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Grammatikalische Störungen bei Aphasie
Einleitendes
Eine Aphasie kann die verschiedenen Komponenten des Sprachsystems selektiv stören und
zwar sowohl in der Produktion als auch im Verständnis. So kann in einem Fall die Fähigkeit
gestört sein, Wörter einer bestimmten lexikalischen Klasse (z.B. Verben, Nomen, Adjektive,
Adverbien) – Elemente der sog. „offenen Klasse“ - zu verwenden, wogegen die Fähigkeit,
die grammatikalisch relevanten Wörter der sog. „geschlossenen Klasse“ (z.B. Präpositionen,
Artikel, grammatikalische Morpheme (Prä-, Suffixe, usw.), Auxiliarverben) erhalten
geblieben ist. Die Störung kann aber auch das umgekehrte Bild zeigen, was dann zu
Problemen bei der Verarbeitung der grammatikalischen Strukturen führt. (Weitere
Bezeichnung für diese beiden Klassen: „Inhaltswörter“ vs. „Funktionswörter“.)
In der Literatur finden wir für jene Störungen, die ein grammatikalisches Defizit aufweisen,
die Bezeichnungen: Agrammatismus und Paragrammatismus. Ganz allgemein wird ein
sprachlicher Output als agrammatisch bezeichnet, wenn sehr häufig Artikel, Präpositionen,
Auxiliare und Flexionen ausgelassen werden. In manchen Fällen kann somit das Sprechen des
Patienten auf kurze Sätze mit Wörtern ohne personale Flexionsendungen (im Dt.) beschränkt
sein (z.B.: „Dann...Krankenhaus... kommen.“). Beim Paragrammatismus hingegen finden wir
keine solche „Verarmung“ der grammatikalischen Struktur, dafür aber oftmals falsch
verwendete Tempora, Fehler in der Genuszuweisung und bei den Kasussuffixen, und auch die
Verwendung falscher Präpositionen. {Beispiele: Hartje/Poeck: 113 bzw. 118/9}
Agrammatismus als ein Defizit der Produktion
Die ersten Hypothesen zum Agrammatismus gingen davon aus, dass der Agrammatismus
typischerweise ein Produktionsdefizit darstellt, da ja grammatikalische Morpheme
ausgelassen werden, die syntaktischen Strukturen der Sätze vereinfacht und die Phrasen
insgesamt ebenfalls wesentlich verkürzt werden, wobei das Verständnis offensichtlich nicht
besonders gestört ist. Bei den meisten Fällen ließ sich auch beobachten, dass der
Agrammatismus zusammen mit Dysarthrie, artikulatorischen Anstrengungen und einer
Verringerung der Sprechgeschwindigkeit auftritt. Alle diese Symptome zusammen sind
typisch für die Broca-Aphasie.
Bereits Pick (1913)1 schlug eine Erklärung für das agrammatische Sprechen vor, obwohl er es
nu als ein Symptom der motorischen Aphasie ansah. Dabei unterschied er zwischen dem sog.
1 A., Die agrammatischen Sprachstörungen. Berlin
„Pseudoagrammatismus“ und dem „echten“ Agrammatismus. Im ersten Fall ergeben sich die
unvollständigen syntaktischen Strukturen nicht aus einem sprachlichen Defizit, sondern sind
ein Ergebnis der motorischen Aphasie und dem damit verbundenen verringerten verbalen
„Antrieb“. Beim „echten“ Agrammatismus hingegen ist die Produktionsstörung von der
motorischen Aphasie unabhängig und ergibt sich aus der Unfähigkeit grammatikalische
Strukturen zu erzeugen, die mit den abstrakten Satzstrukturen, die der Patient bildet,
übereinstimmen. Aufgrund dieses Konstruktionsdefizits wendet der Patient ein
„Ökonomieprinzip“ an und produziert nur mehr die (inhaltlich) „wichtigsten“ Wörter.
Nach Isserlin (1922)2 stellt die agrammatische Sprechweise eine Anpassung an die
Artikulationsschwierigkeiten dar und ergibt sich aus einer Verringerung der Anstrengung. Da
das Sprechen sehr anstrengend ist, plant der Patient absichtlich nur sehr einfache Sätze, aus
denen er für die Produktion nur jene herausgreift, die zur Vermittlung der jeweiligen
Kommunikationsabsicht notwendig sind. Auf diese Weise entsteht der sog. „Telegrammstil“
im Agrammatismus. Diese Überlegung, dass diese Phänomene aufgrund einer gewissen
Ökonomie der Anstrengung beim Sprechen beruht, wurde in ähnlicher Weise später wieder
aufgenommen (Kolk/Heeschen3).
Die Arbeiten Jakobsons (1956)4 waren die ersten, in denen nicht von klinischen Intuitionen
oder empirischen Beobachtungen ausgegangen wurde, sondern von einer Theorie des
ungestörten sprachlichen Systems. Nach Jakobson erfordert die normale
Sprachproduktion, dass zwei sprachliche Dimensionen ungestört funktionieren: die
paradigmatische Achse und die syntagmatische Achse. Analysen der Spontansprache von
agrammatischen Patienten ließen Jakobson zum Schluß kommen, daß die Störung bei
agrammatischen Patienten als eine Störung der Kontiguität zu interpretieren sind. Die
typische bei diesen Patienten zu beobachtende Störung ergibt sich aus einer Störung der
syntagmatischen Ebene, wobei allerdings die Verwendung der paradigmatischen Ebene
erhalten bleibt. Nach Jakobsons Überlegungen spielt das oft zusammen mit Agrammatismus
auftretende artikulatorische Defizit keine besondere Rolle in der Entstehung dieser Störung.
Die Vorschläge zur Interpretation des agrammatischen Defizits von Goodglass (1976)5 sind
von den Symptomen beeinflusst, die bei einer agrammatischen Broca-Aphasie auftreten.
Während – wie wir gesehen haben – Isserlin annimmt, dass die Vereinfachung der Sätze
bereits in einem frühen (Satz-)Planungsstadium auftritt, geht Goodglass davon aus, dass
2 M., Über Agrammatismus. Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie 75: 322-4103 H.H.J./C., Adaptation symptoms and impairment symptoms in Broca’s aphasia. Aphasiology 4: 221-2324 R., Fundamentals of Language. New York5 H., Agrammatism. In: Whitaker,H./Whitaker,H.A., Studies in Neurolinguistics, Vol.1. New York
dieses Defizit erst zu einem späteren Zeitpunkt entsteht. Sein Überlegungen gehen dahin, dass
die Fähigkeit zur Satzplanung – sogar von komplexen Sätzen – erhalten ist, aber die
Aktivierungsschwelle für das Beginnen und Fortführen des Sprechens ist als Folge der
Hirnschädigung pathologisch erhöht. Von den im Planungsstadium ausgewählten Elemente
erreichen nur die „hervorstechendsten“ die Aktivierungsschwelle und werden somit
produziert. Obwohl also die agrammatischen Patienten grundsätzlich in der Lage sind, auch
komplexe Sätze zu planen, können sie nur die Wörter produzieren, die am salientesten sind
und die stärkste Betonung aufweisen – also Elemente, die eine besondere phonologische
Stellung einnehmen oder auch affektiven Wert besitzen.
Diese Hypothese wurde durch eine Reihe von Untersuchungen unterstützt, z.B. Goodglass et
al. (1972)6, die eine Aufgabe verwendeten, bei der Sätze vervollständigt werden mussten,
indem entsprechende grammatikalische Morpheme zu verwenden waren. Bei einem Subtest
wurden Fragesätze verwendet, die bejaht und verneint zu produzieren waren. Dazu mussten
die Vpn. die grammatikalischen Formen „do/did/“ und „don’t/didn’t“ verwenden. Da alle
diese Wörter am Anfang der Sätze auftreten und die Verneinung komplexer ist, sollten die
Leistungen bei den affirmativen Fragen besser sein als bei den negierten. Allerdings waren
die Ergebnisse bei der untersuchten Vpn. genau entgegengesetzt – es ergaben sich bei den
negierten Frage bessere Ergebnisse. Dieses scheinbar paradoxe Ergebnis wurde so erklärt: Im
Gegensatz zu „do/did“ am Satzanfang sind „don’t/didn’t“ phonologisch salienter, denn sie
sind – im Vergleich zu „do/did“ stärker betont. Erstere werden daher besser produziert, da sie
eher die notwendige hohe Produktionsschwelle erreichen.
Agrammatismus als ein Defizit zentraler Mechanismen
Die o.e. Theorien sehen im Agrammatismus ein Produktionsdefizit. Aber es wurden auch
Beziehungen zwischen der agrammatischen Produktion und dem Verständnis beobachtet, was
dazu führte, dass andere Autoren zu anderen Schlüssen kamen. Im Sinne der o.e. erwähnten
Überlegungen müsste man davon ausgehen, dass der rezeptive Agrammatismus und der
produktive Agrammatismus von einander unabhängige Defizite darstellen, aber es bestehen
eben auch andere Erklärungsmöglichkeiten.
In einer Untersuchung (Zurif/Caramazza/Myerson, 19727), bei der agrammatische Broca-
Patienten zuerst unterschiedlich lange und komplexe Sätze vorgelegt wurden und danach 3-
Wort-Phrasen aus diesen Sätzen, bei denen sie beurteilen mussten, welche 2 Wörter enger
6 H./Gleason,J.B./Bernholtz,N.A./Hyde,M.R., Some linguistic structures in the speech of a Broca’s aphasic. Cortex 8: 191-2127 E.B./A./R., Grammatical judgements of agrammatic aphasics. Neuropsychologia 10: 405-417
zusammengehören, stellte sich heraus, dass die Patienten die grammatischen Wörter anders
bewerteten als die gesunden Kontrollpersonen. So betrachteten die agrammatischen Patienten
in der Kombination „The baby cries“ die Elemente „baby“ und „cries“ als am stärksten mit
einander verbunden, wogegen es in der Kontrollgruppe die Wörter „the“ und „baby“ waren.
In einer anderen Untersuchung (Goodenough/Zurif/Weintraub, 19778) wurden Broca-
Patienten und gesunden Kontrollpersonen bunte Plättchen gezeigt. Im Rahmen einer
Reaktionszeitstudie sollten die Vpn. Sätze wie „Touch the blue circle!“ oder „Touch a blue
circle!“ nachspielen. Die vorgegebenen Stimuli bestanden manchmal aus einem blauen Kreis
und zwei Plättchen von anderer Farbe oder Form, oder aus zwei blauen Kreisen und einem
andersfärbigen oder geformten. Die Anordnung der Stimulussätze ergab pragmatisch korrekte
Anordnungen („the“ bei einem Kreis und „a“ bei zwei Kreisen) und pragmatisch inkorrekte
(„the“ bei zwei Kreisen und „a“ bei einem Kreis). Die Kontrollpersonen reagierten auf die
nicht korrekten Sätze langsamer als auf die korrekten, dagegen reagierten die Patienten in
beiden Fällen gleich schnell. Dies zeigt, dass die Kontrollpersonen auf die nicht korrekte
Verwendung des Determinators reagierten.
Bei einem Satzverständnistest (Heilman/Scholes, 19769) mit agrammatischen BR-, Leitungs-
und Wernicke-Patienten wurden Sätze wie folgende präsentiert „She gives her baby the
pictures.“ und „She gives her the baby pictures.“, wobei es darum geht, die syntaktische
Struktur zur Interpretation zu nutzen – im speziellen die Stellung von „the“. Zur Überprüfung
des Verständnisses wurden Bilder benützt. Die agrammatischen Patienten wiesen wesentlich
schlechtere Ergebnisse auf als die anderen Patientengruppen.
In einer weiteren Studie (Caramazza/Zurif, 197610) wurden Patienten mit verschiedenen
Aphasiesyndromen mit einem Satz-Bildverifikationstest untersucht. Dabei bestanden die
Stimulussätze aus semantisch reversiblen Relativsätzen („The boy that the girl is chasing is
tall.“), semantisch irreversiblen Relativsätzen („The apple that the girl is eating is red.“),
semantisch nicht korrekten Sätzen („The boy that the dog is carressing is fat.“) und
Kontrollsätzen („The girl is eating a red apple.“). Wenn nun der Stimulus ein semantisch
reversibler Satz war und das Ablenkerbild die vom Stimulus umgekehrte Situation darstellte,
dann waren die Ergebnisse der Broca-Patienten mit agrammatischem Sprechen im
Zufallsbereich. Bei den semantisch nicht korrekten Sätzen lagen ihre Ergebnisse ebenfalls im
Zufallsbereich. Bei beiden Arten von Sätzen hängt das korrekte Verstehen von der richtigen
8 C./E.B./S., Aphasics‘ attention to grammatical morphemes. Language and Speech 20: 11-199 K.M./R.J., The nature of comprehension errors in Broca’s, conduction, and Wernicke’s aphasics. Cortex 12: 258-26510 A./E.B., Dissociation of algorithmic and heuristic processes in language comprehension: Evidence from aphasia. Brain and Language 3: 572-582
Verarbeitung der grammatikalischen Morpheme ab. Dieselben Vpn. wiesen korrekte
Leistungen bei den irreversiblen und bei den Kontroll-Sätzen auf.
Viele Studien weisen darauf hin, dass der Agrammatismus auf ein zentrales Defizit
zurückgeführt werden könnte. Diese Studien versuchen nicht nur das gemeinsame Auftreten
von Störungen im Verständnis und in der Produktion bei ein und demselben Patienten
nachzuweisen, sondern auch, dass die agrammatischen Patienten dieselben Wörter weder im
Verstehen noch im Sprechen verarbeiten können. Diese Beobachtungen führten zur
Hypothese (Caramazza/Zurif, 1976), dass das agrammatische Defizit auf die Störung eines
grammatikalischen Prozessors, der sowohl beim Verstehen als auch bei der Produktion von
grammatikalischen Morphemen eingesetzt wird, zurückzuführen ist. Wenn also dieser
Prozessor gestört ist, dann wird versucht über andere Strategien zu einem Verständnis zu
gelangen, etwa über heuristische Strategien, was aber bei reversiblen Sätzen nicht
funktionieren kann. Diese Hypothese war die erste, die auf die Annahme zurückzuführen ist,
dass der Agrammatismus ein einheitliches und zentrales Defizit darstellt, d.h. dass er auf der
Schädigung einer Komponente des Sprachsystems beruht, die sowohl im Verstehen als auch
in der Produktion eine Rolle spielt.
Eine ähnliche Hypothese wurde auch von Bradley/Garrett/Zurif (1980)11 vorgeschlagen, die
mit agrammatischen Patienten und nicht-gestörten Kontrollpersonen einen lexikalischen
Entscheidungstest durchführten, bei dem Inhaltswörter (Nomen, Verben, Adjektive) und
grammatikalische Wörter als Stimuli dienten. Bei der Kontrollgruppe waren die
Reaktionszeiten auf die Inhaltswörter von der Häufigkeit des Stimulus abhängig, aber nicht
die Reaktionszeiten auf die grammatikalischen Wörter. Dagegen waren die Reaktionszeiten
der Patienten sowohl bei den Inhaltswörtern als auch bei den grammatikalischen Wörtern von
der Häufigkeit ihrer Verwendung abhängig. Diese Ergebnisse wurden als Unterstützung für
die Annahme gewertet, dass die Probleme mit den grammatikalischen Wörtern sowohl das
Verständnis als auch die Produktion betreffen. Dabei wird das agrammatische
Verständnisdefizit zumindest teilweise auch auf eine Störung jenes Mechanismus
zurückgeführt, der für den lexikalischen Zugang zu den Wörtern der geschlossenen Klasse
verantwortlich ist. Allerdings konnte die Ergebnisse dieser Studie in einer anderen
(Gordon/Caramazza, 198212) nicht wiederholt werden.
Eine andere Interpretation des agrammatischen Defizits mit den Wörtern der sog.
11 D.C./M.F./E.B., Syntactic deficits in Broca`s aphasia. In: Caplan, D. (ed.) Biological studies of mental processes. Cambridge, MA12 B./A., Lexical decision for open- and closed-class items: Failure to to replicate differential frequency sensitivity. Brain and Language 15: 143-160
„geschlossenen“ Klasse geht dahin (Kean, 197713, Kean, 197914), dass diese Patienten nicht in
der Lage sind, die unbetonten Elemente eines Satzes zu verarbeiten. Anzumerken ist zu
diesem Problem, dass in mehreren Sprachen grammatikalische Morpheme auch unbetont
vorkommen können, so ist z.B. im Italienischen die prosodische Kontur in den beiden Sätzen
gleich: 1) „La bambina acarrezza la bambola.“ 2) (Auslassen der Artikel): „Bambina
accarezza bambola.“ Was in solchen Fällen zu keinem Verständnis-Problemen führen würde.
Somit könnte – wie Kean annimmt – ein phonologisches Defizit zu einer grammatischen
Störung der Produktion und des Verständnisses führen, wenn diese „schwach-„ bzw. „nicht-
„ betonten Wörter nicht verarbeitet werden. Dies zeigt sich etwa bei einem engl.-sprechenden
Aphasiepatienten bei der Produktion von „Plural –s“ bzw. „3.Person –s“, was wiederum von
der Syllabizität abhängig zu sein scheint. So zeigte sich, dass ein agrammatischer Patient das
auslautende –s ausließ, wenn sich dadurch keine Veränderung der Silbenstruktur ergab („pack
vs. packs“), dagegen wurde das auslautende –s weniger oft ausgelassen, wenn sich daraus
eine neue Silbe ergab („horse – horses“).
Wenn wir uns nun dem Verständnis zuwenden, dann könnte das Problem der Verarbeitung
von phonologisch „schwachen“ Wörtern eine unvollständige Repräsentation des Satzes
ergeben, was zu den beobachteten Verständnisdefiziten führen könnte. Natürlich sind dies
Hypothesen, aber sie sind zumindest – nach Jakobson – ein weiterer Versuch das für den
Agrammatismus verantwortliche Defizit durch eine linguistische Theorie zu erklären.
Die bisher besprochenen Hypothesen haben zumindest zwei Merkmale gemeinsam: Einmal
versuchen sie den Agrammatismus durch die Störung einer zentralen Komponente zu
erklären, woraus sich die Störung im Verständnis und der Produktion ergibt. Weiters handelt
es sich dabei um Theorien über die sog. „Funktionswörter“, die sich auf die Funktion (und
allen damit verbundenen sprachlichen Aspekte, wie geringere Betonung etc.) dieser Elemente
in einem Satz beziehen.
Trotzdem sollte noch auf eine weitere Hypothese hingewiesen werden, die sich auch auf ein
zentrales Defizit von agrammatischen Patienten bezieht (Saffran/Schwartz/Marin, 198015,
Schwartz/Saffran/Marin, 198016): Diese Theorie bezieht sich nicht auf die Funktionswörter,
sondern es geht um die „Abbildung von thematischen Rollen“ („thematic role mapping
deficit“). In den Untersuchungen wurden agrammatische Patienten getestet, inwieweit sie
13 M.L., The linguistic interpretation of aphasic syndromes: Agrammatism in Broca`s aphasia, an example. Cognition 5: 9-4614 M.L., Agrammatism, a phonological deficit? Cognition 7: 69-8315 E.M./M.F./O.S.M., The word order problem in agrammatism II: Production. Brain and Language 10: 263-28016 M.F./E.M./O.S.M., The word order problem in agrammatism I: Comprehension. Brain and Language 10: 249-262
semantisch reversible Sätze verstehen bzw. produzieren konnten, und zwar sowohl im Aktiv
als auch im Passiv. Bei den Verständnisaufgaben wurde ein Bildzuordnungstest (2 Bilder)
verwendet, wobei der Ablenker die umgekehrte Rollenverteilung aufwies (z.B.: „Der Hund
jagt die Katze.“ bzw. vice versa). Bei den Produktionsaufgaben wurden dieselben Bilder
verwendet und die jeweilige Vpn. musste den Vorgang auf dem Bild beschreiben. Das
Ergebnis: Bei beiden Tests wurden die thematischen Rollen von agrammatischen Patienten
häufig vertauscht und bei den Produktionstests wurden häufig die thematischen Rollen falsch
zugeordnet sowie auch Funktionswörter ausgelassen. Aus diesen Ergebnisse wurde
geschlossen, dass es sich beim agrammatischen Defizit nicht um rein eine syntaktische
Störung handelt, sondern dass es eher die Unfähigkeit ist, die grammatikalischen und
semantischen Rollen zu erkennen bzw. abzubilden – und das sowohl im Bereich der
Produktion als auch des Verständnisses.
Dissoziationen zwischen Produktion und Verständnis
Bei den bisher besprochenen Hypothesen wird von einer gemeinsame Störung der Produktion
und des Verständnisses ausgegangen. Allerdings gibt es auch Untersuchungen, die zu andern
Ergebnissen kommen. So finden sich zahlreiche Studien, die auf eine Dissoziation im
Störungsbild zwischen Produktion und Verständnis hinweisen. So trat bei manchen Patienten
die grammatikalische Produktionsstörung nicht zusammen mit einem grammatischen
Verständnisdefizit auf (z.B.: Bastiaanse, 199517, Caramazza/Hillis, 198918). In anderen
Studien (z.B.: Caramazza/Berndt/Basili/Koller, 198119) wird die umgekehrte Störung
beschrieben – agrammatisches Verständnis ohne Produktionsdefizite. Solche Beobachtungen
führten zu einer weiteren Revision der Interpretation der grammatischen Störungen bei
Aphasie. Wenn das gemeinsame Vorhandensein von Defiziten im Verständnis und in der
Produktion nicht funktional notwendig ist, dann könnte die agrammatische Produktion sich
aus einer Störung von Mechanismen ergeben, die von jenen verschieden sind, deren Störung
zum Verständnisdefizit führt – und umgekehrt. In diesem Fall müsste man davon ausgehen,
dass die Mechanismen, die bei der Produktion der grammatikalischen Aspekte der Sprache
involviert sind, zumindest teilweise verschieden sind von jenen, die beim Verstehen benützt
werden.
17 R., Broca`s aphasia: A syntactic and/or a morphological disorder? A case study. Braina and Language 48: 1-3218 A./A.E, The disruption of sentence production: Some dissociations. Brin and Language 36: 625-65019 A./R.S./A./J., Syntactic processing deficits in aphasia. Cortex 17: 333-348
Analysen grammatischer Produktionsdefizite
Wie wir gesehen haben, bestanden und bestehen die verschiedensten Überlegungen bezüglich
der Natur des Agrammatismus. So wurde er als reines Produktionsdefizit betrachtet, dann
wieder als ein Defizit, das die Produktion und das Verständnis gleichermaßen betrifft, und
manchmal wurde die Beziehung zwischen den Produktions- und Verständnisfehlern als rein
statistisches Problem betrachtet. Die agrammatischen Symptome wurden auf ein Problem mit
den Funktionswörtern (phonologisch, lexikalisch oder syntaktisch, je nach Autor)
zurückgeführt, oder auch auf ein Defizit im semantischen System oder auf ein Defizit in der
Verbindung („Interface“) zwischen dem semantischen und dem grammatikalischen System.
Um nun zwischen den verschiedenen Erklärungsversuchen zu unterscheiden, wurden die
verschiedensten Untersuchungen durchgeführt, wo man sich vor allem auch auf möglichst
genaue Analysen des abweichenden sprachlichen Verhaltens der agrammatischen Patienten
stützt. Mit Hilfe eines solchen Verfahrens – möglichst genaue und detaillierte Beschreibungen
des agrammatischen Sprechens – hoffte man das Defizit besser beschreiben zu können und
dies sollte zu einem besseren Verständnis dieses Defizits führen.
So seltsam es auch klingen mag, eine solche ausführliche Analyse der agrammatischen
Produktion war notwendig, da es anfänglich nur wenig Datenmaterial gab und diese Daten
nur von Englisch sprechenden Patienten stammten. In der Folge wurden detaillierte Studien
für zahlreiche Sprachen durchgeführt. {s. Menn, Lise/Obler, Lorainne,K. (eds.) 1990
Agrammatic Aphasia. 3Bde}
Es stellte sich natürlich heraus, dass die Probleme mit den Funktionswörtern das Kennzeichen
des Agrammatismus schlechthin darstellen – kein Wunder, wenn das Auslassen von
grammatikalischen Morphemen ein Kriterium für die Klassifikation des Agrammatismus
darstellt. Aufgrund der sprachübergreifenden Untersuchungen konnte eine Differenzierung in
der Behandlung von freien und gebundenen grammatikalischen Morphemen beobachtet
werden. So wurde festgestellt, dass freie grammatikalische Morpheme von agrammatischen
Aphasiepatienten unabhängig von ihrer Sprache ausgelassen werden, wogegen die
gebundenen grammatikalischen Morpheme je nach Sprache unterschiedlich behandelt
werden. Die ursprünglich Annahme, dass auch gebunden grammatikalische Morpheme
ausgelassen werden, entwickelte sich aus Beispielen wie dem folgenden. Wenn z.B. ein
Englisch sprechender Aphasiepatient einen Satz wie „Boy run“ produziert – statt „The boy
runs“, so sieht das natürlich so aus, als wäre die Flexionsendung für die 3. Person Sg.
ausgelassen worden, aber es könnte genauso eine Ersetzung sein – Infinitiv statt flektierte
Verbform – denn im Englischen sind diese Formen (und auch weitere) nicht von einander
unterscheidbar. Vergleicht man dazu deutsch sprechende Agrammatiker, dann lässt sich
feststellen, dass es in den Fällen, wo beim Verb ein gebundenes Flexionselement auftreten
sollte, dieses durch das Suffix ersetzt wird, das auch den Infinitiv signalisiert. Dies gilt nicht
nur für das Deutsche, sondern wir finden solche Beispiele auch in anderen Sprachen, wie z.B.
im Italienischen: Statt „I bambini corrono“ produzieren italienische Patienten: „Bambino
correre“; so zeigen auch die entsprechenden Studien zum Italienischen, dass alle Fehler, die
agrammatische Patienten bei den gebundenen Morphemen machen, Ersetzungen sind (z.B.
Miceli et al. 198920). Aufgrund dieser und weiterer Studien geht man heute allgemein davon
aus, dass die freien Morpheme ausgelassen werden und die gebundenen ersetzt werden.
Weiters wurde auch beobachtet, dass agrammatische Patienten mit den Verben auch dann
Probleme haben, wenn sie die Wurzel (Basis) produzieren sollen und nicht nur bei den
Flexionsendungen (s. Miceli et al. 1989).
Ein weiteres Problem, das in der Sprache der agrammatischen Patienten beobachtet werden
kann, betrifft die Wortstellung, dabei handelt es sich um eine Umstellung der thematischen
Rollen. In solchen Fällen wird z.B. ein Bild, auf dem eine Katze einem Hund nachläuft, mit
einem Satz wie „Hund nachlaufen Katze“ beschrieben. (Vgl. oben die „heuristischen“
Strategien!)
Ganz allgemein haben diese Analysen des agrammatischen Sprechens zu einer
vollständigeren und besseren Beschreibung geführt, wobei sich auch durchaus
unterschiedliche Merkmale beobachten lassen. Abgesehen von den Problemen mit den
grammatikalischen Morphemen wurden aber keine weiteren Symptome gefunden, die bei
allen Patienten, die als agrammatisch klassifiziert werden, auftreten.
Ein weiterer Aspekt ist die Vereinfachung von syntaktischen Strukturen, zwar lässt sich das
bei vielen Agrammatikern beobachten, doch manche produzieren auch ziemlich komplexe
Strukturen. Dieses Beispiel (s. Kopie) zeigt deutlich wie unterschiedlich die syntaktischen
Strukturen der als agrammatisch klassifizierten Patienten sind. Das erste Beispiel enthält viele
untergeordnete Sätze; das zweite weist unabhängige Sätze auf, die durch koordinierende
Konjunktionen verbunden sind; und im dritten treten holophrastische Äußerungen auf.
Ein weiteres „klassisches“ Symptom des Agrammatismus stellte die verringerte Länge der
Phrasen dar. Allerdings zeigte sich in einer Untersuchung der spontanen Produktionen
italienischer Agrammatiker (Miceli et al. 1989), daß die durchschnittliche Länge der Phrasen
bei den verschiedenen Patienten zwischen 3,1 und 10,5 Wörtern variierte; wobei der letzte
20 G./Silveri,M.C./Romani,C./Caramazza,A., Variation in the patternof omissions and substitutions of grammatical morphemes in the spontaneous speech of so-called agrammatic patients. Brain and Language 36: 447-492
Wert nicht von der durchschnittlichen Länge der kognitiv nicht-gestörten Kontrollpersonen
abwich. Ein weiteres typisches – bzw. als typisch angesehenes – Merkmal waren Probleme
mit den Verben, was bei manchen Patienten zu schweren Problemen bei der Produktion von
Sätzen führen konnte; allerdings kann dieses Symptom bei anderen Patienten vollständig
fehlen (vgl. ital. Beispiel: G.F. lässt keine Verben aus). Ein letztes Beispiel für die Variabilität
der Symptome betrifft die Wortstellungsprobleme: So finden wir Studien, in denen häufig
Wortstellungsprobleme auftreten; in anderen wiederum treten nur wenige solche Fehler auf
und in manchen (Miceli et al. 1989) überhaupt keine. (Thematische Rollenvertauschungen).
Das beobachtete Verhalten von agrammatischen Patienten kann sich aus verschiedenen
unterschiedlichen Defiziten herleiten, wobei diese Defizite manchmal nicht die Grammatik
betreffen. So weisen Studien darauf hin (z.B. Zingeser/Berndt, 199021), dass Probleme bei der
Produktion von Verben nicht nur in zusammenhängender Rede zu beobachten sind, sondern
auch beim Benennen, lauten Lesen und beim Schreiben, wo es um die Produktion von Verben
als Einzelwörter geht. So tendierten die Patienten dazu beim Benennen die Verben zu
Nominalisieren („to pray“ > „the prayer“) und manchmal waren sie überhaupt nicht in der
Lage eine Antwort auf die abgebildete Handlung zu geben. Ebenso ließen sich eher schlechte
Leistungen beim mündlichen und schriftlichen Benennen von Handlungen beobachten, was
für Nomen nicht gilt. Solche Beobachtungen führen nun zur Annahme, dass zumindest
teilweise dieses Problem mit dem Abrufen von Verben in der Spontansprache auf ein
lexikalisch-semantisches Defizit zurückzuführen ist, das eventuell unabhängig von den
Störungen bei der Produktion von syntaktischen Strukturen bzw. grammatikalischen
Morphemen ist.
