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Grenzgänge zwischen Dichtung, Philosophie und Kulturkritik · 2013. 7. 18. · Dichtung, Philosophie und Kulturkritik In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war am 18 Januar 1966

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Grenzgänge zwischen Dichtung, Philosophie und Kulturkritik

Über Margarete Susman

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WALLSTEIN VERLAG

Grenzgänge zwischen Dichtung, Philosophie

und Kulturkritik

Über Margarete Susman

Herausgegeben vonAnke Gilleir und Barbara Hahn

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Inhalt

Anke GilleirEinleitung Grenzgänge zwischen Dichtung, Philosophie und Kulturkritik 7

Anke GilleirDas Verhältnis zur Welt Gedanken über Kultur im Schatten des Ersten Weltkrieges 13

Ingrid BelkeSiegfried Kracauer Geschichte einer Begegnung 35

Ingeborg NordmannEinsamkeit und Urteilsfähigkeit Dialoge mit Martin Buber und Franz Rosenzweig 62

Martin Brasser Die Skepsis der Liebe Lektüren von Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung 89

Susanne HillmanMotive deutsch-jüdischer Erfahrung 102

Christine KanzVom beweglichen Denken Zwischen Exilerfahrung, Psychoanalyse und Judentum 126

Lydia KoelleMit der Existenz denken Memoiren und Hiobreflexionen 149

Eveline Goodman-ThauTheodizee und Schicksal Margarete Susman und die Hiobsfrage 182

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inhalt

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Gesine PalmerSinn-Sein durch Leiden Ein Problem der Hiobinterpretation 196

Manfred VoigtsMit dem Bleistift gelesen Die Fichte-Vorlesungen von Fritz Medicus 220

Barbara HahnDas Böse Begegnungen mit Büchern von Aron Gurewitsch und Otto Weininger 231

Ulrike ProkopErinnerung, Projektion, Traum Deutung einer großen Liebe: Goethe und Charlotte von Stein 244

Die Herausgeberinnen 265Die Autorinnen und Autoren 266

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Anke Gilleir

EinleitungGrenzgänge zwischen

Dichtung, Philosophie und Kulturkritik

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung war am 18 Januar 1966 in einer zehnzeiligen Meldung, verfasst »von der Frankfurter Redak tion«, zu lesen:

Im Alter von 92 Jahren ist am Sonntag in Zürich Margarete Susman gestorben, Schriftstellerin, Kritikerin, Kulturphilosophin und Ver-fasserin lyrischer Gedichte […] Viele und sehr verschiedene be-deutende Menschen haben ihr Leben gekreuzt, Martin Buber und Stefan George, Ernst Bloch und Ernst Robert Curtius, Victor von Weizsäcker und Ida Friederike Görres (Ein Nachruf folgt) 1

Einen Tag später erschien der Nachruf Unter dem Titel »Ein reines Trotzdem« wird ein Porträt der früheren Feuilletonmitarbeiterin der Frankfurter Zeitung gezeichnet:

›Weltfremd, ohne dass ihr die Menschen fremd blieben‹ – nach dem Urteil ihres Sohnes – als Lyrikerin, kritische Journalistin, Literar-historikerin und Religionsphilosophin in kein Schema einzuordnen, ist sie durch ihre Distanz und Nähe zu den bedeutendsten Persön-lichkeiten eine Kraft gewesen, die dazu bestimmt schien, ähnlich zentrierend und verbindend zu wirken wie die Frauen der Roman-tik, über die sie ein ausgezeichnetes, knappes Buch schrieb 2

Susman erscheint hier als Zeugin der großen Risse, die das zwanzigste Jahrhundert prägten, aber dennoch nie ohne Hoffnung oder Liebe, »so wie eben der Mensch über die Mächte siegt: von ihnen mitgerissen, versehrt, gealtert und fast zerstört« »Ein reines Trotzdem« könnte tatsächlich das Motiv der Geisteshaltung Margarete Susmans bilden, doch sicher nicht im Sinn des Frankfurter Nachrufs Hier wird sie als jüdisch-deutsche Autorin dargestellt, der das brutale Ende einer jüdisch-deutschen Kultur zwar eine unheilbare Wunde zufügte, die

1 Margarete Susman, Frankfurter Zeitung vom 18 Januar 1966, 14, S 16 2 Ein reines Trotzdem Zum Tode Margarete Susmans, Frankfurter Zeitung

