntes

„Integrationsfenster“ („integration window“) besteht, während dessen die Verletzung der

Wortkategorie die Verarbeitung der semantischen Information beeinflussen kann, selbst wenn

sie später auftritt125. (In diesem Sinne trat die Wortkategorieverletzung im Friederici et al.

Experiment innerhalb dieses Fensters auf, aber in der anderen Studie trat sie zu spät für dieses

Fenster auf.) Insgesamt weist dieses Datenmuster darauf hin, dass die Verarbeitungsstadien

eher kaskadierend organisiert sind denn strikt seriell, d.h. das 2. Stadium kann auf der Basis

eines teilweisen (und nicht vollständigen) Inputs aus dem ersten Stadium ausgelöst werden.

D.h. für eine kurze Zeit besteht ein Überlappung der Prozesse der beiden Stadien. Wenn ein

Problem mit der Wortkategorie innerhalb dieses Integrationsfensters auftritt und die

Verarbeitung auf Stadium 1 fehlschlägt, dann kann die semantische Verarbeitung noch

unterbrochen werden. Wenn nun aber die Verarbeitung auf Stadium 2 einen bestimmten

Punkt überschritten („point of no return“) hat, geht die semantische Verarbeitung weiter und

die N400 kann nicht weiter blockiert werden. Obwohl man derzeit über die genaue Größe

dieses Fensters nur spekulieren kann, so könnte doch die Unterscheidung der Silbengrenzen

(innerhalb der Silbe oder darüber hinausgehend) in den beiden Studien einen Ausgangspunkt

dafür bieten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese ERP-Ergebnisse die Annahme stützen, dass die

Konstituentenstrukturinformation andere Informationsarten, wie Semantik/Plausibilität

hierarchisch dominiert. Diese hierarchische Struktur wird typischerweise im zeitlichen

Vorausgehen widergespiegelt, aber das ist keine notwendige Voraussetzung. Somit zeigt

dieses Beispiel, dass Abhängigkeiten zwischen ERP-Komponenten in Hinblick auf die

Struktur des Verarbeitungsprozesses informativer zu sein scheinen als absolute Latenzwerte,

da diese aufgrund der Eigenschaften des Inputs variieren können.

Diese Schlüsse aus den ERP-Daten werden von Daten aus bildgebenden Verfahren gestützt126:

Bei der Untersuchung mit ähnlichen Strukturen wie oben, wurde festgestellt, PS-Verletzungen

eine erhöhte Aktivierung im anterioren Teil des linken G. temp. superior, im linken tiefen

125 s. dazu: Poeppel, D., 2003. The analysis of speech in different temporal integration windows: Cerebral lateralizations as ‚asymmetric sampling in time’. Speech Communication 41: 245-255126 Friederici, D.A./Rüschmeyer, S.-A./Fiebach, C.J./Hahne, A., 2003. The role of left inferior frontal and superior temporal cortex in sentence comprehension: Localizing syntactic and semantic processes. Cerebral Cortex 13: 1047-1132(?)

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frontalen Operculum und den linken Basalganglien hervorriefen, wogegen semantische

Verletzungen eine verstärkte Aktivierung im mittleren Teil des G. temp. superior und in der

anterioren Insel erzeugten. Beide Arten von Verletzungen zeigten eine Aktivierung im

posterioren linken G. temp. superior. Diese Ergebnisse weisen auf neuroanatomische Bereiche

hin, innerhalb derer Konstituentenstrukturinformation und semantische Information von

einander getrennt verarbeitet werden und eine weitere Region, die für beide Informationsarten

zuständig ist. Das scheint auch mit damit übereinzustimmen, dass die Konstituentenstruktur

von anderen Informationsarten dissoziiert werden kann, aber sie muss mit ihnen zu einem

bestimmten Zeitpunkt in der Verarbeitung interagieren, um eine vollständige Abbildung der

Form auf der Bedeutung zu ermöglichen.

Relationale Struktur

Die nächste Ebene der Abbildung von Form und Bedeutung betrifft die Beziehungen

(Relationen) zwischen den einzelnen Konstituenten im Satz. (S. die Beziehung zwischen

einem Verb und seinen Argumenten: wie viele? welche Typen (NP, PP...)? welche Kasus?

Übereinstimmung von Verb mit Argumenten bez. Numerus, Person, Genus.) Diese

Beziehungen bestehen nicht zwischen einem Element und seiner Position in der

Konstituentenstruktur, sondern zwischen verschiedenen Elementen innerhalb dieser Struktur:

So müssen z.B. in der PS-Struktur Konstituenten einen Kopf haben, aber so etwas besteht

nicht für eine Funktion wie „Subjektposition“. (Diese relationalen Eigenschaften werden von

den verschiedenen Grammatiktheorien auch unterschiedlich dargestellt: Chomskysche

Ansätze sehen sie als Teil einer spezifischen PS-Konfiguration (z.B. ein Akk-Objekt ist ein

Komplement des Verbs); andere Theorien sehen sie als Teil einer unabhängigen

Repräsentationsebene (z.B. „Lexical-Functional Grammar“127) oder ordnen sie dem Verbinden

von Form und Bedeutung zu (z.B. „Role and Reference Grammar“128).)

In ähnlicher Weise sind sich die psycholinguistischen Theorien nicht einig darüber, ob die

relationale Struktur gleichzeitig mit der Phrasenstruktur verarbeitet wird oder in einer post-

intialen Verarbeitungsphase (vgl. Diskussion bez. interaktive vs. modulare

Verarbeitungsmodellen). Somit unterscheiden sich die Modelle zur Satzverarbeitung entlang

zwei orthogonalen Dimensionen: a) ob die relationale Struktur aus den PS-Repräsentationen

abgeleitet werden kann oder ob sie einen unabhängigen Status hat und b) ob die beiden Typen

127 Bresnan, J., 2001. Lexical functional grammar. Oxford128 Van Valin, R.D. Jr., 2005. Exploring the Syntax-Semantics Interface. Cambridge

Page 65: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

von Information gleichzeitig verarbeitet werden oder nicht.

Nun gibt es Hinweise, dass die kombinatorischen Eigenschaften der relationalen Struktur

nicht vollständig von jenen der Konstituentenstruktur festgelegt werden. So weisen

Ergebnisse aus dem Bereich der sog. „enriched composition“ darauf hin, dass einige Aspekte

der Interpretation auf der Satzebene über die Kombination von Elementen der PS-Struktur

hinausgehen129:

a) Enriched composition (complement coercion)

The journalist began the article after his coffee break.

b) Control

The journalist wrote the article after his coffee break-

c) Anomalous

The journalist astonished the article after his coffee break.

Von Sätzen, die eine „enriched composition“ erfordern, wird angenommen, dass sie

zusätzlich Inferenzprozesse für die Verarbeitung einer implizierten Bedeutung benötigen130.