Wesentlich problematischer ist die Interpretation der Produktionen, wo offensichtlich die
thematischen Rollen vertauscht sind. Wenn also ein Bild, das eine Katze, die einem Hund
nachläuft, zeigt, mit dem Satz „Hund verfolgen Katze“ beschrieben wird, dann stellt sich die
Frage, wie kommt dieser Fehler zustande. Liegt dieser Produktion eine allgemeine Inversion
der thematischen Rollen zugrunde, wobei auch ein Problem mit den grammatikalischen
Morphemen verbunden ist; d.h. wollte der Patient „Der Hund verfolgt die Katze“ produzieren,
was eine Rollenvertauschung enthält und zusätzlich das Auslassen der Artikel und die
Verwendung des Infinitivs. Andererseits könnte die eigentliche Produktion auch auf ein
Problem mit den grammatischen Morphemen zurückzuführen sein, wenn der Patient nämlich
einen Satz wie „Der Hund wird von der Katze verfolgt“ produzieren wollte, aber die
Morphologie des Passivs nicht produzieren kann. Es wären aber auch noch Probleme mit
21 L./R.S., Retrieval of nouns and verbs in agrammatism and anomia. Brain and Language 39: 14-32
grammatischen Morphemen und dem Abrufen des Verbs möglich, dass er also einen Satz wie
„Der Hund läuft der Katze voraus“ produzieren wollte, aber Probleme beim Abrufen des
korrekten Verbs hatte (plus die zusätzlichen Probleme mit den grammatischen Morphemen).
Somit können also Probleme, die an der Oberfläche als eine Inversion von thematischen
Rollen auftreten, auf unterschiedliche Defizite zurückgehen, die nicht unbedingt die
grammatikalische Ebene betreffen müssen.
Paragrammatische Produktion
Der Paragrammatismus ist wesentlich weniger häufig untersucht worden als der
Agrammatismus, trotzdem ergeben sich aus den wenigen Studien auch einige sehr
interessante Fragestellungen.
Der Begriff Paragrammatismus wurde von Kleist (191422) für eine Störung als Folge einer
linken temporalen Läsion verwendet, die dadurch charakterisiert war, dass Fehler bei der
Auswahl und bei der Anordnung von Wörtern und grammatikalischen Formen auftraten.
Nach Kleist stellen diese Arten von Fehlern in deutlichem Gegensatz zu jenen bei
Agrammatismus dar, der gekennzeichnet ist durch eine „Verarmung“ der Syntax, dem
Auslassen von grammatikalischen Wörtern und dem sog. „Telegrammstil“.
Die Unterscheidung zwischen Agrammatismus und Paragrammatismus ist in der Literatur
auch weiterhin aufrecht. Allerdings waren die Versuche, die Eigenschaften, durch die sich die
beiden Phänomene unterscheiden, genau zu definieren, weniger erfolgreich. So wurden in
frühen Untersuchungen (Goodglass/Mayer, 195823, Goodglass/Hunt, 195824) beobachtet, dass
Auslassungen und Ersetzungen von grammatikalischen Morphemen häufiger im
agrammatischen Sprechen als im paragrammatischen Sprechen auftraten; allerdings wurde
auch eine große Überlappung der Fehler bei den Patienten festgestellt. Weiters wurde auch
beobachtet, dass der eigentliche unterscheidende Parameter, der die agrammatischen Patienten
von den paragrammatischen unterscheidet, die Tendenz der Agrammatiker ist, sehr kurze
Sätze zu produzieren – wobei sie sich auch von den anderen Formen der Aphasie ohne
grammatikalische Fehler unterscheiden. In einer Studie (Butterworth/Howard, 198725), in der
die Spontansprache von Kontrollpersonen und 5 Aphasiepatienten, die aufgrund der
grammatikalischen Fehler in ihrem flüssigen und neologistischen Sprechen als
paragrammatisch klassifiziert worden waren, untersucht wurde, wurde die Produktion der
Inhaltswörter, der grammatikalischen Wörter, der Flexionen sowie die Produktion der
22 K., Aphasie und Geisteskrankheit. Münchener medizinische Wochenschrift 61: 8-1223 H./J., Agrammatism in aphasia. Journal of Speech and Hearing Disorders 23: 99-11124 H./J., Grammatical complexity and aphasic speech. Word 14: 197-20725 B./D., Paragrammatism Cognition 26:1-37
syntaktischen Strukturen untersucht. Die Fehler, die bei den paragrammatischen Vpn.
beobachtet werden konnten, entsprachen jenen, die auch bei den Kontrollpersonen zu finden
waren, allerdings traten sie wesentlich häufiger auf. Aber auch all jene Fehler, die für den
Agrammatismus typisch sind, wurden auch bei den paragrammatischen Sprechern festgestellt.
Aus diesen Beobachtungen wurde geschlossen, dass die Fehler, die im Paragrammatismus
beobachtet werden können, nicht auf einer grammatischen Störung beruhen – wie bei
Agrammatikern – sondern ihre Ursache in einer Störung des Kontrollmechanismus, der das
sprachliche Output-System kontrolliert, haben. Allerdings wurde auch festgestellt, dass es
offensichtlich nicht möglich ist, aufgrund der Charakteristika der Spontansprache deutlich
zwischen agrammatischen und paragrammatischen Sprechern zu unterscheiden, da sowohl
agrammatische als auch paragrammatische Phänomene bei ein und derselben Person auftreten
können.
Allerdings wird im AAT als ein sprachliches Leitsymptom – unter anderen – für die
Wernicke-Aphasie der Paragrammatismus angeführt. In diesem Zusammenhang werden die
paragrammatischen Äußerungen charakterisiert als: „komplex angelegter Satzbau mit
Satzteilverdoppelungen und Verschränkungen sowie mit falschen Funktionswörtern und
Flexionsformen [...]“ (Hartje,W./Poeck,K. (Hrsg.) 1997, Klinische Neuropsychologie
Stuttgart, p. 119). Es wird auch darauf hingewiesen, daß der Paragrammatismus bei allen
verschiedenen Typen der Wernicke-Aphasie26 auftritt, er aber bei den Unterformen mit
semantischen Paraphasien leichter zu erkennen ist. (Vgl. dazu Kopie 1).
Diesen unterschiedlichen Beurteilungen, inwieweit deutliche Unterschiede zwischen
Agrammatismus und Paragrammatismus sowohl empirisch als auch theoretische festgestellt
werden können, sollten zu weiteren Untersuchungen – möglichst sprachenübergreifend –
führen. Man könnte vielleicht zusammenfassend davon ausgehen, dass wir auf der einen Seite
den Agrammatismus haben, mit den bekannten kurzen Sätzen, Auslassungen von
grammatikalischen Morphemen etc., und auf der anderen Seite den Paragrammatismus, mit
komplex angelegten, langen Sätzen etc., und dazwischen gibt es verschiedene Abstufungen,
die einmal mehr Charakteristika der einen Seite, und ein anderes Mal mehr Phänomene der
anderen Seite aufweisen.
Probleme beim Untersuchen von klinisch definierten grammatikalischen Störungen
26 In der hier angesprochenen Beschreibung des Syndroms der Wernicke-Aphasie werden 4 Untertypen unterschieden: WE mit vorwiegend sem. Paraphasien, WE mit sem. Jargon, WE mit vorwiegend phonematischen Paraphasien und WE mit phonematischen Jargon. (Hartje/Poeck, 1997: 119)
Im folgenden wollen wir auf einige Probleme eingehen, die sich bei den empirischen
Untersuchungen zum Sprechen und zur Sprache der von Patienten mit Sprachstörungen
ergeben.
Leider haben sich – zumindest zum Teil – die Hoffnungen, dass die entsprechenden Analysen
von agrammatischem bzw. paragrammatischem Sprechen zu einer besseren Definition und
somit auch zu einem besseren Verständnis dieser Störungsbilder führen würde, nicht erfüllt.
Zwar sind die Beschreibungsmöglichkeiten verfeinert worden, aber dadurch wurde die
Interpretation bzw. das Verständnis dieses Phänomens nicht wesentlich verbessert.
Dies hat sich ja auch bereits bei den bis jetzt erwähnten – und untersuchten – Fällen des
Agrammatismus gezeigt. So konnten wir feststellen, dass eigentlich keines der Merkmale, die
als für den Agrammatismus typisch angesehen werden, bei allen Patienten, die nach
entsprechenden klinischen Kriterien klassifiziert wurden, auch aufgetreten sind, wobei in
diesem Zusammenhang die – relative – Häufigkeit des Auslassens von grammatikalischen
Morphemen eine gewisse Ausnahme darstellt. Weiters kommt auch noch hinzu, dass – und
dies ist keineswegs ein seltenes Phänomen – z.B. alle jene Eigenschaften, die etwa den
Agrammatismus kennzeichnen, auch bei einem einzelnen Patienten zu beobachten sind; d.h.
es besteht eine große Variabilität zwischen den einzelnen Patienten. Ein zusätzliches Problem
ergibt sich auch daraus, dass manche der bei Agrammatismus beobachteten Phänomen auf
„echte“ grammatikalische Defizite zurückzuführen sind – also morphologisch oder
syntaktisch – aber andere können ihre Ursache auch in phonologischen oder lexikalisch-
semantischen Störungen haben. Solche unterschiedlichen Untersuchungsergebnisse lassen
natürlich auch die Vermutung zu, dass im Grunde genommen die Agrammatiker eine
heterogene Gruppe darstellen, wobei die unterschiedlichen Ergebnisse der verschiedenen
Untersuchungen auch auf methodische – und metatheoretische – Probleme, die sich aus der
jeweiligen Untersuchungsmethode ergeben – zurückzuführen sind.
So wiesen etwa Badecker/Caramazza (198527, 198628) darauf hin, dass das klinisch definierte
neuropsychologische Defizit bei Agrammatismus auf einigen wenigen a priori Kriterien
beruht (Auslassen von grammatikalischen Morphemen, Vereinfachung von syntaktischen
Strukturen, geringere Länge von Phrasen). Somit gestatten es diese Kriterien eigentlich nicht,
Patienten als von demselben kognitiven Defizit betroffene zusammen zu gruppieren. Daraus
kann gefolgert werden, dass die Patienten, die auf dieser Basis gruppiert werden, Personen
mit unterschiedlichen kognitiven Grundproblemen darstellen; d.h. das Verhalten dieser
27 W./A., On considerations of method and theory governing the use of clinical categories in neurolinguistics and cognitive neuropsychology: The case against agrammatism. Cognition 20: 97-11528 W./A., The case against agrammatism: A final brief. Cognition 24: 277-286
Patienten bei einer spezifischen Aufgabe ergibt sich eigentlich aus unterschiedlichen
Störungen bei verschiedenen Patienten. Daraus kann weiters gefolgert werden, dass Studien,
die sich dieser Methodologie bedienen, zu Ergebnissen führen, die eigentlich nicht
interpretierbar sind und auch keine schlüssigen Ergebnisse ergeben, die für eine Theorie der
kognitiven Prozesse, die bei der Satzproduktion ablaufen, relevant sind. Es wird auch darauf
hingewiesen, dass die Annahme, dass eine Gruppe von a priori-Kriterien zur Identifizierung
von kognitiv homogenen Personen führt, eigentlich darauf hinausläuft, dass die Variabilität,
die bei den einzelnen Patienten festgestellt wird, rein zufällig ist – was auch bedeutet, dass sie
theoretisch irrelevant ist. Nach der Ansicht von Badecker/Caramazza ergeben sich die
Probleme bei der Analyse des Agrammatismus aus eben diesen metatheoretischen und
methodologischen Fehlern. Die Versuche aufgrund von empirischen Analysen die Störung
genauer zu definieren, hat keine besonderen Erfolge gebracht. Das Sammeln von
sprachübergreifenden Daten (vgl. Menn/Obler) bestätigte eigentlich die Problematik des
Versuchs eine objektive Definition für dieses Phänomen zu liefern.
Um diese Probleme zu umgehen, wurde ein anderes Vorgehen vorgeschlagen
(Badecker/Caramazza): Die Untersuchungen des agrammatischen Outputs sollten primär
nicht darauf abzielen, immer detailliertere Beschreibungen der Pathologie des Sprachsystems
zu liefern, oder Theorien über den Agrammatismus bzw. Paragrammatismus zu formulieren;
sondern die Hauptaufgabe dieser Untersuchungen sollte darin bestehen, Hypothesen über die
Struktur des nicht gestörten kognitiven Systems vorzuschlagen. Das bedeutet, dass der
Ausgangspunkt keine a priori identifizierte klinische Kategorie sein kann, sondern explizite
Hypothesen über die kognitiven Mechanismen, die dem grammatikalisch korrekten
sprachlichen Output bei hirngesunden Personen zugrundeliegen. Solche Hypothesen sind
notwendig – so dieser Ansatz – um die kognitive Läsion festzustellen, die für das
abweichende Sprechen des jeweiligen Patienten verantwortlich ist. Aufgrund der Komplexität
der Sprachproduktionsmechanismen können die Defizite, die aus der Schädigung einer oder
mehrere Komponenten dieser Prozesse resultieren, so variabel sein, dass man sie nicht a priori
identifizieren kann. Daher muss die funktionale Läsion, die für das agrammatische Verhalten
verantwortlich ist, a posteriori festgestellt werden, und zwar mittels theoriebestimmter,
detaillierter Analysen des abweichenden sprachlichen Verhaltens. Aufgrund der Komplexität
des Systems und der daraus folgenden Variabilität der möglichen Defizite wird es nicht sehr
wahrscheinlich sein, dass man kognitiv homogene Gruppen (= Gruppen von Patienten, die
dieselbe kognitive Störung aufweisen) finden wird, daher ist die beste Strategie zur
Untersuchung von agrammatischen Patienten die Einzelfallstudie.
Dies ist eine mögliche Sichtweise des Problems des Agrammatismus. Allerdings haben
andere Autoren auch andere Positionen eingenommen (z.B. Caplan, 198629, Grodzinsky,
199130). Caplan ist zwar auch der Meinung, dass empirische Kriterien und vor-theoretische
Intuitionen nicht zu relevanten Schlüssen hinsichtlich einer Theorie über die Organisation der
normalen Sprache führen können; aber er ist nicht der Meinung, dass diese Probleme oder die
Einwände gegen den traditionellen Zugang ausreichen, um die Verwendung von a priori
identifizierten klinischen Kategorien in neuropsychologischen Studien des kognitiven
Systems aufzugeben. Wenn nämlich das Kriterium für die Kategorisierung auf einer
entsprechenden Theorie beruht, dann sollten klinische Kategorien in der klinischen Forschung
weiterhin benutzt werden. Was nun die grammatischen Störungen in der Sprachproduktion
und im Sprachverständnis betrifft, kann der Terminus „Agrammatismus“ durchaus verwendet
werden, vorausgesetzt diese Kategorie beruht auf einer Theorie, die unabhängig vom
Agrammatismus formuliert wurde. Dieser Vorschlag geht von einer sprachlichen Theorie aus,
die die grammatikalischen Morpheme als eine Klasse von Wörtern ansieht, die von den
anderen Wörtern einer Sprache verschieden sind. Weil nun – nach diesen Überlegungen – die
grammatikalischen Morpheme eine autonome Kategorie darstellen, erlaubt die Wahl des
Kriteriums der Auslassung von Funktionswörtern zur Klassifizierung eines Patienten als
agrammatisch die Identifizierung von kognitiv homogenen Patienten. Nach Caplan sollte der
Begriff Agrammatismus nur verwendet werden, um das Auslassen der grammatikalischen
Morpheme in der Spontansprache zu kennzeichnen; die anderen oft beobachteten Störungen
(syntaktische Vereinfachungen, verringerte Phrasenlänge, Schwierigkeiten mit Hauptverben)
sollten nicht in Betracht gezogen werden.
Um diese beiden Positionen zu überprüfen wurde eine Studie31 durchgeführt, in der die
Spontansprache von 20 Patienten untersucht wurde, die als agrammatisch klassifiziert worden
waren, weil sie grammatikalische Morpheme ausließen. Es wurden die Auslassungen und
Ersetzungen von 5 freien grammatischen Morphemen (definite und indefinite Artikel,
Präpositionen, Klitika (Enklise: schwach od. nicht betontes Wort verbindet sich mit
vorhergehenden Wort: „kommst du“ > „kommste“, Proklise: Verbindung mit folgendem
Wort: „das Fenster“ > „s’Fenster“), Hilfsverben) und drei gebundenen Morphemen
( nominale, verbale und adjektivische Flexionen) untersucht. Die Ergebnisse ergaben eine
große Variabiltität zwischen den Patienten und auch in Hinblick auf die Auslassungen und
29 D., In defence of agrammatism. Cognition 24: 263-27630 Y., There is an entity called agrammatic aphasia. Brain and Language 41: 555-56431 Miceli,G./Silveri,M.C./Romani,C./Caramazza,A., 1989, Variation in the pattern of omissions and substitutions of grammatcal morphemes in the spontaneous speech of so-called agrammatic patients. Brain and Language 36: 447-492
Ersetzungen. Insgesamt unterstützen die Ergebnisse dieser Studie eher die erste o.e. erwähnte
Interpretation des Agrammatismus, denn obwohl die untersuchten Elemente der linguistisch
homogenen Gruppe der grammatikalischen Morpheme angehörten, ließen sich große
Variationen und Dissoziationen beobachten, und zwar sowohl zwischen den Patienten als
auch bei ein und demselben Patienten. (Auch Kritik an dieser Studie.)
Grammatikalische Produktionsdefizite
Ergebnisse von Studien, wie der o.e., legten nahe, daß die kognitive Störung, die für die
agrammatische Produktion verantwortlich ist, nur a posteriori identifiziert werden kann. Weil
nur mittels expliziter Hypothesen über das Funktionieren der normalen Prozesse der Bereich
der Beobachtungen festgelegt werden kann, der notwendig ist, um die kognitive Läsion
festzustellen, die für das beobachtete Verhalten verantwortlich ist. Somit sollte den
Ausgangspunkt für die Analyse der aphasischen Produktion eine Theorie des normalen
Produktionssystems bilden.
Nun gibt es einige Modelle der sprachlichen Produktion, die auf der Analyse der Versprecher
von hirngesunden Personen beruhen (Dell, 198632, Garrett, 197533, 197634, 198035,
198236,198437, 199238, Lapointe/Dell 198939). Diese Modelle bieten explizite Hypothesen
bezüglich der verschiedenen Repräsentationsebenen, die an der Sprachproduktion beteiligt
sind, und auch bezüglich der Mechanismen, die bei der Verarbeitung dieser Repräsentationen
verwendet werden.
Verschiedene Repräsentationsebenen bei der Sprachproduktion
Wir wollen hier das Modell von Garrett (s.o.) als Beispiel herausgreifen, nicht zuletzt auch
weil es ein Produktionsmodell darstellt, das im Bereich der Aphasieforschung sehr oft für
Erklärungen herangezogen wurde und das auch Ergebnisse aus dem Aphasiebereich
einbezieht. 32 G., A spreading-activation theory of retrieval in sentence production. Psychological Review 93: 283-32133 M.F., The analysis of sentence production. In: G. Bower (ed.), The Psychology of learning and Motivation. (Vol. 9: 133-177), New York34 M.F., 1976. Syntactic processes in sentence production. In: R.J. Wales/E.C.T. Walker (eds.), New Approaches to Language Mechanisms (231-255), Amsterdam35 M.F., Levels of processes in sentence production. In. Butterworth,B. (ed.) Language production, vol. 1: Speech and talk. New York36 M.F., Production of speech: Observations from normal and pathological language. In: Elis, A.W.(ed.) Normality and pathology in cognitive functions. New York37 M.F., The organization of processing structure for language production: Application to aphasia research. In: Caplan/Lecours/Smith (eds.) Biological perspectives of language. Cambridge MA38 M.F., Disoders of lexical selection. Cognition 42: 143-18039 S./G., A synthesis of some recent work in sentence production. In: Tanenhaus/Carlson (eds.) Language processing and linguistic theory. Dordrecht
Vor allem basierend auf der Analyse von Versprechern entwickelte Garrett40 ein Modell, das
davon ausgeht, dass die Produktion von Sprache eine Reihe von diskreten
Verarbeitungsebenen durchläuft. Es handelt sich dabei um ein serielles Modell (s. Abb.). Im
Bereich der syntaktischen Planung werden zwei Hauptstadien unterschieden: die funktionale
Ebene („functional level“) und die positionale Ebene („positional level“).
Auf der funktionalen Ebene ist die Wortstellung noch nicht explizit repräsentiert. Dagegen ist
der semantische Inhalt der Wörter bereits spezifiziert und den syntaktischen Rollen von
Subjekt und Objekt zugeordnet.
Auf der positionalen Ebene sind die Wörter dann explizit geordnet. Außerdem besteht eine
Trennung zwischen der syntaktischen Planung und dem Abrufen der Wörter: Garrett meint,
dass die Inhaltswörter und die Funktionswörter deutlich unterschiedliche Rollen in der
Sprachproduktion spielen, wobei die Inhaltswörter auf der funktionalen Ebene ausgewählt
werden und die Funktionswörter werden nicht vor der positionalen Ebene gewählt.
Im folgenden ein Überblick über die Produktion eines Satzes:
Wir beginnen mit der Absicht eine Äußerung mit einem bestimmten Inhalt zu machen, z.B.
dass jemand etwas kocht. Diese Ebene der Konzeptualisierung ist kaum untersucht, aber wir
können davon ausgehen, dass wir einmal ganz allgemein auswählen, was wir sagen wollen
und wie wir es sagen wollen. Bei der Produktion der Sprache müssen diese möglicherweise
parallel aufgetretenen Überlegungen linearisiert werden. Wir bilden abstrakte semantische
Spezifizierungen, in denen die funktionalen Beziehungen spezifiziert sind, die dann auf die
syntaktischen Funktionen abgebildet werden, d.h. es gibt ein Subjekt (= Mutter Konzept),
Verb (= kochen Konzept), Objekt (= Würstl Konzept), Zeit (= Gegenwart), Anzahl der
Objekte (= mehr als eins) – dies erfolgt auf der funktionalen Ebene.
Sollte es nun bei einem Versprecher mit einem falschen Wort – statt „Würstl“ „Leberkäse“ –
kommen, dann ist dies – nach Garrett – auf dieser Ebene passiert, da nur die funktionalen
Rollen der Wörter, aber nicht ihre absoluten Positionen festgelegt wurden.
Im nächsten Schritt wird ein syntaktischer Rahmen für den geplanten Satz erstellt, wie (Det)
N1 V (Präsens) (Det) N2 (+ Pl). Wobei Garrett davon ausgeht, dass die Funktionswörter einen
inhärenten Teil dieses Rahmens darstellen. Nun werden die phonologischen Repräsentationen
der Inhaltswörter aus dem Lexikon abgerufen und zwar über ihre semantischen
40 Garrett, M.F., 1975. The analysis of sentence production. In G. Bower (ed.), The psychology of learning and motivation. Vol. 9, New York: 133-177; ders. 1976. Syntactic processes in sentence production. In R.J. Wales/E.C.T. Walker (eds.), New approaches to language mechanisms. Amsterdam: 231-255; ders. 1980. Levels of processing in sentence production. In B. Butterworth (ed.), Language production Vol. 1 Speech and talk. London: 177-220; ders. 1988. Processes in language production. In. F. Newmeyer (ed.), Linguistics: The Cambridge survey: Vol. 3: Psychological and biological aspects. Cambridge: 69-96; ders. 1992. Disorders of lexical selection. Cognition 42: 143-180
Repräsentationen und sie werden in den syntaktischen Rahmen eingefügt, wo dann ihre
endgültigen Positionen spezifiziert werden. Die Markierung +Pl sorgt dafür, dass in Sprachen
wie dem Deutschen auch die Funktionswörter entsprechend markiert sind (was dann „die“
statt „das“ ergibt). D.h. auf der positionalen Ebene sieht die Struktur dann in etwa so aus:
(Det+Sg+Nom) /Mutter/ /koch/ (+3.Ps Sg Präs) (Det+Pl) /Würstl/ (+Pl).
Im nächsten Schritt werden die Funktionswörter und die grammatikalischen Morpheme
phonologisch spezifiziert, woraus sich die Repräsentation auf der „Lautebene“ („sound level“)
ergibt (/di: mut/ /ko/ /di:/ /vstl/). Dies zeigt sich bei Versprechern darin, dass auf dieser
Ebene Vertauschungen von Lauten auftreten können, da die absoluten Positionen der Laute
nun festgelegt sind, und daraus ergibt sich eine Beschränkung aufgrund der Entfernung, was
sich darin zeigt, dass Lautvertauschungen immer eine große Nähe aufweisen.
Diese phonologische Repräsentation bildet den Ausgangspunkt für die entsprechende
Programmierung der Artikulatoren, wobei Garrett dazu nicht sehr viel mehr zu diesen
Vorgängen sagt.
Was spricht nun für das Modell von Garrett?
Nun in einem Versprecher wie „a weekend for maniacs“ (statt: „a maniac for weekends“)
zeigt der Austausch des Pl-Morphems „-s“, das dort auftritt, wo es geplant war, dass
offensichtlich das Inhaltswort („maniac“) unabhängig von seinem Pluralsuffix abgerufen
wurde. Das Belassen von gebundenen Morphemen an ihren ursprünglichen Stellen wird als
„Stranding“ („morpheme stranding“) bezeichnet. Offensichtlich verhalten sich Inhaltswörter
anders als grammatikalische Elemente, also gebundene Morpheme und Funktionswörter. Das
weist darauf hin, dass sie möglicherweise auf unterschiedlichen Verarbeitungsebenen
auftreten.
Weiters wurde in diesem Versprecher das Pl-Suffix korrekt produziert, also als [-s] und nicht
[-z], wie es eigentlich nach „weekend“ geplant war. Diese Anpassung an die phonologische
Umgebung weist darauf hin, dass die phonologische Spezifizierung der grammatikalischen
Elemente, was dann zur entsprechenden phonetischen Form führt, relativ spät im
Produktionsprozess erfolgt – zumindest nachdem die Inhaltswörter bereits abgerufen wurden.
Genau diese Dissoziation zwischen der Spezifizierung der phonetischen Struktur der
Inhaltswörter und der grammatikalischen Elemente spielt eine große Rolle in den Theorien
zur Sprachproduktion und taucht auch in den Diskussion von Störungen der Sprachproduktion
auf. Außerdem zeigte sich bei Versprechern, dass in Fällen, in denen Wörter vertauscht
wurden, die Satzbetonung sich nicht verändert hatte, was ebenfalls darauf hinweist, dass die
Betonung unabhängig von den Inhaltswörtern spezifiziert ist.
Wie wir gesehen haben, besteht eine grundlegende Annahme dieses Modells darin, dass die
Wörter in zwei Klassen (geschlossene und offene Klasse) eingeteilt werden, wobei diese
Klassen durch unterschiedliche Mechanismen verarbeitet werden. Die Wörter der offenen
Klasse werden sowohl auf der funktionalen Ebene (hier aktiviert die auf der Mitteilungsebene
erzeugte semantische Information lexikalische Repräsentationen, die durch ihre syntaktischen
und semantischen Eigenschaften festgelegt sind) als auch auf der positionalen Ebene (wo den
lexikalischen Repräsentationen, die auf der funktionalen Ebene aktiviert wurden, ein
phonologischer Wert zugewiesen wird). Im Gegensatz dazu werden die Wörter der
geschlossenen Klasse nur auf der positionalen Ebene verarbeitet, auf der ein phonologischer
Wert jedem grammatikalischem Morphem zugewiesen wird, und zwar aufgrund der
Information, die in der Phrasenstruktur, die auf dieser Ebene konstruiert wird, enthalten ist.
Schädigung der morphosyntaktischen Mechanismen als Ursache für Störungen der
Produktion von grammatikalischen Morphemen
Diese erwähnte Unterscheidung in der Verarbeitung von Wörtern der offenen und der
geschlossenen Klasse ermöglicht nun vorauszusagen, dass eine Störung auf der positionalen
Ebene die Produktion von grammatikalischen Morphemen bei der Produktion von Sätzen
beeinträchtigt, aber nicht die Produktion von grammatikalischen Morphemen als
Einzelwörter. Weiters kommt noch hinzu, da die positionale Ebene nur in der Produktion
involviert ist, dass eine Störung auf dieser Ebene das Verständnis nicht betreffen sollte. Nun
wurden in der Literatur zwei Aphasiepatienten beschrieben, deren neuropsychologisches
Profil mit einem solchen Defizit auf der positionalen Ebene übereinstimmt (Caramazza/Hillis,
198941; Nespoulous et al., 198842).
Beide Patienten wiesen normales Verständnis auf, obwohl ein schweres Defizit bei der
Produktion von grammatikalischen Morphemen im phrasalen Kontext vorlag. Ihre
Spontansprache (mündlich und schriftlich) war gekennzeichnet durch häufige Auslassungen
(und weniger häufigen Ersetzungen) von freistehenden grammatikalischen Morphemen und
bei den Verben durch die Produktion von Infinitiven und Partizipien anstatt der korrekten
flektierten Formen.
Z.B.: M.L. (Caramazza/Hillis) bei einer Erzählung: 173 obligatorische Umgebungen für freie
grammatikalische Morpheme, 79 für gebundene grammatikalische Morpheme und 207 für
41 A./A.E., The disruption of sentence production: Some dissociations. Brain and Language 36: 625-65042 J.L./Dordain,M./Perron,C./Ska,B./Bub,B./Caplan,D./Mehler,J./Lecours,A.R., Agrammatism in sentence production without comprehension deficits: Reduced availability of syntactic structures and/or grammatical morphemes? Brain and Language 33: 273-295
Wörter der offenen Klasse; Ergebnisse: ungebundene grammatikalische Morpheme: 62,4%
Auslassungen und 2,3% Ersetzungen; gebundene gramm. Morpheme: 18,5% „Auslassungen“
der gesamten Flexionen – ein englischsprachiger Patient; aber nur wenige Probleme mit den
Wörtern der offenen Klasse; aber keine Probleme bei Lautlesen, Wiederholen von
morphologisch komplexen Wörtern, wenn sie isoliert dargeboten wurden. (Ähnliche
Ergebnisse von Mr. Clermont (Nespolous et al.).) Diese Ergebnisse, dass nämlich die
Produktion von grammatikalischen Morphemen als Einzelwörter nicht gestört ist, können im
Sinne der o.e. Annahme interpretiert werden, dass eine Störung auf der positionalen Ebene
vorliegt, auf der die grammatikalischen Morpheme in die von der phrasalen Struktur
bereitgestellten Leerstellen eingefügt werden.
Im Modell von Garrett wird davon ausgegangen, daß die Repräsentationen auf der
positionalen Ebene phonologisch spezifiziert sind; was aber nicht klar ist, ist, ob ein und
dieselbe Repräsentation auf der positionalen Ebene für alle Produktionsaufgaben zuständig
ist, oder ob es unterschiedliche, modalitätsspezifische Repräsentation auf der positionalen
Ebene für Sprechen und Buchstabieren bestehen. Die Leistungen der o.e. Patienten zeigen
ähnliche Fehler bei den grammatikalischen Morphemen sowohl in der lautlichen als auch in
der schriftlichen Produktion. Dies würde auf eine modalitätsunabhängigen Repräsentation –
also eine die sowohl für das Sprechen als auch das Schreiben zuständig ist – hinweisen. Es
gibt allerdings auch andere Beobachtungen, die eher auf eine alternative Erklärung
hinauslaufen, bei der unterschiedliche Repräsentationen auf der positionalen Ebene für die
schriftliche und lautliche Produktion angenommen werden. Z.B. wies der Patient P.B.S.