vom 19 Januar 1966, 15, S 1-2

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jedoch wegen der Beachtung, die ihr aus Deutschland zukam (hinge-wiesen wird auf die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin), »undogmatisch« versöhnlich war Susman unterschied sich als Den-kerin grundlegend von Hannah Arendt, mit der sie die deutsche Spra-che und eine jüdische Herkunft teilte, aber sie stand nicht weniger als diese mit offenen Augen in der Welt und zeigte politisches Bewusstsein schon zu einer Zeit, in der das kulturelle Deutschland es ablehnte, die ›nichtssagende‹ historische Wirklichkeit dieser Nation in den Blick zu nehmen »Trotz«, das Substantiv und ebenso die Konjunktion, kenn-zeichnen ihr gesamtes Werk; Susman dachte ›gegen den Strich‹ Jeder ihrer Texte zeigt einen »sanften« Eigensinn Daher auch kann ihr Werk nicht auf einen Nenner gebracht werden Wie im Nachruf angedeutet, handelt es sich um ein äußerst diverses Œuvre – Literatur, Philosophie, Politik, Theologie, Geschichte, Psychologie –, das die Autorin immer wieder im Dialog mit den Diskursen ihrer Zeit verfasst hat Wenn sich in ihren Rezensionen und Essays kein Ton intellektueller Aggression nachweisen lässt, so ist Susman deshalb noch lang kein schlichter Kreuzpunkt des Denkens, wie es ihr in öffentlichen Erinnerungen zu-geschrieben wird Dass die Autorin als Salondame wahrgenommen und daher mit den Frauen der Romantik verglichen wurde, ist Effekt einer Fehllektüre ihrer Autobiografie Fast erblindet und im hohen Alter hat Margarete Susman auf Anfrage des Leo-Baeck-Instituts einen Rück-blick auf ihr Leben niedergeschrieben Diesen Text kennzeichnet eine auffallend fragmentarisch-episodische Form; er vermittelt den Ein-druck eines Lebens, das durch historische Ereignisse ebenso geprägt wurde wie durch zahllose Begegnungen Man könnte lesend schluss-folgern, dass Susman keine Denkerin sui generis war, sondern immer wieder durch Anregungen anderer zum Denken gebracht wurde Doch folgt aus zeitlichem Nacheinander noch lange kein logisches Gegenein-ander Weder von geistiger Unverbindlichkeit noch von philosophi-scher Unterwerfung kann hier die Rede sein Die Triebkraft von Sus-mans Denken und Schreiben liegt in einer großen Beweglichkeit, mit der sie auf die Herausforderungen eines Außen antwortet, und nicht in festen politischen Überzeugungen oder philosophischen Leitgedanken

Viele Muster und Motive ziehen sich durch ihr Werk, das in langen sechs Jahrzehnten entstand So die tiefe Überzeugung, dass Kunst und Literatur für eine menschliche Welt unverzichtbar sind, auch wenn sie immer wieder darauf hinwies, dass reine Innerlichkeit zwar eine meta-physisch großartige, politisch jedoch unmögliche Freiheit mit sich bringt Und trotz der Tatsache, dass sie sich ihr Leben lang hauptsäch-lich der deutschen Kultur zuwandte und nicht Resonanzraum einer europäischen oder gar universellen Moderne war, sah Susman bereits

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im Sommer des Jahres 1914 die Gefahr nationalen Denkens; noch bei der Gründung des Staates Israel sah sie ebenso wie Hannah Arendt und Martin Buber diese Gefahr

Margarete Susmans Denken droht immer wieder in Vergessenheit zu geraten; die Rezeption ihrer Texte vollzieht sich zerstreut Kafkakennern ist ihr Aufsatz »Das Hiobproblem bei Kafka« von 1929 bekannt Er stellt eine der ersten tiefgründigen Lektüren des wenige Jahre zuvor gestorbenen Schriftstellers dar; Susman sieht sehr genau, wie sehr dessen Romane und Erzählungen sich mit dem in der modernen Gesellschaft vereinsamten und entfremdeten Menschen befassen Die »fremde und unheimliche Welt«, die Kafka mit »strenger, sachlicher Präzision und Nüchternheit« evoziert, sei mit ihrer radikalen Kon sistenz nichts ande-res als die Welt der Moderne, der jede transzendentale Gesetzmäßigkeit abhandengekommen ist Sogar die Freudsche Auflösung des einheit-lichen Subjekts habe im Vergleich zu Kafka noch etwas Gesetzmäßiges; erst bei Kafka wisse man nicht mehr, was man tun soll In der poeti-schen Sprache, die ihr eigen ist, heißt es: »Zum ersten Mal in der abend-län dischen Welt ist das Gesetz ganz aus dem Leben herausgetreten Kaf-ka hat – nach einem eigenen Wort – zum ersten Mal die bisher immer wenigstens zu ahndende Musik der Welt bis in alle Tiefen hinunter ab-gebrochen Er fügt diesem Bekenntnis das Wort hinzu, das von der gan-zen Gewalt des auf ihm liegenden Zwanges zeugt: ›Manchmal hat er in seinem Hochmut mehr Angst um die Welt als um sich ‹ – Diese Angst um die vor seinen Augen versinkende Welt bricht in allen Erzählungen Kafkas auf Die Seele hat keine Welt mehr, in der sie sich zurechtfindet «3

Kanonisch wurde auch ihr Essay zu Jean Paul Anlässlich seines 150 Geburtstages am 21 März 1913 widmete sie ihm einen kurzen Auf-satz, der in der Frankfurter Zeitung erschien; zehn Jahre später erfasste sie in einem langen Artikel das Wesen seiner Literatur Jean Pauls ein-drucksvolle Romane wurden wegen ihres Humors gerühmt, für Susman hingegen ist das nicht deren hervorstechende Eigenschaft Dieser Aspekt sei eher bürgerlich und unrevolutionär Doch die Ahnung von Unend-lichkeit, einer Transzendenz, die mit der Welt zusammen gedacht wurde, wie es sonst keinem der sich in grenzenlose Subjektivität flüchtenden Romantiker gelang, mache Jean Pauls Größe aus Sein Blick in eine sinn-entleerte Zukunft der Moderne, die in der »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab« aus dem Roman Siebenkäs noch als Traum er-scheint, verkünde ahnungsvoll die Wiederkehr des Immergleichen