Ein Beispiel dafür ist a): Üblicherweise würde das Verb „begin“ ein Ereigniskomplement

erfordern (typischerweise durch eine VP ausgedrückt: „began to write a book“); wenn nach

„begin“ (wie in a)) eine (nicht-ereignishafte) Objekts-NP auftritt, wird diese NP sozusagen

von einer Entitätsrepräsentation in eine Ereignisrepräsentation „gezwungen“. Nun wird von

den Autoren argumentiert, dass die „Erzwingung“ keinen syntaktischen Prozess darstellt.

Zusätzlich werden Aktivierungen in unterschiedlichen Hirnarealen für andere Aspekte der

Satzverarbeitung (nämlich im sog. „anterioren Mittellinienfeld“, d.h. in einem

frontalmedianen Areal ungefähr an der Grenze zwischen BA 8 und BA 9) erzeugt. Sätze wie

a) beinhalten also Prozesse der (relationalen) semantischen Komposition, die nicht vollständig

aus der Konstituentenstruktur eines Satzes abgeleitet werden können.

Relationale Aspekte der Verb- und Verb-Argument-Verarbeitung

Die vom Verb herrührenden Abhängigkeiten können nun formal oder interpretativ sein.

Trotzdem ist aus empirischer Sicht die Grenze zwischen diesen beiden Bereichen nicht immer

ganz deutlich („clear cut“).

Kongruenz

Die wohl meisten Diskussionen bezüglich der Kongruenz betreffen die irrtümlichen Pl-

129 Pylkänen, L./McElree, B., 2007. An MEG study of silent meaning. J. of Cognitive Neuroscience 19: 905-921130 s. z.B. Jackendoff, R., 1997. The architecture of the language faculty. Cambridge, MA

Page 66: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

Verwendungen bei Verben, die unter bestimmten Umständen auftreten, so z.B. nach einer

komplexen Subjekt-NP wie „the key to the cabinets“ (Sg – Pl). Sie wurden sowohl in der

Produktion131 als auch im Verständnis132 festgestellt. Der umgekehrte Prozess, nämlich die

Verwendung des Sg nach einer Pl-Sg NP tritt nicht auf. Diese Asymmetrie wird

typischerweise dem Markiertheitsunterschied zwischen Sg und Pl zugeschrieben. (Solche

Studien wurden verwendet, um lineare Präzedenz mit hierarchischer Strukturbildung bei der

Sprachverarbeitung zu kontrastieren133 .)

Während die Diskussion der auf Merkmalen basierenden Interferenz hauptsächlich aufgrund

der Ergebnisse von Untersuchungen der Sprachproduktion entstanden ist, lag der

Hauptbereich der Untersuchungen bez. der Kongruenz im Sprachverständnis auf der

Disambiguierung von ambigen Sätzen. So wurde „agreement“ für die Disambiguierung des

Anschlusses von Relativsätzen in jenen Kontexten verwendet, in denen es mehrere potenzielle

Anschlussmöglichkeiten gab134. Beispiele (aus Frazier/Clifton, 1996, Kap. 4.4):

Agreement as a disambiguating feature:

Max met the only one of Sam’s employees...

a) ...who have teeth who drives a pickup truck.

b) ...who has teeth who drives a pickup truck.

Dabei wurde also eher untersucht, wie solche Kongruenzbeziehungen verwendet werden, und

nicht wie sie zustande kommen.

Mit den in zunehmenden Ausmaß vorhandenen neurokognitiven Methoden wurde stärker

Fragen nach der Verarbeitung von Kongruenz selbst gestellt. Dabei geht es vor allem darum,

ob Kongruenz als ein relationales syntaktisches Merkmal einerseits von der semantischen

Information dissoziiert werden kann und andererseits von der Konstituentenstruktur. Es ging

also darum distinkte neurokognitive Signaturen der Kongruenz gegenüber anderen Arten von

Information festzustellen. Dazu wurden wiederum Sätze einander gegenübergestellt, die sich

minimal unterschieden.

Es wird auch hier von der Annahme ausgegangen, dass ein Problem in einem bestimmten

Bereich (einer bestimmten Domäne) vermehrte Verarbeitungskosten innerhalb dieses

131 z.B.: Bock, K./Eberhart, K.M., 1993. Meaning, sound, and syntax in English number agreement. Language and Cognitive Processes 8: 57-99; Vigliocco, G./Nicol, J., 1998. Separating hierarchical relations and word order in language production: Is proximity concord syntactic or linear? Cognition 68: B13-B29132 z.B.: Nicol, J.L./Forster, K.I./Veres, C., 1997. Subject-verb agreement processes in comprehension. J. of Memory and Language 36: 569-587; Pearlmutter, N.J./Garnsey, S.M./Bock, K., 1999. Agreement processes in sentence comprehension. J. of Memory and Language 11: 427-456133 s. Pearlmutter, N.J., 2000. Linear versus hierarchical agreement feature processing in comprehension. J. of Psycholinguistic Research 29: 89-98134 Gilboy, E./Sopena, J.-M./Clifton, C., Jr./Frazier, L., 1995. Argument structure and association preferences in Spanish and English complex NPs. Cognition 54: 131-167; Frazier, L./Clifton, C., Jr., 1996. Construal. Cambridge, MA

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Bereichs erzeugt. Wenn also Kongruenz unterschiedlich von der semantischen Information

verarbeitet wird, so sollte sich dies in einer unterschiedlichen neurokognitiven Antwort auf

die Verletzung der Kongruenz im Vergleich zu einer semantischen Verletzung widerspiegeln.

Das dies der Fall ist wurde bereits von Kutas/Hillyard (1983)135 (z.B.: „some shells is even

soft.“)

Während semantische Verletzungen einen N400-Effekt hervorriefen, ergab der vergrößerte

Verarbeitungsaufwand bei Verletzungen von Kongruenz eine links anteriore Negativität

(LAN) [s. Abb. u.], d.h. einen Effekt, der ungefähr im selben Zeitbereich liegt wie die N400

aber mit einer davon verschiedenen topographischen Verteilung. Neuroanatomisch gesehen

hat sich gezeigt, dass solche Su – Verb Kongruenzverletzungen eine verstärkte Aktivierung in

der Pars opercularis (BA 44) des linken G. frontalis inferior hervorrufen136. Diese Korrelation

zwischen Su – V Kongruenzverletzungen und LAN-Effekten erwies sich als sehr konsistent,

wie eine Reihe von weiteren Untersuchungen zeigte:

Englisch: „Every Monday he mow the lawn.“137

Italienisch: „Il cameriereanziano servono con espressione distratta.138

Holländisch: „Het verwende kind gooien het speelgoed op the grond.“139

Deutsch: „Den Auftrag bearbeiten er dennoch.“140

135 Kutas, M./Hillyard, S.A., 1983. Event-related brain potentials to grammatical errors and semantic anomalies. Memory and Cognition 11: 539-550136 Newman, S.D./Just, M.A./Keller, T.A./Roth, J./Carpenter, P.A., 2003. Differential effects of syntactic and semantic processing in the subregions of Broca’s area. Cognitive Brain Research 16: 297-307137 Coulson, S./King, J.W./Kutas, M., 1998. Expect the unexpected: Event-related brain response to morphosyntactic violations. Language and Cognitive Processes 13: 21-58138 de Vincenzi, M./Job, R./Di Matteo, R./Angrilli, A./Penolazzi, B./Ciccarelli, L./Vespignani, F., 2003. Differences in the perception and time course of syntactic and semantic violations. Brain and Language 85: 280-296139 Hagoort, P./Brown, C., 2000. ERP effects of listening to speech compared to reading: the P600/SPS to syntactic violations in spoken sentences and rapid serial visual presentation. Neuropsychologia 38: 1531-1549140 Röhm, D./Bornkessel, I./Haider, H./Schlesewsky, M., 2005. When case meets agreement: Event-related potential effects for morphology-based conflict resolution in human language comprehension. Neuroreport 16: 875-878; Burkhardt, P./Fanselow, G./Schlesewsky, M., 2007. Effects of (in)transitivity on structure building and agreement. Brain Research 1163: 100-110

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Abb. (p. 119)

Weitere Ergebnisse scheinen darauf hinzuweisen, dass das Auftreten von LAN nicht auf die

Verarbeitung der Übereinstimmung von Subjekt – Verb beschränkt ist, sondern dass es sich

dabei um eine allgemeinere Reaktion auf die verstärkten Anforderungen bei der Verarbeitung

von solchen Übereinstimmungsrelationen handelt.

Beispiele:

Verb – Aux – Übereinstimmung (LAN + späte Positivität):

„Der Dichter hat gegangen.“ 141

Fehler im beim Partizip:

„Das Parkett wurde bohnere.“ 142

Was passiert nun, wenn sowohl eine semantische Verletzung als auch Formverletzung

auftritt?

„De vuile matten wurden door de hulp koken.“

die schmutzigen Türmatten wurden vom Hausmeister kochen.143

141 Rösler, F./Friederici, A.D./Pütz, P./Hahne, A., 1993. Event-related brain potentials while encounteringsemantic and syntactic constraint violations. J. of Cognitive Neurosience 5: 345-362142 Friederici, A.D./Pfeifer, E./Hahne, A., 1993. Event-related brain potentials during natural speech processing: Effects of semantic, morphological, and syntactic violations. Cognitive Brain Research 1: 183-192

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Interessanterweise zeigt sich für diese doppelte Verletzung ein additives Muster, d.h. ein

Muster, das eine N400 und eine LAN innerhalb desselben Bereichs aufweist, gefolgt von

einer späten Positivität. Das weist darauf hin, dass, im Gegensatz zu den Konflikten, die

während der Verarbeitung der Konstituentenstruktur auftreten, die zu einer Blockierung der

N400 führen, die Verarbeitung der relationalen Struktur (Übereinstimmung) zusammen mit

dem Erstellen der interpretativen Beziehungen erfolgt. (Diese Beobachtung passt zu den

Beobachtungen, dass eine LAN auch durch eine ELAN blockiert werden kann.144) Insgesamt

scheinen die Unterschiede zwischen ELAN und LAN darauf hinzuweisen, dass diese beiden

Komponenten auf zwei funktional getrennte Prozesse hinweisen145 .

Trotz des gemeinsamen Auftretens von LAN und N400 in einer zweiten Verarbeitungsphase,

weist die in der o.e. Untersuchung festgestellte additive Natur der Muster darauf hin, dass die

zwei Arten der Information parallel verarbeitet werden, aber nicht mit einander im zeitlichen

LAN/N400 Bereich (d.h. zwischen ca. 300 und 500 ms) interagieren. Es gibt allerdings

Hinweise darauf, dass eine solche Interaktion in den späteren Verarbeitungsstadien auftritt,

wie sich an der Interaktion von Übereinstimmung und semantischer Information in der

folgenden Positivität zeigt (s.a. o.e. Untersuchung Gunter et al.).

143 Gunter, T.C./Stowe, L.A./Mulder, G., 1997. When syntax meets semantics. Psychophysiology 34: 660-676144 Rossi, S./Gugler, M.F./Hahne, A./Friederici, A.D., 2005. When word category information encounters morphosyntax: An ERP study. Neuroscience Letters 384: 228-233145 andere Meinung: Lau, E./Stroud, C./Plesch, S./Phillips, C., 2006. The role of structural prediction in rapid syntactic analysis. Brain and Language 98: 74-88

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Neurokognitive Modelle des Sprachverständnisses

Das deklarative – prozedurale Modell

Das deklarative-prozedurale Modell146 stellt eine neurokognitive Implementierung einer

Architektur der Sprachverarbeitung dar, die zwischen lexikalischem Wissen und regel-

basierendem Wissen unterscheidet. Diese Unterscheidung (deklarativ – prozedural) erfolgt

aber nicht aus sprachinternen Gründen, sondern Ullman schlägt vor, dass diese

Differenzierung in die allgemeinere kognitive Unterscheidung zwischen deklarativem und

prozeduralem Gedächtnis eingebettet ist. So ist das deklarative Gedächtnis für die

Speicherung von Fakten („semantisches Gedächtnis“) und Ereignissen („episodisches

Gedächtnis“) verantwortlich. Es ermöglicht das schnelle Erlernen von assoziativen

Beziehungen und unterliegt dem bewussten Erinnern und andere Systeme können darauf

zugreifen. Im Gegensatz dazu umfasst das prozedurale Gedächtnis das Wissen über Abfolgen,

Handlungen und Fähigkeiten, sowohl in den sensorisch-motorischen Bereichen als auch den

kognitiven (z.B. das Erlernen des Fahrradfahrens). Es wurde vorgeschlagen, dass dieses

Wissen „informationsmäßig abgekapselt“ („informationally encapsulated“) ist, d.h. dass

andere Systeme nicht darauf zugreifen können und es auch nicht beeinflussen können. Es

kann auch nicht bewusst abgerufen werden.

Ullman nimmt auf nun Basis dieser Unterscheidung an, dass regelbasierenden sprachliches

Wissen (d.h. syntaktisches und regelhaftes morphologisches Wissen, aber auch Aspekte der

Phonologie und kompositionalen Semantik) ein Teil des prozeduralen Systems ist. Dagegen

ist lexikalisch gespeicherte Information (d.h. irreguläre Morphologie, lexikalische Semantik)

als deklarative Information repräsentiert. Somit beansprucht die sprachliche Verarbeitung in

diesen beiden Bereichen die neuronalen Netzwerke, die mit dem prozeduralen bzw.

deklarativen Gedächtnissystem in Beziehung stehen.

Vom Standpunkt der funktionalen Neuroanatomie aus betrachtet, wird das deklarative

Gedächtnissystem mit Strukturen im medialen Bereich des Temporallappens in Verbindung

gebracht, d.h. hippocampaler, parahippocampaler, entorhinaler und perirhinaler (BA 35, 36)

Cortex.