(Rapp/Caramazza, 199743) Störungen sowohl im lautlichen als auch im geschriebenen Output
auf; wenn er aber aufgefordert wurde, dasselbe Bild schriftlich oder lautlich zu beschreiben,
dann zeigte er verschiedene Verhaltensweisen: Beim Sprechen produzierte er die
grammatikalischen Wörter exakt, aber die Versuche Inhaltswörter zu produzieren, ergaben
viele Neologismen; beim Schreiben dagegen wurden die grammatikalischen Wörter häufig
ausgelassen, wogegen die Inhaltswörter korrekt produziert wurden. Ein Beispiel dazu: Bei der
Beschreibung eines Bildes auf dem ein Junge ein Auto wäscht, produzierte der Patient:
„the /wVd/ are /rVzd/ the /rud/ with /Ivd/ and /tVv/ in a /redId/“ , aber sofort danach schrieb
er „BOY WASHED CAR“. Es gibt auch noch weitere Untersuchungen, die Patienten mit
ähnlichem Verhalten beschreiben. Nun können solche Beobachtungen eigentlich nur so
erklärt werden, indem man annimmt, dass es bei der Produktion von Sätzen offensichtlich zu
unterschiedliche Repräsentationen auf der positionalen Ebene für Sprechen und Schreiben
43 B.C./A., The modality-specific organization of grammatical categories: Evidence from impaired spoken and written sentence production. Brain and Language 56: 248-287
kommt.
Eine Störung der lexikalischen Morphologie als Ursache für die Probleme bei der Produktion
von grammatikalischen Morphemen
Die bisher besprochenen Untersuchungen weisen darauf hin, dass ein Defizit auf der
positionalen Ebene zu Schwierigkeiten bei der Produktion von grammatikalischen
Morphemen in Sätzen kommen kann. Da aber auch andere Komponenten des
Produktionssystems bei der Verarbeitung dieser Morpheme beteiligt sind, können Probleme
auch aufgrund von anderen Schädigungen als jenen der morphosyntaktischen Prozesse
entstehen. So könnten die Probleme mit den grammatikalischen Wörtern auch auf eine
Schädigung des lexikalisch-semantischen Systems zurückzuführen sein. Ein solches Defizit
kann auch zu grammatikalischen Produktionsfehlern führen, weil eben die morphologische
Struktur auch eine Dimension in der Organisation des lexikalisch-semantischen Systems
darstellt.
Die Hypothese, dass die morphologische Struktur eine zentrale Rolle in der sprachlichen
Organisation spielt, wurde auch häufig in linguistischen und neuropsychologischen Studien
zur Verarbeitung von Einzelwörtern und der Produktion von Sätzen vorgeschlagen. (So
ergaben sich z.B. entsprechende Belege aus der Untersuchung des Patienten F.S.44 Dieser
Patient wies zusätzlich noch viele Fehler bei der Produktion von morphologisch komplexen
Nomen, Adjektiven und Verben (im Italienischen flektiert und manchmal auch abgeleitet) auf,
auch wenn sie isoliert dargeboten/produziert wurden.)
Dass eine hohe Anzahl von morphologischen Fehlern beim Nachsprechen von isoliert
dargebotenen Wörtern auftreten kann, weist darauf hin, dass morphologische Prozesse im
Lexikon ablaufen müssen, und dass die Morphologie eine Dimension der lexikalisch-
semantischen Organisation darstellt. Da es auch zu einer Dissoziation zwischen
Flexionsprozessen ((bei F.S.) stark gestört) und derivationalen Prozessen /
Ableitungsprozessen (zum Großteil nicht gestört) kommen kann, weist ebenfalls darauf hin,
dass die zwei Arten von morphologischen Prozessen in unterschiedlichen Komponenten des
Lexikons ablaufen. Diese Trennung wird auch durch theoretisch und empirische
Beobachtungen gestützt. So wird auch in morphologischen Theorien zwischen
Flexionsprozessen und Derivationsprozessen unterschieden (Bybee, 198545). Weiters wird
auch eine Unterscheidung bei den Prozessen der Flexion und Derivation in einigen
44 Miceli,G./Caramazza,A., 1988, Dissociation of infletional and derivational morphology: Evidence from aphasia. Brain and Language 35: 24-6545 J.L., Morphology. A study of the relation between meaning and form. John Benjamins
psycholinguistischen Produktionsmodellen angenommen. So wird etwa bei Garrett
angenommen, dass die Basisform eines abgeleiteten Wortes auf der funktionalen Ebene in die
phrasale Struktur eingesetzt wird, und zwar aufgrund der semantischen Information (wie eben
auch Wörter der offenen Klasse); dagegen wird die Flexion auf der positionalen Ebene
ausgewählt, und zwar aufgrund der Information der phrasalen Struktur. Weitere empirische
Beobachtungen an agrammatischen Patienten stützen diese Überlegungen einer Trennung in
der Verarbeitung von Flexionen und Derivationen.
Die Unabhängigkeit der morphosyntaktischen Mechanismen von jenen der Zuweisung von
thematischen Rollen
Bei der Produktion von Sätzen wird die Informantion, die auf der Mitteilungsebene
verarbeitet wird, verwendet, um die entsprechenden thematischen Rollen/semantischen
Funktionen den lexikalischen Repräsentationen zuzuweisen, die aufgrund der konzeptuellen
Information ausgewählt wurden. Die grammatikalischen Rollen/Funktionen werden nun
aufgrund der thematischen Rollen zugewiesen. Wenn wir uns einen Satz ansehen, wie „Der
Junge gibt dem Mädchen das Auto.“, dann werden die grammatikalischen Rollen/Funktionen
des Subjekts, des direkten und indirekten Objekts, dem Agens („Junge“), dem
Patiens/Objektiv („Auto“) und Benefaktiv („Mädchen“) zugewiesen.
Nun gibt es neuropsychologische Beobachtungen, die darauf hinweisen, dass eine cerebrale
Läsion ganz spezifisch die Zuweisung der thematischen Rollen stören kann, wobei die
Produktion der grammatikalischen Morpheme nicht gestört ist. So zeigte ein Patient in einer
Studie46, in der Bilder beschrieben werden mußten, wobei es sich um die schriftliche und
mündliche Produktion von einfachen, semantisch reversiblen Aussagesätze im Aktiv und
Passiv handelte, kaum Fehler (0,02%) im morphologischen Bereich, dagegen aber deutlich
mehr Fehler (16,7%) bei den thematischen Rollen, die er vertauschte. Dazu ist noch
anzumerken, dass die grammatikalischen Morpheme auch in jenen Sätzen korrekt produziert
wurden, in denen die thematischen Rollen vertauscht waren. Dieses Fehlermuster ist nicht
ganz einfach zu interpretieren. Die Zuweisung von thematischen Rollen ist das Endergebnis
von komplexen kognitiven Operationen und könnte trotz eines semantischen Defizits korrekt
erfolgen (dazu Untersuchung). Diese Zuweisung beinhaltet Mechanismen auf der lexikalisch-
semantischen Ebene (Wissen um die Verbstruktur, um festzulegen, welche thematischen
Rollen vom jeweiligen Verb zugewiesen werden) und auch syntaktische Mechanismen (zum
Abbilden der syntaktischen Rollen (Subjekt usw.) auf thematischen Rollen wie Agens etc.).
46 Caramazza,A./Miceli,G., 1991, The selctive impairment of thematic role assignment in sentence processing. Brain and Language 41: 402-436
Da die dabei ablaufenden Prozesse sehr komplex sind, könnten die Fehler in der Zuweisung
thematischer Rollen, auf verschiedenen Störungen beruhen. Im Falle einer lexikalisch-
semantischen Störung bei der die konzeptuelle Information über das Verb ausgenommen ist,
aber die Verb-Argument-Struktur nicht abrufbar ist, könnten die für die Zuweisung der
thematischen Rollen verantwortlichen Prozesse – obwohl nicht gestört – die Rollen falsch
zuordnen. Im Falle einer syntaktischen Störung kann zwar die Information über einzelne
Wörter (einschließlich der Verb-Argument-Struktur) ungestört sein, aber die Störung der
Prozesse zur Zuweisung der thematischen Rollen zu Fehlern wie Rollenvertauschungen
führen.
Die (auch o.e.) Beobachtungen an Patienten mit ähnlichen Leistungen führen, unabhängig von
der jeweiligen spezifischen Störung (lexikalisch-semantisch oder syntaktisch), zu zwei
Überlegungen: Das Defizit (Schwierigkeiten bei der Zuweisung thematischer Rollen ohne
wesentliche Probleme bei der Produktion von grammatikalischen Morphemen) ergänzt das
Problem von Patienten, die Schwierigkeiten bei der Produktion von grammatikalischen
Morphemen haben, aber nicht bei der Zuweisung semantischer Rollen. Diese doppelte
Dissoziation könnte darauf hinweisen, dass bei der Satzproduktion die morphosyntaktischen
Prozesse unabhängig von jenen Prozessen sind, die die thematischen Rollen zuweisen. Geht
man von diesen Überlegungen aus, dann kann das gemeinsame Auftreten von Problemen bei
der Produktion von grammatikalischen Morphemen und Problemen bei der Zuweisung von
thematischen Rollen, nicht als Resultat ein und derselben Störung betrachtet werden. In
diesem Zusammenhang ist es vielleicht besser anzunehmen, dass die kognitiven Läsionen
unterschiedliche Komponenten des Produktionsprozesses betreffen.
Obwohl – wie wir gesehen haben – es durch die vielen Studien zu Fortschritten im
Verständnis der Störungen, die dem Agrammatismus zugrundeliegen könnten, gekommen ist,
sind viele Probleme, die in den empirischen Arbeiten angesprochen wurden, noch keineswegs
gelöst. Viele Antworten auf diese Fragen hängen natürlich auch von der Entwicklung von
ausführlichen kognitiven Modellen der Sprachproduktion ab. So haben z.B. die derzeitigen
Modelle größte Probleme die unterschiedliche Behandlung von freien und gebundenen
grammatikalischen Morphemen zu erklären, oder auch mit Erklärungen für das
modalitätsspezifische Auftreten von Störungen in der agrammatischen Produktion. So kann
man nur davon ausgehen, dass der dialektische Prozeß der gegenseitigen Beeinflussung von
Theorien über die normale Sprache und den theorie-geleiteten, empirischen Untersuchungen
zur Sprache von Aphasiepatienten zu detaillierteren Hypothesen über die Repräsentationen
und Prozesse bei der Produktion und beim Verstehen von Sprache führen werden.
Grammatikalische Verständnisdefizite
In vielen Studien, die wir bisher angesprochen haben, wurde neben der Produktion auch
häufig das Sprachverständnis untersucht. Wobei das Ziel natürlich auch war, zu einer
einheitlichen Erklärung für – in unserem Fall – besonders das agrammatische Verständnis zu
kommen. Die Untersuchungen zum Verständnis führten zur Beschreibung von allgemeinen
Merkmalen des Verständnisprozesses, aber die daraus resultierenden Hypothesen führten
ebenfalls zu keinen ausreichend expliziten Modellen. Somit wollen wir auch hier mit den im
folgenden zu besprechenden Beispielen vor allem auf die möglichen Problembereiche bei der
Modellierung der Verständnisprozesse hinweisen.
Die Probleme beim Verstehen von grammatikalischen Strukturen, so wurde angenommen,
sind auf Defizite im phonologischen Kurzzeitgedächtnis zurückzuführen (z.B. Shallice,
198847). Diese Hypothese beruht auf der Annahme, dass das Verstehen von Sätzen auf der
Erstellung einer phonologischen Repräsentation beruht, die durch eine Komponente des
Arbeitsgedächtnisses48 aktiv gehalten wird. Diese phonologische Kette, die im
Kurzzeitgedächtnis gespeichert ist, wird nun von einem sog. syntaktischen „Parser“
verarbeitet, um die syntaktische Repräsentation aufzubauen, die für die folgenden Stadien des
Verstehens notwendig ist. Nach diesen Überlegungen ist ein normales phonologisches
Gedächtnis notwendig, um eine vollständige syntaktische Repräsentation zu konstruieren.
Wenn nun das phonologische Kurzzeitgedächtnis gestört ist, dann kann der Parser nur mit
kürzeren als normalen phonologischen Ketten arbeiten, was zu Problemen beim Verstehen
führen kann. Diese Interpretation des (agrammatischen) Verständnisses ist nicht unumstritten.
So wurde diese Annahme nicht aufgrund von theoretischen Modellen vorgeschlagen, sondern
ergab sich aus den empirischen Beobachtungen, dass in den frühen Beschreibungen von
agrammatischem Verständnis die Verständnisprobleme zusammen mit schlechten Leistungen
bei der verbalen Gedächtnisspanne auftraten. Damit aber kann nicht ausgeschlossen werden,
daß andere, nicht-phonologische Gedächtnissysteme, eine Rolle im Verstehen von Sätzen
spielen. (So könnte der Parser auch mit anderen – ebenfalls abstrakten – aber nicht
phonologischen Informationen arbeiten und diese Informationen müßten nicht im
phonologischen Kurzzeitgedächtnis gespeichert sein.)
Wir finden nun tatsächlich Untersuchungen (z.B. Martin, 198749), in denen die Patienten ein
47 T., Information-processing models of consciousness: Possibilities and problems. In: Marcel,A.J./Bisiach,E.(eds.) Consciousness in contemporaray science. Oxford48 Arbeitsgedächtnis (working memory): das Bereithalten von (bzw. die aktuelle verfügbare Menge von) Informationen und Sach-, Entscheidungs- bzw. Lösungsstrategien während der Beschäftigung mir einer Aufgabe.
schweres Defizit des phonologischen Kurzzeitgedächtnisses aufwiesen (nachgewiesen mit
Tests zur Gedächtnisspanne), aber andererseits überraschend gute Ergebnisse beim Verstehen
von komplexen Sätzen aufwiesen. Diese Beobachtungen weisen nun darauf hin, dass
offensichtlich keine kausale Beziehung zwischen dem gestörten phonologischen
Kurzzeitgedächtnis und dem Verständnis von syntaktischen Strukturen besteht. Daraus folgt,
dass, wenn man weiter davon ausgeht, dass das Verständnisdefizit auf ein Gedächtnisdefizit
zurückzuführen ist, dann muss wohl angenommen werden, dass das gestörte
Kurzzeitgedächtnissystem nicht-phonologischen Ketten abgespeichert hat.
Wenn nun das Verständnisproblem für die grammatikalischen Strukturen auf eine Störung des
Gedächtnisses (phonologischer oder anderer Natur) zurückzuführen ist, ist es ebenso
plausibel, dass das asyntaktische Verstehen auf ein tatsächliches syntaktisches Defizit
zurückzuführen sein könnte. So zeigte etwa bereits eine frühe Studie50, in der ein
Verständnistest mit agrammatischen Aphasiepatienten durchgeführt wurde, wobei zwei Arten
von Satzstimuli verwendet wurden, die zwar eine ähnliche Länge aufwiesen, aber von
unterschiedlicher syntaktischer Komplexität waren: a) koordinierte Sätze: „The man is
greeted by the wife and is smoking the pipe.“, b) Hauptsätze mit untergeordneten Teilsätzen:
„The man greeted by the wife is smoking the pipe.“ Die agrammatischen Vpn. erzielten
bessere Ergebnisse bei den Sätzen vom Typus a) als bei b).
Allerdings wurden auch entsprechende Überlegungen bezüglich der syntaktischen (und
semantischen – bei Annahme einer Interaktion von Syntax und Semantik) angestellt.
Weitere Untersuchungen51 nahmen als Ausgangspunkt die Rektions- und Bindungstheorie
(government and binding) von Chomsky und versuchten die schlechten Leistungen der
agrammatischen Patienten beim Satzverständnis mit der Unfähigkeit die sogenannten
„Spuren“ zu verarbeiten, zu erklären. Diese Hypothese wird als Trace-Deletion-Hypothesis
bezeichnet. Von den Problemen beim Satzverständnis sind allerdings nicht alle Satzstrukturen
in gleicher Weise betroffen, so sind etwa Aktivsätze leichter als Passivsätze oder Relativsätze.
Daher schlug Grodzinsky (s. Fn. 48) vor, dass nicht die gesamte syntaktische Komponente
betroffen ist, sondern nur ein Teil – eben die sog. Spuren (traces). (Nach der GB-Theorie: In
einem Passivsatz („Elsa wird vom Schwan geküsst.“ ist die NP „Elsa“ in der sog. D-Struktur
nach „küssen“ repräsentiert; in der S-Struktur wird nun „Elsa“ (= ein Argument des Verbs) in
die Subjektposition bewegt, wobei allerdings das bewegte Argument eine Spur mit einem 49 R.C., Phonological and articulatory deficits in short term memory and their relation to syntactic processing. Brain and Language 32: 159-19250 Goodglass,H./Blumstein,S.E/Gleason,J.B./Hyde,M.R./Green,E./Statlender,S., 1979, The effect of syntactic encoding on sentence comprehension in aphasia. Brain and Language 7: 201-20951 Grodzinsky,Y., 1987(?), Language deficits and the theory of syntax. Brain and Language 1: 135-159; Grodzinsky,Y., 1990, Theoretical perspectives on language deficits. Cambridge, MA
Index hinterlässt. Die Spuren sind dann wichtig, wenn die syntaktischen Rollen („wer tut wem
was“) verteilt werden. Der Rollen-Verteilungs-/Zuschreibungsalgorithmus erwartet nun die
Rolle des „Themas“ (die von der Aktion affizierte Entität) an ihre Position in der D-Struktur,
direkt nach dem Verb, findet sie aber nicht, dafür aber die Spur mit dem Index und kann so
die Rolle des Themas der entsprechenden NP zugeschrieben werden.)
Grodzinsky meint nun, daß diese Spuren in den Repräsentationen der Agrammatiker nicht
vorhanden sind – „trace-deletion-hypothesis“ (TDH); daraus folgt, dass die Rollenzuweisung
für aus ihrer ursprünglichen Position bewegte Argumente nicht mehr möglich ist, aber für
nicht-bewegte schon. Nun könnte beim Passiv ja die Zuschreibung der Rolle des Agens (im
Englischen) aufgrund der „by-Phrase“ erfolgen, womit die übrigbleibende NP die Rolle des
Themas erhielte. Nach G. wird eine solche Zuweisung „overruled“ durch eine obligatorisch
anzuwendende Wortstellungs-Heuristik („default-principle“): Wenn die erste NP eines Satzes
als Konsequenz der Spurentilgung keine thematische Rolle erhalten hat, dann wird sie
automatisch zu einem Agens – oder erhält eine andere passende Rolle. Wenn nun die Rolle
des Agens bereits von der „by-Phrase“ besetzt ist, dann kommt es zu einem Konflikt, von dem
angenommen wird, dass ihn der Patient durch Raten löst, was die Ergebnisse im
Zufallsbereich bei Sätzen mit bewegten Argumenten und nicht kanonischer Satzstruktur
erklären soll.
Kritik an der TDH: Problem mit dem „default-principle“ – Dieses Prinzip beruht nicht auf
grammatikalischen Prinzipien, warum sollte nun der Agrammatiker bei diesem Prinzip
bleiben, wenn es in Konflikt mit der Information steht, die er aus der Rollenzuweisung von
nicht-bewegten Argumenten erhält. Das führte zu zwei Reformulierungen der TDH, wobei es
zwar eine Anzahl von Unterschieden hinsichtlich der sprachlichen Repräsentation gibt, aber
beide ersetzen das „default-priciple“ durch eine Strategie, aufgrund der die Patienten
zwischen den Möglichkeiten wählen, die übrig bleiben, nachdem die direkte Rollenzuweisung
erfolgt ist.
Ein weiterer wichtiger Kritikpunkt: die empirische Evidenz für die TDH. Das Verständnis war
nicht wie vorausgesagt für: a) Passivsätze ohne „by-Phrase“52, b) hebräische Passivsätze mit
postverbalen Subjekten53 und c) der Matrixsatz in Sätzen mit einem zentral eingebetteten
Relativsatz 54.
Hinzu kommt auch noch, dass nur eine kleine Gruppe von agrammatischen Patienten (ca. 1/3) 52 Martin,R.C./Frederick-Wetzel, W. et al., 1989. Syntactic loss versus processing deficit. An assessment of two theories of agrammatism and syntactic comprehension deficits. Cognition 32: 157-19153 Druks,J./Marshall,J.C., 1991. Agrammatism: An analysis and critique , with new evidence from four Hebrew-speaking aphasic patients. Cognitive Neuropsychology 8: 415-43354 Kolk,H.H.J./Weijts,M., 1996. Judgements of semantic anomaly in agrammatic patients: Argument movements, syntactic complexity and the use of heuristics. Brain and Language 54: 86-135
bei Passivsätzen Leistungen im Zufallsbereich aufweisen
In diesen Untersuchungen wird explizit eine linguistische Theorie als Ausgangspunkt für die
Erklärung des Verständnisdefizits herangezogen, allerdings ist einschränkend hinzuzufügen,
dass damit – möglicherweise – ein spezifisches Defizit für eine spezifische Satzstruktur mit
Hilfe einer linguistischen Theorie erklärt werden kann, aber die Probleme im Verstehen von
syntaktischen Strukturen können durchaus umfassender sein und viele verschiedene
Strukturen betreffen (vgl. Passiv, Topikalisierungen (bei mehrwertigen Verben!), etc.).
In anderen Studien, die sich mit Grammatikalitätsurteilen über Sätze befaßten, zeigte sich,
dass einige Patienten, die sehr große Probleme beim Verstehen von mündlich vorgegebenen
einfachen Aussagesätzen aufwiesen, wesentlich besser in der Lage waren – zwar nicht
fehlerlos – zu beurteilen, ob ein mündlich präsentierter, komplexerer, Satz grammatikalisch
korrekt oder inkorrekt war. Ähnliche Ergebnisse wurden auch erzielt, wenn die Prosodie
weggelassen wurde. Solche Ergebnisse weisen darauf hin, dass Patienten mit
Verständnisproblemen durchaus in der Lage sein können, die Grammatikalität eines Satzes zu
beurteilen. Solche und ähnliche Ergebnisse führten zur Überlegung, daß diese Patienten,
wiewohl sie genügend syntaktisches Wissen aktivieren können, um die Grammatikalität von
Sätzen zu beurteilen, dieses Wissen nicht ausreicht, um eine ausführliche Repräsentation eines
Satzes zu konstruieren, um zum Verständnis dieses Satzes zu gelangen. So zeigte sich in einer
Studie (Linebarger et al., 198355), dass jene Sätze für die agrammatischen Patienten am
schwierigsten waren, bei denen Verletzungen der grammatikalischen Regeln Wörter betraf,
die im Satz eher weit von einander entfernt waren. So hatten die Vpn. große Probleme beim
Beurteilen von Sätzen mit sog. „tag-questions“, die eine Übereinstimmung im Nomen und
Verb verlangen, wo aber einige Elemente dazwischen auftreten (z.B.: „The little boy fell
down, didn`t he?“). Solche Probleme könnten darauf hinweisen, dass die agrammatischen
Patienten nicht in der Lage sind, eine umfassende syntaktische Repräsentation eines Satzes zu
bilden, obwohl sie in der Lage sind, lokal eingeschränkte syntaktische Repräsentationen
darzustellen. So zeigte auch eine weitere Studie56, dass agrammatische Patienten die
pronominale Referenz besser verstehen, wenn das Pronomen und der Referent näher bei
einander stehen („The boy watched the chef bandage himself.“) als wenn sie weiter
auseinander stehen („The boy watching the chef bandaged himself.“) {Satzstruktur!}
Das schlechte Verstehen könnte auch auf die Probleme beim Verarbeiten der Information, die
die grammatikalischen Morpheme tragen, zurückzuführen sein. So können Sätze wie „Die
55 M.C./Schwartz,M.F./Saffran,E.M., Sensitivity to grammatical structure in so called agrammatic aphasisc. Cognition 13: 361-39256 Blumstein,S.E./Goodglass,H./Statlender,J./Biber,C. , 1983, Comprehension strategies determining reference in aphasia: A study of reflexivization. Brain and Language 18: 115-127
Katze verfolgt den Hund.“ („The dog is chased by the cat.“) nur dann korrekt verstanden
werden, wenn die grammatikalischen Morpheme entsprechend verarbeitet werden können.
Bei syntaktischen Verständnisproblemen wurden auch immer wieder Probleme bei der
Verarbeitung von grammatikalischen Morphemen beobachtet (Bradley et al., 198057;
Heilamn/Scholes, 197658; u.a.) und davon können die verschiedenen grammatikalischen
Morpheme in verschiedener Weise betroffen sein. So zeigte sich59, dass Patienten mit
agrammatischem Verständnis weniger Probleme bei der Verarbeitung von Präpositionen
hatten, wenn diese eine stärkere semantische „Ladung“ aufwiesen – sogenannte „lexikalische“
Präpositionen – wie z.B. in dem Satz „Der Bub steht auf dem Tisch.“. In diesem Fall ist die
Beziehung zwischen „Bub“ und „Tisch“ vollständig durch die Präposition festgelegt.
Daneben gibt es aber auch Präpositionen, die semantisch „leerer“ sind – sogenannte
„obligatorische“ Präpositionen, wie z.B. in dem Satz: „Antonia hofft auf einen schönen
Sommer.“ oder in: „Die Vase fällt auf den Boden.“. In diesen Fällen trägt die jeweilige
Präposition weniger zur Bedeutung des Satzes bei als im ersten Beispiel. In diesen Fällen
zeigten die Patienten deutlich größere Probleme bei der Verarbeitung der Präpositionen.
Weitere Ergebnisse, die für die Interpretation der Verständnisstörungen relevant sind, ergaben
sich aus Studien, die sich mit dem Verstehen von reversiblen Sätzen befaßten (z.B.: Schwartz
et al., 198060; Caplan/Futter, 198661;Weinrich/McCall/Weber, 199562). Dabei zeigte sich, dass
die Patienten große Probleme bei der Zuweisung der jeweiligen thematischen Rollen hatten,
wenn es sich um reversible Sätze handelte. So ist natürlich das Verstehen von Sätzen wie
„Das Mädchen küßt den Jungen.“ bzw. „Der Junge küßt das Mädchen.“ von der korrekten
Zuweisung der thematischen Rollen abhängig, was aber wiederum das korrekte Verstehen der
grammatikalischen Morpheme voraussetzt. D.h. also, dass die Patienten nicht in der Lage
waren, die grammatischen Rollen/Funktionen auf den thematischen/semantischen
Rollen/Funktionen abzubilden. Es zeigte sich aber auch, daß diese Patienten mit
agrammatischem Verständnis bei Grammatikalitätsurteilen keine Fehler machten, trotz der
Verständnisprobleme bei reversiblen Sätzen.
57 Bradley,D.C./Garrett,M.F./Zurif,E.B., Syntactic deficits in Broca’s aphasia. In: Caplan,D. (ed.) Biological studies of mental processes. Cambridge, MA58 K.M./R.J., The nature of comprehension errors in Broca’s, conduction, and Wenickes’s aphasics. Cortex: 12: 258-26559 Friederici,A.D., 1982, Syntactic and semantic processes in aphasic deficit: The availability of prepositions. Brain and Language 15: 249-258; 1985, Levels of processing and vocabulary types: Evidence from on-line comprehension in normals and agrammatics. Cognition 19: 133-16660 M.F./Saffran,E.M./Marin,O.S.M., The word order problem in agrammatism I: Comprehension, Brain and Language 10: 249-26261 D./C., Assignment of thematic roles to noun in sentence comprehension by an agrammatic patient. Brain and Language 27: 117-13462 M./D./C., Thematic role assignment in two severely aphasic patients: Associations and dissociations. Brain and Language 48: 221-237
Sicherlich ist zu beachten, dass diese Erklärung nicht die einzig mögliche ist, sondern, dass
bei den Problemen der Zuweisung der thematischen Rollen auch weitere Defizite eine Rolle
spielen können. Wir können davon ausgehen, dass die Zuweisung von thematischen Rollen
nicht-gestörte lexikalisch-semantische Mechanismen benötigt (für die mit dem Verb
mitgespeicherten Rollen) und auch nicht-gestörte syntaktische Mechanismen, die den Satz in
seine Konstituenten zerlegen und in der Folge jeder Konstituente ihre thematische Rolle
zuweisen. Somit könnten die Fehlleistungen im Verständnis auch auf ein lexikalisch-
semantisches Defizit oder ein syntaktisches Defizit zurückgehen. So besitzen lexikalische
Verben nicht nur eine konzeptuelle Information (Inhalt), sondern sie weisen auch eine
Prädikat-Argument Struktur auf, die die Zuweisung der thematischen Rollen festlegt.
Allerdings könnte das Defizit auch syntaktisch sein, das trotz der erhaltenen konzeptuellen
Information über das jeweilige Verb, zu einer falschen Rollenzuweisung bei reversiblen
Sätzen führt. Es scheint noch nicht möglich zu sein, eine entsprechende Entscheidung in die
eine oder die andere Richtung der Hypothesen zu treffen, so daß man eigentlich vorerst davon
ausgehen kann, dass Patienten mit Problemen bezüglich der Zuweisung von thematischen
Rollen im Satzverständnis kognitiv gesehen heterogene Fälle darstellen.
Wie wir gesehen haben variieren die grammatikalischen Schwierigkeiten von agrammatischen
Patienten nicht nur mit der Satzart, sondern auch mit der Art der Aufgabe. So zeigte sich, dass
Agrammatiker, die bei Satz-Bild-Aufgaben bei reversiblen Passivsätzen Zufallsergebnisse
erreichen, gute Ergebnisse erzielen können, wenn sie die Grammatikalität von Sätzen – nicht
nur passive sondern auch andere komplexe Sätze (vgl. Linebarger a.a.O.) – beurteilen sollen.
Solche Ergebnisse sind natürlich mit den o.e. linguistischen Ansätzen schlecht zu erklären.
Für dieses Verhalten – der Dissoziation zwischen Verstehen und Beurteilen – gibt es zwei
Erklärungsmöglichkeiten: a) das agrammatische Problem ist nicht die Satzzerlegung (das
„Parsen“), sondern das Abbilden der syntaktischen Repräsentation auf einer semantischen; b)
die Hypothese einer beschränkten Kapazität, die davon ausgeht, dass das Verständnis, das
sowohl Parsing als auch Abbilden erfordert, die Verarbeitungskapazitäten des
agrammatischen Patienten überlastet; denn für das Beurteilen von Sätzen, was nur das Parsing
erfordert, gibt es genug Kapazität63.
Ein Vorteil dieser Hypothese der beschränkten Kapazität besteht darin, dass sie, da die
Beschränkung unterschiedlich sein kann, die verschiedenen Schweregrade erklären kann.