3 Margarete Susman, Das Hiob-Problem bei Kafka, in: Margarete Susman, Das Nah- und Fernsein des Fremden. Essays und Briefe, hg von Ingeborg Nordmann, Frankfurt 1992, S 183-208, hier: S 191

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Susmans Schreiben und Denken ist ein Kampf gegen dieses düstere Geschichtsbild, ohne dass sie jeder Versuchung der Nostalgie erlegen wäre Nietzsches Aufkündigen der Eudämonie beinhaltet die Hoff-nung, die Welt zum fruchtbaren Boden des Lebens zu machen Es ist immer wieder die Welt, an der Susman sich orientiert Wenn sie 1921 in ihrem Aufsatz »Exodus aus der Philosophie« von Oswald Spenglers opus magnum spricht, bewertet sie den Philosophen zwar als eher un-bedeutend, erkennt aber die fesselnde Kraft seiner Sprachbilder und vor allem das Emblematische seines Denkens für die Atmosphäre der Zeit, in der die Philosophie sich entschlossen zeigt, nie wieder das Außen preiszugeben Ein deutsches Problem, für das das Land und die gesamte Welt ungeheuer bezahlt hat

In ihren Rezensionen zeitgenössischer Lyrik, die sie im ersten Jahr-zehnt ihrer Tätigkeit als Feuilletonistin der Frankfurter Zeitung schreibt, hebt Susman den Begriff des »lyrischen Ich« aus der Taufe, ohne den die moderne Literaturwissenschaft nicht denkbar wäre Die Bedeutung der Poesie entfalte sich erst, so betont sie, wenn man unterscheide zwischen dem Ich, das den Namen des Autors trage, und dem dichte-rischen Ich, das sich in der Objektivität der Sprache entfalte Gerade in der Lyrik, jenem Genre, das immer »Ich« sage, müssten Erfahrung und Erinnerung außer Acht gelassen werden Ihre poetologischen Betrach-tungen erscheinen 1910 in ihrem Buch Das Wesen der modernen deut-schen Lyrik; damit ist sie als Literaturtheoretikerin in aller Munde

Margarete Susmans Texte zur Frauenbewegung sind dagegen nie richtig in die Diskussion eingegangen Wie Ingeborg Nordmann in ihrer eingehenden Betrachtung zum Denken Margarete Susmans zeigt, erfasste die Autorin in ihren Auseinandersetzungen mit der Lage der Frauen die »Verschränkung von Bilder- und Machtdiskurs in einer dif-ferenzierten Weise, wie sie eigentlich der neuen Frauenbewegung als theoretische Errungenschaft zugeschrieben wird« 4 Gerade auch hier ist Susman eine Denkerin des Bruchs Im Gegensatz zur geistigen Begründerin der Frauenemanzipation, Simone de Beauvoir, in deren kanonisierten Le deuxième sexe (1949) »die Frau« als universelle Kate-gorie im Rahmen eines eher traditionell von Kontinuität geprägten Geschichtsbildes erscheint, wirft die Frauenfrage für Susman ein theo-retisches und ebenso ein Darstellungsproblem auf 5 Diese komplexe Betrachtungsweise kennzeichnet Margarete Susman als Theoretikerin,

4 Ebd , S 179 5 Barbara Hahn, Prekäre Kontinuitäten oder: vom Ort der Frau, in: Man wird

nicht zur Frau geboren. Simone de Beauvoir zum 100. Geburtstag Polis 52, S 39-50, hier: S 41

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die immer wieder das »Normale« infrage stellt, auf systematische und reflektierte Weise Phänomene analysiert, Erklärungen mit Sinn für Abstraktion formuliert

1964 gab Manfred Schlösser den Sammelband Für Margarete Sus-man. Auf gespaltenem Pfad heraus; es ist ein Versuch, die Tendenzen ihres Denkens zu erfassen Er enthält Aufsätze und Gedichte der Ge-ehrten und auch von geistigen Zeitgenossen wie Karl Wolfskehl und Martin Buber Als Impuls für weitere Lektüren ist vor allem eine dem Band beigefügte Bibliografie von großer Bedeutung, die wenigstens den Weg zu Susmans vielfältigem Œuvre eröffnet Wenige ihrer Texte sind heute noch zugänglich, und eine Gesamtausgabe durch einen Ver-lag erscheint unwahrscheinlich Allerdings wurde vor einigen Jahren mit einer digitalen Ausgabe begonnen, die einen Zugang zu ihrem Den-ken eröffnen soll 6

Heute gibt es keine »Susmanforschung«, kein vielseitig aufgefülltes wissenschaftliches Forum, das ihr Werk in die Breite und die Tiefe erforscht, um so das Bild einer geistigen Komplexität weiter aufzu-fächern, die das zwanzigste Jahrhundert charakterisiert Der Unter-schied etwa zur Benjaminforschung könnte nicht größer sein, obwohl gerade auch Walter Benjamin ein extrem vielfältiger Denker war, der seine eigenen Schriften als »unendlich verzettelte Produktion« betrach-tete 7 In der Einführung zum Benjamin Handbuch, ein Genre, das nun wirklich als die Bestätigung der allgemeinen wissenschaftlichen Aner-kennung betrachtet werden kann, wird im Rahmen von Foucaults Überlegungen zu Autorschaft auf den Unterschied zwischen Benja-mins Anerkennung als ›Autor‹ zu Lebzeiten und seiner gegenwärtigen Bekanntheit hingewiesen 8 Hätte sich vor fünfzig Jahren kein Philo-soph, Historiker, Literatur- oder Kulturforscher die enorme Bedeu-tung vorstellen können, die Benjamin heute zukommt, so stehen dessen »Werk- und Wertcharakter« heute außer Frage