Das prozedurale System wird mit einem anderen neuronalen Netzwerk in Verbindung

gebracht, das frontale Bereiche (einschließlich der Pars opercularis und der P. triangularis des

G. frontalis inferior und prämotorischen Kortex), wie auch parietale, zerebellare und

146 Ullman, M.T., 2001. A neurocognitive perspective on language: The declarative/procedural model. Nature Reviews Neuroscience 2: 717-726; ders. 2004. Contributions of memory circuits to language: The declarative/procedural model. Cognitiion 92: 231-270

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Strukturen der Basalganglien einschließt. Innerhalb des deklarativ-prozeduralen Modells wird

nun angenommen, dass diese verschiedenen Netzwerke die Verarbeitung von

regelbasierendem bzw. lexikalischem (gespeichertem) Wissen unterstützen.

Allerdings wird keine vollständige neuronale Dissoziation zwischen den beiden Systemen

angenommen, sondern es wird von einer Anzahl von Überlappungen ausgegangen.

So nimmt Ullman an, dass die superioren temporalen Areale eine mögliche Interaktionsstelle

für das deklarative und das prozedurale Wissen darstellen könnten, da sie eine Rolle bei der

Speicherung von Typen von Information spielen könnten, die für prozedurale Aspekte der

Sprache relevant sind (z.B. phonologische Information und möglicherweise auch morpho-

syntaktische Information). Weiters wurden frontale Bereiche, einschließlich des G. front.

inferior und prämotorischen Kortex, von denen typischerweise angenommen wird, dass sie

Teile eines Netzwerkes bilden, das mit dem Arbeitsgedächtnis zusammenhängt, mit der

Enkodierung von neuen Gedächtnisinhalten und der Auswahl oder dem Abrufen von

deklarativem Wissen in Verbindung gebracht.

Nach Ullman (2004: 247) kann man sich diese Interaktion wie folgt vorstellen: „the

procedural system is hypothesized to build complex structures, and learn rule-governed

patterns over those structures, by selecting lexical items from declarative memory, and

maintaining and structuring those items together in working memory.“

Dazu nimmt Ullman eine weitere Untergliederung zwischen BA 6/44 einerseits und BA 45/47

andererseits an. Während angenommen wird, dass erstere Areale an der phonologischen

Verarbeitung beteiligt sind, wird angenommen, dass letztere eine ähnlich Rolle hinsichtlich

der Semantik spielen.

Zusätzlich zu den neuroanatomischen Annahmen schlägt Ullman auch vor, dass die

deklarativen und prozeduralen Sprachsysteme mit unterscheidbaren elektrophysiologischen

Verarbeitungskorrelaten in Verbindung stehen. So wird angenommen, dass sich Aspekte des

deklarativen Gedächtnisses in N400 Effekten widerspiegeln und regel-basiertes/

kombinatorisches Verarbeiten erzeugt linke anteriore Negativitäten. Späte Positivitäten

(P600) werden eher als kontrollierte denn als automatische Aspekte des prozeduralen

Gedächtnisses angesehen.

Ganz allgemein gesehen sind die groben neuroanatomischen Dissoziationen, die einen Teil

des deklarativ – prozeduralen Modells bilden, mit einem weiten Bereich von theoretischen

Annahmen über die funktionale Neuroanatomie der Sprachverarbeitung kompatibel.

Tatsächlich nehmen die meisten Modelle eine Art von Verbindung zwischen lexikalisch

gespeicherten Repräsentationen und Teilen des Temporallappens an, wogegen stärker

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„verrechnende“ oder „ kompositionale“ Aspekte der Sprache in den frontale Regionen zu

finden sind. Es gibt auch empirische Unterstützung für das Konzept von zwei

unterschiedlichen Gedächtnissystemen, die beide strukturierte Aspekte desselben sprachlichen

Inputs lernen können. Ullman schlägt dazu vor (2004: 247), dass : „rapid lexical/declarative

storage of sequences of lexical forms should provide a database from which grammatical rules

can gradually and implicitly be abstracted by the procedural memory system.“

Bei fMRI Untersuchungen zum Lernen von artifiziellen Grammatiken wurde eine erhöhte

hippokampale Aktivität während der frühen („ähnlichkeits-basierenden“) Lernstadien

beobachtet und eine erhöhte inferior frontale/ventrale prämotorische Aktivierung während der

späteren („regel-basierenden“) Stadien147. Was mit den neuroanatomischen Annahmen des

deklarativ-prozeduralen Modell übereinstimmt.

Allerdings gibt es in diesem Modell auch andere etwas problematischere Annahmen. Einer

diese Punkte betrifft die Rolle der Basalganglien bei der Sprachverarbeitung. Einerseits gibt

es durchaus unterstützende Hinweise, dass diese Strukturen bei der Verarbeitung von

Rhythmus und Takt eine Rolle spielen148 und auch bei Aspekten der Sequenzierung149.

Allerdings wurde auch festgestellt, dass Dysfunktionen der Basalganglien nicht

notwendigerweise zu selektiven Defiziten bei der Verarbeitung von prozeduralem Wissen wie

regulärer Präteritalmorphologie führen muss150. (Niki Diss.) So weisen eine Reihe von

Ergebnissen darauf hin, dass die Basalganglien in kontrollierten Aspekten der

Sprachverarbeitung involviert sind, wie etwa die Hemmung von nicht präferierten

Repräsentationen. Solche Beobachtungen sind zumindest problematisch für Ullmans

allgemeine Konzeption des prozeduralen Systems.

Die Stärken dieses Modells liegen in den gut begründetet Annahmen bezüglich der

neuroanatomiscchen Untermauerungen des allgemeinen sprachlichen Systems. Damit bietet

es weitere Spezifizierungen der anatomischen, physiologischen (und biochemischen)

Substrate und der funktionalen Rollen, die diese Substrate in der Sprache spielen (Ullman

2004: 248). Von dieser Perspektive her bietet das deklarativ-prozedurale Modell einen

nützlichen Rahmen für die auf der Neuroanatomie basierenden Verbindung zwischen der

147 Opitz, B./Friederici, A.D., 2003. Interactions in the hippocampal system and the prefrontal cortex inlearning language-like rules. Neuroimage 19; dies. 2004. Brain correlates of language learning: The neuronal dissociation of rule-based versus similarity-based learning. The Journal of Neuroscience 24: 8436-8440148 z.B.: Grahn, J.A./Brett, M., 2007. Rhythm and beat perception in motor areas of the brain. J. of Cognitive Neuroscience 19: 893-906149 Schubotz, R.I./von Cramon, D.Y., 2001. Interval and ordinal properties of sequences are associated with distinct premotor areas. Cerebral Cortex 11: 210-222150 Longworth, C.E./Keenan, S.E./Barker, R.A./Marslen-Wilson, W.D./Tyler, L.K., 2005. The basal ganglia and rule-governed language use: Evidence from vascular and degenerative conditions. Brain 128: 548-596

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Sprache und allgemeineren kognitiven Funktionen. Allerdings scheint es manchmal, als ob

diese kognitiv und neuronale Motiviertheit auf Kosten weniger genauerer

psycholinguistischen Erklärungen geht, da ja die Unterscheidung zwischen deklarativem und

prozeduralem Wissen sehr allgemein ist und somit etwas unterspezifiziert hinsichtlich

sprachinternen Begriffen ist. Dies passiert im Prinzip bei allen Arten von Information, die

nicht eindeutig als entweder regel-basierend oder lexikalisch abgespeichert kategorisiert

werden können – d.h. von den zugrundeliegenden „Wörter und Regel“-Schema abweichen.