Kapazitätstheorie64: Es besteht eine einzelne Beschränkung in der Arbeitsgedächtniskapazität,
63 vgl. Kolk, H.H.J./Weijts, M., 1996. Judgements of semantic anomaly in agrammatic patients Argument movement, syntactic complexity and the use of heuristics. Brain and Language 54: 86-13564 Just, M.A./Carpenter, P., 1992. A capacity theory of comprehension: Individual differences in working memory. Psychological Review 99: 122-149; Miyake, A./ Carpenter, P.A./Just, M.A., 1994. A capacity approach
die bezüglich der Schwere variieren kann, und die nicht nur den unterschiedlichen
Verständnisfähigkeiten innerhalb der normalen Population zugrunde liegt, sondern auch dem
aphasischen Verständnis. Möglicherweise steht dies auch im Zusammenhang mit
Verständnisproblemen von älteren Leuten. Bei der Untersuchung von Miyake et al.65 zeigte
sich, dass verschiedene Subgruppen von Hirngesunden unterschiedliche Leistungsprofile
zeigten: ein spezifischer Satztypus konnte für eine Subgruppe relativ einfach sein, aber relativ
schwer für eine andere, womit sich eine „doppelte Dissoziation“ innerhalb der normalen
Erwachsenen ergab. Manche dieser Dissoziationen verschwanden nach wiederholten Tests,
andere blieben stabil. Was eine ziemliche Herausforderung dafür ist, dass den
neurolinguistischen Patienten routinemäßig spezifische Defizite auf der Ebene von speziellen
Komponenten des Sprachsystems zugeschrieben werden.
Damit stellt sich aber auch die Frage, handelt es sich um eine allgemeine
Kapazitätsbeschränkung oder eine eingeschränkte. Die Kapazitätshypothese wird aber auch in
Frage gestellt66. So wurde bei Alzheimerpatienten (haben auch Kapazitätsreduktion)
festgestellt, dass die Leistungen nur bei Sätzen schlechter waren, die 2 Ereignisse (= 2
Propositionen) enthielten und es gab keinen Effekt der Kanonizität wie bei Aphasiepatienten.
Diese Dissoziation zwischen Kanonizität und der Anzahl der Propositionen weist darauf hin,
dass man zwischen – mindestens – zwei Arten von Kapazitäten, die sich auf die Sprache
beziehen, unterscheiden muss: a) eine rein syntaktische und b) eine, die sich mit verbalem
Schließen („reasoning“) – eine Unterstützung für die Annahme von zwei separaten
Fähigkeiten für die syntaktische und die semantische Analyse.
Eine große Zahl von Forschern hat behauptet, dass diese Kapazitätsbeschränkung auf das
Parsen beschränkt ist67. Die Parsingbeschränkung bezieht sich nur auf Agrammatiker, auf
Agrammatiker und Paragrammatiker oder auf alle Aphasiepatienten mit
Verständnisstörungen. Parsing hat natürlich viele Aspekte, so dass nicht ausgeschlossen ist,
dass die Kapazitätsbeschränkung noch selektiver ist.
Spezifische Kapazitätsstörungen variieren bezüglich der Natur der Beschränkung: räumlich
oder zeitlich. Räumlich: die Größe des syntaktischen Buffers ist zu gering; temporal: 2 Arten:
to syntactic comprehension disorders: Making normal adults perform like aphasic subjects. Cognitive Neuropsychology 11: 671-71765 Miyake, A./Carpenter, P.A./Just, M.A., 1994. A capacity approach to syntactic comprehension disorders: Making normal adults perform like aphasic patients. Cognitive Neuropsychology 11: 671-71766 vgl. Rochon, E./Waters, G.S./Caplan, D., 1994. Sentence comprehension in patients with Alzheimer’s disease. Brain and Language 46: 329-349; Waters, G.S./Caplan, D./Rochon, E., 1995. Procssing resources and sentence comprehension in patients with Alzheimer’s disease. Cognitive Neuropsychology 12: 1-3067 z.B.: Friederici, A.D./Frazier, L., 1992. Thematic analysisin agrammatic comprehension: Thematic tsructures and task demands. Brain and Language 42: 1-29; Caplan, D./Hildebrandt, N. 1988. Disorders of syntactics comprehension . Cambridge, Mass.
entweder die Aktivierung der grammatikalischen Information ist verlangsamt oder die
Ergebnisse des Parsings zerfallen aus pathologischen Gründen äußerst schnell.
Dieser kurze Überblick über die Probleme des Satzverständnisses hat gezeigt, daß es noch
nicht möglich ist sich ein einigermaßen kohärentes Bild vom Defizit des grammatikalischen
Verständnisses zu machen. Es hat sich auch gezeigt, dass es sicherlich notwendig sein wird,
detailliertere Modelle des Verständnisses zu entwickeln, um zu umfassenderen Erklärungen
zu gelangen.
Klinisch-anatomische Korrelate der grammatikalischen Störungen
Abschließend wollen wir noch ganz kurz – so weit bekannt – auf klinisch-anatomische
Korrelate der grammatikalischen Störungen eingehen. Bereits in der ersten Hälfte des 20.Jhdt.
gab es erste detaillierte Beschreibungen der Läsionen von agrammatischen Patienten. So
wiesen zwei Patienten nach chirurgischen Eingriffen in der Nähe des Broca Areals
Agrammatismus und motorische Aphasie auf68. Nach Pick (191369) sind bei Patienten mit
Agrammatismus meist die frontalen Areale der linken Hemisphäre von Läsionen betroffen.
Auch Kleist (193470) betonte die Rolle, die eine Läsion im unteren Teil des dritten frontalen
Gyrus bei der Entstehung von agrammatischen Sprechen spielt, und jene der temporalen
Strukturen (Brodmann Area 22) für agrammatisches Verständnis.
In neuerer Zeit hat die Verwendung von nicht-invasiven bildgebenden Verfahren dazu
geführt, dass eine große Zahl von Patienten in Hinblick auf die klinisch-anatomischen
Korrelate untersucht werden konnten. In einigen Studien71 zeigte sich eine Korrelation
zwischen Broca-Aphasie mit Agrammatismus und Läsionen im unteren Teil der dritten
frontalen Hirnwindung der linken Hemisphäre. Diese Ergebnisse entsprechen den klinischen
Beobachtungen, dass Agrammatismus häufig bei Broca-Aphasie beobachtet werden kann.
Allerdings gibt es auch andere Studien72, die darauf verweisen, dass eine andauernde Broca-
Aphasie mit Agrammatismus nur nach Läsionen zu beobachten ist, die zusätzlich zum Broca-
Areal auch postrolandische und perisylvische Bereiche einschließen. So zeigte sich auch, dass
selbst eine beidseitige Läsion des Broca-Areals nicht ausreicht, um eine Broca-Aphasie mit
Agrammatismus zu verursachen.
68 Bonhoeffer,K., 1902, Zur Kenntnis der Rückbildung motorischer Aphasien. Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie 10: 203-22469 A., Die agrammatischen Sprachstörungen. Berlin70 K., Kriegsverletzungen des Gehirns in ihrer Bedeutung für die Hirnlokalisation und Hirnpathologie. Leipzig71 z.B.: Kertesz,A./Harlock,W./Coates,A., 1979, Computer tomographic localization and prognosis in aphasia and nonverbal impairment. Brain 108: 34-5072 Mohr,J.P. et al., 1978, Broca aphasia: Pathology and clinical. Neurology 28.311-324
Selbst wenn man den Agrammatismus allein – und nicht nur als ein Symptom der Broca-
Aphasie – betrachtete, ergaben sich heterogene anatomisch-klinische Korrelate. Bei einer
Untersuchung von 26 Patienten73, die nur aufgrund ihrer sprachlichen Störung als
agrammatisch klassifiziert wurden, stellte sich heraus, dass die häufigsten Läsionen nicht das
Broca-Areal betrafen, sondern die Insel – einen Bereich, der üblicherweise nicht mit der
Verarbeitung von Sprache in Verbindung gebracht wird.
Studien, die sich also mit den klinisch-anatomischen Korrelaten der agrammatischen
Störungen befassten, führten zu durchaus heterogenen Ergebnissen. Aus diesen läßt sich
herauslesen, dass bei rechts-händigen Personen die von der mittleren Hirnarterie versorgten
Bereiche der linken Hemisphäre eine Rolle bei der Verarbeitung grammatischer Aspekte der
Sprache spielen, wobei unter ihnen die prärolandischen Bereiche wichtiger zu sein scheinen
als die postrolandischen. Trotzdem muss darauf hingewiesen werden, dass keine präzisen
Korrelationen möglich sind, und daß die Untersuchungen zeigen, dass grammatikalische
Störungen bei Patienten mit unterschiedlichen Läsionen auftreten können. Die
unterschiedlichen Ergebnisse kommen allerdings nicht ganz überraschend, wenn man sich die
Kriterien für die Klassifizierung der Patienten näher ansieht. In manchen Fällen war das
Einteilungskriterium die Broca-Aphasie und nicht der Agrammatismus. In anderen Fällen
wiederum wurden die Patienten als agrammatisch klassifiziert und zwar aufgrund Merkmalen
in ihrer Spontansprache (Auslassen von grammatischen Morphemen, kurze Sätze), wobei dies
– wie wir gesehene haben – nicht unbedingt zu kognitiv homogenen Gruppen führt. Somit
kann man eigentlich nur davon ausgehen, dass detailliertere Korrelationen zwischen dem
neuronalen Substrat und den kognitiven Mechanismen, die für die Verarbeitung des
grammatischen Aspekts der Sprache in Produktion und Verständnis verantwortlich sind, erst
dann zu erwarten sind, wenn es explizitere Hypothesen bezüglich der kognitiven bzw.
sprachlichen Mechanismen gibt, die in der Produktion und dem Verständnis von Sätzen
involviert sind. Solche Überlegungen werden wir in der Folge besprechen.
Defizite im Satzverständnis
Eigentlich erfolgte dies schon seit Untersuchungen in den 70ern zeigten, dass auch
73 Vanier,M./Caplan,D., 1990, CT-scan correlates of agrmmatism. In: Menn,L./Obler,L.K./Goodglass,H. (eds.) Agrammatic aphasia: Cross-language narrative source book. Baltimore
Aphasiepatienten mit gutem Verständnis von Einzelwörtern Probleme im Bereich des
Satzverständnisses aufwiesen74. D.h. dass ein Patient die Bedeutung der Wörter „Hund“,
„Katze“, „kratzt“, „schwarz“ kennt, aber den Satz „Die Katze, die den Hund kratzt, ist
schwarz.“ nicht versteht – also nicht erkennt, wer kratzt und wer schwarz ist. Diese
fehlerhafte Zuordnung der (thematischen) Rollen (semantischen Funktionen) der Nomen in
der jeweiligen Satzstruktur zeigte sich besonders deutlich bei sogenannten „reversiblen“
Sätzen, wie z.B. „Das Mädchen küsst den Jungen.“ oder „Das Mädchen wird vom Jungen
geküsst.“, aber bei einem strukturell ähnlichen Satz, wie „Der Briefträger wird vom Hund
gebissen.“, hatten dieselben Patienten kaum Probleme mit der korrekten Rollenzuordnung.
Aufgrund solcher Untersuchungsergebnisse lag der Schluss nahe, dass diese Patienten dann
Probleme beim Satzverständnis haben, wenn sie die (morpho-)syntaktische Struktur des
Satzes für die Rollenzuweisung benötigten. Verständlich, dass diese Ergebnisse begeistert
aufgenommen wurden und zwar innerhalb und außerhalb der Aphasiologie, schiene doch
dieses Ergebnisse auf die selektive Störung eines Verarbeitungsmoduls hinzuweisen, dass
unabhängig von der Semantik war75.
Diese frühen Erkenntnisse zum Satzverständnis schienen mit den Theorien zur
Satzverarbeitung aus den 60ern übereinzustimmen, die ein deterministisches Regelset für das
Parsen annahmen. D.h. also ein Set von PS-Regeln und Transformationen, um die
syntaktische Struktur eines Satzes zu erzeugen76. Dabei wurde angenommen, dass diese
Regeln rein syntaktisch sind und auf eine Abfolge von Wörtern auf der Basis der
Wortkategorie (z.B. Nomen, Verb, Adjektiv...) angewendet werden und nicht aufgrund der
Bedeutung. Wenn nun das ganze Regelset aufgrund einer Schädigung des Gehirns gestört ist,
würde man auch erwarten, dass die jeweiligen Patienten bei jeder Aufgabe, die eine
syntaktische Analyse verlangt, dementsprechend schlechte Leistungen zeigen. In einer
durchaus einflussreichen Arbeit77 wurde angenommen, dass Patienten mit Broca-Aphasie ein
Defizit in allen Bereichen der syntaktischen Verarbeitung aufweisen; d.h. ihre agrammatische
Produktion und ihre Probleme beim Verstehen von reversiblen Sätzen werden auf ein
allgemeines Defizit im syntaktischen Parsen zurückgeführt. Allerdings stehen dieser
Annahme einige problematische Untersuchungsergebnisse gegenüber.
So zeigten sich durchaus Dissoziationen zwischen der agrammatischen Sprachproduktion und 74 z.B.: Von Stockert, T./Bader, L., 1976. Some relations of grammar and lexicon in aphasia. Cortex 12: 49-6075 z.B.: Caramazza, A./Berndt, R.S., 1978. Semantic and syntactic processes in aphasia: A review of the literature. Psychological Bulletin 85: 898-91876 z.B.: Fodor, J./Garrett, M., 1967. Some syntactic determinants of sentential complexity. Perception and Psychophysics 2: 289-29677 Berndt, R.S./Caramazza, A., 1980. A redefinition of the syndrome of Broca’s aphasia: Implications for a neuropsychological model of language. Applied Psycholinguistics 1: 225-278
den Problemen beim Satzverständnis78. In mehreren Studien wurde auf die abgestufte
Satzverständnisstörung der Patienten hingewiesen; d.h. der Grad der Störung hing von der
Schwierigkeit der syntaktischen Strukturen ab, wobei die Patienten bei z.B. einfachen
Passivsätzen bessere Leistungen zeigten als bei den komplexen Relativsätzen79. Dem könnte
man nun entgegenhalten, dass diese Ergebnisse trotzdem aufgrund eines syntaktischen
Defizits erklärbar sind, denn es könnten ja unterschiedliche syntaktische Regeln
unterschiedlich betroffen sein, wobei verschiedene Patienten Störungen bei verschiedenen
Regeln aufweisen. D.h. gute Leistungen würden sich ergeben, wenn bestimmte Sätze nicht
auf diese Regeln zurückgreifen und Zufallsergebnisse finden sich dann, wenn diese Regeln
involviert sind. Allerdings zeigte sich auch, dass sogar für eine bestimmte Struktur (z.B.
Passiv) abgestufte Leistungen beobachtbar waren, wobei die Ergebnisse zwischen vollständig
korrekt und zufällig lag80.
Zusätzlich wurde auch festgestellt, dass die Leistungen der Patienten bei der Verarbeitung von
Sätzen auch von der jeweiligen Aufgabe abzuhängen scheint. So zeigte sich, dass Aphasiker
mit fast zufälligen Ergebnissen bei einem Test mit reversiblen Passivsätzen
(Bildzuordnungsaufgabe) bessere Ergebnisse aufwiesen, wenn die Aufgabe ein
Grammatikalitätstest war81. Als Erklärung nahmen die Autoren dieser Studie an, dass die
Patienten keine Probleme mit dem syntaktischen Parsen hatten, sondern mit dem Abbilden der
grammatischen Funktionen der jeweiligen Elemente im Satz auf den thematischen Rollen.
Wie wir gesehen haben, hat es eigentlich von Beginn der Untersuchungen an eine starke
Betonung der rein syntaktischen Faktoren beim Parsen von Sätzen gegeben. Allerdings haben
– spätere – Untersuchungen gezeigt, dass auch lexikalische und semantische Merkmale ein
Rolle spielen. So stellte sich etwa heraus, dass das die Präferenz für das „Anhängen“
(„attachment“) einer Präpositionalphrase an das Verb (Modifikation des Satzes) oder an ein
Nomen in einem ambigen Satz wie „He saw the girl with the binoculars.“ vom Verb
beeinflusst wird und zwar insofern als es sich entweder um ein perzeptives Verb („saw“) oder
ein Handlungsverb („hit“) handelt82.
Weitere Ergebnisse von Untersuchungen weisen darauf hin, dass lexikalisch-semantische
Aspekte und sogar die Semantik auf der Diskursebene anfängliche Parsingentscheidungen
78 Miceli, G./Mazzucchi, A./Menn, L./Goodglass, H., 1983. Contrasting cases of Italian agrammatic aphasia without comprehension disorder. Brain and Language 19: 65-9779 Caplan, D./Hildebrandt, N., 1988. Disorders of syntactic comprehension. Cambridge, MA.80 Kolk, H./van Grunsven, M., 1985. Agrammatism as a variable phenomenon. Cognitive Neuropsychology 2: 347-38481 Linebarger, M./Schwartz, M./Saffran, E., 1983. Sensitivity to grammatical structures in so-called agrammatic aphasics. Cognition 13: 361-39282 Spivey-Knowlton, M./Sedivy, J., 1995. Resolving attachment ambiguities with multiple constraints. Cognition 55: 226-267
beeinflussen83. Wenn z.B. Sätze mit „The evidence examined...“ bzw. „The woman
examined...“ beginnen, so könnte in beiden Fällen „examined“ das Hauptverb oder ein Teil
eines verkürzten Relativsatzes (z.B.: „The evidence examined by the lawyer.“ oder „The
woman examined by the lawyer.“) sein. Die Testergebnisse (Trueswell et al., 1994) zeigten,
dass die Wahrscheinlichkeit, dass das erste Nomens ein Agens ist, bzw. die
Wahrscheinlichkeit, dass es sich beim ersten Nomen um das Thema (Objektiv) des Satzes
handelt, einen Einfluss darauf ausübt, ob die anfänglichen Entscheidungen des Parsers in
Richtung der Hauptverb- bzw. reduzierten Relativsatz-Interpretation ging. somit würde bei
diesen Beispielen die Hauptverbinterpretation bevorzugt werden, wenn das erste Nomen
„woman“ ist und die reduzierte Relativsatz-Interpretation, wenn das erste Nomen „evidence“
ist, da es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass „evidence“ als Agens von „examine“ auftritt. Die
Überlegungen gehen also dahin, dass das semantische und das syntaktische System
unabhängig von einander entsprechende Beschränkungen erzeugen84, aber die vielen
Beschränkungen (syntaktisch, lexikalisch, semantisch und diskursiv) agieren gleichzeitig, um
die anfängliche Satzinterpretation festzulegen.
Grundsätzlich schließen allerdings diese Ergebnisse, dass nicht-syntaktische Faktoren die
syntaktische Analyse beeinflussen, nicht die Möglichkeit aus, dass das Wissen bezüglich
allgemeiner syntaktischer Beschränkungen unabhängig von der lexikalisch spezifizierten
syntaktischen Information und der semantischen Information repräsentiert ist. Allerdings
scheinen diese Ergebnisse doch darauf hinzuweisen, dass während der Satzverarbeitung die
auf der Syntax beruhenden Regeln keine solche zentrale Rolle spielen, dass sie nicht von
anderen Informationsquellen beeinflusst werden können. Diese Ergebnisse weisen aber auch
darauf hin, dass an jenen Stellen, die mehrdeutig sind, parallel verschiedene mögliche
Strukturen mit unterschiedlichen Gewichtungen aktiviert werden könnten, wobei die
jeweiligen Gewichtungen aufgrund unterschiedlicher Faktoren erfolgt. Ein Beispiel für ein
Modell, das zwar in bezug auf die Repräsentation Unabhängigkeit aber bei der Verarbeitung
Interaktion annimmt, ist das Modell von Boland85 („concurrent model“):
83 Trueswell, J./Tanenhaus, M./Garnsey, S. 1994. Semantic influences on parsing: Use of thematic role information in syntactic ambiguity resolution. J. of Memory and Language 33: 285-318; Spivey, M./Tanenhaus, M., 1998. Syntactic ambuguity resolution in discourse: Modeling the effects of referential context and lexical frequency. J. of Experimental Psychology: Learnin, Memory, and Cognition 24: 1521-1543; van Berkum, J./Brown, C,/Hagoort, P., 1999. Early referntial context effects in sentence processing: Evidence from event-related brain potentials. J of Memory and Language 41: 147-18284 Boland, J./Cutler, A., 1996. Interaction with autonomy: Multiple output models and the inadequacy of the Great Divide. Cognition 58: 309-32085 Boland, J., 1997. The relationship between syntactic and semantic processes in sentence comprehension. Language and Cognitive Processes 12: 423-484
Bei diesem Modell wird angenommen, dass all jene syntaktischen Strukturen, die mit dem
Input übereinstimmen, sobald eben das jeweilige Wort verarbeitet ist, parallel generiert
werden. Dabei variiert die Gewichtung der verschiedenen Strukturen aufgrund der
Häufigkeiten, die mit der spezifischen lexikalischen Information verbunden ist. Gleichzeitig
werden semantische Interpretationen erstellt, wobei den nominalen Konstituenten
wahrscheinliche Rollen aufgrund von lexikalischer und pragmatischer Information
zugewiesen werden. Der Output des syntaktischen Systems wird ebenfalls an das semantische
System weitergegeben. Wenn nun mehr als eine syntaktische Struktur möglich ist, wird sofort
die semantische Information genützt, um die wahrscheinlichste syntaktische Struktur
auszuwählen. Im Falle des Beispiels oben („The evidence examined...“) würde das
syntaktische System sowohl die Hauptverb-Interpretation als auch die reduzierte Relativsatz-
Interpretation erzeugen und zwar mit einer stärkeren Gewichtung der Hauptverb-
Interpretation, weil ja reduzierte Relativsatzkonstruktionen weniger häufig vorkommen.
Gleichzeitig würde aber das semantische System versuchen plausible Beziehungen zwischen
„evidence“ und „examined“ herzustellen, wobei es zu einer stärkeren Gewichtung von
„evidence“ als Thema/Objektiv als als Agens kommt. Nachdem die beiden möglichen
syntaktischen Analysen an das semantische System weitergegeben werden, würde die
reduzierte Relativsatz-Interpretation gewählt werden; d.h. also die Thema/Objektiv-
Interpretation von „evidence“. Diese Beispiel zeigt die stärkere Gewichtung dieser
Interpretation von „evidence“ aufgrund des semantischen Systems. D.h. die Hauptverb-
Interpretation des syntaktischen Systems wird außer Kraft gesetzt. Im Gegensatz dazu würde
bei der Variante „The woman examined...“ die Hauptverbinterpretation favorisiert werden, da
eine stärkere Gewichtung dieser Interpretation im syntaktischen System dazu führt, dass die
relativ geringe Gewichtung im semantischen System aufgehoben wird – „relativ“ schwach,
deswegen weil die Agens- bzw. Thema-/Patiens-Rollen eher gleich wahrscheinlich sein
könnten. In diesem Modell sind die semantische und syntaktische Information unabhängig
von einander repräsentiert, aber die Ergebnisse der unterschiedlichen Analysen werden bei
der Verarbeitung eines jeden Wortes integriert.
{Ähnlicher Ansatz von Spivey, M./Tanenhaus, M., 1998. (Syntactic ambiguity resolution in
discourse: Modeling the effects of referential context and lexical frequency. J. of
Semantic system
Syntactic systemLexical processingsystem
Experimental Psychology: Learning, Memory, and Cognition 24: 1521-1542) (p. 297f).}
Bei diesem Modell handelt es sich um ein sogenanntes „constraint-based“ Modell, da
verschiedene Arten von Beschränkungen die syntaktischen Interpretation eines Satzes
(mit-)bestimmen. Im Grunde genommen ermöglichen diese Modelle unterschiedliche
Gewichtungen des Outputs der verschiedenen Verarbeitungsbereiche (Domänen, Module).
Entsprechend den Annahmen in andere Bereichen der kognitiven Verarbeitung kann eine
Schädigung des Gehirns nun den Output eines oder mehrerer Verarbeitungsbereichs
schwächen oder – in einem interaktiven Aktivierungsmodell – die Stärke der Verbindungen
zwischen verschiedenen Knoten schwächen. D.h. es wird angenommen, dass die einzelnen
Verarbeitungsbereiche nicht keinen Output produzieren, sondern eine abgeschwächten. Das
würde etwa im Modell von Boland bedeuten, dass – wenn das syntaktische System
geschwächt ist – die korrekten syntaktischen Alternativen trotzdem erzeugt werden würden,
aber eben mit verminderten Gewichtungen. Diesen Ansätzen entsprechend sollte es möglich
sein, das Patienten selektive Defizite in unterschiedlichen Bereichen der Satzverarbeitung
aufweisen; so z.B. bei der Erstellung syntaktischer Strukturen oder bei der Verwendung der
semantischen Struktur für die Verarbeitung der thematischen Rollen. Wenn man von einer
Schwächung des Outputs (eines Systems) ausgeht, kann man nicht notwendigerweise
erwarten, dass entweder ein vollständiger Erhalt oder eine vollständige Störung der
Verarbeitung vorhanden ist. Diese Ansätze implizieren aber auch, dass der Einfluss des
geschwächten Systems auf die Interpretation eines Satzes von den Gewichtungen des Outputs
der anderen Systeme abhängig ist. So wird bei einem Satz bei dem starke Gewichtungen von
anderen Systemen kommen, der Output des geschwächten Systems wahrscheinlich
vollständig aufgehoben werden, wogegen – wenn keine solchen starken Beschränkungen
vorliegen – der Output des geschwächten Systems einen gewissen Einfluss auf die
Satzinterpretation haben kann.
Die Unabhängigkeit von Syntax und Semantik
Erhaltene Syntax und gestörte Semantik
Auf den Erhalt der Syntax beim Vorhandensein von semantischen Störungen weisen eine
Anzahl von Studien mit Alzheimer Patienten oder mit Patienten mit progressiver Aphasie
hin86. Ein Beispiel dazu ist die Fallstudie von Hodges et al. (1994)87, wo die Patientin PP mit
semantischer Demenz88 gestörte Leistungen bei einer Reihe von semantischen Aufgaben,
darunter Bildbenennen, Wort-Bild-Zuordnungen und Aufgaben wie das Finden von
Kohyponymen zu einem Hyperonym. Ihre syntaktischen Fähigkeiten wurden mittels „word
monitoring“ untersucht. Dabei wird ein Zielwort vorgegeben und danach ein Satz und die
Probanden müssen sofort reagieren, wenn dieses Wort auftritt. Dabei hat sich herausgestellt,
dass die Zeit, die die Probanden dafür brauchen, von semantischen und syntaktischen
Wohlgeformtheit der Sätze abhängig ist. Die Leistungen von PP waren bei syntaktisch
wohlgeformten Sätzen schneller als bei Sätzen mit falschen Wortstellungen, was auch den
Ergebnissen mit normalen Probanden entspricht89. Jedoch anders als bei normalen Probanden
ergab sich kein Effekt, wenn die Sätze zwar syntaktisch korrekt aber nicht semantisch korrekt
waren: Die Ergebnisse von PP entsprachen in diesen Fällen fast genau jenen wie bei
semantisch und syntaktisch korrekten, wogegen die normalen Probanden eine Verlängerung
der Reaktionszeiten bei den semantisch inkorrekten aufwiesen. Daraus wurde geschlossen,
dass das Defizit dieser Patientin sich deutlich auf ihre Fähigkeit semantische Information
während des Satzverständnisses zu verarbeiten auswirkt, ihre Fähigkeit Syntax zu verarbeiten
aber ausgespart ist.
Weitere Untersuchungen90 weisen darauf hin, dass solche Patienten basierend auf Satzstruktur
und Verb-Argument-Strukturen thematische Rollen zuweisen können. Dabei wurde eine
modifizierte Form der üblichen Satz-Bild-Zuordnungsaufgaben verwendet, wobei die
Patienten zwei Tiere in einer semantisch reversiblen Handlung sahen (z.B.: Ein Tiger verfolgt
86 z.B.: Breedin, S./Saffran, E., 1999. Sentence processing in the face of semantic loss: A case study. J. of Experimental Psychology: General 128: 547-562; Hodges, J./Patterson, K./Tyler, L., 1994. Loss of semantic memory: Implications for the modularity of mind. Cognitive Neuropsychology 11: 505-542; Schwartz, M./Marin, O.S.M./Saffran, E., 1979. Dissociation of language function in dementia: A case study. Brain and Language 7: 277-30687 s. Fn. 13)
88 semantische Demenz: Eine Form von progressiver flüssiger Aphasie mit folgenden Charakteristika: (1) selektive Störung des semantischen Gedächtnisses, was zu schweren Benennstörungen, gestörtem Einzelwortverständnis (sowohl gesprochen als auch geschrieben), geringere Produktion von Beispielen bei Kategorieflüssigkeitstests und verringertem Allgemeinwissen führt; (2) relativ ausgespart sind davon andere Komponenten des sprachlichen Outputs, im speziellen Syntax und Phonologie; (3) normale perzeptuelle Fähigkeiten und nonverbale Problemlösungsfähigkeiten; (4) relativ gut erhaltenen autobiographisches und episodisches (Tag-für-Tag) Gedächtnis; (5) eine Lesestörung nach dem Muster der Oberflächendyslexie {Beeinträchtigung des Ganz-Wort-Lesens, d.h. das Wort erkennen und auch auszusprechen, aber lautierend ist Lesen möglich, daher entstehen große Probleme beim Lesen von irregulären Wörtern (im E z.B.: „pint“ gelesen als „pinnt“)} Hodges et al. p. 507;
Bei DAT ist fast immer auch das episodische Gedächtnis schwer gestört und meist sind auch andere kognitive Bereiche, z.B. visuell-räumliche, betroffen.89 Tyler, L., 1992. Spoken language comprehension: An experimental approach to disordered and normal processing. Cambridge, MA90 Schwartz, M./Marin, O.S.M./Saffran, E., 1979. Dissociation of language function in dementia: A case study. Brain and Language 7: 277-306; Breedin, S./Saffran, E., 1999. Sentence processing in the face of semantic loss: A case study. J. of Experimental Psychology: General 128: 547-562
einen Löwen.). Die Patienten hörten einen Satz, der die Handlung beschrieb und sie sollten
auf eines der Tiere zeigen – z.B.: „The lion was chased by the tiger. Show me the lion.“ In
diesen Fällen konnten die Patienten das gefragte Tier korrekt zeigen – also wenn der Satz die
Handlung korrekt beschrieb. Sie wählten aber das falsche Tier, wenn im Satz die Rollen der
Tiere umgedreht waren, also z.B. „The tiger was bitten by the lion. Show me the lion.“ mit
einem Bild, auf dem ein Tiger einen Löwen beisst, dabei wurde nun der Tiger gewählt. D.h.
die Wahl dieser Patienten beruhte nicht auf der lexikalischen Semantik, sondern auf der
thematischen Rolle, die die genannte Entität im Satz spielte. In diesem Satz ist „lion“ das
grammatikalische Objekt der by-Phrase, spielt aber die thematische Rolle des Agens. Vom
Patienten wurde aber jene Entität im Bild gewählt, die das Agens des Verbs zu sein schien.