Für die Autorin Margarete Susman aber scheint die Frage des Werk-charakters entweder nicht gestellt zu werden oder im voraus schon beantwortet Als biografische Figur irrlichtert sie durch das Leben der »bedeutendsten Persönlichkeiten«, oder sie wird als deutsche Jüdin in Zusammenhang mit Autorinnen gestellt, die ein vergleichbares Schick-sal des Ausschlusses und Verschwindens erlitten Als kleines Susman

6 Vgl http://www margaretesusman com7 Zitiert nach Thomas Küpper und Timo Skandies, Rezeptionsgeschichte, in:

Benjamin Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg von Burkhardt Lindner, Stuttgart-Weimar 2006, S 17

8 Ebd

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Handbuch ist Ingeborg Nordmanns kommentierte Edition von Essays und Briefen zu betrachten: Das Nah- und Fernsein des Fremden In ihrem Nachwort bringt Nordmann einige Haupttendenzen aus Sus-mans Werk zusammen und bildet eine bis jetzt unverzichtbare Ein-führung für jeden, der sich diesem Denken annähern möchte Nord-mann definiert Susman als »Grenzgängerin«, eine Charakterisierung, der auch der vorliegende Band folgt Auch er kann nur wenige An-näherungen zusammenstellen Vieles fehlt, vieles musste ausgelassen werden

Margarete Susmans Nachlass findet sich im Deutschen Literatur-archiv in Marbach, doch das Textkorpus ist zerstreut Die Gedichte und das poetische Frühwerk, die Feuilletonbeiträge, die sie als Mitar-beiterin der Frankfurter Zeitung und anderer wichtiger Zeitschriften und Zeitungen schrieb, das literaturwissenschaftliche und -historische Werk, die philosophischen Betrachtungen, die Auseinandersetzungen mit der christlichen und vor allem der jüdischen Religion und deren Bedeutung für die Moderne, die Briefe: Nur eine kleine Auswahl von Texten wurde neu gedruckt, um die die Lektüren gezwungenermaßen kreisen, sodass bestimmte Themen immer wiederkehren, während an-deres unbeachtet bleibt 9 Ein Teufelskreis: Weder Susmans Œuvre noch die vorliegenden Arbeiten zeigen den nötigen Reichtum an Facet-ten Das trifft auch für den vorliegenden Band zu, der, obgleich in vie-lerlei Hinsicht weitgefächert, deutliche Schwerpunkte aufweist: Das Buch Hiob und die theologische Deutung der Shoah ebenso wie Sus-mans Auseinandersetzung mit Franz Rosenzweig sind hier mehrmals vertreten Da dieselben Themen aus unterschiedlichen Perspektive be-leuchtet werden, vertieft dieser Band unser Verständnis ihrer Arbeiten, doch spiegelt er noch nicht die Vielfältigkeit ihres Werkes Dies bleibt weiteren Lektüren vorbehalten

9 Manfred Schlösser stellte 1964 eine Bibliografie von Susmans Texten zusam-men, die aber – unvermeidlich – Fehler aufweist: Für Margarete Susman. Auf gespaltenem Pfad, Darmstadt 1964 Ein Band mit primären Texten, den Schlösser im selben Jahr veröffentlichte, Vom Geheimnis der Freiheit. Gesammelte Aufsätze 1914-1964, Darmstadt-Zürich 1964, ist ein unver-zichtbares Dokument, in editorischer Hinsicht aber problematisch Einige Texte wurden gekürzt; vgl ebd , S 337

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Das Verhältnis zur WeltGedanken über Kultur

im Schatten des Ersten Weltkrieges

I Aufblick 1918, Zeugnis 1940:intellektuelle Selbstanalyse

In einem Aufsatz mit dem Titel »Aufblick«, veröffentlicht vier Tage nach Kriegsende, am 15 November 1918 in der Frankfurter Zeitung, schreibt Margarete Susman über die Verantwortung der deutschen Geistesaristokratie in Anbetracht der historischen Hekatombe:

Wir haben nicht vermocht, mit all unserer Bildung, all unserem Können und Wissen, all unserem aristokratisch gereinigten Willen die furchtbare Katastrophe, das blutige Morden, den Zusammen-bruch unserer Kultur aufzuhalten; wir ließen geschehen, was wir mit Anspannung all unserer Kräfte hätten verhindern müssen Wir haben unsere Welt, unser Land im Stich gelassen 1

Obwohl Empfindungen über die historisch-kulturelle Überlegenheit Deutschlands zu der Zeit nicht mehr verbreitet, sondern nur noch, ver-mischt mit politischem Hass, das geistige Prärogativ einer gewissen Kaste sind, ist Susmans mea culpa auffallend Sie fragt nicht nach der politischen Konstellation, die zum Krieg führte und überhaupt nicht, wie es zur Niederlage kam In ihrer Betrachtung der jüngsten Vergan-genheit und Gegenwart, ihrem »Aufblick«, bezieht sich die Frage auf die Schuld der Intellektuellen, Gebildeten und Künstler in Deutsch-land, auf die Träger einer humanistisch-idealistischen Denkart, die da-rin versagt haben, ihre Ideale auf die historische Realität zu übertragen und den destruktiven Wirbel der Ereignisse zu durchbrechen, als dies nötig war In ihrer Kritik, die zugleich eine schonungslose Selbstkritik ist – immer wieder spricht sie von »wir« und »unser« –, übersteigt Sus-man nicht das Bestehende Sie spricht nicht aus einer quasi transzen-denten Position universeller Werte, die zugleich alle und niemanden betreffen Es geht um ihr Land, um Deutschland Die Energie der An-