So ist nicht klar, wie Phänomene am Interface zwischen Syntax und Semantik wie etwa die

Repräsentationen von thematischen Rollen oder Wortstellung innerhalb des deklarativ-

prozeduralen Modells implementiert werden sollten. Da dieses Modell keinen spezifischen

Annahmen bezüglich der genauen Natur der sprachlichen Repräsentation, auf die während der

Verarbeitung zurückgegriffen wird, bietet, kann das zu Schwierigkeiten bezüglich der

Klassifikation eines spezifischen Phänomens als deklarativ oder prozedural führen.

Als Beispiel möge die Wortstellung dienen: Die meisten generative Ansätze gehen davon aus,

dass die Variationen in der Wortstellung mittels Bewegungsoperationen (d.h. einer Subklasse

von linguistischen Regeln) abgeleitet werden, womit die Verarbeitung der Wortstellung ein

eindeutig prozedurales Phänomen ist. Allerdings gibt es auch andere Modelle, die die

Umstellungen von Wörtern nicht aus einer syntaktischen Bewegung ableiten, sondern sie

erklären die Markiertheit von Strukturen mit Objekten am Anfang mittels anderer Faktoren,

z.B. eine erhöhte „Verbindungskomplexität“ („complexity of linking from syntax to

semantics“) von der Syntax zur Semantik151 oder die geringere Häufigkeit von Objekt-zuerst

Konstruktionen152. Im Rahmen der Ansätze, die auf „linking“ basieren, ist es nicht klar, ob zu

erhöhten Verarbeitungskosten, die von Umstellungen erzeugt werden, dem prozeduralen oder

dem deklarativen Bereich zugerechnet werden sollten. Wenn man von der Häufigkeit ausgeht,

dann würde eher deklaratives als prozedurales Gedächtnis involviert sein. somit ergeben sich

in Abhängigkeit von der bevorzugten grammatischen Theorie unterschiedliche

neuroanatomische Ansätze und Annahmen.

Gewisse Probleme ergeben sich auch in bezug auf die elektrophysiologischen Annahmen

dieses Modells. Im Grunde genommen entsprechen sie den klassischen Interpretationen von

mit der Sprache in Verbindung stehenden EKP-Komponenten (z.B. entsprechen LAN-

Effekte der kompositionalen Verarbeitung einer Beschreibung; N400-Effekte stehen in

151 Bresnan, J., 2001. Lexical functional Grammar. Oxford; Fanselow, G., 2001. Features, -roles, and free constituet order. Linguistic Inquiry 32: 405-427; Van Valin, R.D., 2005. Exploring the Syntax-Semantic Interface. Cambridge CUP152 Goldberg, A.E., 2003. Constructions: A new theoretical approach to language. Trends in Cognitive Sciences 7: 219-224

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Beziehung zu lexikalischem/assoziativem Wissen). Allerdings ist diese strikte Klassifikation

nicht mehr mit dem gesamten Bereich der festgestellten Ergebnisse nicht ganz kompatibel. Im

speziellen gibt es Hinweise darauf, dass N400-Effekte auch kombinatorische Prozesse

widerspiegeln könnten. Das wäre im Rahmen des deklarativ-prozeduralen Modells völlig

unerwartet.

Ein weiteres Problem ergibt sich hinsichtlich der späten positiven Effekte (P600). Zusätzlich

zur Korrelation mit der syntaktischen Reanalyse (d.h. kontrolliertes Verwenden von

prozeduralem Wissen) spiegeln diese Effekte auch nicht übereinstimmende

Wohlgeformtheiten („well-formedness mismatches“) wider und sie entstehen aufgrund der

erhöhten Kosten des Abbildens von unterschiedlichen Typen von Information auf einander. In

diesem Sinne ist eine klare „prozedurale“ Interpretation dieser Komponente (oder Familie von

Komponenten) etwas zu eng. Im Lichte dieser Überlegungen ist es äußerst schwierig

elektrophysiologische Voraussagen aus dem deklarativ-prozeduralem Modell abzuleiten.

Das MUC-Modell (memory, unification, and control)

Dieses Modell von Hagoort153 nimmt an, dass das neuronale Sprachsystem aus drei

grundlegenden Komponenten besteht: Gedächtnis („memory“), Verbindung („unification“)

und Kontrolle („control“). Die Gedächtniskomponente, die für die Speicherung der

sprachlichen Repräsentationen und ihrem Abrufen zuständig ist, ist primär im linken

temporalen Kortex verankert. Dagegen dient die Verbindungskomponente dem Verbinden der

aus dem Gedächtnis abgerufenen zu komplexeren Repräsentationen. Aus neuroanatomischer

Sicht wird angenommen, dass dieser Vorgang von den linken inferioren frontalen Regionen

(BA 44/45/47) und dem linken prämotorischen Kortex (BA 6) unterstützt wird. Die

Kontrollkomponente soll das Faktum erklären, dass das sprachliche System im Rahmen von

kommunikativen Absichten und Handlungen agiert („...the fact that the language system

operates in context of communicative intentions and actions“ (Hagoort 2005: 421)). Darin

sind Funktionen enthalten wie die Planung von Handlungen und aufmerksamkeitsgesteuerte

Kontrolle/Hemmung, von denen angenommen wird, dass dazu Areale des dorsolateralen

präfrontalen Kortex (BA 46/9) und der anteriore G. cinguli herangezogen werden.

In Hinblick auf eine Anzahl von neuroanatomischen Annahmen finden wir hier eine

Übereinstimmung mit dem deklarativ-prozeduralen Modell: Beide Modelle gehen von einer

grundlegenden Unterscheidung zwischen der Speicherung der Repräsentationen im

153 Hagoort, P., 2003. How the brain solves the binding problem for language: A neurocomputational model of syntactic processing. Neuroimage 20: S18-S29; 2005. On Broca, brain, and binding: a new framework. Trends in Cognitive Sciences 9: 416-423

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temporalen Kortex und der kombinatorischen Verarbeitung in den inferioren frontalen

Bereichen aus. Ein Unterschied besteht darin, dass die Gedächtniskomponente des MUC-

Modells auch Abrufmechanismen beinhaltet, wogegen diese im deklarativ-prozeduralen

Modell dem prozeduralen System zugeordnet werden und sich daher eher in inferior frontalen

Aktivierungen als in temporalen widerspiegeln. Im MUC-Modell wird weiters davon

ausgegangen, dass die Mechanismen der kognitiven Kontrolle eine getrennte Komponente

innerhalb des sprachlichen Netzwerks darstellen, wogegen sie im deklarativ-prozed. Modell

einen Teils des prozeduralen Systems darstellen.