Diese Vorgangsweise zeigte sich bei Patient DM (Breedin et al., 1999) auch bei Aktivsätzen
wie „The lion carried the tiger. Show me the lion.“, bei Subjekt- und Objekt-cleft-Sätzen („It
is the lion that carried the tiger.“ bzw. It is the lion that the tiger carried.“). Die Ergebnisse
dieser Untersuchungen weisen darauf hin, dass manche Patienten mit schweren semantischen
Defiziten grammatikalische Strukturen verarbeiten können – sogar das Abbilden von
grammatikalischen Strukturen auf thematische Rollen.
Andere Studien wiederum berichten von Dissoziationen in die andere Richtung – Patienten
mit gestörter syntaktischer Verarbeitung bei erhaltener semantischer Verarbeitung. So wies
der Patient JG91 eine deutliche Störung der syntaktischen Leistungen, aber relativ gut
erhaltene lexikalisch-semantische Fähigkeiten. Bei Satz-Bild-Zuordnungen zeigte er schlechte
Ergebnisse, wenn das Ablenkerbild die Vertauschung von Agens und Patiens aufwies –
dagegen gute Leistungen, wenn das Ablenkerbild eine lexikalische Ersetzung aufwies. Bei
Grammatikalitätsurteilen ergaben sich ebenfalls schlechte Leistungen. Bei
Wortmonitoringaufgaben, die sich auf die Verarbeitung von Wörtern in Satzkontexten
bezogen, zeigte sich deutliche Probleme bei den verschiedenen grammatikalischen
Verletzungen der Satzstruktur – etwa bei Flexions- und Derivationsmorphologie oder bei
Verletzungen der Wortstellung. Allerdings zeigte er bei semantischen Primingaufgaben
dieselben Effekte wie normale Probanden.
Interaktionen zwischen Syntax und Semantik
Diese Beispiele weisen darauf hin, dass zumindest einige Aspekte der semantischen und der
syntaktischen Information unabhängig von einander repräsentiert sein könnten. Allerdings
bedeutet das noch nicht, dass semantische und syntaktische Beschränkungen während der
91 Ostrin, R./Tyler, L., 1995. Dissociations of lexical function: Semantics, syntax, and morphology. Cognitive Neuropsychology 12: 345-389
Satzverarbeitung nicht mit einander interagieren. Man könnte nun annehmen, dass bei
manchen Patienten das syntaktische Wissen geschwächt, aber nicht vollständig gestört ist.
Eine Konsequenz daraus könnte sein, dass die am wenigsten häufigen Strukturen davon
betroffen sind. Nimmt man nun an, dass die Prozesse, die bei der Zuweisung der thematischen
Rollen aufgrund von semantischer und pragmatischer Information mitwirken, bei diesen
Patienten erhalten sind, könnten eben bei der Rollenzuweisung die semantischen Faktoren die
syntaktischen außer Kraft setzen und zwar besonders bei den weniger häufigen syntaktischen
Strukturen. Wenn nun die semantische Information schwächere Beschränkungen bietet, dann
könnte eben der Einfluss der syntaktischen Struktur beobachtet werden.
So wiesen in einer Untersuchung92 Patienten mit asyntaktischen Verständnismustern bei Satz-
Bildzuordnungen (5 Broca, 1 Leitungsaph., 1 transkort.-motor.) einen deutlichen Effekt der
semantischen Beschränkungen auf das Abbilden thematischer Rollen auf. Es wurden 2 Arten
von Sätzen verwendet: 1) mit Beschränkungen, die auf dem Verb beruhten und 2) mit
Beschränkungen, die auf der Proposition beruhten. Bei jenen Sätzen mit Verbbeschränkungen
konnte ein Nomen nicht für eine thematische Rolle bei diesem Verb in Frage kommen,
dagegen konnte das zweite Nomen beide Rollen ausfüllen. Z.B. im Satz „The cat barked at
the puppy.“ kann ein junger Hund bellen oder auch angebellt werden, wogegen eine Katze nur
angebellt werden kann. Bei den Sätzen mit den propositionellen Beschränkungen konnten
beide Nomen jede Rolle einnehmen, aber bei der nicht-plausiblen Version des Satzes war die
Proposition insgesamt nicht plausibel. So z.B. im nicht-plausiblen Satz „The insect ate the
robin.“ können sowohl Insekten als auch Rotkehlchen fressen und gefressen werden, aber es
ist eben nicht plausibel. dass so etwas Kleines wie ein Insekt ein Rotkehlchen frisst. Die
gesunden Kontrollpersonen waren weniger genau beim Entdecken von nicht plausiblen Sätze
bei jenen mit „Verbbeschränkungen“ im Vergleich zu jenen mit propositionellen
Beschränkungen (4,7% vs. 1,3%) – was auf eine gewisse Tendenz hinweist die nicht
plausiblen Sätze mit „Verbbeschränkungen“ zu interpretieren, indem Nomen jener Stelle
zugeschrieben werden, die semantisch am plausibelsten ist, auch wenn die Syntax dagegen
spricht. Bei den Patienten zeigte sich dieser Unterschied noch wesentlich deutlicher (45,7%
Fehler vs. 22,9% Fehler), was auf einen großen Effekt der Plausibilität der thematischen
Rollenzuweisung von Nomen zu den jeweiligen Rollen hinweist. So ein Satz wie „The deer
shot the hunter.“ wurde von den Patienten oft als plausibel eingestuft – wahrscheinlich weil
die Rollenzuweisungen eher aufgrund semantischer Beschränkungen als aufgrund der
syntaktischen Struktur erfolgte. Die wesentlich besseren Leistungen bei den propositionellen
92 Saffran, E,/Schwartz, M./Linebarger, M., 1998. Semantic influences on thematic role assignments: Evidence from normals and aphasics. Brain and Language 62: 255-297
Beschränkungen deuten doch darauf hin, dass diese Patienten doch eine gewissen Sensibilität
gegenüber den syntaktischen Strukturen aufwiesen. Was auf einen geschwächten aber nicht
vollständig gestörten Einfluss der syntaktischen Struktur und stärkeren semantischen
Einflüssen bei Satzverständnis hinweist.
Ein weiterer Hinweis auf eine Interaktion zwischen Semantik und Syntax kommt aus einer
anderen „Wort-Monitoring-Studie93 mit einem agrammatischen Patienten (DE), der schon in
einer früheren Studie94 Probleme bei der syntaktischen Strukturierung von Sätzen aufgewiesen
hatte. {Beispiele:
Normal Prose:
Everyone was outraged when they heard. Apparently, in the middle of the night some thieves
broke into the church and stole a golden crucifix.
Anomalous Prose:
Everyone was exposed when they ate. Apparently, at the distance of the wind some ants
pushed around the church and forced a new item.
„Scrambled“ Prose:
They everyone when outraged heard was. Of middle apparently the some the into the broke
night in thieves church and crucifix stole a golden.
Gemessen RT (Reaktionszeit auf „church“)
Bei normalen Hörern bleiben die Reaktionszeiten in den „scrambled“ Ketten über die Sätze
hinweg konstant. Offensichtlich weil für den Hörer keinerlei strukturelle Information
vorhanden ist, um die Latenzen zu beeinflussen. Hingegen werden die Latenzen zunehmend
schneller bei der normalen und anormalen Prosa, was darauf hinweist, dass die Hörer
syntaktische und semantische Informationen verwenden, um eine Repräsentation auf höherer
Ebene zu erstellen. (Die schnelleren Reaktionszeiten bei der anormalen Prosa können nicht
auf semantische Assoziationen zwischen den Wörtern zurückgeführt werden, da in der
Originalstudie95 dieselben Wörter bei anormalen Prosa und der „scrambled“ Prosa verwendet
wurden und ein Effekt der Position des Wortes nur für die anormale Prosa gefunden wurde.)
DE wies dasselbe Muster von Reaktionszeiten auf wie die normalen Hörer bei der normalen
und bei der „scrambled“ Prosa. Er unterschied sich aber bei der anormalen Prosa, wobei seine
Reaktionszeiten nahmen über den Satz hinweg nicht ab, sondern blieben – wie bei der
„scrambled“ Prosa – gleich (Tyler, 1985 s. Fn 21). Diese Ergebnisse werden so interpretiert, 93 Tyler, L., 1989. Syntactic deficits and the construction of local phrases in spoken language comprehension. Cognitive Neuropsychology 6: 333-35594 Tyler, L., 1985. Real-time comprehension problems in agrammatism: A case study. Brain and Language 26: 259-27595 Marslen-Wilson, W.D./Tyler, L., 1980. The temporal structure of spoken language comprehension. Cognition 6: 1-71
dass DE zwar eine Äußerung semantisch interpretieren konnte, er aber nicht in der Lage war,
syntaktische Information in geeigneter Weise zu verwenden, um eine Repräsentation zu
erstellen. Allerdings zeigte sich auch, dass DE nicht vollständig unsensibel gegenüber allen
Aspekten der syntaktischen Struktur war, denn der Mittelwert seiner Reaktionszeiten auf alle
Zielwörter bei der anormalen Prosa war doch signifikant schneller als jener bei der
„scrambled“ Prosa. Was nicht zuletzt zur u.e. Studie führte. Denn wenn DE nicht in der Lage
ist syntaktische Information zu verwenden – worauf das Fehlen eines Effekts der Position des
Wortes bei anormalen Prosa hinweist – warum sind dann die Gesamtmittelwerte bei der
anormalen Prosa schneller als bei der „scrambled“ Prosa? In einer anderen Studie96 wurde
gezeigt, dass, wenn normale Hörer anormale Prosa verarbeiten, sie den Input in lokalen
Phrasen organisieren, die sowohl syntaktisch als auch prosodisch vollständig sind. Diese
lokalen Phrasen werden in größere Einheiten integriert und zwar mit Hilfe der allgemeinen
prosodischen Struktur der gesamten Äußerung. Dies ist die Ursache für den
Wortpositionseffekt bei anormaler Prosa. Wenn nun DE in der Lage ist Wörter zu lokalen
Phrasen zu verbinden, indem er dieselben Informationen nützt wie normale Hörer, dann
würde das sein schnelleren Gesamtlatenzen bei der anormalen Prosa im Vergleich zu
„scrambled“ Prosa erklären. D.h. das Fehlen des Wortpositionseffekts bei der anormalen
Prosa würde aufgrund der Unfähigkeit diese lokalen Phrasen in eine globale Repräsentation
einzufügen entstehen.}
Ein Beispielsatz aus dieser neueren Studie:
Anormale Prosa:
An orange dream/was loudly watching/the house/during smelly lights/because within these
signs/a slow kitchen/snored/with crashing leaves.
Scrambled Prosa:
Because within these signs/during smelly lights/was loudly watching/the house/an orange
dream/a slow kitchen/snored/with crashing leaves.
Syntaktische Unterbrechung:
An orange dream/was loudly watching/the house/during smelly lights/because within these
signs/a slow very kitchen/snored/with crashing leaves.
In dieser neueren Studie zeigte sich, dass DE lokalen syntaktischen Verletzungen („slow very
kitchen“) gegenüber durchaus sensibel war und zwar in Sätzen, die ansonsten syntaktisch
wohlgeformt waren, aber semantisch nicht korrekt. Aber bei bedeutungsmäßig korrekten
96 Tyler, L./Warren, P., 1987. Local and global structures in spoken language comprehension. J. of Memory and Language 26: 638-657
Sätzen wurden die Reaktionszeiten von solchen lokalen syntaktischen Unterbrechungen nicht
beeinflusst. Da diese Wortstellungsfehler innerhalb einer phonologischen Phrase eigentlich
nur kleine Umstellungen betreffen (z.B. „very hot kitchen“ zu „hot very kitchen“), sind ja die
wichtigsten Inhaltswörter weiterhin in der Phrase vorhanden und da DE bereits den Großteil
des Satzes gehört hat, hat er offensichtlich aufgrund der Bedeutung der lokalen Phrasen und
entsprechender (pragmatischer) Inferenzen eine bedeutungsvolle Repräsentation erstellt. Wie
sich in einer anderen Studie97 mit diesem Patienten gezeigt hatte, scheint der Patient doch eine
gewisse Sensibilität gegenüber bestimmten lokalen syntaktischen Verletzungen zu besitzen –
wie gegenüber Verletzungen der Subkategorisierung. Dies scheint darauf hinzuweisen, dass
er, wenn er ein Verb verarbeitet, auf sein syntaktischen (und semantischen) Eigenschaften
zugreifen kann – darunter eben auch die Subkategorisierung. Wenn nun die syntaktische
Verletzung es nicht erlaubt, die für die Interpretation (Subkategorisierungsverletzung)
notwendige korrekte Struktur zu erstellen, dann ist seine Fähigkeit den Input zu verarbeiten
deutlich gestört.
Das Abbilden von grammatischen und thematischen Rollen
Kurze Besprechung von einigen weiteren Aspekten der syntaktischen Verarbeitung.
Wie schon erwähnt, kann man feststellen, dass manche Patienten bei Satz-Bild-
Zuordnungsaufgaben (auch beim „Nachspielen“) große Satzverständnisprobleme aufweisen
aber nicht, wenn sie die Grammatikalität dieser Sätze beurteilen sollen. Im allgemeinen wurde
diese Dissoziation auf ein Defizit in der Zuweisung grammatischer Rollen und thematischer
Rollen zurückgeführt. Wenn allerdings die Patienten überhaupt nicht in Lage wären diesen
Abbildungsprozess auszuführen, dann sollten sie eigentlich bei allen Satzstrukturen
entsprechende Probleme aufweisen – also auch bei einfachen (kanonischen) Sätzen. Zwar gibt
es auch Patienten, die Verständnisprobleme für einfache Sätze aufweisen, jedoch haben sie
typischerweise wesentlich größere Probleme mit Sätzen mit nicht-kanonischen
Wortstellungen, wie z.B. Passivsätze oder Objektrelativsätzen.
Wenn wir noch einmal auf die o.e. „Gewichtungen“ zurückkommen, könnte sich daraus eine
mögliche Erklärung für diese Muster ergeben. Wie erinnerlich wird in diesem Modell davon
ausgegangen, dass bei ambigen Sätzen parallel mehrere syntaktische Repräsentation erstellt
97 s. Fn. 21) Es wurden Sätze verwendet, bei denen die Beziehung zwischen dem Verb und seinem Argument korrekt war („The crowd was waiting eagerly. The young man grabbed the guitar and...“), das Argument (semantische) Selektionsrestriktionen des Verbs verletzte („The crowd was waiting eagerly. The young man drank the guitar and...“) und wo das Argument die Subkategorisierungsbeschränkungen des Verbs verletzte („The crowd was waiting eagerly. The young man slept the guitar and...“). Ergebnisse: längere Latenzen bei Selektionsrestriktionen aber nochmals signifikant längere bei Verletzung der Subkategorisierung.
werden, wobei sie unterschiedlich gewichtet werden und zwar je nach ihrer Häufigkeit.
Obwohl in den meisten Fällen davon ausgegangen wird, dass diese Gewichtungen lexikalisch
spezifiziert sind (s. z.B. Boland, 1977, s. Fn. 12), wird doch auch von einigen angenommen,
dass die Häufigkeiten des Auftretens der verschiedenen syntaktischen Strukturen unabhängig
von den spezifischen lexikalischen Elementen gespeichert sind und dass diese Häufigkeiten
eine Rolle im Verständnis spielen98. Bei dieser Betrachtungsweise würde sogar in einem
nicht-ambigen Satz wie „The boy that the girl pushed...“ die Zuweisung der Objektposition an
„boy“ (in bezug auf das Verb des eingebetteten Satzes) eine relativ geringe Gewichtung
aufweisen und zwar weil eben dieser Typus von Objektrelativkonstruktion nicht sehr häufig
auftritt. Man könnte nun weiter annehmen, dass – obwohl die Patienten eine syntaktische
Analyse durchführen – die Gewichtungen im gesamten System aufgrund der Schädigung des
Gehirns „geschwächt“ wurden. Damit würde sich dieses Problem mit jenem beim Abbilden
der Rollen und Funktionen verbinden, woraus sich besonders deutliche Defizite beim
Abbilden von selteneren Strukturen ergeben.
Eine solche Erklärung geht davon aus, dass diese Patienten zwei Defizite aufweisen und nicht
nur eines. Wenn allerdings die syntaktische Analyse und der Abbildeprozess unabhängige
Prozesse sind, dann sollte es auch Patienten geben, die nur ein Defizit im Abbildeprozess
aufweisen.
Ein solcher Fall findet sich in der Literatur99 in einer Untersuchung zu Verbdefiziten. Dieser
Patient, LK, hatte Probleme, wenn er bei einer Satz-Bild-Zuordnungsaufgabe zwischen zwei
Bildern wählen musste, wovon der Ablenker sozusagen die „umgekehrte Rollenverteilung“
darstellte – also wenn der Zielsatz das Verb „chase“ enthielt und der Ablenker das Verb „flee“
(„buy“ vs. „sell“) darstellte, also die thematischen Rollen gleich bleiben, aber ihr Abbilden
auf die grammatikalischen Rollen/Funktionen sich unterschied. Aufgrund weiterer Tests
zeigte sich, dass das Problem dieses Patienten offensichtlich darin lag, dass er große
Schwierigkeiten hatte, zwischen Verben zu unterscheiden, die eine sehr ähnliche semantische
Repräsentation aber unterschiedliche Abbildungen bezüglich der grammatikalischen
Rollen/Funktionen und thematischen Rollen hatten. Dies wird von den Autoren als ein
selektives Problem beim Abbilden der thematischen Rollen interpretiert. Allerdings wäre hier
auch zu beachten, ob dieses beobachtete Defizit nicht mit Problemen der Repräsentation
dieser spezifischen Verben zusammenhängen könnte. Denn es zeigte sich auch, dass LK
98 Mitchell, D./Cuetos, F./Corley, M./Brysbaert, M., 1996. Exposure-based models of human parsing: Evidence for the use of coarse-grained (non-lexical) statistical records. J. of Psycholinguistic Research 24: 469-48899 Breedin, S./Martin, R., 1996. Patterns of verb deficits in aphasia: An analysis of four cases. Cognitive Neuropsychology 13: 51-91
besonders dann Probleme hatte, wenn es sich um Verben handelte, die ähnliche semantische
Repräsentationen hatten, aber unterschiedliche Abbildungen hinsichtlich der
grammatikalischen Rollen und der thematischen Rollen. Es scheint so zu sein, dass der Patient
eine Ahnung davon hat, dass diese Verben (z.B. „lend“ vs. „borrow“) bedeuten, dass ein
Objekt betroffen ist und dass der Besitzer dieses Objekts jemand anderen erlaubt, dieses
Objekt für eine Zeit zu besitzen. Aber LK weiß nicht, dass im Falle von „lend“ die Rolle des
Agens dem dauerhaften Besitzer zugeschrieben wird, im Falle von „borrow“ ist das Agens
jene Person, die da Objekt für eine Zeit übernimmt. Somit könnte es sich in manchen Fällen
auch um Probleme mit der Repräsentation von Verben handeln.
Zur Rolle des Arbeitsgedächtnisses
Die o.e. unterschiedlichen Aspekte der Probleme bei der syntaktischen Verarbeitung und der
Einfluss der Semantik auf die syntaktische Zerlegung haben dazu geführt, dass in manchen
Untersuchungen angenommen wird, dass die Verständnisproblemen der Aphasiepatienten
nicht auf spezifische Störungen des „Parsens“ oder anderen Mechanismen der
Satzverarbeitung zurückzuführen sind, sondern eher auf eine Verringerung der Kapazität des
Arbeitsgedächtnisses100. Wenn man allerdings annimmt, dass die syntaktischen Defizite – wie
bereits erwähnt – nicht alles oder nichts sind, sondern eben differenziert zu sehen sind, dann
kann man zwar noch immer von einem syntaktischen Defizit sprechen, aber eines, das eine
Reduzierung im Ausmaß des Beitrags der Syntax zur Satzinterpretation widerspiegelt.
es sicher der Fall. dass manche Aphsiker eine eingeschränkte Spanne des verbalen
Kurzzeitgedächtnisses aufweisen101. Wenn gesunde Kontrollpersonen in der Lage sind sich
eine Liste von 5 oder 6 Wörtern und 7 oder 8 Ziffern zu merken, haben Aphasiepatienten oft
Spannen, die von 1 – 3 Wörtern reichen. Wenn man davon ausgeht, dass solche Aufgaben, die
die Gedächtnisspanne messen, keine syntaktische Verarbeitung erfordern, dann ist es möglich,
dass die eingeschränkten Spannen der Patienten ein Defizit widerspiegeln, dass von einem
syntaktischen Defizit, das zu den Problemen der Satzverarbeitung beiträgt, unabhängig ist.
Aus den Untersuchungen von gesunden Personen ist bekannt, dass die Leistungen bei Testen
von Gedächtnisspannen stark vom Behalten des phonologischen Codes abhängig ist102. So
kann also davon ausgehen, dass zumindest bei einigen Patienten die verringerten Spannen auf
einem spezifischen Defizit beim Behalten der phonologischen Codes zurückzuführen sind. 100 z.B.: Miyake, A./Carpenter, P./Just, M., 1994. A capacity approach to syntactic comprehension disorder: Making normal adults perform like aphasic patients. Cognitive Neuropsychlogy 11: 671-717101 z.B.: Martin, N./Saffran, E.M., 1997. Language an auditory-verbal short-term memory impairments: Evidence for common underlying processes. Cognitive Neuropsychology 14: 641-682102 Baddeley, A,/Gathercole, S./Papagno, C., 1988. The phonological loop as a language learning device. Psychological Review 105: 158-173
Nun wurde angenommen, dass eben diese Probleme bei Behalten des phonologischen Codes
zu Problemen bei der syntaktischen Verarbeitung führen können. So wurde darauf
hingewiesen, dass etwa Funktionswörter und grammatikalische Marker wenig an
semantischer Information beinhalten und daher könnte das Behalten dieser Wörter während
der Satzverarbeitung stark vom Behalten der phonologischen Codes abhängig sein. Weiters
wurde darauf hingewiesen, dass bei bestimmten Satzstrukturen, wie z.B. Objektrelativsätzen
(„Der Bub, den das Mädchen küsst, hat rote Haare.“), die Rolle von einzelnen Elementen im
Satz (z.B. „Bub“) erst, nachdem bereits weitere Wörter verarbeitet wurden, festgelegt werden
kann. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit diese Wörter in einer phonologischen Form zu
behalten, bis die Rolle festgelegt werden kann.
Obwohl diese Argumente sehr plausibel sind, haben doch Untersuchungsergebnisse gezeigt,
dass ein Defizit im phonologischen Speichern zu keinen Problemen bei der Verarbeitung von
komplexen Sätzen zu führen scheint103. Eine Zusammenfassung von verschiedenen Studien104
scheint diese Ansicht auch zu bestätigen. Diese Ergebnisse werden im Sinne einer
„Unmittelbarkeit der Verarbeitung“ („immediacy of processing“) während der verrabeitung
eines Satzes verstanden. D.h. wenn ein Satz verstanden wird, dann greifen wir auf die
syntaktischen und semantischen Spezifizierungen eines jeden Wortes zu, und zwar sobald wir
es hören, und wir konstruieren syntaktische und semantische Interpretationen des Satzes auf
einer Wort-für-Wort Basis – natürlich nur in dem Ausmaß, in dem es möglich ist. Was aöso
für die Satzverarbeitung wichtig ist, ist, dass diese syntaktischen und semantischen
Interpretationen gespeichert werden und nicht die phonologischen Formen, die dafür die Basis
bilden. Bei einem Satz wie „The dog was chased by the cat.“ würde der Hörer das Wort „was“
als Auxiliarverb (= Funktionswort) im Past (Pt) eines bestimmten Typs enkodieren und beim
Hören von „chased“ würde er wissen, dass es sich um eine Passivstruktur handelt. D.h. es
besteht kein Grund „was“ in einer uninterpretierten phonologischen Form für einen längeren
Zeitraum zu speichern, bevor also die Rolle dieses Wortes im Satz festgelegt wurde. Zwar
könnte man sagen, dass im Falle von Objektrelativsätzen („The boy that the girl carried had
red hair.“) die Rolle von „boy“ länger nicht festgelegt ist, aber der Hörer könnte „boy“ im
Sinne seiner syntaktischen und semantischen Spezifizierungen gespeichert halten und nicht in
seiner phonologischen Form.
Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass manche Arten von Problemen mit der
Gedächtnisspanne bei Patienten zu Verständnisproblemen führen können. Jedoch handelt es
103 Diskussion: Martin, R.C./Romani, C., 1994. Verbal working memory and sentence processing: A multiple components view. Neuropsychology 8: 506-523104 Waters, G./Caplan, D., 1999. Verbal working memory and sentence comprehension. Behavioral and Brain Sciences 22: 77-126
sich dabei eher um Defizite bei Speichern von lexikalisch-semantischer Information als um
phonologische Informationen. Patienten mit Problemen beim Erhalten der lexikalisch-
semantischen Information haben Schwierigkeiten beim Verstehen von Sätzen, in denen die
Integration von einzelnen Wortbedeutungen in die Proposition verzögert ist. So z.B. bei einem
Satz mit mehreren pränominalen Adjektiven (z.B.: „the rusty old red pail“), wo die
Verbindung von „rusty“ mit „pail“ (= 1. Adjektiv mit N) im Vergleich zu einem Satz wie
„The pail was old, red, and rusty...“) verzögert wird, wo nun die Adjektive postnominal
auftreten. Somit muss die Bedeutung der Adjektive im ersten Fall (pränominal) in einer
lexikalisch-semantischen Form für einige Zeit gespeichert bleiben bevor sie intergriert werden
können. Ähnliches kann auch für Sätze gelten, bei denen mehrer Nomen einem Verb
vorangehen (z.B.: „Die Vase, der Spiegel und die Tischplatte zerbrachen.“) oder einem Verb
folgen (z.B.: „Die Kinder zerbrachen die Vase, den Spiegel und die Tischplatte.“). Wenn
nämlich die Nomen dem Verb vorausgehen, dann wird die Zuordnung ihrer Rollen in bezug
auf das Verb etwas verzögert als etwa im Vergleich zum Auftreten der Nomen nach dem
Verb. Dies zeigte sich in Untersuchungen105, wo zwei Patienten (ML und AB) bei Aufgaben
zur Überprüfung der Korrektheit von Sätzen bei jenen Testitems, bei denen 2 oder 3
Adjektive einem Nomen oder 2 oder 3 Nomen einem Verb vorangingen, Ergebnisse im
Zufallsbereich aufwiesen, aber bessere Ergebnisse zeigten, wenn die Adjektive dem Nomen
bzw. die Nomen dem Verb folgten. Dagegen zeigte ein Patient (EA) mit einem Defizit
bezüglich der phonologischen Speicherung nicht dieses Muster, sondern lag im Bereich der
Kontrollgruppe.
Es wurde auch ein Modell zur Erklärung dieses Verhaltens vorgeschlagen106 - also ein Modell,
dass sich speziell mit diesen Anforderungen an das Arbeitsgedächtnis für das Behalten die
Integration von syntaktischer und semantischer Information auseinandersetzt. Demnach
müssen, wenn eine Entität verarbeitet wird, die in die vorangegangene lexikalisch-
semantische Information integriert werden muss, dann müssen diese früheren lexikalischen
Repräsentation reaktiviert werden. Je weiter zurück nun diese im Satz sind, d.h. je mehr
inhaltliche Information nun dazwischen liegt, desto schwieriger wird die Reaktivierung und
Integration – d.h. auch dass die bestehende Aktivierung dieser zurückliegenden Information
dementsprechend schwächer ist.
105 Martin, R.C./Romani, C., 1994. Verbal working memory and sentence processing: A multiple components view. Neuropsychology 8: 506-523106 Gibson, E., 1998. Linguistic complexity: Locality of syntactic dependencies. Cognition 68: 1-76
Die Abbildung von Form auf der Bedeutung: Die Anforderungen an den Satzprozessor
Inhaltliches: die erforderlichen „Ingredienzien“ eines Satzprozessors und die mögliche
Beziehung zwischen den Charakteristika der Architektur der Verarbeitung und den
Eigenschaften der Grammatik; die spezifischen Charakteristika der neurokognitiven
Untersuchungen zum Satzverständnis und ihre Konsequenzen für die psycholinguistische
Modellierung.
Von der Form zur Bedeutung
Grundaufgabe der Architektur des Verständnisapparates ist das Abbilden der Form einer
perzipierten Äußerung auf der zugehörenden Bedeutung. Dabei kann es sich um
unterschiedliche Formen des Inputs handeln: Lautsprache, Schriftsprache oder auch
Gebärden. Für eine effektive Kommunikation in Echtzeit muss dieses Abbilden sehr schnell
erfolgen und es muss inkrementell ablaufen, d.h. es muss versucht werden, die Menge an
Bedeutung, die an jedem möglichen Punkt innerhalb des Inputs zugeordnet wird, zu
maximieren. Das bedeutet, dass auch dann Entscheidungen getroffen werden müssen, wenn
vollständige oder gewisse Informationen noch nicht vorhanden sind, da das
Verständnissystem nicht auf das Ende des Satzes warten kann, um mit der Verarbeitung zu
beginnen. Um dies zu leisten, muss der Satzprozessor die folgenden Operationen ausführen
können:
Für das inkrementelle Verständnis notwendige Eigenschaften muss das Verarbeitungssystem:
a) so schnell wie möglich dem Input eine Struktur zuordnen (Strukturaufbau, „structure
building“);
b) dieser Struktur die „maximale“ (d.h. detaillierteste) Bedeutung zuordnen, die aufgrund
der vorhandenen Information möglich ist („linking“);
c) die bisher zugeordnete Struktur/Bedeutung verwenden, um Voraussagen bezüglich des
noch kommenden Inputs zu machen („prediction“);
d) sich im Falle der Ambiguität des Inputs für eine Interpretation entscheiden
(„ambiguity processing“);
e) wenn überhaupt möglich, Verarbeitungskonflikte effizient lösen („conflict
resolution“);
f) die vollständig interpretierte Information speichern („storage“).
Der Strukturaufbau wird durch die Grammatik der zu verarbeitenden Sprache eingeschränkt,
vgl. „the red bus“ vs. „l’autobus rouge“. Dadurch wird das Verarbeitungssystem auch mit
Wissen über die Einheiten des Inputs in den Strukturen und ihr Erkennen versorgt. So spielt
die Wortart (-kategorie) eine wichtige Rolle, aber wie die verschiedenen Kategorien erkannt
werden, unterscheidet sich von Sprache zu Sprache (z.B. aufgrund distributioneller oder
morphologischer Kriterien).