1 Margarete Susman, Aufblick, Frankfurter Zeitung, 15 November 1918, S 1

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klage schöpft sie aus einer realen Zuneigung, die Trauer und Hoffnung erregt:

Die draußen gefallen sind, taten es für uns und unser Landes Zu-kunft Keines dieser Opfer darf verloren sein Wir erst müssen sor-gen, daß unsere teuren Menschen trotz der bitteren Niederlage nicht umsonst gefallen sind, indem wir mit unserer lebendigen Kraft der Sühne das ganze Land zum Durchbruch verhelfen 2

Patriotismus ist hier weder blind chauvinistische Empfindung noch verzweifelter Selbsthass, sondern erscheint in der Form eines Glaubens an die guten Werte einer Denktradition und Kultur, die letztendlich innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen nur Gutes herbeiführen soll Der Appell an Deutschland verliert seine ethische Kraft damit nicht, er macht vielmehr deutlich, dass Patriotismus kein Synonym für Militarismus zu sein braucht Dass diese Einstellung im deutschen Kontext jedoch einen Umbruch bedeutet, dessen zeigt sich die Autorin im Schlusssatz ihres Aufsatzes bewusst: »Und in all unserem Tun und Wollen müssen wir uns das Wort Kerenskys gegenwärtig halten: ›Re-volution, das heißt die Sünden der Vergangenheit büßen und sich für die Zukunft opfern ‹«3

Susmans Kritik in Anbetracht der militärischen Katastrophe und des gesamten Zusammenbruchs des Reichs erscheint als Antizipation der scharfsinnigen Selbstdiagnose des französischen Historikers Marc Bloch anlässlich der Niederlage Frankreichs im Jahr 1940: L‘étrange défaite. Témoignage écrit en 1940 4 Anders als Susman beugt Bloch sich über die Gründe, weshalb die französische Armee den deutschen Angriff nicht zurückschlagen konnte, führt aber die Inkompetenz der Heeresleitung auf einen allgemein verbreiteten Defätismus zurück, an dem grundsätzlich das Bürgertum Schuld hat Als »Hirn der Nation« habe es versagt, weil ihm die »wahre Geistesfreiheit« abhandengekom-men sei, und sein begrenzter geistiger Horizont habe sich in eine Starr-heit aller Institutionen verwandelt 5 Wie Susman 1918 in ihrem Appell an die Gebildeten Deutschlands ruft Bloch zu einem radikalen Um-bruch in der Geistesverfassung auf, der aber auf die Stärken der Nation

2 Ebd 3 Ebd 4 Die französische Ausgabe erschien erst 1990 Wir beziehen uns hier auf

die deutsche Übersetzung: Die seltsame Niederlage: Frankreich 1940. Der Historiker als Zeuge, hg von Ulrich Raulff, übers von Matthias Wolf, Frankfurt am Main 1992

5 Marc Bloch, Gewissensprüfung eines Franzosen, in: Die seltsame Nieder-lage, S 206 f

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das verhältnis zur welt

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zurückgreift: »Die Revolution, die wir erstreben, wird die authenti-schen Traditionen unserer Zivilisation zu bewahren wissen Und sie wird eine Revolution sein, weil sie Neues schaffen wird «6 Eine weitere bemerkenswerte Übereinstimmung in den Untersuchungen der jü-disch-deutschen Autorin von 1918 und des jüdisch-französischen His-torikers (und Mitglieds der Résistance) von 1940 ist ihre Erkenntnis der Bedeutung der Kultur in einer real funktionierenden Demokratie In beiden historischen Situationen steht man vor der Herausforderung, entweder aus dem Volk »ein willfähriges Instrument [zu machen], das der Magnetismus irgendwelcher Führer zum Schwingen bringt […], oder wir erziehen es dazu, bewußter Mitarbeiter seiner selbstgewählten Repräsentanten zu sein« 7 Voraussetzung des Veränderungsprozesses sei die Verbindung von Kultur und Praxis, von Alltäglichkeit und Geist:

Denn eine alte Tradition bringt es mit sich, daß wir ebenso wie die Kunst um der Kunst auch die Intelligenz um der Intelligenz willen lieben und daß wir beides von der Praxis trennen Wir haben bedeu-tende Gelehrte, und unseren Technikern fehlt es nicht an Wissen-schaft Wir lesen, so wir lesen, um uns zu bilden, und das ist gut so Doch wir denken zu wenig daran, daß man sich beim Handeln sei-ner Bildung bedienen kann 8