Eine weitere Übereinstimmung zwischen diesen beiden Modellen besteht darin, dass der linke

inferiore frontale Kortex während der Sprachverarbeitung die kombinatorischen Operationen

unterstützt. Allerdings besteht der Unterschied nun darin, dass wir im dekl.-prozed. Modell

einen sehr allgemeinen Begriff von „regelbasierender“ Verarbeitung haben; dagegen stützt

sich das MUC-Modell auf den Begriff der „Verbindung“ („unification“) wie sie von einem

anderen Modell des Sprachverständnisses vorgeschlagen wurde154.

{Exkurs: In diesem Modell werden syntaktische Strukturen im Lexikon als „vor-

zusammengestellte“ („pre-compiled“) Repräsentationen („syntaktische Rahmen“) gespeichert.

Dieses Modell ist isofern rein lexikalistisch als alle syntaktischen Rahmen an jeweiligen

lexikalischen Repräsentationen gebunden sind (z.B. Satzrahmen stehen in Verbindung mit

den jeweiligen Verben). Damit werden in diesem Modell keine lexikalisch unabhängigen

kombinatorischen Regeln angenommen, ausgenommen eventuell der Verbindungsprozess

selbst. Während des Verständnisprozesses werden die syntaktischen Rahmen aus dem

Lexikon abgerufen und mittels der Verbindungsprozesses miteinander kombiniert. Zu

größeren „Verarbeitungskosten“ im Verbindungsprozess kommt es dann, wenn verschiedene

Verbindungsverweise mit einander konkurrieren, z.B. bei Objektrelativsätzen im Englischen,

wenn die beiden präverbalen NPs miteinander bezüglich der Verbindung mit der

Subjektfunktion/ dem Knoten konkurrieren.}

Bezüglich des Neuroanatomischen wird nun vorgeschlagen, dass das Speichern und Abrufen

der syntaktischen Rahmen vom posterioren Teil des linken superioren temporalen Kortex

gestützt wird und die Verbindung der Muster („binding“) durch die linkern inferioren

frontalen Areale erfolgt. Das MUC-Modell geht über die Vorschläge des Basismodells

(Vosse/Kempen, 2000) insofern hinaus als der Verbindungsprozess („unification“) als die

grundlegende kombinatorische Operation für alle Bereich der sprachlichen Verarbeitung

angenommen wird, d.h. auch in der Phonologie und Semantik wie eben in der Syntax. Es wird

154 Vosse, T./Kempen, G.A.M., 2000. Syntactic assembly in human parsing: A computational model based on competitive inhibition and lexicalist grammar. Cognition 75: 105-143

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angenommen, dass alle diese Verbindungsoperationen von den linken inferioren frontalen

Regionen gestützt werden, wobei der verschiedenen Informationsarten einer

neuroanatomischen „Abstufung“ unterliegen: der phonologische Verbindungsprozess wird

mit dem ventralen prämotorischen Kortex (BA 6) und der Pars opercularis im linken G.

frontalis inf. assoziiert; der syntaktische Prozess stützt sich auf die Pars opercularis und Pars

triangularis (BA 44/45) und der semantische Prozess wird mit der Pars triangularis und Pars

orbitalis (BA 45/47) assoziiert. Allerdings ist dazu anzumerken, dass im Gegensatz zur relativ

deutlichen Darstellung des syntaktischen Verbindungsprozesses (s. Vosse/Kempen, 2000), die

Verarbeitungsschritte, die den phonologischen und semantischen Verbindungsprozessen

zugrunde liegen noch nicht klar definiert sind155.

Einen weiteren wichtigen Aspekt in diesem Modell stellt die Überlegung dar, dass diese

Verbindungsprozesse nicht nur innerhalb sondern auch zwischen den sprachlichen Bereichen

stattfinden. Entsprechend dieser Sichtweise wird angenommen, dass der linke G. frontalis

inferior eine wichtige Rolle dabei spielt, die verschiedenen Informationsarten aus den

verschiedenen Bereich mit einander zu verknüpfen. Ein zentraler Gedanke dabei : Es besteht

keine hierarchische Dominanz eines Typus von Information über einen anderen. Das MUC-

Modell nimmt an, dass alle Informationstypen vom Anfang des Verständnisprozesses an mit

einander interagieren. Zwar ist dies die zentrale Annahme dieses Modells, allerdings gibt es

noch keine Spezifizierung, wie diese Mechanismen aussehen.

Diese Annahme einer unmittelbaren Interaktion zwischen verschiedenen Arten von

Information (einschließlich Diskurskontext, die Sprache begleitende Gesten, Informationen

über die Sprecher etc.) geht auf eine Reihe von EKP- sowie fMRI-Studien zurück. Z.B.

stellten Hagoort et al.156 die Verarbeitung von lexikalisch-semantischer Information dem

Weltwissen gegenüber (Anm. die Züge in den Niederlanden sind typischerweise gelb):

a) The Dutch trains are white and very crowded. (Verletzung des Weltwissens)

b) The Dutch trains are sour and very crowded. (semantische Verletzung)

c) The Dutch trains are yellow and very crowded. (Kontrollbedingung)

Sowohl die semantische Verletzung als auch die Verletzung des Weltwissens riefen N400-

Effekte (300-550ms) hervor, die sich von einander nicht in ihrer Topographie oder der Latenz

des Beginns bzw. der Spitze unterschieden. Weiters ergaben sich für beide Verletzungen eine

verstärkte Aktivierung im linken G. frontalis inferior (BA 44/47). Dies wird als Hinweis

darauf interpretiert, dass nicht zuerst die Bedeutung eines Satzes bestimmt wird und danach

155 Allerdings bezüglich semantischer Verbindungsprozesse: Hagoort, P./van Berkum, J.J.A., 2007. Beyond sentence given. Philosophical Transactions of the Royal Society B 362: 801-811156 Hagoort, P./Hald, L./Bastiaanse, M./Petersson, K.M., 2004. Integration of word meaning and world knowledge in language comprehension. Science 304: 438-441

Page 77: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

erst wird die Bedeutung in bezug auf das Weltwissen verifiziert.

Weitere Ergebnisse in diese Richtung157 (vgl. „peanut“-Beispiel) weisen darauf hin, dass das

sprachliche Verarbeitungssystem eine äußerst große Flexibilität und Anpassungsfähigkeit in

Hinblick auf die Integration eines einzelnen Wortes in die Gesamtbedeutung einer Äußerung

aufweist.