Die Verbindung der zum jeweiligen Zeitpunkt „maximalen“ Bedeutung mit der Struktur
(„linking“) legt die Art und Weise fest, wie eine Struktur mit einer Interpretation in
Verbindung gebracht wird, was wiederum von den durch die Grammatik gegebenen
Beschränkungen abhängig ist. Wenn man etwa Deutsch und Englisch vergleicht, dann hat
Englisch eine festgelegte Subjektposition und in einem Aktivsatz entspricht das Subjekt
immer der höchstgereihten thematischen Rolle („John hits...“), womit die Verbindung
zwischen der Subjektposition und dem dort anzutreffenden Argument daher seht stark
eingeschränkt ist. Im Deutschen finden wir keine dem ähnliche Position des Subjekts, vgl. „...,
dass dem Jungen der Hund entlaufen ist.“ oder „Ein Fehler unterlaufen ist noch keinem
Linguisten.“, womit die Beziehung/Abbildung zwischen einer strukturellen Position und einer
bestimmten Interpretation weniger eingeschränkt ist.
Voraussagen (Vorausannahmen, „prediction“) ist eine in der gesamten Architektur der
Verarbeitung vorkommende Eigenschaft, d.h. wir finden sie auf verschiedenen Ebenen der
Verarbeitung. So wird z.B. aufgrund der internen Struktur der Satzkonstituenten (z.B. NPs,
VPs, die alle aus einem Kopf bestehen, der auf die Phrase und weitere Elemente projiziert)
beim Auftauchen eines Nicht-Kopfes in einer Konstituente, deren Kopf noch nicht verarbeitet
wurde, ein Kopf voraus angenommen. Das gilt auf der nicht-strukturellen (relationalen)
Ebene. Wenn etwa in Sprachen, die das Tilgen eines Subjekts nicht erlauben, ein eindeutig als
Objekt markiertes Element auftritt, wird dementsprechend auf ein Subjekt geschlossen.
Die Verarbeitung von Ambiguität wurde schon lange als eine der faszinierendsten
Eigenschaften des Verarbeitungssystems gesehen. Ambiguitäten treten in der Sprache häufig
auf und speziell im unvollständigen Input, auf dem das inkrementelle Verständnis beruht;
womit die Fähigkeit, mit Ambiguitäten effizient umzugehen – d.h. ohne deutliche
Verzögerungen in der Verarbeitung – ein zentrales Merkmal der Architektur des
Verarbeitungssystem darstellt.
Das Lösen von Konflikten in der Verarbeitung ist ein Erfordernis, das Hand in Hand mit dem
Vorhandensein von Ambiguitäten geht. Wenn also eine für das Lösen einer Ambiguität
verwendete Heuristik scheitert, und zwar in dem Sinne, dass sie dazu führt, dass das System
die falsche Alternative wählt, entsteht an jenem Punkt ein Konflikt, an dem die
Disambiguierung in Richtung der nicht-bevorzugten Lesart erfolgt. Diese Situation ergibt sich
bei den klassischen Holzwegsätzen („The horse raced past the barn fell.“). Die Notwendigkeit
von einer Lesart auf eine andere umzuschwenken erhöht die Verarbeitungskosten. Die
Holzwegeffekte variieren deutlich bezüglich ihrer Stärke, von leicht (nicht bewusst, aber
messbar) bis stark (Nichtverstehen des Satzes und bewusste Wiederverarbeitung). Beispiele
für diese Stärkeunterschiede107:
a) John knows the truth hurts.
b) While Philip was washing the dishes crashed onto the floor-
c) The boat floated down the river sank.
Die Speicherung, d.h. die Notwendigkeit Zwischenergebnisse der Verarbeitung zu behalten
bis sie vollständig interpretiert werden können, ist zweifellos für das Verstehen von Sätzen
notwendig. Es gibt verschiedene Vorschläge, wie die Komponenten dieses Speichersystems
aussehen könnten108, aber die genauen, dieser Komponente des menschlichen
Verständnissystems zugrundeliegenden Mechanismen, nämlich die genaue Architektur, wie
die Information aufgenommen wird und wie diese Information wieder abgerufen wird, ist
derzeit keineswegs vollständig untersucht. Es scheint darauf hinauszulaufen, dass das
„Arbeitsgedächtnis“ des Sprachverständnisses als ein aktivierter Teil des
Langzeitgedächtnisses zu sehen ist und nicht als ein getrennter Bufferspeicher (s. Fn. 47).
Satzverständnis: Die Hauptfragen
Viele der Anforderungen (s.o.) an einen Satzprozessor (Parser) hängen eng mit der Frage
zusammen, wie eine Ambiguität behandelt wird (z.B. über den Aufbau der Struktur
(„structure building“) und der Zuordnung der Bedeutung („linking“) oder z.B. über die
Lösung von Verarbeitungskonflikten („conflict resolution“). Die Hauptfragen der
Forschungen zum Satzverständnis werden anhand eines Satzfragments mit einer Ambiguität
erläutert:
a) „Nach dem Wettkampf erfuhren alle, dass [die Kufen] [des Schlittens]...“
Es geht in der folgenden Diskussion um die Analyse der komplexen NP „die Kufen des
Schlittens“. Dieses Argument ist ambig hinsichtlich seines Kasus als NP Nom oder NP Akk
und daher auch hinsichtlich seiner Lesart als Subjekt oder Objekt.
Serielle vs. parallele Verarbeitung
107 Sturt, P./Crocker, M.W., 1996. Monotonic syntactic processing: A cross-linguistic study of attachment and reanalysis. Language and Cognitive Processes 11: 449-494108 z.B. Lewis, R.L./Vasisht, S./Van Dyke, J.A., 2006. Computational principles of working memory in sentence comprehension. Trends in Cognitive Sciences 10: 447-454
Einen wichtigen Aspekt in der Diskussion einer solchen lokalen Ambiguität wie in a) stellen
die Überlegungen dar, ob das Verarbeitungssystem erkennt, dass der Input mehrere Analysen
zulässt, oder ob der Input so verarbeitet wird wie dies bei einer nicht ambigen Struktur erfolgt
(in diesem Fall ein kasusmarkiertes Subjekt). D.h. wenn die Ambiguität erkannt wird, werden
dann (in diesem Fall) beide Analysen, während weiter verarbeitet wird, weiter verfolgt – ist
das der Fall, dann kann das Verarbeitungssystem als parallel bezeichnet werden. Die
verschiedenen vorgeschlagenen parallelen Modelle gehen davon aus, dass die mehreren
möglichen Lesarten, die weiter verfolgt werden, in bezug auf ihre Präferenz geordnet sind (s.
Abb. u. (p.96)). (Ein globaler Parallelismus, d.h. einer ohne Rangordnung, wird in der
Literatur zur Satzverarbeitung nicht ernsthaft diskutiert, da ein solches Modell nicht erklären
könnten, warum bestimmte Lesarten anderen vorgezogen werden.) Diese verschiedenen
parallelen Modelle mit Rangordnungen unterscheiden sich darin, wie die Gewichtung der
einzelnen unterschiedlichen Lesarten erfolgt und auch hinsichtlich der Frage, ob Lesarten mit
einem sehr niedrigem Rang getilgt werden, d.h. nicht weiter verfolgt werden.
Serielle Modelle haben gemeinsam, dass nur eine Lesart über die ambige Stelle hinaus weiter
verfolgt wird. Sie unterscheiden sich allerdings hinsichtlich ihres Standpunktes bezüglich der
„Sehbarkeit“ (Erkennbarkeit) der Mehrdeutigkeit: So wird z.B. in einem kennzeichnenden
(markierenden) seriellen System („flagged serial“), die Ambiguität erkannt und der Punkt, an
dem die Ambiguität auftritt, wird markiert, so dass eine neuerliche Verarbeitung im Falle
eines Konflikts erleichtert wird.
1a: Frazier, L./Fodor, J.D., 1978. The sausage machine: A new two-stage parsing model. Cognition 6: 291-326;
Frazier, L., 1987. Sentence processing: A tutorial review. In M. Coltheart (ed.), Attention and performance. Vol.
12: The psychology of reading. Hove, Erlbaum: 559-586
1b: Traxler, M./Pickering, M.J./Clifton, C. Jr., 1998. Adjunct attachment is not a form of lexical ambiguity
resolution. J. of Memory and Language 39: 558-592
2: Inoue, A./Fodor, J.D., 1995. Information-paced parsing of Japanese. In: R. Mazuka/N. Nagai (eds.), Japanese
sentence processing. Hillsdale, N.J.: 9-63
3: Altmann, G.T.M./Steedman, M., 1988. Interaction with context during human sentence processing. Cognition
30: 191-238
4: Kurtzmann, H., 1985. Studies in syntactic ambiguity resolution. PhD Thesis, MIT; Gorrell, P., 1987. Studies
of human sentence processing: Ranked-parallel versus serial models. PhD. Thesis, Univ. of Connecticut; Gibson,
E., 1991. A computational theory of linguistic processing: Memory limitations and processing breakdown. PhD.
Thesis, Carngie Mellon Univ.
5: wird in Psyli nicht angenommen (s. präferierte Lesarten)
Berwick, R.C./Weinberg, A.S., 1984. The grammatical basis of linguistic performance. Cambridge, MA;
Pritchett, B.L., 1988. Garden path phenomena and the grammatical basis of language processing. Language 64:
539-576
Abhängig vom jeweils angenommenen Modell (s. Abb. o.) ergibt sich für die NP „die Kufen“
eine Interpretation als Subjekt oder diese Annahme wird parallel mit der Lesart Objekt
weiterverfolgt, wobei allerdings erstere höher rangiert/stärker gewichtet ist.
Modulare vs. interaktive Verarbeitung
Unabhängig davon, ob eine paralleles oder serielles Modell zur Lösung der Ambiguität
angenommen wird, besteht bei den meisten Ambiguitäten eine Präferenz für eine Lesart.
Dabei stellt sich nun die Frage, welche Informationen führen zu einer solchen Präferenz? Im
o.e. Beispiel können wir davon ausgehen, dass im Deutschen die Wortstellung keinen
eindeutigen Hinweis auf die grammatikalische Funktion darstellt, trotzdem besteht eine
deutliche Präferenz, „die Kufen“ als Subjekt zu interpretieren. Dies hängt wohl damit
zusammen, dass diese Lesart mit einer wesentliche einfacheren Struktur verbunden ist als eine
Objektlesart, wo bei immer zu beachten ist, dass eine solche Lesart immer auch ein Subjekt
voraussetzt. Was aber die Subjektlesart beeinträchtigen kann, ist, dass Subjekte von einem
thematischen Standpunkt aus im allgemeinen die höherrangigen Argumente darstellen, wie
Agens, Erfahrender („experiencer“), Verursacher usw., und somit ist ein unbelebtes Argument
weniger typisch für eine Subjektinterpretation.
Daraus ergeben sich nun zwei Möglichkeiten für die Bestimmung der Präferenz: a) Die
Präferenz wird vollständig von den strukturellen Eigenschaften bestimmt (Belebtheit spielt
keine Rolle) – dies wird von einer Gruppe von Modellen angenommen, die als „modular“,
„autonom“ oder „Syntax zuerst“ („syntax-first“) bezeichnet werden; b) beide relevanten
Informationen können interagieren, um so die Gesamtpräferenz zu ergeben, was von
„interaktiven“ („interactive“) oder „constraint-satisfaction“ Modellen angenommen wird. Im
Falle eines Modells der seriellen Ambiguitätsauflösung würde eine Interaktion zwischen
Struktur und Belebtheit entweder in der Umkehrung der Präferenz (sodass nur mehr die
Objektlesart weiter verfolgt wird) oder in einer Zunahme des Verhältnisses jener Fälle, in
denen eine Objektlesart gewählt wird, resultieren. Letzteres wird von (nicht-
deterministischen) probabilistischen seriellen Modellen angenommen, die davon ausgehen,
dass die präferierte Lesart von Fall zu Fall verschieden sein kann, auch wenn immer nur eine
einzige Lesart verfolgt wird109. Das Verhältnis der Fälle, in denen die eine oder anderen Lesart
gewählt wird, hängt davon ab, wie stark die Präferenz für eine Lesart gegenüber einer anderen
ist, d.h. wenn die Präferenz sehr stark ist, wird die alternative Lesart eigentlich nie verfolgt.
Dagegen würde in einem parallelen Modell die Interaktion zwischen den beiden Faktoren
(Struktur und Belebtheit) dazu dienen, die relative Distanz zwischen den beiden Lesarten (im
Sinne ihrer Gewichtungen) zu modifizieren und zwar mit dem Ergebnis einer allgemeinen
Rangordnung in Abhängigkeit von der relativen Stärke der beiden Informationstypen.
109 Van Gompel, R.P.G./Pickering, M.J./Pearson, J./Liversedge, S.P., 2005. Evidence against competition during syntactic ambiguity resolution. J. of Memory and Language 52: 284-307; van Gompel, R.P.G./Pickering, M.J./ Traxler, M.J., 2001. Reanalysis in sentence processing: Evidence against current constraint-based and two-stage models. J. of Memory and Language 45: 225-258
(Theoretisch ist serielles vs. paralleles Verarbeiten und modulares vs. interaktives Verarbeiten
orthogonal; in der Praxis wird eine starke Korrelation zwischen den beiden angenommen,
sodass modulare Modelle typischerweise seriell sind und interaktive Modelle parallel.)
Zwar ist der Unterschied zwischen modularen und interaktiven Modellen theoretisch deutlich
festgelegt, aber empirisch sind die beiden nur schwer zu unterscheiden. D.h. im Beispiel o.
kann der Unterschied zwischen den konkurrierenden Voraussagen nur untersucht werden,
wenn die disambiguierende Information an einem späteren Zeitpunkt im Satz auftritt.
Allerdings müssen die im disambiguierenden Bereich gemessenen Unterschiede nicht
unbedingt auf die ursprüngliche Auswahl zurückzuführen sein, da sie auch auf die
Unterschiede in der Reanalyse zurückgehen können: So könnte z.B. Belebtheit keinen
Einfluss auf die erste Analyse der ersten NP als Subjekt haben, aber sie könnte die Reanalyse
des Arguments in Richtung der nicht-bevorzugten Objektlesart erleichtern.
Erklärungen aufgrund der Frequenz
Ein bekanntes Phänomen im Bereich der Verarbeitung von Wörtern besteht darin, dass das
Worterkennen mit seiner Frequenz korreliert110. Womit sich die Frage stellt, ob ein ähnlicher
Mechanismus nicht bei der Satzverarbeitung zur Anwendung kommt111. Auf das Beispiel
oben angewendet heißt das, dass man sich fragen kann, ob die Präferenz für eine spezifische
Interpretation der komplexen NP („die Kufen des Schlitten“) von der Wahrscheinlichkeit
moduliert oder sogar determiniert wird, dass eine unbelebte NP in dieser Position das Subjekt
des Teilsatzes ist. Abhängig von der Art des angenommenen Modells können unterschiedliche
Häufigkeiten mit einander interagieren, um die allgemeine Präferenz festzulegen: a) Wie oft
ist eine NP in dieser Position ein Subjekt? b) Wie oft sind unbelebte NPs Subjekte? c) Wie oft
ist eine unbelebte NP in dieser Position ein Subjekt? d) Was ist die
Übergangswahrscheinlichkeit zwischen zwei oder drei neben einander stehenden Wörtern
(Bigramm oder Trigramm-Frequenz), d.h. die Wahrscheinlichkeit des Determinators „die“
nach „dass“ als Realisierung eines Subjektlesart? Solche frequenzabhängige Ansätze bieten
eine elegante Art, um Unterschiede in der Stärke von Präferenzen abzuleiten, nämlich
aufgrund der relativen Frequenzgewichtungen der involvierten Faktoren.
Trotz dieser „Attraktivität“ von frequenzbasierenden (probabilistischen) Ansätzen ergeben
sich auch eine Reihe von Fragen. a) Wenn auch ein Phänomen aufgrund der
Auftretenshäufigkeit erklärt werden kann, bleibt die zugrundeliegende Ursache der
110 Jurafsky, D., 2003. Probabilistic modelling in psycholinguistics: Linguistic comprehension and production. In R.Bod/J. Hay/S. Jannedy (eds.), Probabilistic Linguistics. Cambridge, MA: 39-96111 Levy, R., 2008. Expectation-based syntactic comprehension. Cognition 106: 1126-1177; Hale, J., 2006. Uncertainty about the rest of the sentence. Cognitive Science 30: 643-672
Frequenzverteilung immer noch zu erklären. b) Ausgehend von den Messmöglichkeiten der
Häufigkeit (s. o. a) – d)) stellt sich die Frage nach der Basis der Voraussagen aufgrund der
Frequenz. c) In manchen Fällen, in denen Einflüsse der Häufigkeit festgestellt wurden, hat
sich bei weiteren Untersuchungen herausgestellt, dass diese Einflüsse nicht alles sind, um die
Verarbeitungspräferenzen abzuleiten. So wurden empirische Hinweise112 für eine
frequenzbasierende Modulierung von sog. „NP-S“ Ambiguitäten (eine NP kann entweder das
direkte Objekt des Matrixsatzverbs sein oder das Subjekt eines Satzkomplements: „The
student forgot the solution.“ vs. „The student forgot the solution was incorrect.“) festgestellt.
Erklärung: Die Analyse der ambigen NP („the solution“) wird dadurch festgelegt, wie oft das
Matrixsatzverb zusammen mit einem direkten Objekt vs. einem Satzkomplement auftritt.
Allerdings wies eine andere Untersuchung113 Effekte der Plausibilität des direkten Objekts im
ambigen Bereich nach, und zwar auch für Verben, die einen Häufigkeitsbias in Richtung
intransitive Lesart hatten. Daher wird vorgeschlagen, dass die anfänglichen Auswahlen bei
Verarbeitung nicht vollständig von der Frequenz bestimmt sind, sondern auch von einem
„Informativitätsfaktor“ beeinflusst werden, der auch einschließt, wie testbar die Annahme
einer bestimmten Lesart ist.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Rolle der Frequenz auf der Ebene der
Satzverarbeitungsprozesse kontroversiell bleibt. Auf der anderen Seite findet sich deutliche
Korrelationen zwischen der Frequenz und der Verarbeitung auf der lexikalischen Ebene (bis
hin zu Effekten auf der Satzebene). Es erscheint also nicht sehr plausibel, dass die Häufigkeit
keine Rolle bei der Verarbeitung von morphosyntaktischer Information auf der Satzebene
spielt, wobei es allerdings zur Zeit nicht einfach ist, die genaue Rolle dieser Art von
Information und wie weit ihre Konsequenzen gehen, festzustellen.
Die Verarbeitung von obligatorischer vs. nicht-obligatorischer Information
Viele Studien zum Satzverständnis haben auch die Verarbeitung von nicht obligatorischen
Konstituenten (Modifikatoren wie PP oder Relativsätze) untersucht. Die festgestellte
Variabilität über einem weiten Bereich von Phänomenen in diesem Bereich steht in
deutlichem Kontrast zu den robusten Präferenzen, die bei der Verarbeitung der
Hauptkomponenten (d.h. obligatorischen Argumente) beobachtet wurden. Das führt zum
Vorschlag114, dass Modifikatoren („secondary relations“) grundlegend anders verarbeitet 112 Trueswell, J.C./Tanenhaus, M.K./Kello, C., 1993. Verb-specific constraints in sentence processing: Separating effects of lexical preference from garden-paths. J. of Experimental Psychology: learning, Memory and Cognition 19: 528-553113 Pickering, M.J./Traxler, M./Crocker, M.W., 2000. Ambiguity resolution in sentence processing: Evidence against frequency-based accounts. J. of Memory and Language 43: 447-475114 Frazier, L./Clifton, C., Jr., 1996. Construal. Cambridge, MA.
werden als obligatorische Information („primary relations“). In der „Construal-Hypothese“
wird davon ausgegangen, dass nur primäre Relationen anfänglichen strukturbasierenden
Verarbeitungspräferenzen unterzogen werden, wogegen sekundäre Relationen mit einer
bestimmten strukturellen Domäne nur „assoziiert“ sind, so dass ihre endgültige Interpretation
einem wesentlichen weiteren Kreis von Einflüssen (z.B. Plausibilität, Frequenz etc.)
ausgesetzt sein kann. Dieser Vorschlag erklärte nicht nur einen großen Bereich von ansonsten
verwirrenden Phänomenen, sondern er erscheint im Sinne des grundlegenden Unterschieds
zwischen den beiden Konstituententypen plausibel. Obligatorische Informationen können
vorhergesagt werden und auch Voraussagen hervorrufen, was bei Modifikatoren nicht der Fall
ist: z.B.: „Whom did the boy see on Sunday?“
Das Argument „the boy“ lässt sich aufgrund von zwei Informationsquellen voraussagen: das
wh-Pronomen ist eindeutig als Objekt markiert und führt daher zur Vorausnahme eine
Subjekts; eine ähnliche Vorausannahme ergibt sich an der Position von „did“. In ähnlicher
Weise würde eine Wh-Phrase wie „to whom“ die Voraussage eines Subjekts und eines
direkten Objekts auslösen. Dagegen kann die PP „on Sunday“ von keiner Informationsquelle
vorausgesagt werden. (Modifikatoren können strukturelle Vorausannahmen lenken, indem
bestimmte Teile eines Satzes abgegrenzt werden, z.B. das linke Ende der VP.)
Ein weiterer wichtiger Aspekt bezüglich der Verarbeitung von obligatorischer vs.
modifizierender Information ist die Präferenz von „argument-over-adjuct“: Eine Konstituente,
die hinsichtlich ihrer Lesart als Argument oder Adjunkt ambig ist, wird bevorzugt als
Argument interpretiert115: Beispiel (Boland/Boehm-Jernigan)
„John gave a letter to his son to a friend a month ago.“
Bei ersten Erkennen der PP „to his son“ wird sie bevorzugt als Argument von „give“
analysiert (d.h. als Argument des Verbs); sobald nun in der Folge die zweite PP („to a friend“)
erkannt wird, muss die ursprüngliche Analyse in Richtung einer Adjunktinterpretation
verändert werden. Im Sinne von Construal könnte diese „argument-over-adjunct“ Präferenz
interpretiert werden als das „Bemühen“ des Verarbeitungssystems die inkrementelle
Interpretation zu optimieren. Wenn also nun die Interpretation von modifizierenden
Elementen im Vergleich zu obligatorischen verzögert wird, ergibt sich daraus eine Präferenz
für Argumente.
115 Schütze, C.T./Gibson, E., 1999. Argumenthood and English prepositional phrase attachment. J. of Memory and Language 40: 409-431; Boland, J./Boehm-Jernigan, 1998. Lexical constraints and prepositional phrase attachment. J. of Memory and Language 39: 684-719
Die neurokognitive Perspektive
Die neurowissenschaftlichen Methoden können zusätzliche feinere („feinkörnigere“)
Informationen liefern, die dazu verwendet werden können, um Details der
Verarbeitungsarchitektur zu untermauern. Während Maße wie Grammatikalitätsurteile oder
Reaktionszeiten eine eindimensionale Perspektive bezüglich der Verarbeitungschwierigkeiten
bieten, sind die neuronalen Reaktionen inhärent multidimensional und das bezieht sich
sowohl auf die Messungen mittels ERPs als auch auf fMRI (funktionale Neuroanatomie). In
beiden Fällen können – zumindest prinzipiell – inhärente Aspekte der mit dem Stimulus
zusammenhängenden Verarbeitung von den Outputcharakteristika, also aufgabenbezogenen
Verarbeitungserfordernissen, unterschieden werden. Daher können Veränderungen, die im
Output eindimensional erscheinen, mit Hilfe dieser Methoden weiter aufgeschlüsselt werden,
im speziellen, wenn eine einzelne kritische Manipulation in verschiedenen experimentellen
Umgebungen untersucht wird. Zwar bieten neurokognitive Methoden nicht per se eine
informativere Darstellung der Grammatik, die dem Verarbeitungssystem zugrunde liegt, aber
sie erlauben eine feinkörnigere Charakterisierung der sprachlichen Architektur, indem sie
helfen auseinander zu halten, welche Aspekte des Outputsignals von allgemeinen Systemen
(z.B. kognitive Kontrolle) stammen und welche den inhärenten Eigenschaften der
linguistischen Manipulation zuzuschreiben sind.
Trotzdem bestehen einige Einschränkungen in bezug auf empirische Bewertungen von
psycholinguistischen Modellen, so z.B. hinsichtlich der Diskussion über Modularität vs.
Interaktivität im Rahmen der ersten Auswahlen in der Verarbeitung. Zwar bieten
neurokognitive Methoden multidimensionale Maße, aber sie können das Problem nicht lösen,
dass jeder Effekt, der am Punkt der Disambiguierung gemessen wird in bezug auf die
Mechanismen der anfänglichen Auswahl nicht mehr informativ ist, weil a) die Präferenz an
diesem Punkt durch einen post-initialen Mechanismus moduliert hätte sein können oder b) die
Modulationen des beobachtbaren Effekts könnten auf einen Unterschied bei der
Konfliktlösung zurückzuführen sein.
Trotzdem werden neurokognitive Experimente – vor allem ERPs – herangezogen, um dieses
Problem zu lösen, wobei sogenannte „Verletzungsparadigmen“ („violation paradigms“)
angewendet werden. Dabei handelt es sich um einen Vergleich zwischen einem
ungrammatischen Satz, der eine Verletzung hinsichtlich einer sprachlichen Eigenschaft
aufweist, und einem minimal verschiedenem Kontrollsatz. Die Logik hinter diesem Design
besteht darin, dass die Verletzung zu Verarbeitungsproblemen innerhalb dieses Teils der
Verständnisarchitektur führen sollte, der für die Verarbeitung jenen Informationstypus
zuständig ist, der die Verletzung hervorruft. So sollte z.B. eine Verletzung der Phrasenstruktur
eine Reaktion von jenem System hervorrufen, das für die Verarbeitung der Phrasenstruktur
zuständig ist. (Vgl. z.B. die Untersuchungen zur N400.)
Aus der Sicht der psycholinguistischen Modellierung können Experimente mit dem
Verletzungsparadigma herangezogen werden, um das o.e. „Reanalyseproblem“ zu
überwinden, weil sie ein Mittel für die Untersuchung der Mechanismen der unmittelbaren
inkrementellen Verarbeitung darstellen. Somit kann die Reaktion auf Verletzungen, die von
verschiedenen Informationstypen hervorgerufen werden, an der Position desselben kritischen
Inputelements kontrastiert werden, was eine Untersuchung ihres relativen Timings und ihrer
Unabhängigkeit oder gegenseitigen Abhängigkeit erlaubt.
Konstituentenstruktur
Die psycholinguistischen Untersuchungen auf der Satzebene mussten sich von Beginn an der
Frage stellen, wie kombiniert das Verarbeitungssystem die einzelnen Inputelemente (Wörter)
zu größeren Konstituenten. Wobei dies aufgrund der Ergebnisse von Untersuchungen, die
zeigten, dass Wörter im Satzkontext schneller und leichter abgerufen werden konnten als die
Wörter von Wortlisten mit derselben Anzahl von Wörtern116, eine Notwendigkeit wurde. Es
wurde daher angenommen, dass aufgrund der schnellen Strukturierung der Inputelemente in
größere Einheiten die Konstituentenstruktur die Anzahl der Elemente, die im
Arbeitsgedächtnis gehalten werden müssen, deutlich reduziert und so die Verarbeitung
erleichtert117.
Während die Notwendigkeit einer Konstituentenstruktur weder in der theoretischen Linguistik
noch in der Psycholinguistik in Frage gestellt wird, ist ihre genaue Rolle im Verstehen in
Realzeit etwas kontroversieller. {Die genaue Repräsentation der Konstituentenstruktur hängt
natürlich von der jeweiligen grammatischen Theorie ab, aber die meisten Ansätze haben eine
Anzahl an grundlegenden Charakteristika gemeinsam, wie etwa die Annahme, dass
Konstituenten aus einem projizierenden Kopf und zusätzlichen (abhängigen) Konstituenten
(Argumenten) bestehen.} Es gibt nun unterschiedliche Positionen hinsichtlich dieses
Problems, wobei die beiden Extreme so beschrieben werden können: a) die Strukturierung in
116 Johnson, N.F., 1970. Chunking and organization in the process of recall. In G.H. Bower (ed.), The psychology of learning and motivation. New York; Miller, G.A./Isard, S., 1964. Free recall of self-embedded English sentences. Information and Control 7: 292-303117 Frazier, L./Fodor, J.D., 1978. The sausage machine: a new two-stage parsing model. Cognition 6: 291-326
Konstituenten ist die Voraussetzung für alle weiteren Verarbeitungsschritte, sowohl
syntaktische als auch interpretative, und b) die Konstituentenstruktur spielt keine spezifische
Rolle, sondern interagiert mit allen greifbaren Informationstypen (z.B. Belebtheit, Frequenz,
thematischen Rollen), um die Satzstruktur und die Interpretation zu bestimmen. Erstere
Ansicht steht in Verbindung mit 2-stufigen Modellen (wie „garden path“) und letztere wird
von interaktiven (oder auf Beschränkungen basierenden, „constraint-based“) Modellen
angenommen.
Die Diskussion hinsichtlich des Status der Konstituentenstruktur hängt auch mit der Frage
zusammen, ob unterschiedliche Arten von Information mit unterschiedlichen Profilen des
zeitlichen Verlaufs in Beziehung stehen. So nehmen die „Syntax-zuerst“-Modelle einen
zeitlichen Vorrang der Konstituentenstruktur vor den anderen Arten der Information an,
wogegen stark interaktive Modelle davon ausgehen, dass eine solche zeitlich Ordnung
entweder nicht vorkommt oder es wenigstens bestimmte Beispiele dafür gibt, dass andere
Informationsarten eine gleiche frühe Reaktion zeigen.
Wie sich gezeigt hat, ergeben sich bei der Verwendung von ambigen Strukturen einige
Probleme (s.o.), was dazu führte, dass man für die Untersuchungen zum Status der
Konstituentenstrukturen während der Verarbeitung nun versucht die Profile des zeitlichen
Verlaufs der verschiedenen kritischen Informationsarten in nicht ambigen Strukturen zu
untersuchen. In diesen Untersuchungen wurden die kritischen Veränderungen über die
Verwendung des „Fehlerparadigmas“ („violation paradigm“) untersucht. So wurde die
Verarbeitung der Phrasenstruktur-(Wortkategorie-)information mit der thematischen
Information kontrastiert118:
a) *Some people hastily books. (PS-Fehler)
b) *Some people amuse books. (thematischer Fehler)
c) *Some people agree books. (Subkategorisierungsfehler)
d) Some people love books. (gramm. Kontrollbedingung)
Dabei wurde eine schnellere SAT-Dynamik („speed-accuracy trade-off“) von ca. 100ms für
Sätze wie a) im Vergleich zu Sätze wie b) festgestellt. Dieses Ergebnis weist – zumindest im
Bereich der obligatorischen Konstituenten – darauf hin, dass die PS mit einem schnelleren
zeitlichen Verlauf der Verarbeitung verbunden ist als die interpretative Struktur wie eben die
thematische Information. {Zusätzliche unterstützenden Hinweise für diese Annahme ergaben
sich aus einem weiteren Experiment, in dem die Verarbeitung derselben Informationsarten in
118 McElree, B./Griffith, T., 1995. Syntactic and thematic processing in sentence comprehension. J. of Experimental Psychology: Learning, Memory and Cognition 21: 134-157
Cleft-Sätzen untersucht wurden.119.} Allerdings wurde auch festgestellt, dass
Subkategorisierungsinformation (s. c)) genauso schnell wie PS-Information verarbeitet wurde.