Susmans öffentlicher Aufruf, fast ein Schrei, über den Verrat der Intel-lektuellen an ihrer Nation widerspricht der geläufigen Feststellung, dass »man im Deutschland des 20 Jahrhunderts […] vergeblich nach Texten Ausschau [hält], die nach Einsicht und Ethos dem Blochschen vergleichbar wären«, und dass man »bis auf die Zeit der Befreiungs-kriege zurückgehen muss, um einen ähnlichen Geist zu finden« 9 Nicht nur gibt es diesen erbarmungslosen Rück- und Aufblick Mitte Novem-ber 1918, der an Schärfe Blochs Analyse nicht nachsteht Schon vor dem totalen Zusammenbruch, sogar inmitten der heillosen Euphorie im Sommer des Jahres 1914, die auf beiden Seiten des Rheins groß war, hat Susman das versucht, wozu Bloch nach der Niederlage 1940 in seinen Schriften über die sklerotischen Institutionen aufruft, nämlich nationa-le Selbsterziehung zu betreiben, Kultur und gelebte Geschichte zu ver-

6 Marc Bloch, Über die Reform des Erziehungswesens, in: Die seltsame Nie-derlage, S 269

7 Marc Bloch, Gewissensprüfung eines Franzosen, S 200 8 Ebd , S 207 9 Ulrich Raulff, Vorwort zur deutschen Ausgabe, in: Die seltsame Niederlage,

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knüpfen Wenn nicht immer mit der radikalen Direktheit ihres Auf-satzes »Aufblick«, so wird in unterschiedlichen Texten, die sie im Schatten des Großen Krieges verfasst hat, dennoch greifbar, dass sie den Geist in der Gegenwartsgeschichte zu retten versucht Obgleich Dichterin, Philosophin, Kunst- und Literaturkritikerin bleibt Susmans Denken nicht befangen im Dunstkreis der »Kunst um der Kunst wil-len«, dessen Anhänger sich entweder den Tatsachen entziehen oder vollkommen geblendet an der Realität partizipieren und sie mit zum historischen Paroxysmus führen Susman erzieht im Akt der Vermitt-lung Als Kulturreferentin der Frankfurter Zeitung, sporadisch auch anderer Zeitschriften und Zeitungen, offenbart sie sich in eben jenen Jahren als Vermittlerin, indem sie die schlichte Kommunikations-dimension zwischen Kulturikone und Zeitungsleser insofern über-steigt, als sie wirklich den kontemplativen Geist zu aktivieren versucht, nicht bereit, die Ideale aus dem einen heilen Bereich dem heillosen anderen zu enthalten

Die Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, in deren Feuilleton- Redaktion Susman 1906 eintrat, erweist sich als geeignetes Medium jener Vermittlung oder gar Erziehung In seinen Reflexionen aus dem beschädigten Leben beurteilt Adorno die Frankfurter Zeitung

zusammen mit einigen anderen angesehenen Kulturinstitutionen als mitschuldig am Aufstieg des Nationalsozialismus, denn schon Jahre vor seinem Ausbruch, spätestens seit der Stabilisierung der deut-schen Währung, die zeitlich mit dem Ende des Expressionismus zu-sammenfällt, hat gerade die deutsche Kultur sich stabilisiert im Geist der Berliner Illustrierten […] In ihrer Breite lechzte die deutsche Kultur, gerade wo sie am liberalsten war, nach ihrem Hitler, und man tut den Redakteuren Mosses und Ullsteins wie den Reorganisa-toren der Frankfurter Zeitung Unrecht, wenn man ihnen Gesin-nungstüchtigkeit vorwirft Sie waren schon immer so, und ihre Linie des geringsten Widerstands gegen die Geisteswaren, die sie produ-zierten, setzt sich geradewegs fort in der Linie des geringsten Wider-stands gegen die politische Herrschaft, unter deren ideologischen Methoden nach des Führers eigener Aussage am obersten die Ver-ständlichkeit für die Dümmsten rangiert 10

Dieses scharfe Urteil mag auf der Folie einer Ideologiekritik an der politischen Pragmatik der kommerziellen Kultur ihre Berechtigung haben, indes bedarf sie im Hinblick auf die Komplexität der jeweiligen

10 T W Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: ders , Gesammelte Schriften, Bd 4, Frankfurt am Main 2003, S 62

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das verhältnis zur welt

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Fälle einiger Nuancen 11 Die Frankfurter Zeitung selber sah sich jeden-falls von Anfang an als demokratisches Organ in der Nachfolge ihres Gründers Leopold Sonnemann, eines ehemaligen Achtundvierzigers, dessen politische Orientierung prägend war 12 Konzeptuell wurde auch das Feuilleton als wesentlicher Bestandteil der Zeitung betrachtet Programmatisch heißt es in der historischen Selbstdarstellung 1911: »eine Zeitung [gehört doch] mit ihren Tagesnachrichten, ihren Arti-keln und ihrem Feuilleton zu den Faktoren des Staats- und Ge sell-schaftsleben« 13 Das mag einer der Gründe sein, weshalb Marc Bloch die Frankfurter für wertvoller hält als vergleichbare französische Zei-tungen Die Abonnenten der Times, so Bloch, erfahren unendlich viel mehr über die Welt, so wie sie ist, als die der Le Temps »Derselbe Kon-trast besteht übrigens auch zwischen dem Teil unserer Presse, der sich am meisten auf einen sogenannten intellektuellen ›Charakter‹ zugute hält, und einem Blatt wie die Frankfurter Zeitung, das heißt, der ›Frankfurter‹ vor 1933, aber vielleicht sogar noch der von heute «14