Allerdings finden sich auch Untersuchungsergebnisse, die nicht so einfach in diese Annahme

einer „Ein-Schritt-Interpretation“ – d.h. das alle verfügbaren Einflüsse von Anfang an

verarbeitet werden – einordnen lassen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dieser Ansatz des MUC-Modells durchaus

weitreichende Konsequenzen in bezug auf das Verständnis der Neurokognition der Sprache

mit sich bringt. Allerdings sind auch hier weitere Spezifizierungen in einigen Bereichen

notwendig, wobei vor allem der Aspekt der Verbindung („unification“) der verschiedenen

Domänen und seine neuronalen Korrelate besonders interessant sind als sich darin das MUC-

Modell von allen anderen neurokognitiven Ansätzen zur Sprachverarbeitung unterscheidet.

Das neurokognitive Modell des auditiven Satzverständnisses

(The neurocognitive model of auditory sentence comprehension)

Dabei handelt es sich um einen Ansatz, der dem MUC-Ansatz diametral gegenüber steht. Die

Basis zu diesem Ansatz liefert das entsprechende Modell von Friederici158. Dieses Modell

geht davon aus, dass das On-line-Sprachverständnis strikt hierarchisch erfolgt, was einer

neurokognitiven Implementierung der „klassischen“ Annahmen einer 2-stufigen

Verarbeitung159 entspricht. Weitere detailliertere neurophysiologische Daten führten zu einer

Erweiterung hinsichtlich der Annahmen über die Architektur, nämlich zu einem

Verarbeitungsmodell mit drei Phasen: Phase 1: Aufbau der auf Wortkategorien basierende

Phrasenstruktur; gefolgt von Phase 2: morphosyntaktische und lexikalisch-semantische

Verarbeitung sowie Zuweisung der thematischen Rollen und schließlich, Phase 3: Reanalyse-,

Reparatur- und Integrationsprozesse. Die formalen und interpretativen Eigenschaften werden

in der Phase 2 zwar parallel aber unabhängig von einander verarbeitet bevor sie in der Phase 3

157 Hagoort, P./van Berkum, J.J.A., 2007. Beyond the sentence given. Philosophical Transactions of the Royal Society B 362: 801-811158 Friederici, A.D., 1995. The time course of syntactic activation during language processing: A model based on neuropsychological and neurophysiological data. Brain and Language 50: 259-281; dies. 1999. The neurobiology of language comprehension. In: A.D. Friederici (ed.), Language Comprehension: A Biological Perspective. Springer Vlg.: 263-301; dies. 2002. Towards a neural basis of auditory sentence processing. Trends in Cognitive Science 6: 78-84159 Frazier, L./Fodor, J.D., 1978. The sausage machine: A new two-stage parsing model. Cognition 6: 291-326; Frazier, L./Rayner, K., 1982. Making and correcting errors durind sentence comprehension: Eye movements in the analysis of structurally ambigous sentences. Cognitive Psychology 14: 178-210

Page 78: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

miteinander interagieren. Alle diese Annahmen in bezug auf die Architektur spiegeln sich

direkt in entsprechenden Korrelaten der elektrophysologischen Verarbeitung wider. Ein

Verarbeitungsfehler in Phase 1 führt zu einer ELAN; wogegen semantische und

morphosyntaktische Verarbeitungskosten in der Phase 2 zu N400- und LAN-Effekten führen.

Die P600-Komponente, die von syntaktischer und semantischer Information beeinflusst wird,

spiegelt die Reanalyse-/Reparatur- und Integrationsprozesse der 3. Phase wider. Entscheidend

dabei ist, dass ein Fehler bei einem Schritt in der Verarbeitung in einer Phase die Anwendung

der folgenden Phase blockiert (z.B. die Blockierung einer N400 auf eine semantische

Verletzung durch die ELAN aufgrund einer Verletzung der PS-Struktur).

In bezug auf die funktionale Neuroanatomie der Sprachverarbeitung geht das neurokognitive

Modell von einem Netzwerk in den linken inferioren frontalen und linken superioren

temporalen Regionen aus, wobei die syntaktischen und semantischen Prozesse

unterschiedliche Netzwerke des gesamten sprachlichen Systems nutzen. Dabei nützt die

syntaktische Verarbeitung den anterioren Teil des G. temp. sup., den inferioren Teil des BA

44 und das frontale Operculum und das semantische Netzwerk umfasst dem mittleren Teil des

G. temp. sup., den G. temp. medius und BA 45/47. Beide System interagieren im posterioren

Teil des linken G. temp. superior.

Des weiteren geht Friedericis Model insofern über die beiden o.e. Ansätze hinaus als es auch

versucht die Prosodie einzubeziehen. Es besteht allgemeine Übereinstimmung, dass die

Verarbeitung der Prosodie in einem größeren Ausmaß als die syntaktische oder semantische

Verarbeitung rechtshemisphärische Bereiche beansprucht. Im speziellen wird angenommen,

dass Tonhöhe für sich allein genommen innerhalb der rechten Hemisphäre verarbeitet wird,

wobei die linke Hemisphäre miteinbezogen wird, wenn es sich um stärker sprachliche

Aspekte der Tonhöhe handelt160. Das Zusammenspiel der beiden Hemisphären für die

Integration der verschiedenen Informationsarten – so wird angenommen – erfolgt über das

Corpus callosum161.

{kritische Anmerkung: p. 287: „local transitions“ und „long distance hierarchies“}

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die grundlegende Architektur dieses Modells bis

jetzt eigentlich noch nicht falsifiziert wurde. Im speziellen scheint die Annahme der

sukzessiven, hierarchisch organisierten Verarbeitungsphasen mit den unterscheidbaren

neurophysiologischen und neuroanatomischen Korrelaten derzeit die beste Annäherung an die

Struktur der menschlichen Spracharchitektur zu sein. Trotzdem könnten sich einige weitere

160 Friederice, A.D./Alter, K., 2004. Lateralization of auditory language functions: A dynamic dual pathway model. Brain and Language 89: 267-276161 Friederici, A.D./von Cramon, D.Y./Kotz, S.A., 2007. Role of the corpus callosum in speech comprehension: Interfacing syntax and prosody. Neuron 53: 135-145

Page 79: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

Spezifikationen ergeben, vor allem was die Beziehung zwischen Phase 1 und 2 betrifft und

die dort erstellten Repräsentationen.

The extended argument dependency model (eADM)

Abschließend soll noch kurz ein weiteres Modell besprochen werden, das von den Autoren

der Arbeiten, die die Basis für den 2. Teil der VO bilden, entwickelt wurde162. Das eADM-

Modell wurde ursprünglich aus einer Erweiterung des Modells von Friederici entwickelt

(Bornkessel, 2002). Aufgrund der weiteren Entwicklungen entstand eine eigene Architektur

der Sprachverarbeitung (Bornkessel/Schlesewsky, 2006). Dieses Modell hat mit dem von

Friederici weiterhin gemeinsam, dass die Satzverarbeitung hierarchisch organisiert ist und in

3 grundlegende Phasen gegliedert werden kann. Das eADM-modell unterscheidet sich vom

Friederici-Modell in Hinblick auf die funktionale Charakterisierung der Phasen.