Es wurde nun argumentiert, dass diese Daten mit einem modifizierten zwei-stufigen Modell
vereinbar sind, in dem der lexikalische Zugang die erste Stufe der Verarbeitung mit
Kategorien- und Subkategorisierungsinformation bildet.
Unterschiede in der Verarbeitung der Konstituentenstruktur im Vergleich zu anderen
Informationstypen wurde auch in früheren Studien120 festgestellt (visuelle Präsentation):
a) *The man admired Don’s of sketch the landscape. (PS-Fehler)
b) The man admired a sketch of the landscape. (Kontrolle für a))
c) *The man admired Don’s headache of the landscape. (semantischer Fehler)
d) The man admired Don’s sketch of the landscape. (Kontrolle für c))
Dabei ergaben sich eine frühe negative Reaktion (N125) gefolgt von einer späten Positivität
bei der PS-Verletzung (s. a)), wogegen die semantische Verletzung zu einem klassischen
N400-Effekt führte. Diese relative große Differenz (ca. 250ms) zwischen den kritischen
Effekten weist darauf hin, dass die beiden Informationstypen tatsächlich mit zwei
unterschiedlichen zeitlichen Profilen in Beziehung stehen. Diese Ergebnisse wurden auch für
das Deutsche unter Verwendung der auditiven Modalität repliziert121:
a) *Der Freund wurde im besucht. (PS-Verletzung)
b) *Die Wolke wurde begraben. (semantische Verletzung)
c) Der Finder wurde belohnt. (grammatikal. Kontrollbedingung)
Strukturen wie a) wiesen eine frühe links-anteriore Negativität (ELAN, gefolgt von einer
späten Positivität) auf, wogegen Sätze wie b) eine N400 erzeugten (s. Abb. u. (p. 110)).
119 McElree, B./Griffith, T., 1998. Structural and lexical effects in filling gaps during sentence processing: A time-course analysis. J. of Experimental Psychology: Learning, Memory and Cognition 24: 432-460120 Neville, H.J./Nicol, J./Barss, A./Forster, ./Garrett, M.F., 1991. Syntactically based sentence processing classes: Evidence from event-related potentials. J. of Cognitive Neuroscience 6: 233-255121 Friederici, A.D./Pfeifer, E./Hahne, A., 1993. Event-related brain potentials during natural speech processing: Effects of semantic, morphological, and syntactic violations. Cognitive Brain Research 1: 183-192
Neben den Unterschieden im zeitlichen Verlauf der Verarbeitung der Konstituentenstruktur
und der Semantik (Selektionsrestriktionen) ergaben die ERP-Studien auch eine hierarchische
Abhängigkeit der semantischen Information von der Konstituenteninformation. Dies zeigte
sich, wenn die kritischen Verletzungstypen in einem Wort auftraten122:
*Das Gewitter wurde im gebügelt.
Die kombinierte Verletzung erzeugt genau dieselbe Reaktion wie die PS-Verletzung allein,
nämlich eine ELAN (+ eine späte Positivität), aber keine N400. Offensichtlich kann die PS-
Information die Verarbeitung der Semantik (Selektionsrestriktionen) blockieren. Somit
erscheinen die PS-Beziehungen eine notwendige Vorbedingung für die Verarbeitung der
Semantik (Selektionsrestriktionen) darzustellen.
Problematisch ist bei dieser Untersuchung allerdings, dass die beiden kritischen
Informationstypen sich auch in der auditiven Präsentation eines Wortes unterscheiden: Im o.e.
Beispiel besteht eine hohe Korrelation zwischen der PS-Verletzung und dem „ge“-Präfix am
Partizip, wogegen die semantische Information nicht vor dem Wortstamm verfügbar ist. Man
könnte also von einem interaktiven Standpunkt aus argumentieren, das eine hierarchische
Abhängigkeit auch in die andere Richtung herbeigeführt werden könnte, wenn man die
zeitliche Verfügbarkeit der kritischen Informationen innerhalb des Wortes umdreht. Ein
122 Hahne, A./Friederici, A.D., 2002. Differential task effects on semantic and syntactic processes as revealed by ERPs. Cognitive Brain Research 13: 339-356
Untersuchung123 mit Sätzen wie „*Het vrouwtje veegde de vloer met een oude kliederde
(verschmutzt: -de zeigt Verb an und semantische Verletzung, wird vom Stamm angezeigt)
gemaakt van twijgen.“ Im kritischen Wort „kliederde“ ergibt sich also eine semantische
Verletzung (im Stamm) und eine der Wortkategorie (s. –de). Die Kategorieverletzung wurde
ca. 300ms nach der semantischen Verletzung deutlich – als „Kategorieverletzungspunkt“
bezeichnet. Es wurde eine N400 beobachtet, eine Reaktion auf den unpassenden Teil und
zwar mit einem Beginn noch vor dem Kategorieverletzungspunkt. Danach folgte eine
anteriore Negativität und eine späte Positivität, was wiederum als eine Widerspiegelung der
falschen Kategorie aufgrund des Suffix gesehen werden kann. Daraus kann man schließen,
dass die N400 die ELAN nicht blockieren kann.
In einer weiteren Untersuchung124 war das Suffix, das die Kategorieinformation trägt, in einer
Silbe mit dem Stamm, der ja die semantische Information beinhaltet:
a) Der Strauch wurde verpflanzt von einem Gärtner...
b) *Das Buch wurde verpflanzt von einem Verleger... (semantische Verletzung)
c) *Der Strauch wurde trotz verpflanzt von einem Gärtner... (PS-Verletzung)
d) *Das Buch wurde trotz verpflanzt von einem Verleger... (doppelte Verletzung)
Obwohl hier die semantische Information früher verfügbar war als die Information über die
Wortkategorie wurde für die doppelte Verletzung dasselbe Muster wie für die PS-Verletzung
beobachtet: eine (E)LAN und eine Positivität ohne eine N400. (In diesem Experiment war die
ELAN zeitlich verzögert, womit sie in einem Zeitfenster auftrat, das typischerweise mit einer
linken anterioren Negativität (LAN) in Verbindung steht. Diese etwas längere Latenz könnte
damit zusammenhängen, dass die kritische Information für die Wortkategorie im auditiven
Signal später auftrat. Das weist auf eine wichtige Überlegung hin, die man bei der
Interpretation von ERP-Daten beachten sollte: Komponenten-/Effekt-Latenzen sind eher
relativ als absolut; d.h. dass die Latenz eines Effekts sich abhängig von den
Präsentationsbedingungen (z.B. auditiv od. visuell) verändern kann und eben auch
Unterschiede in der Verfügbarkeit bestimmter Informationstypen von diesen Veränderungen
der Bedingungen abhängen.)
{Beachte: In Satz d) wäre aber „trotz“ an dieser Stelle grundsätzlich eine korrekte
Möglichkeit für die Fortführung des Satzes – hat das einen Einfluss? Wenn ja, welchen?}
123 van den Brink, D./Hagoort, P., 2004. The influence of semantic and syntactic context constraints on lexical selection and integration ind spoken word comprehension as revealed by ERPs. J. of Cognitive Neuroscience 16: 1068-1084124 Friederici, D.A./Gunter, T.C./Hahne, A./Mauth, K., 2004. The relative timing of syntactic and semantic processes in sentence comprehension. Neuroreport 15: 165-169
Die beiden o.e. Experimente scheinen eher auf eine hierarchisch organisierte Struktur des
Verarbeitungssystems hinzuweisen, wobei die Verarbeitung der PS-Struktur die Verarbeitung
der „semantischen“ Information dominiert: ELAN-Effekte blockieren N400, aber eine N400
blockiert nicht den ELAN, auch wenn sie früher auftritt.
Der Vergleich der beiden Studien weist auch darauf hin, dass möglicherweise ein sogenanntes
„Integrationsfenster“ („integration window“) besteht, während dessen die Verletzung der
Wortkategorie die Verarbeitung der semantischen Information beeinflussen kann, selbst wenn
sie später auftritt125. (In diesem Sinne trat die Wortkategorieverletzung im Friederici et al.
Experiment innerhalb dieses Fensters auf, aber in der anderen Studie trat sie zu spät für dieses
Fenster auf.) Insgesamt weist dieses Datenmuster darauf hin, dass die Verarbeitungsstadien
eher kaskadierend organisiert sind denn strikt seriell, d.h. das 2. Stadium kann auf der Basis
eines teilweisen (und nicht vollständigen) Inputs aus dem ersten Stadium ausgelöst werden.
D.h. für eine kurze Zeit besteht ein Überlappung der Prozesse der beiden Stadien. Wenn ein
Problem mit der Wortkategorie innerhalb dieses Integrationsfensters auftritt und die
Verarbeitung auf Stadium 1 fehlschlägt, dann kann die semantische Verarbeitung noch
unterbrochen werden. Wenn nun aber die Verarbeitung auf Stadium 2 einen bestimmten
Punkt überschritten („point of no return“) hat, geht die semantische Verarbeitung weiter und
die N400 kann nicht weiter blockiert werden. Obwohl man derzeit über die genaue Größe
dieses Fensters nur spekulieren kann, so könnte doch die Unterscheidung der Silbengrenzen
(innerhalb der Silbe oder darüber hinausgehend) in den beiden Studien einen Ausgangspunkt
dafür bieten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese ERP-Ergebnisse die Annahme stützen, dass die
Konstituentenstrukturinformation andere Informationsarten, wie Semantik/Plausibilität
hierarchisch dominiert. Diese hierarchische Struktur wird typischerweise im zeitlichen
Vorausgehen widergespiegelt, aber das ist keine notwendige Voraussetzung. Somit zeigt
dieses Beispiel, dass Abhängigkeiten zwischen ERP-Komponenten in Hinblick auf die
Struktur des Verarbeitungsprozesses informativer zu sein scheinen als absolute Latenzwerte,
da diese aufgrund der Eigenschaften des Inputs variieren können.
Diese Schlüsse aus den ERP-Daten werden von Daten aus bildgebenden Verfahren gestützt126:
Bei der Untersuchung mit ähnlichen Strukturen wie oben, wurde festgestellt, PS-Verletzungen
eine erhöhte Aktivierung im anterioren Teil des linken G. temp. superior, im linken tiefen
125 s. dazu: Poeppel, D., 2003. The analysis of speech in different temporal integration windows: Cerebral lateralizations as ‚asymmetric sampling in time’. Speech Communication 41: 245-255126 Friederici, D.A./Rüschmeyer, S.-A./Fiebach, C.J./Hahne, A., 2003. The role of left inferior frontal and superior temporal cortex in sentence comprehension: Localizing syntactic and semantic processes. Cerebral Cortex 13: 1047-1132(?)
frontalen Operculum und den linken Basalganglien hervorriefen, wogegen semantische
Verletzungen eine verstärkte Aktivierung im mittleren Teil des G. temp. superior und in der
anterioren Insel erzeugten. Beide Arten von Verletzungen zeigten eine Aktivierung im
posterioren linken G. temp. superior. Diese Ergebnisse weisen auf neuroanatomische Bereiche
hin, innerhalb derer Konstituentenstrukturinformation und semantische Information von
einander getrennt verarbeitet werden und eine weitere Region, die für beide Informationsarten
zuständig ist. Das scheint auch mit damit übereinzustimmen, dass die Konstituentenstruktur
von anderen Informationsarten dissoziiert werden kann, aber sie muss mit ihnen zu einem
bestimmten Zeitpunkt in der Verarbeitung interagieren, um eine vollständige Abbildung der
Form auf der Bedeutung zu ermöglichen.
Relationale Struktur
Die nächste Ebene der Abbildung von Form und Bedeutung betrifft die Beziehungen
(Relationen) zwischen den einzelnen Konstituenten im Satz. (S. die Beziehung zwischen
einem Verb und seinen Argumenten: wie viele? welche Typen (NP, PP...)? welche Kasus?
Übereinstimmung von Verb mit Argumenten bez. Numerus, Person, Genus.) Diese
Beziehungen bestehen nicht zwischen einem Element und seiner Position in der
Konstituentenstruktur, sondern zwischen verschiedenen Elementen innerhalb dieser Struktur:
So müssen z.B. in der PS-Struktur Konstituenten einen Kopf haben, aber so etwas besteht
nicht für eine Funktion wie „Subjektposition“. (Diese relationalen Eigenschaften werden von
den verschiedenen Grammatiktheorien auch unterschiedlich dargestellt: Chomskysche
Ansätze sehen sie als Teil einer spezifischen PS-Konfiguration (z.B. ein Akk-Objekt ist ein
Komplement des Verbs); andere Theorien sehen sie als Teil einer unabhängigen
Repräsentationsebene (z.B. „Lexical-Functional Grammar“127) oder ordnen sie dem Verbinden
von Form und Bedeutung zu (z.B. „Role and Reference Grammar“128).)
In ähnlicher Weise sind sich die psycholinguistischen Theorien nicht einig darüber, ob die
relationale Struktur gleichzeitig mit der Phrasenstruktur verarbeitet wird oder in einer post-
intialen Verarbeitungsphase (vgl. Diskussion bez. interaktive vs. modulare
Verarbeitungsmodellen). Somit unterscheiden sich die Modelle zur Satzverarbeitung entlang
zwei orthogonalen Dimensionen: a) ob die relationale Struktur aus den PS-Repräsentationen
abgeleitet werden kann oder ob sie einen unabhängigen Status hat und b) ob die beiden Typen
127 Bresnan, J., 2001. Lexical functional grammar. Oxford128 Van Valin, R.D. Jr., 2005. Exploring the Syntax-Semantics Interface. Cambridge
von Information gleichzeitig verarbeitet werden oder nicht.
Nun gibt es Hinweise, dass die kombinatorischen Eigenschaften der relationalen Struktur
nicht vollständig von jenen der Konstituentenstruktur festgelegt werden. So weisen
Ergebnisse aus dem Bereich der sog. „enriched composition“ darauf hin, dass einige Aspekte
der Interpretation auf der Satzebene über die Kombination von Elementen der PS-Struktur
hinausgehen129:
a) Enriched composition (complement coercion)
The journalist began the article after his coffee break.
b) Control
The journalist wrote the article after his coffee break-
c) Anomalous
The journalist astonished the article after his coffee break.
Von Sätzen, die eine „enriched composition“ erfordern, wird angenommen, dass sie
zusätzlich Inferenzprozesse für die Verarbeitung einer implizierten Bedeutung benötigen130.
Ein Beispiel dafür ist a): Üblicherweise würde das Verb „begin“ ein Ereigniskomplement
erfordern (typischerweise durch eine VP ausgedrückt: „began to write a book“); wenn nach
„begin“ (wie in a)) eine (nicht-ereignishafte) Objekts-NP auftritt, wird diese NP sozusagen
von einer Entitätsrepräsentation in eine Ereignisrepräsentation „gezwungen“. Nun wird von
den Autoren argumentiert, dass die „Erzwingung“ keinen syntaktischen Prozess darstellt.
Zusätzlich werden Aktivierungen in unterschiedlichen Hirnarealen für andere Aspekte der
Satzverarbeitung (nämlich im sog. „anterioren Mittellinienfeld“, d.h. in einem
frontalmedianen Areal ungefähr an der Grenze zwischen BA 8 und BA 9) erzeugt. Sätze wie
a) beinhalten also Prozesse der (relationalen) semantischen Komposition, die nicht vollständig
aus der Konstituentenstruktur eines Satzes abgeleitet werden können.
Relationale Aspekte der Verb- und Verb-Argument-Verarbeitung
Die vom Verb herrührenden Abhängigkeiten können nun formal oder interpretativ sein.
Trotzdem ist aus empirischer Sicht die Grenze zwischen diesen beiden Bereichen nicht immer
ganz deutlich („clear cut“).
Kongruenz
Die wohl meisten Diskussionen bezüglich der Kongruenz betreffen die irrtümlichen Pl-
129 Pylkänen, L./McElree, B., 2007. An MEG study of silent meaning. J. of Cognitive Neuroscience 19: 905-921130 s. z.B. Jackendoff, R., 1997. The architecture of the language faculty. Cambridge, MA
Verwendungen bei Verben, die unter bestimmten Umständen auftreten, so z.B. nach einer
komplexen Subjekt-NP wie „the key to the cabinets“ (Sg – Pl). Sie wurden sowohl in der
Produktion131 als auch im Verständnis132 festgestellt. Der umgekehrte Prozess, nämlich die
Verwendung des Sg nach einer Pl-Sg NP tritt nicht auf. Diese Asymmetrie wird
typischerweise dem Markiertheitsunterschied zwischen Sg und Pl zugeschrieben. (Solche
Studien wurden verwendet, um lineare Präzedenz mit hierarchischer Strukturbildung bei der
Sprachverarbeitung zu kontrastieren133 .)
Während die Diskussion der auf Merkmalen basierenden Interferenz hauptsächlich aufgrund
der Ergebnisse von Untersuchungen der Sprachproduktion entstanden ist, lag der
Hauptbereich der Untersuchungen bez. der Kongruenz im Sprachverständnis auf der
Disambiguierung von ambigen Sätzen. So wurde „agreement“ für die Disambiguierung des
Anschlusses von Relativsätzen in jenen Kontexten verwendet, in denen es mehrere potenzielle
Anschlussmöglichkeiten gab134. Beispiele (aus Frazier/Clifton, 1996, Kap. 4.4):
Agreement as a disambiguating feature:
Max met the only one of Sam’s employees...
a) ...who have teeth who drives a pickup truck.
b) ...who has teeth who drives a pickup truck.
Dabei wurde also eher untersucht, wie solche Kongruenzbeziehungen verwendet werden, und
nicht wie sie zustande kommen.
Mit den in zunehmenden Ausmaß vorhandenen neurokognitiven Methoden wurde stärker
Fragen nach der Verarbeitung von Kongruenz selbst gestellt. Dabei geht es vor allem darum,
ob Kongruenz als ein relationales syntaktisches Merkmal einerseits von der semantischen
Information dissoziiert werden kann und andererseits von der Konstituentenstruktur. Es ging
also darum distinkte neurokognitive Signaturen der Kongruenz gegenüber anderen Arten von
Information festzustellen. Dazu wurden wiederum Sätze einander gegenübergestellt, die sich
minimal unterschieden.
Es wird auch hier von der Annahme ausgegangen, dass ein Problem in einem bestimmten
Bereich (einer bestimmten Domäne) vermehrte Verarbeitungskosten innerhalb dieses
131 z.B.: Bock, K./Eberhart, K.M., 1993. Meaning, sound, and syntax in English number agreement. Language and Cognitive Processes 8: 57-99; Vigliocco, G./Nicol, J., 1998. Separating hierarchical relations and word order in language production: Is proximity concord syntactic or linear? Cognition 68: B13-B29132 z.B.: Nicol, J.L./Forster, K.I./Veres, C., 1997. Subject-verb agreement processes in comprehension. J. of Memory and Language 36: 569-587; Pearlmutter, N.J./Garnsey, S.M./Bock, K., 1999. Agreement processes in sentence comprehension. J. of Memory and Language 11: 427-456133 s. Pearlmutter, N.J., 2000. Linear versus hierarchical agreement feature processing in comprehension. J. of Psycholinguistic Research 29: 89-98134 Gilboy, E./Sopena, J.-M./Clifton, C., Jr./Frazier, L., 1995. Argument structure and association preferences in Spanish and English complex NPs. Cognition 54: 131-167; Frazier, L./Clifton, C., Jr., 1996. Construal. Cambridge, MA
Bereichs erzeugt. Wenn also Kongruenz unterschiedlich von der semantischen Information
verarbeitet wird, so sollte sich dies in einer unterschiedlichen neurokognitiven Antwort auf
die Verletzung der Kongruenz im Vergleich zu einer semantischen Verletzung widerspiegeln.
Das dies der Fall ist wurde bereits von Kutas/Hillyard (1983)135 (z.B.: „some shells is even
soft.“)
Während semantische Verletzungen einen N400-Effekt hervorriefen, ergab der vergrößerte
Verarbeitungsaufwand bei Verletzungen von Kongruenz eine links anteriore Negativität
(LAN) [s. Abb. u.], d.h. einen Effekt, der ungefähr im selben Zeitbereich liegt wie die N400
aber mit einer davon verschiedenen topographischen Verteilung. Neuroanatomisch gesehen
hat sich gezeigt, dass solche Su – Verb Kongruenzverletzungen eine verstärkte Aktivierung in
der Pars opercularis (BA 44) des linken G. frontalis inferior hervorrufen136. Diese Korrelation
zwischen Su – V Kongruenzverletzungen und LAN-Effekten erwies sich als sehr konsistent,
wie eine Reihe von weiteren Untersuchungen zeigte:
Englisch: „Every Monday he mow the lawn.“137
Italienisch: „Il cameriereanziano servono con espressione distratta.138
Holländisch: „Het verwende kind gooien het speelgoed op the grond.“139
Deutsch: „Den Auftrag bearbeiten er dennoch.“140
135 Kutas, M./Hillyard, S.A., 1983. Event-related brain potentials to grammatical errors and semantic anomalies. Memory and Cognition 11: 539-550136 Newman, S.D./Just, M.A./Keller, T.A./Roth, J./Carpenter, P.A., 2003. Differential effects of syntactic and semantic processing in the subregions of Broca’s area. Cognitive Brain Research 16: 297-307137 Coulson, S./King, J.W./Kutas, M., 1998. Expect the unexpected: Event-related brain response to morphosyntactic violations. Language and Cognitive Processes 13: 21-58138 de Vincenzi, M./Job, R./Di Matteo, R./Angrilli, A./Penolazzi, B./Ciccarelli, L./Vespignani, F., 2003. Differences in the perception and time course of syntactic and semantic violations. Brain and Language 85: 280-296139 Hagoort, P./Brown, C., 2000. ERP effects of listening to speech compared to reading: the P600/SPS to syntactic violations in spoken sentences and rapid serial visual presentation. Neuropsychologia 38: 1531-1549140 Röhm, D./Bornkessel, I./Haider, H./Schlesewsky, M., 2005. When case meets agreement: Event-related potential effects for morphology-based conflict resolution in human language comprehension. Neuroreport 16: 875-878; Burkhardt, P./Fanselow, G./Schlesewsky, M., 2007. Effects of (in)transitivity on structure building and agreement. Brain Research 1163: 100-110
Abb. (p. 119)
Weitere Ergebnisse scheinen darauf hinzuweisen, dass das Auftreten von LAN nicht auf die
Verarbeitung der Übereinstimmung von Subjekt – Verb beschränkt ist, sondern dass es sich
dabei um eine allgemeinere Reaktion auf die verstärkten Anforderungen bei der Verarbeitung
von solchen Übereinstimmungsrelationen handelt.
Beispiele:
Verb – Aux – Übereinstimmung (LAN + späte Positivität):
„Der Dichter hat gegangen.“ 141
Fehler im beim Partizip:
„Das Parkett wurde bohnere.“ 142
Was passiert nun, wenn sowohl eine semantische Verletzung als auch Formverletzung
auftritt?
„De vuile matten wurden door de hulp koken.“
die schmutzigen Türmatten wurden vom Hausmeister kochen.143
141 Rösler, F./Friederici, A.D./Pütz, P./Hahne, A., 1993. Event-related brain potentials while encounteringsemantic and syntactic constraint violations. J. of Cognitive Neurosience 5: 345-362142 Friederici, A.D./Pfeifer, E./Hahne, A., 1993. Event-related brain potentials during natural speech processing: Effects of semantic, morphological, and syntactic violations. Cognitive Brain Research 1: 183-192
Interessanterweise zeigt sich für diese doppelte Verletzung ein additives Muster, d.h. ein
Muster, das eine N400 und eine LAN innerhalb desselben Bereichs aufweist, gefolgt von
einer späten Positivität. Das weist darauf hin, dass, im Gegensatz zu den Konflikten, die
während der Verarbeitung der Konstituentenstruktur auftreten, die zu einer Blockierung der
N400 führen, die Verarbeitung der relationalen Struktur (Übereinstimmung) zusammen mit
dem Erstellen der interpretativen Beziehungen erfolgt. (Diese Beobachtung passt zu den
Beobachtungen, dass eine LAN auch durch eine ELAN blockiert werden kann.144) Insgesamt
scheinen die Unterschiede zwischen ELAN und LAN darauf hinzuweisen, dass diese beiden
Komponenten auf zwei funktional getrennte Prozesse hinweisen145 .
Trotz des gemeinsamen Auftretens von LAN und N400 in einer zweiten Verarbeitungsphase,
weist die in der o.e. Untersuchung festgestellte additive Natur der Muster darauf hin, dass die
zwei Arten der Information parallel verarbeitet werden, aber nicht mit einander im zeitlichen
LAN/N400 Bereich (d.h. zwischen ca. 300 und 500 ms) interagieren. Es gibt allerdings
Hinweise darauf, dass eine solche Interaktion in den späteren Verarbeitungsstadien auftritt,
wie sich an der Interaktion von Übereinstimmung und semantischer Information in der
folgenden Positivität zeigt (s.a. o.e. Untersuchung Gunter et al.).
143 Gunter, T.C./Stowe, L.A./Mulder, G., 1997. When syntax meets semantics. Psychophysiology 34: 660-676144 Rossi, S./Gugler, M.F./Hahne, A./Friederici, A.D., 2005. When word category information encounters morphosyntax: An ERP study. Neuroscience Letters 384: 228-233145 andere Meinung: Lau, E./Stroud, C./Plesch, S./Phillips, C., 2006. The role of structural prediction in rapid syntactic analysis. Brain and Language 98: 74-88
Neurokognitive Modelle des Sprachverständnisses
Das deklarative – prozedurale Modell
Das deklarative-prozedurale Modell146 stellt eine neurokognitive Implementierung einer
Architektur der Sprachverarbeitung dar, die zwischen lexikalischem Wissen und regel-
basierendem Wissen unterscheidet. Diese Unterscheidung (deklarativ – prozedural) erfolgt
aber nicht aus sprachinternen Gründen, sondern Ullman schlägt vor, dass diese
Differenzierung in die allgemeinere kognitive Unterscheidung zwischen deklarativem und
prozeduralem Gedächtnis eingebettet ist. So ist das deklarative Gedächtnis für die
Speicherung von Fakten („semantisches Gedächtnis“) und Ereignissen („episodisches
Gedächtnis“) verantwortlich. Es ermöglicht das schnelle Erlernen von assoziativen
Beziehungen und unterliegt dem bewussten Erinnern und andere Systeme können darauf
zugreifen. Im Gegensatz dazu umfasst das prozedurale Gedächtnis das Wissen über Abfolgen,
Handlungen und Fähigkeiten, sowohl in den sensorisch-motorischen Bereichen als auch den
kognitiven (z.B. das Erlernen des Fahrradfahrens). Es wurde vorgeschlagen, dass dieses
Wissen „informationsmäßig abgekapselt“ („informationally encapsulated“) ist, d.h. dass
andere Systeme nicht darauf zugreifen können und es auch nicht beeinflussen können. Es
kann auch nicht bewusst abgerufen werden.
Ullman nimmt auf nun Basis dieser Unterscheidung an, dass regelbasierenden sprachliches
Wissen (d.h. syntaktisches und regelhaftes morphologisches Wissen, aber auch Aspekte der
Phonologie und kompositionalen Semantik) ein Teil des prozeduralen Systems ist. Dagegen
ist lexikalisch gespeicherte Information (d.h. irreguläre Morphologie, lexikalische Semantik)
als deklarative Information repräsentiert. Somit beansprucht die sprachliche Verarbeitung in
diesen beiden Bereichen die neuronalen Netzwerke, die mit dem prozeduralen bzw.
deklarativen Gedächtnissystem in Beziehung stehen.
Vom Standpunkt der funktionalen Neuroanatomie aus betrachtet, wird das deklarative
Gedächtnissystem mit Strukturen im medialen Bereich des Temporallappens in Verbindung
gebracht, d.h. hippocampaler, parahippocampaler, entorhinaler und perirhinaler (BA 35, 36)
Cortex.
Das prozedurale System wird mit einem anderen neuronalen Netzwerk in Verbindung
gebracht, das frontale Bereiche (einschließlich der Pars opercularis und der P. triangularis des
G. frontalis inferior und prämotorischen Kortex), wie auch parietale, zerebellare und
146 Ullman, M.T., 2001. A neurocognitive perspective on language: The declarative/procedural model. Nature Reviews Neuroscience 2: 717-726; ders. 2004. Contributions of memory circuits to language: The declarative/procedural model. Cognitiion 92: 231-270
Strukturen der Basalganglien einschließt. Innerhalb des deklarativ-prozeduralen Modells wird
nun angenommen, dass diese verschiedenen Netzwerke die Verarbeitung von
regelbasierendem bzw. lexikalischem (gespeichertem) Wissen unterstützen.
Allerdings wird keine vollständige neuronale Dissoziation zwischen den beiden Systemen
angenommen, sondern es wird von einer Anzahl von Überlappungen ausgegangen.
So nimmt Ullman an, dass die superioren temporalen Areale eine mögliche Interaktionsstelle
für das deklarative und das prozedurale Wissen darstellen könnten, da sie eine Rolle bei der
Speicherung von Typen von Information spielen könnten, die für prozedurale Aspekte der
Sprache relevant sind (z.B. phonologische Information und möglicherweise auch morpho-
syntaktische Information). Weiters wurden frontale Bereiche, einschließlich des G. front.
inferior und prämotorischen Kortex, von denen typischerweise angenommen wird, dass sie
Teile eines Netzwerkes bilden, das mit dem Arbeitsgedächtnis zusammenhängt, mit der
Enkodierung von neuen Gedächtnisinhalten und der Auswahl oder dem Abrufen von
deklarativem Wissen in Verbindung gebracht.
Nach Ullman (2004: 247) kann man sich diese Interaktion wie folgt vorstellen: „the
procedural system is hypothesized to build complex structures, and learn rule-governed
patterns over those structures, by selecting lexical items from declarative memory, and
maintaining and structuring those items together in working memory.“
Dazu nimmt Ullman eine weitere Untergliederung zwischen BA 6/44 einerseits und BA 45/47
andererseits an. Während angenommen wird, dass erstere Areale an der phonologischen
Verarbeitung beteiligt sind, wird angenommen, dass letztere eine ähnlich Rolle hinsichtlich
der Semantik spielen.