Ein weiterer Unterschied zu den andern Modellen besteht darin, das dieses Modell das

explizite Ziel hat sprachübergreifend („cross-linguistic(ally)“) adäquat zu sein. Diese

Überlegung ist dadurch motiviert, dass die Sprachen der Welt sich deutlich darin

unterscheiden, wie eine Oberflächenstruktur eines Satzes auf einer Interpretation abgebildet

wird. Um dem gerecht zu werden, nimmt das eADM-Modell prinzipielle Trennung an

zwischen der Phrasenstruktur, die nur die Wortkategorien enkodiert, und der relationalen

Struktur, die die Relationen zwischen den Argumenten und dem Verb sowie den Argumenten

selbst enkodiert.

Um nun die Argumente interpretieren zu können – wenn dies also ohne Bezug auf eine

bestimmte Position erfolgt – wird in diesem Modell angenommen, dass die Argumente

hierarchisch gereiht sind und ihnen allgemeine semantische Rollen zugeschrieben werden,

wie etwa Agens oder Patiens (hier: „Actor“ und „Undergoer“). Die Zuschreibung dieser

Reihung bzw. der Rolle erfolgt mit Bezug auf eine Reihe („set“) von sprachübergreifend

motivierten Informationsarten (bezeichnet als „Prominenzinformation“) und ihren

sprachspezifischen Gewichtungen wie sie in einer „Interfacehypothese der inkrementellen

Argumentinterpretation spezifiziert werden“.

Diese inkrementelle Argumentinterpretation, d.h. die Identifizierung der Rolle und die

Feststellung der Prototypikalität der Rolle, erfolgt durch ein Syntax-Semantik-Interface, d.h.

mit Bezug auf ein sprachübergreifend definiertes Set von Prominenzskalen und ihrer 162 Bornkessel, I., 2002. The Argument Dependency Model: A neurocognitive approach to incremental interpretation. Leipzig: MPI Series in Cognitive Neuroscience; Bornkessel, I./Schlesewsky, M., 2006. The Extended Argument Dependency Model: A neurocognitive approach to sentence comprehension across languages. Psychological Review 113: 787-821; Bornkessel-Schlesewsky, I./Schlesewsky, M., 2009. The role of prominence information in the real time comprehension of transitive constructions: A cross-linguistic approach. Language and Linguistic Compass 3: 19-58

Page 80: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

sprachspezifischen Gewichtung: Beispiele aus den relevanten Prominenzskalen:

Argumentabfolgen (Arg. 1 >Arg. 2), Belebtheit (+bel. > -bel.), Definitheit (+def > -def);

(weitere morphologische Kasusmarkierung, Person).

Allgemein gesehen dient die Prominenzinformation dazu, Argumente auf einer

Argumenthierarchie abzubilden und zwar so, dass prominentere Argumente bevorzugt als

Agens interpretiert werden und weniger prominente als Patiens („Undergoer“). In den derzeit

psycholinguistisch untersuchten Sprachen kann die Information, die für diese Abbildung

relevant ist, in 2 Klassen aufgeteilt werden: Die primäre Prominenzinformation dient dazu,

die Agens – Patiens („actor – undergoer“) Hierarchie festzulegen; z.B. in Sprachen wie dem

Englischen bestimmt die Position eines Arguments im Satz vollständig seine Interpretation als

Agens oder Patiens; die modulierenden Prominenzskalen bestimmen nun wie gut das

Argument und die ihm zugeschriebene Rolle zusammenpassen: So ist z.B. ein unbelebtes

Agens weniger optimal als ein belebter – sogar in Sprachen, die unbelebte Agens erlauben.

Auf diese Weise wird die Argumentinterpretation unabhängig von der Position in der PS und

unabhängig vom Verb festgelegt.

Ursprünglich wurde die Beziehung zwischen den 3 Verarbeitungsstadien als strikt seriell

angesehen, aber neuere Entwicklungen gehen in die Richtung einer kaskadierenden

Architektur; d.h. das Verarbeitungsstadium n muss nocht nicht vollständig beendet sein bevor

das nächste Stadium, n+1, beginnt. Allerdings bleibt die Architektur weiterhin strikt „feed-

forward“, d.h. dass das Verarbeitungsstadium n+1 keinen Einfluss auf das Stadium n haben

kann.

In bezug auf die neurokognitive Architektur übernimmt dieses Modell die Annahmen für das

Stadium 1 vom Friederici-Modell: Die Unfähigkeit eine PS-Repräsentation auf der Basis der

Wortkategorieinformation zu erstellen, spiegelt sich in einer ELAN und einer verstärkten

Aktivierung innerhalb des linken frontalen Operculum bzw. linken anterioren G. temp.

superior wider. Im Stadium 2 führen die größeren Kosten der Verarbeitung der

Argumentprominenz und des Verbindens der Argumente zu N400 Effekte und erhöhter

Aktivität innerhalb des linken S. temp. superior. Im Gegensatz dazu führt eine

Nichtübereinstimmung („mismatch“) zwischen der Argumentprominenz und der linearen

Abfolge zu einem N400-ähnliche Effekt mit einer etwas stärker anterioren Verteilung und

verstärkter Aktivität in der Pars opercularis des linken G. front. inferior.

(LAN-Effekte im Stadium 2 (z.B. als Reaktion auf Su – V Kongruenzverletzungen) werden

als Ergebnis einer prinzipiellen Nichtübereinstimmung zwischen Prominenz und

Verbindungserfordernissen angesehen, d.h. sie treten auf, wenn die Verbindung zwischen

Page 81: Grammatikalische Störungen bei Aphasie€¦  · Web viewSo weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 1990), dass Probleme bei der Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender

verb-unabhängigen und verb-spezifischen Hierarchien nicht funktioniert.

Die Verarbeitung im Stadium 3 umfasst 2 Schritte, die beide sich in späten positiven EKP-

Effekten widerspiegeln. Der erste ist ein „allgemeines Abbilden“ („generalized mapping“)

zwischen der Prominenz-/Verbindungs-Information aus dem 2. Stadium und

prominenzunabhängiger Information wie Frequenz, Weltwissen, Prosodie, Diskurskontext

etc. und lexikalisch-semantischen Assoziationen. In einem zweiten Schritt wird die

Wohlgeformtheit des Satzes bewertet und zwar auf eine aufgaben- und umgebungsspezifische

Art und Weise.

Das eADM-Modell versucht (und kann ?) sprachübergreifende Ähnlichkeiten und

Unterschiede in Neurokognition der Sprachverarbeitung und ihre Ableitung der Phänomene

im Bereich des Syntax-Semantik-Interface (z.B. Wortstellung, Kasusmarkierung usw.) zu

erklären.