Zusätzlich zu den neuroanatomischen Annahmen schlägt Ullman auch vor, dass die
deklarativen und prozeduralen Sprachsysteme mit unterscheidbaren elektrophysiologischen
Verarbeitungskorrelaten in Verbindung stehen. So wird angenommen, dass sich Aspekte des
deklarativen Gedächtnisses in N400 Effekten widerspiegeln und regel-basiertes/
kombinatorisches Verarbeiten erzeugt linke anteriore Negativitäten. Späte Positivitäten
(P600) werden eher als kontrollierte denn als automatische Aspekte des prozeduralen
Gedächtnisses angesehen.
Ganz allgemein gesehen sind die groben neuroanatomischen Dissoziationen, die einen Teil
des deklarativ – prozeduralen Modells bilden, mit einem weiten Bereich von theoretischen
Annahmen über die funktionale Neuroanatomie der Sprachverarbeitung kompatibel.
Tatsächlich nehmen die meisten Modelle eine Art von Verbindung zwischen lexikalisch
gespeicherten Repräsentationen und Teilen des Temporallappens an, wogegen stärker
„verrechnende“ oder „ kompositionale“ Aspekte der Sprache in den frontale Regionen zu
finden sind. Es gibt auch empirische Unterstützung für das Konzept von zwei
unterschiedlichen Gedächtnissystemen, die beide strukturierte Aspekte desselben sprachlichen
Inputs lernen können. Ullman schlägt dazu vor (2004: 247), dass : „rapid lexical/declarative
storage of sequences of lexical forms should provide a database from which grammatical rules
can gradually and implicitly be abstracted by the procedural memory system.“
Bei fMRI Untersuchungen zum Lernen von artifiziellen Grammatiken wurde eine erhöhte
hippokampale Aktivität während der frühen („ähnlichkeits-basierenden“) Lernstadien
beobachtet und eine erhöhte inferior frontale/ventrale prämotorische Aktivierung während der
späteren („regel-basierenden“) Stadien147. Was mit den neuroanatomischen Annahmen des
deklarativ-prozeduralen Modell übereinstimmt.
Allerdings gibt es in diesem Modell auch andere etwas problematischere Annahmen. Einer
diese Punkte betrifft die Rolle der Basalganglien bei der Sprachverarbeitung. Einerseits gibt
es durchaus unterstützende Hinweise, dass diese Strukturen bei der Verarbeitung von
Rhythmus und Takt eine Rolle spielen148 und auch bei Aspekten der Sequenzierung149.
Allerdings wurde auch festgestellt, dass Dysfunktionen der Basalganglien nicht
notwendigerweise zu selektiven Defiziten bei der Verarbeitung von prozeduralem Wissen wie
regulärer Präteritalmorphologie führen muss150. (Niki Diss.) So weisen eine Reihe von
Ergebnissen darauf hin, dass die Basalganglien in kontrollierten Aspekten der
Sprachverarbeitung involviert sind, wie etwa die Hemmung von nicht präferierten
Repräsentationen. Solche Beobachtungen sind zumindest problematisch für Ullmans
allgemeine Konzeption des prozeduralen Systems.
Die Stärken dieses Modells liegen in den gut begründetet Annahmen bezüglich der
neuroanatomiscchen Untermauerungen des allgemeinen sprachlichen Systems. Damit bietet
es weitere Spezifizierungen der anatomischen, physiologischen (und biochemischen)
Substrate und der funktionalen Rollen, die diese Substrate in der Sprache spielen (Ullman
2004: 248). Von dieser Perspektive her bietet das deklarativ-prozedurale Modell einen
nützlichen Rahmen für die auf der Neuroanatomie basierenden Verbindung zwischen der
147 Opitz, B./Friederici, A.D., 2003. Interactions in the hippocampal system and the prefrontal cortex inlearning language-like rules. Neuroimage 19; dies. 2004. Brain correlates of language learning: The neuronal dissociation of rule-based versus similarity-based learning. The Journal of Neuroscience 24: 8436-8440148 z.B.: Grahn, J.A./Brett, M., 2007. Rhythm and beat perception in motor areas of the brain. J. of Cognitive Neuroscience 19: 893-906149 Schubotz, R.I./von Cramon, D.Y., 2001. Interval and ordinal properties of sequences are associated with distinct premotor areas. Cerebral Cortex 11: 210-222150 Longworth, C.E./Keenan, S.E./Barker, R.A./Marslen-Wilson, W.D./Tyler, L.K., 2005. The basal ganglia and rule-governed language use: Evidence from vascular and degenerative conditions. Brain 128: 548-596
Sprache und allgemeineren kognitiven Funktionen. Allerdings scheint es manchmal, als ob
diese kognitiv und neuronale Motiviertheit auf Kosten weniger genauerer
psycholinguistischen Erklärungen geht, da ja die Unterscheidung zwischen deklarativem und
prozeduralem Wissen sehr allgemein ist und somit etwas unterspezifiziert hinsichtlich
sprachinternen Begriffen ist. Dies passiert im Prinzip bei allen Arten von Information, die
nicht eindeutig als entweder regel-basierend oder lexikalisch abgespeichert kategorisiert
werden können – d.h. von den zugrundeliegenden „Wörter und Regel“-Schema abweichen.
So ist nicht klar, wie Phänomene am Interface zwischen Syntax und Semantik wie etwa die
Repräsentationen von thematischen Rollen oder Wortstellung innerhalb des deklarativ-
prozeduralen Modells implementiert werden sollten. Da dieses Modell keinen spezifischen
Annahmen bezüglich der genauen Natur der sprachlichen Repräsentation, auf die während der
Verarbeitung zurückgegriffen wird, bietet, kann das zu Schwierigkeiten bezüglich der
Klassifikation eines spezifischen Phänomens als deklarativ oder prozedural führen.
Als Beispiel möge die Wortstellung dienen: Die meisten generative Ansätze gehen davon aus,
dass die Variationen in der Wortstellung mittels Bewegungsoperationen (d.h. einer Subklasse
von linguistischen Regeln) abgeleitet werden, womit die Verarbeitung der Wortstellung ein
eindeutig prozedurales Phänomen ist. Allerdings gibt es auch andere Modelle, die die
Umstellungen von Wörtern nicht aus einer syntaktischen Bewegung ableiten, sondern sie
erklären die Markiertheit von Strukturen mit Objekten am Anfang mittels anderer Faktoren,
z.B. eine erhöhte „Verbindungskomplexität“ („complexity of linking from syntax to
semantics“) von der Syntax zur Semantik151 oder die geringere Häufigkeit von Objekt-zuerst
Konstruktionen152. Im Rahmen der Ansätze, die auf „linking“ basieren, ist es nicht klar, ob zu
erhöhten Verarbeitungskosten, die von Umstellungen erzeugt werden, dem prozeduralen oder
dem deklarativen Bereich zugerechnet werden sollten. Wenn man von der Häufigkeit ausgeht,
dann würde eher deklaratives als prozedurales Gedächtnis involviert sein. somit ergeben sich
in Abhängigkeit von der bevorzugten grammatischen Theorie unterschiedliche
neuroanatomische Ansätze und Annahmen.
Gewisse Probleme ergeben sich auch in bezug auf die elektrophysiologischen Annahmen
dieses Modells. Im Grunde genommen entsprechen sie den klassischen Interpretationen von
mit der Sprache in Verbindung stehenden EKP-Komponenten (z.B. entsprechen LAN-
Effekte der kompositionalen Verarbeitung einer Beschreibung; N400-Effekte stehen in
151 Bresnan, J., 2001. Lexical functional Grammar. Oxford; Fanselow, G., 2001. Features, -roles, and free constituet order. Linguistic Inquiry 32: 405-427; Van Valin, R.D., 2005. Exploring the Syntax-Semantic Interface. Cambridge CUP152 Goldberg, A.E., 2003. Constructions: A new theoretical approach to language. Trends in Cognitive Sciences 7: 219-224
Beziehung zu lexikalischem/assoziativem Wissen). Allerdings ist diese strikte Klassifikation
nicht mehr mit dem gesamten Bereich der festgestellten Ergebnisse nicht ganz kompatibel. Im
speziellen gibt es Hinweise darauf, dass N400-Effekte auch kombinatorische Prozesse
widerspiegeln könnten. Das wäre im Rahmen des deklarativ-prozeduralen Modells völlig
unerwartet.
Ein weiteres Problem ergibt sich hinsichtlich der späten positiven Effekte (P600). Zusätzlich
zur Korrelation mit der syntaktischen Reanalyse (d.h. kontrolliertes Verwenden von
prozeduralem Wissen) spiegeln diese Effekte auch nicht übereinstimmende
Wohlgeformtheiten („well-formedness mismatches“) wider und sie entstehen aufgrund der
erhöhten Kosten des Abbildens von unterschiedlichen Typen von Information auf einander. In
diesem Sinne ist eine klare „prozedurale“ Interpretation dieser Komponente (oder Familie von
Komponenten) etwas zu eng. Im Lichte dieser Überlegungen ist es äußerst schwierig
elektrophysiologische Voraussagen aus dem deklarativ-prozeduralem Modell abzuleiten.
Das MUC-Modell (memory, unification, and control)
Dieses Modell von Hagoort153 nimmt an, dass das neuronale Sprachsystem aus drei
grundlegenden Komponenten besteht: Gedächtnis („memory“), Verbindung („unification“)
und Kontrolle („control“). Die Gedächtniskomponente, die für die Speicherung der
sprachlichen Repräsentationen und ihrem Abrufen zuständig ist, ist primär im linken
temporalen Kortex verankert. Dagegen dient die Verbindungskomponente dem Verbinden der
aus dem Gedächtnis abgerufenen zu komplexeren Repräsentationen. Aus neuroanatomischer
Sicht wird angenommen, dass dieser Vorgang von den linken inferioren frontalen Regionen
(BA 44/45/47) und dem linken prämotorischen Kortex (BA 6) unterstützt wird. Die
Kontrollkomponente soll das Faktum erklären, dass das sprachliche System im Rahmen von
kommunikativen Absichten und Handlungen agiert („...the fact that the language system
operates in context of communicative intentions and actions“ (Hagoort 2005: 421)). Darin
sind Funktionen enthalten wie die Planung von Handlungen und aufmerksamkeitsgesteuerte
Kontrolle/Hemmung, von denen angenommen wird, dass dazu Areale des dorsolateralen
präfrontalen Kortex (BA 46/9) und der anteriore G. cinguli herangezogen werden.
In Hinblick auf eine Anzahl von neuroanatomischen Annahmen finden wir hier eine
Übereinstimmung mit dem deklarativ-prozeduralen Modell: Beide Modelle gehen von einer
grundlegenden Unterscheidung zwischen der Speicherung der Repräsentationen im
153 Hagoort, P., 2003. How the brain solves the binding problem for language: A neurocomputational model of syntactic processing. Neuroimage 20: S18-S29; 2005. On Broca, brain, and binding: a new framework. Trends in Cognitive Sciences 9: 416-423
temporalen Kortex und der kombinatorischen Verarbeitung in den inferioren frontalen
Bereichen aus. Ein Unterschied besteht darin, dass die Gedächtniskomponente des MUC-
Modells auch Abrufmechanismen beinhaltet, wogegen diese im deklarativ-prozeduralen
Modell dem prozeduralen System zugeordnet werden und sich daher eher in inferior frontalen
Aktivierungen als in temporalen widerspiegeln. Im MUC-Modell wird weiters davon
ausgegangen, dass die Mechanismen der kognitiven Kontrolle eine getrennte Komponente
innerhalb des sprachlichen Netzwerks darstellen, wogegen sie im deklarativ-prozed. Modell
einen Teils des prozeduralen Systems darstellen.
Eine weitere Übereinstimmung zwischen diesen beiden Modellen besteht darin, dass der linke
inferiore frontale Kortex während der Sprachverarbeitung die kombinatorischen Operationen
unterstützt. Allerdings besteht der Unterschied nun darin, dass wir im dekl.-prozed. Modell
einen sehr allgemeinen Begriff von „regelbasierender“ Verarbeitung haben; dagegen stützt
sich das MUC-Modell auf den Begriff der „Verbindung“ („unification“) wie sie von einem
anderen Modell des Sprachverständnisses vorgeschlagen wurde154.
{Exkurs: In diesem Modell werden syntaktische Strukturen im Lexikon als „vor-
zusammengestellte“ („pre-compiled“) Repräsentationen („syntaktische Rahmen“) gespeichert.
Dieses Modell ist isofern rein lexikalistisch als alle syntaktischen Rahmen an jeweiligen
lexikalischen Repräsentationen gebunden sind (z.B. Satzrahmen stehen in Verbindung mit
den jeweiligen Verben). Damit werden in diesem Modell keine lexikalisch unabhängigen
kombinatorischen Regeln angenommen, ausgenommen eventuell der Verbindungsprozess
selbst. Während des Verständnisprozesses werden die syntaktischen Rahmen aus dem
Lexikon abgerufen und mittels der Verbindungsprozesses miteinander kombiniert. Zu
größeren „Verarbeitungskosten“ im Verbindungsprozess kommt es dann, wenn verschiedene
Verbindungsverweise mit einander konkurrieren, z.B. bei Objektrelativsätzen im Englischen,
wenn die beiden präverbalen NPs miteinander bezüglich der Verbindung mit der
Subjektfunktion/ dem Knoten konkurrieren.}
Bezüglich des Neuroanatomischen wird nun vorgeschlagen, dass das Speichern und Abrufen
der syntaktischen Rahmen vom posterioren Teil des linken superioren temporalen Kortex
gestützt wird und die Verbindung der Muster („binding“) durch die linkern inferioren
frontalen Areale erfolgt. Das MUC-Modell geht über die Vorschläge des Basismodells
(Vosse/Kempen, 2000) insofern hinaus als der Verbindungsprozess („unification“) als die
grundlegende kombinatorische Operation für alle Bereich der sprachlichen Verarbeitung
angenommen wird, d.h. auch in der Phonologie und Semantik wie eben in der Syntax. Es wird
154 Vosse, T./Kempen, G.A.M., 2000. Syntactic assembly in human parsing: A computational model based on competitive inhibition and lexicalist grammar. Cognition 75: 105-143
angenommen, dass alle diese Verbindungsoperationen von den linken inferioren frontalen
Regionen gestützt werden, wobei der verschiedenen Informationsarten einer
neuroanatomischen „Abstufung“ unterliegen: der phonologische Verbindungsprozess wird
mit dem ventralen prämotorischen Kortex (BA 6) und der Pars opercularis im linken G.
frontalis inf. assoziiert; der syntaktische Prozess stützt sich auf die Pars opercularis und Pars
triangularis (BA 44/45) und der semantische Prozess wird mit der Pars triangularis und Pars
orbitalis (BA 45/47) assoziiert. Allerdings ist dazu anzumerken, dass im Gegensatz zur relativ
deutlichen Darstellung des syntaktischen Verbindungsprozesses (s. Vosse/Kempen, 2000), die
Verarbeitungsschritte, die den phonologischen und semantischen Verbindungsprozessen
zugrunde liegen noch nicht klar definiert sind155.
Einen weiteren wichtigen Aspekt in diesem Modell stellt die Überlegung dar, dass diese
Verbindungsprozesse nicht nur innerhalb sondern auch zwischen den sprachlichen Bereichen
stattfinden. Entsprechend dieser Sichtweise wird angenommen, dass der linke G. frontalis
inferior eine wichtige Rolle dabei spielt, die verschiedenen Informationsarten aus den
verschiedenen Bereich mit einander zu verknüpfen. Ein zentraler Gedanke dabei : Es besteht
keine hierarchische Dominanz eines Typus von Information über einen anderen. Das MUC-
Modell nimmt an, dass alle Informationstypen vom Anfang des Verständnisprozesses an mit
einander interagieren. Zwar ist dies die zentrale Annahme dieses Modells, allerdings gibt es
noch keine Spezifizierung, wie diese Mechanismen aussehen.
Diese Annahme einer unmittelbaren Interaktion zwischen verschiedenen Arten von
Information (einschließlich Diskurskontext, die Sprache begleitende Gesten, Informationen
über die Sprecher etc.) geht auf eine Reihe von EKP- sowie fMRI-Studien zurück. Z.B.
stellten Hagoort et al.156 die Verarbeitung von lexikalisch-semantischer Information dem
Weltwissen gegenüber (Anm. die Züge in den Niederlanden sind typischerweise gelb):
a) The Dutch trains are white and very crowded. (Verletzung des Weltwissens)
b) The Dutch trains are sour and very crowded. (semantische Verletzung)
c) The Dutch trains are yellow and very crowded. (Kontrollbedingung)
Sowohl die semantische Verletzung als auch die Verletzung des Weltwissens riefen N400-
Effekte (300-550ms) hervor, die sich von einander nicht in ihrer Topographie oder der Latenz
des Beginns bzw. der Spitze unterschieden. Weiters ergaben sich für beide Verletzungen eine
verstärkte Aktivierung im linken G. frontalis inferior (BA 44/47). Dies wird als Hinweis
darauf interpretiert, dass nicht zuerst die Bedeutung eines Satzes bestimmt wird und danach
155 Allerdings bezüglich semantischer Verbindungsprozesse: Hagoort, P./van Berkum, J.J.A., 2007. Beyond sentence given. Philosophical Transactions of the Royal Society B 362: 801-811156 Hagoort, P./Hald, L./Bastiaanse, M./Petersson, K.M., 2004. Integration of word meaning and world knowledge in language comprehension. Science 304: 438-441
erst wird die Bedeutung in bezug auf das Weltwissen verifiziert.
Weitere Ergebnisse in diese Richtung157 (vgl. „peanut“-Beispiel) weisen darauf hin, dass das
sprachliche Verarbeitungssystem eine äußerst große Flexibilität und Anpassungsfähigkeit in
Hinblick auf die Integration eines einzelnen Wortes in die Gesamtbedeutung einer Äußerung
aufweist.
Allerdings finden sich auch Untersuchungsergebnisse, die nicht so einfach in diese Annahme
einer „Ein-Schritt-Interpretation“ – d.h. das alle verfügbaren Einflüsse von Anfang an
verarbeitet werden – einordnen lassen.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dieser Ansatz des MUC-Modells durchaus
weitreichende Konsequenzen in bezug auf das Verständnis der Neurokognition der Sprache
mit sich bringt. Allerdings sind auch hier weitere Spezifizierungen in einigen Bereichen
notwendig, wobei vor allem der Aspekt der Verbindung („unification“) der verschiedenen
Domänen und seine neuronalen Korrelate besonders interessant sind als sich darin das MUC-
Modell von allen anderen neurokognitiven Ansätzen zur Sprachverarbeitung unterscheidet.
Das neurokognitive Modell des auditiven Satzverständnisses
(The neurocognitive model of auditory sentence comprehension)
Dabei handelt es sich um einen Ansatz, der dem MUC-Ansatz diametral gegenüber steht. Die
Basis zu diesem Ansatz liefert das entsprechende Modell von Friederici158. Dieses Modell
geht davon aus, dass das On-line-Sprachverständnis strikt hierarchisch erfolgt, was einer
neurokognitiven Implementierung der „klassischen“ Annahmen einer 2-stufigen
Verarbeitung159 entspricht. Weitere detailliertere neurophysiologische Daten führten zu einer
Erweiterung hinsichtlich der Annahmen über die Architektur, nämlich zu einem
Verarbeitungsmodell mit drei Phasen: Phase 1: Aufbau der auf Wortkategorien basierende
Phrasenstruktur; gefolgt von Phase 2: morphosyntaktische und lexikalisch-semantische
Verarbeitung sowie Zuweisung der thematischen Rollen und schließlich, Phase 3: Reanalyse-,
Reparatur- und Integrationsprozesse. Die formalen und interpretativen Eigenschaften werden
in der Phase 2 zwar parallel aber unabhängig von einander verarbeitet bevor sie in der Phase 3
157 Hagoort, P./van Berkum, J.J.A., 2007. Beyond the sentence given. Philosophical Transactions of the Royal Society B 362: 801-811158 Friederici, A.D., 1995. The time course of syntactic activation during language processing: A model based on neuropsychological and neurophysiological data. Brain and Language 50: 259-281; dies. 1999. The neurobiology of language comprehension. In: A.D. Friederici (ed.), Language Comprehension: A Biological Perspective. Springer Vlg.: 263-301; dies. 2002. Towards a neural basis of auditory sentence processing. Trends in Cognitive Science 6: 78-84159 Frazier, L./Fodor, J.D., 1978. The sausage machine: A new two-stage parsing model. Cognition 6: 291-326; Frazier, L./Rayner, K., 1982. Making and correcting errors durind sentence comprehension: Eye movements in the analysis of structurally ambigous sentences. Cognitive Psychology 14: 178-210
miteinander interagieren. Alle diese Annahmen in bezug auf die Architektur spiegeln sich
direkt in entsprechenden Korrelaten der elektrophysologischen Verarbeitung wider. Ein
Verarbeitungsfehler in Phase 1 führt zu einer ELAN; wogegen semantische und
morphosyntaktische Verarbeitungskosten in der Phase 2 zu N400- und LAN-Effekten führen.
Die P600-Komponente, die von syntaktischer und semantischer Information beeinflusst wird,
spiegelt die Reanalyse-/Reparatur- und Integrationsprozesse der 3. Phase wider. Entscheidend
dabei ist, dass ein Fehler bei einem Schritt in der Verarbeitung in einer Phase die Anwendung
der folgenden Phase blockiert (z.B. die Blockierung einer N400 auf eine semantische
Verletzung durch die ELAN aufgrund einer Verletzung der PS-Struktur).
In bezug auf die funktionale Neuroanatomie der Sprachverarbeitung geht das neurokognitive
Modell von einem Netzwerk in den linken inferioren frontalen und linken superioren
temporalen Regionen aus, wobei die syntaktischen und semantischen Prozesse
unterschiedliche Netzwerke des gesamten sprachlichen Systems nutzen. Dabei nützt die
syntaktische Verarbeitung den anterioren Teil des G. temp. sup., den inferioren Teil des BA
44 und das frontale Operculum und das semantische Netzwerk umfasst dem mittleren Teil des
G. temp. sup., den G. temp. medius und BA 45/47. Beide System interagieren im posterioren
Teil des linken G. temp. superior.
Des weiteren geht Friedericis Model insofern über die beiden o.e. Ansätze hinaus als es auch
versucht die Prosodie einzubeziehen. Es besteht allgemeine Übereinstimmung, dass die
Verarbeitung der Prosodie in einem größeren Ausmaß als die syntaktische oder semantische
Verarbeitung rechtshemisphärische Bereiche beansprucht. Im speziellen wird angenommen,
dass Tonhöhe für sich allein genommen innerhalb der rechten Hemisphäre verarbeitet wird,
wobei die linke Hemisphäre miteinbezogen wird, wenn es sich um stärker sprachliche
Aspekte der Tonhöhe handelt160. Das Zusammenspiel der beiden Hemisphären für die
Integration der verschiedenen Informationsarten – so wird angenommen – erfolgt über das
Corpus callosum161.
{kritische Anmerkung: p. 287: „local transitions“ und „long distance hierarchies“}
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die grundlegende Architektur dieses Modells bis
jetzt eigentlich noch nicht falsifiziert wurde. Im speziellen scheint die Annahme der
sukzessiven, hierarchisch organisierten Verarbeitungsphasen mit den unterscheidbaren
neurophysiologischen und neuroanatomischen Korrelaten derzeit die beste Annäherung an die
Struktur der menschlichen Spracharchitektur zu sein. Trotzdem könnten sich einige weitere
160 Friederice, A.D./Alter, K., 2004. Lateralization of auditory language functions: A dynamic dual pathway model. Brain and Language 89: 267-276161 Friederici, A.D./von Cramon, D.Y./Kotz, S.A., 2007. Role of the corpus callosum in speech comprehension: Interfacing syntax and prosody. Neuron 53: 135-145
Spezifikationen ergeben, vor allem was die Beziehung zwischen Phase 1 und 2 betrifft und
die dort erstellten Repräsentationen.
The extended argument dependency model (eADM)
Abschließend soll noch kurz ein weiteres Modell besprochen werden, das von den Autoren
der Arbeiten, die die Basis für den 2. Teil der VO bilden, entwickelt wurde162. Das eADM-
Modell wurde ursprünglich aus einer Erweiterung des Modells von Friederici entwickelt
(Bornkessel, 2002). Aufgrund der weiteren Entwicklungen entstand eine eigene Architektur
der Sprachverarbeitung (Bornkessel/Schlesewsky, 2006). Dieses Modell hat mit dem von
Friederici weiterhin gemeinsam, dass die Satzverarbeitung hierarchisch organisiert ist und in
3 grundlegende Phasen gegliedert werden kann. Das eADM-modell unterscheidet sich vom
Friederici-Modell in Hinblick auf die funktionale Charakterisierung der Phasen.
Ein weiterer Unterschied zu den andern Modellen besteht darin, das dieses Modell das
explizite Ziel hat sprachübergreifend („cross-linguistic(ally)“) adäquat zu sein. Diese
Überlegung ist dadurch motiviert, dass die Sprachen der Welt sich deutlich darin
unterscheiden, wie eine Oberflächenstruktur eines Satzes auf einer Interpretation abgebildet
wird. Um dem gerecht zu werden, nimmt das eADM-Modell prinzipielle Trennung an
zwischen der Phrasenstruktur, die nur die Wortkategorien enkodiert, und der relationalen
Struktur, die die Relationen zwischen den Argumenten und dem Verb sowie den Argumenten
selbst enkodiert.
Um nun die Argumente interpretieren zu können – wenn dies also ohne Bezug auf eine
bestimmte Position erfolgt – wird in diesem Modell angenommen, dass die Argumente
hierarchisch gereiht sind und ihnen allgemeine semantische Rollen zugeschrieben werden,
wie etwa Agens oder Patiens (hier: „Actor“ und „Undergoer“). Die Zuschreibung dieser
Reihung bzw. der Rolle erfolgt mit Bezug auf eine Reihe („set“) von sprachübergreifend
motivierten Informationsarten (bezeichnet als „Prominenzinformation“) und ihren
sprachspezifischen Gewichtungen wie sie in einer „Interfacehypothese der inkrementellen
Argumentinterpretation spezifiziert werden“.
Diese inkrementelle Argumentinterpretation, d.h. die Identifizierung der Rolle und die
Feststellung der Prototypikalität der Rolle, erfolgt durch ein Syntax-Semantik-Interface, d.h.
mit Bezug auf ein sprachübergreifend definiertes Set von Prominenzskalen und ihrer 162 Bornkessel, I., 2002. The Argument Dependency Model: A neurocognitive approach to incremental interpretation. Leipzig: MPI Series in Cognitive Neuroscience; Bornkessel, I./Schlesewsky, M., 2006. The Extended Argument Dependency Model: A neurocognitive approach to sentence comprehension across languages. Psychological Review 113: 787-821; Bornkessel-Schlesewsky, I./Schlesewsky, M., 2009. The role of prominence information in the real time comprehension of transitive constructions: A cross-linguistic approach. Language and Linguistic Compass 3: 19-58
sprachspezifischen Gewichtung: Beispiele aus den relevanten Prominenzskalen:
Argumentabfolgen (Arg. 1 >Arg. 2), Belebtheit (+bel. > -bel.), Definitheit (+def > -def);
(weitere morphologische Kasusmarkierung, Person).
Allgemein gesehen dient die Prominenzinformation dazu, Argumente auf einer
Argumenthierarchie abzubilden und zwar so, dass prominentere Argumente bevorzugt als
Agens interpretiert werden und weniger prominente als Patiens („Undergoer“). In den derzeit
psycholinguistisch untersuchten Sprachen kann die Information, die für diese Abbildung
relevant ist, in 2 Klassen aufgeteilt werden: Die primäre Prominenzinformation dient dazu,
die Agens – Patiens („actor – undergoer“) Hierarchie festzulegen; z.B. in Sprachen wie dem
Englischen bestimmt die Position eines Arguments im Satz vollständig seine Interpretation als
Agens oder Patiens; die modulierenden Prominenzskalen bestimmen nun wie gut das
Argument und die ihm zugeschriebene Rolle zusammenpassen: So ist z.B. ein unbelebtes
Agens weniger optimal als ein belebter – sogar in Sprachen, die unbelebte Agens erlauben.
Auf diese Weise wird die Argumentinterpretation unabhängig von der Position in der PS und
unabhängig vom Verb festgelegt.
Ursprünglich wurde die Beziehung zwischen den 3 Verarbeitungsstadien als strikt seriell
angesehen, aber neuere Entwicklungen gehen in die Richtung einer kaskadierenden
Architektur; d.h. das Verarbeitungsstadium n muss nocht nicht vollständig beendet sein bevor
das nächste Stadium, n+1, beginnt. Allerdings bleibt die Architektur weiterhin strikt „feed-
forward“, d.h. dass das Verarbeitungsstadium n+1 keinen Einfluss auf das Stadium n haben
kann.
In bezug auf die neurokognitive Architektur übernimmt dieses Modell die Annahmen für das
Stadium 1 vom Friederici-Modell: Die Unfähigkeit eine PS-Repräsentation auf der Basis der
Wortkategorieinformation zu erstellen, spiegelt sich in einer ELAN und einer verstärkten
Aktivierung innerhalb des linken frontalen Operculum bzw. linken anterioren G. temp.
superior wider. Im Stadium 2 führen die größeren Kosten der Verarbeitung der
Argumentprominenz und des Verbindens der Argumente zu N400 Effekte und erhöhter
Aktivität innerhalb des linken S. temp. superior. Im Gegensatz dazu führt eine
Nichtübereinstimmung („mismatch“) zwischen der Argumentprominenz und der linearen
Abfolge zu einem N400-ähnliche Effekt mit einer etwas stärker anterioren Verteilung und
verstärkter Aktivität in der Pars opercularis des linken G. front. inferior.
(LAN-Effekte im Stadium 2 (z.B. als Reaktion auf Su – V Kongruenzverletzungen) werden
als Ergebnis einer prinzipiellen Nichtübereinstimmung zwischen Prominenz und
Verbindungserfordernissen angesehen, d.h. sie treten auf, wenn die Verbindung zwischen
verb-unabhängigen und verb-spezifischen Hierarchien nicht funktioniert.
Die Verarbeitung im Stadium 3 umfasst 2 Schritte, die beide sich in späten positiven EKP-
Effekten widerspiegeln. Der erste ist ein „allgemeines Abbilden“ („generalized mapping“)
zwischen der Prominenz-/Verbindungs-Information aus dem 2. Stadium und
prominenzunabhängiger Information wie Frequenz, Weltwissen, Prosodie, Diskurskontext
etc. und lexikalisch-semantischen Assoziationen. In einem zweiten Schritt wird die
Wohlgeformtheit des Satzes bewertet und zwar auf eine aufgaben- und umgebungsspezifische
Art und Weise.
Das eADM-Modell versucht (und kann ?) sprachübergreifende Ähnlichkeiten und
Unterschiede in Neurokognition der Sprachverarbeitung und ihre Ableitung der Phänomene
im Bereich des Syntax-Semantik-Interface (z.B. Wortstellung, Kasusmarkierung usw.) zu
erklären.