II Krieg und Tat

Wenden wir uns der Periode des Ersten Weltkrieges zu Das Spektrum von Susmans Themen liegt in jenen Jahren in der Domäne der Litera-

11 Adornos Bitterkeit steht im Einklang mit dem Missvergnügen, das sich auch bei Siegfried Kracauer, Walter Benjamin oder Joseph Roth in Bezug auf die Frankfurter Zeitung nachweisen lässt Sie alle gerieten als Mitarbei-ter am Feuilleton immer wieder mit der Redaktion in Konflikt Die Redak-tion wurde kollektiv, ohne Chefredakteur geführt; die inhaltliche Arbeit wurde nach dem Prinzip »primus inter pares« organisiert; vgl Günther Gillessen, Auf verlorenem Posten. Die Frankfurter Zeitung im Dritten Reich, Berlin 1986, S 17; Rudolf Werber, Die »Frankfurter Zeitung« und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus, untersucht anhand von Beispielen aus den Jahren 1932-1943. Ein Beitrag zur Methodik der publizistischen Camouflage im Dritten Reich, unveröff Diss Bonn 1965, S 19

12 Dass diese liberale Attitüde in der Wilhelminischen Zeit tatsächlich beibe-halten wurde, zeigt symptomatisch die Zahl der Presseprozesse (mehrmals wegen Bismarckbeleidigung), die die Redaktion in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz führen musste oder die sie selbst gegen die Behörde in Auf-lehnung gegen die Zensur unternahm; vgl Günther Gillessen, Auf verlore-nem Posten, S 14 f ; Geschichte der Frankfurter Zeitung, hg vom Verlag der Frankfurter Zeitung, Frankfurt 1911

13 Geschichte der Frankfurter Zeitung, S IV 14 Marc Bloch, Gewissensprüfung eines Franzosen, S 200 f Siehe dazu auch:

Wolf Lepenies, Kultur und Politik. Deutsche Geschichten, Bonn 2006, S 238

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tur, häufig jedoch werden, wie gesagt, ästhetisch-philosophische Fra-gen mit den akuten historischen Umständen verknüpft, und so über-steigen ihre Betrachtungen jene den deutschen intellektuellen Habitus kennzeichnende Distanz zur Politik, die allerdings bei Kriegsausbruch radikal verschwand Franz Kafka, ein seltsamer Außenseiter der Euphorie, schreibt August 1914 in sein Tagebuch: »Patriotischer Umzug Rede des Bürgermeisters Dann verschwinden, dann Her-vorkommen und der deutsche Ausruf: ›Es lebe unser Monarch, hoch!‹ Ich stehe dabei mit meinem bösen Blick «15 Einen »bösen Blick« haben nur wenige Der Ausbruch von Patriotismus in der Form militärischer Begeisterung wirkt auch ein Jahrhundert später noch fremd Unver-ständlicher noch als die Schlagzeilen in den Medien ist die kritiklose Haltung der geistigen Eliten und deren Verlust an politischer – und künstlerischer oder wissenschaftlicher – Autonomie im Crescendo der Vaterlandsliebe Eine Kundgebung wie »An die Kulturwelt« (Berliner Tageblatt, 4 10 1914)16 und das zweisprachige Pamphlet Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches / Déclaration des professeurs des Universités et des Écoles supérieures de l’Empire allemand (23 10 1914) sind bekannte Beispiele einer hysterischen Stimmung, die sich um diese Zeit, jedenfalls in den ersten Kriegsmonaten, auch in zahllosen persön-lichen Dokumenten und literarischen Ergüssen nachweisen lässt 17 Hier verschwindet die Kluft zwischen dem Gebildeten und dem »Mann auf der Straße oder auf den Feldern« (Marc Bloch) Auch die Frank-furter Zeitung entzieht sich der allgemeinen Stimmung nicht Empha-tisch wird im Feuilleton über die öffentliche Kriegsrede des zwei-

15 Franz Kafka, Tagebücher 1910-1923, hg von Max Brod, Frankfurt am Main 1994, S 306

16 Vgl Dieter Heimböckel, Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit. Studien zu Werk und Wirkung, Würzburg 1996, S 288

17 Ein flüchtiger Blick auf die Briefwechsel unterschiedlichster Autoren im Spätsommer 1914 gibt einen Eindruck davon, wie wenige sich dem Strom des Patriotismus entzogen In einem Aufsatz zur mediatisierten Erfahrung in Kriegslyrik weist Joseph Vogl darauf hin, dass es keine wirkliche Ge-schichte der kriegsverherrlichenden Literatur gibt, sondern dass lediglich »literarische Kriegsapologetik ein Skandalon dar[stellt], das geeignet ist, an-erkannte Klassiker ästhetisch und ideologisch zu kompromittieren und Korrekturen an einer vornehmlich über den Humanitätsgedanken konsti-tuierenden Geistesgeschichte einzuleiten« Diese Rezeptionstendenz trifft gewiss zu, nur mag ein gewisses Staunen über literarische oder intellektuel-le Kriegsapologetik erlaubt bleiben, ohne damit einem naiven Fortschritts-glauben zu verfallen Joseph Vogl, Kriegserfahrung und Literatur Kriterien zur Analyse literarischer Kriegsapologetik, in: Der Deutschunterricht 35, Oktober 1983, S 88

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undachtzigjährigen Gründers der Experimentalphilosophie Wilhelm Wundt berichtet:

Der Philosoph sprach Es ist wirklich eine mächtige Zeit Sie drängt auch den Stillsten, Zurückgezogensten laut zu bekennen vor aller Welt Es bedürfte dieses Krieges um Wilhelm Wundt, den Zweiund-achtzigjährigen, zum ersten Mal in seinem langen Leben aus dem Hörsaal, dem Auditorium maximum allerdings, das alleine seine Schüler fassen kann, hinaus auf das Forum zu drängen Nie zuvor hat Wilhelm Wundt in öffentlicher Versammlung vor allem Volk geredet Der Philosoph sprach 18

Als Verteidigung gegen die geo-politische Bedrohung wird in Wundts Rhetorik Krieg eine Sache der Gerechtigkeit und die Rüstung eine Überlebensstrategie gegen die »räuberische Verschwörung der drei Mächte« 19 Diese Apologetik ist nicht nur Legion, sie überschreitet so-gar die Grenzen der Sterblichkeit, wenn Stimmen ehemaliger großer deutscher Geister wieder in die Öffentlichkeit gebracht werden Nicht nur Fichte wird immer wieder herbeizitiert Auch eine Rede von Theo-dor Mommsen über die deutsche Nation aus dem Jahr 1874 soll im Januar 1917 die Leser der Frankfurter Zeitung an die hochgestimmte Tradition des Nationalstolzes erinnern Bei dieser Mobilisierung gerät allerdings aus dem Blick, dass Mommsen sich zeitlebens skeptisch über den Wert von Kriegen äußerte, dass er gegen Ende des Jahrhunderts finster »einen Blick in den Abgrund [tat], der bestimmt ist, unsere Kul-turepoche zu verschlingen«, und dass er es kurz vor seinem Tode aus-drücklich ablehnte, mit Nationalemblemen bestattet zu werden 20

Dass das patriotische Kleid der Zeitung doch nicht vollkommen passt, wird ungewollt in einem Aufsatz des Hauptredakteurs Heinrich Simon im September 1914 deutlich, der ausnahmsweise selber das Wort ergreift gegen die Empörung eines Lesers über die kriegerischen Töne, die die Zeitung seit Kriegsbeginn anschlägt Gerade im Feuilleton, so bedauert der Leser, wo man immer »in friedlicher Kulturarbeit für alle Fortschritte in Kunst und Wissenschaft eintrat« wird jetzt »mit Bajo-nett und Kolben gegen den Feind« gekämpft Die Antwort Heinrich Simons – promovierter Literaturwissenschaftler, Musiker, Autor und Mäzen – schwankt zwischen allgemeiner Begeisterung (»Das Land er-

18 Frankfurter Zeitung, 12 September 1914, S 1 19 Ebd 20 All diese Angaben entstammen dem Werk von Eberhard Fromm, Meister

der deutschen Sprache. Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts. Die deutschspra-chigen Nobelpreisträger von Mommsen bis Grass, Berlin 2004, S 21

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füllt seine Bestimmung und darum sind auch alle ›unterm Strich‹ vom Krieg erfüllt und können schwer anderes ertragen […]«) und Pragma-tik Die Mitarbeiter am Feuilleton »sind keine Gelehrten und keine Aestheten in Reinkultur, wir sind Journalisten, auf deutsch Tagelöh-ner, und in dieser engen Verknüpftheit mit dem Tage finden wir unse-ren Wert und unsern Sinn« 21 Interessant ist aber vor allem Simons Analyse des Zeitungsfeuilletons als Bindeglied zwischen Geist und Welt, das nun durch die Zeitumstände abgerissen sei:

Wir haben die Pflicht, die ewigen Dinge wie Fesselballons an die kreisende Erde immer neu zu knüpfen, jetzt aber haben sich die Fes-selballons losgerissen und fliegen irgendwo in den Weiten der Welt Wir dürfen ihnen nicht folgen, müssen unseren irdischen Dienst tun, wie es unsere Pflicht erheischt 22

Die Metaphorik der Fesselballons ist vielsagend in ihrer Doppeldeu-tigkeit Einerseits wird der philosophischen, künstlerischen, wissen-schaftlichen oder literarischen Dimension von jeglicher Aufgabe in Bezug auf das irdische Leben Absolution erteilt, indem angedeutet wird, dass es sich um Kräfte handelt, die anderen physischen Gesetzen gehorchen Andererseits wird dem Geist (»ewigen Dingen«) ein Willen zugeschrieben: als Agens reißt er sich von der Erde los, und es scheint damit, als ob er vor der historischen Gewalt flieht Erinnert wird man hier an Walter Benjamins Engel der Geschichte, der auf die Erde blickt, in dessen Flügeln sich aber ein Wind des Paradieses verfangen hat, der ihn weitertreibt In Simons Betrachtung scheint außerdem das Defizit der Zeitung durch, der nicht gelungen ist, ein Anker zu sein und nun – ergo – im Dienst der materiellen Geschichte steht

Ähnliches scheint sich im Verlag Eugen Diederichs abzuspielen, dessen Kulturzeitschrift Die Tat im August 1914 ein letztes Mal er-schien und erst nach sechsmonatiger Unterbrechung mit einem Vor-wort zur nationalen Lage wieder an die Öffentlichkeit trat Darin steht, dass der Verlag zuerst seinem Ziel, »an einer Erneuerung des deutschen Idealismus im Geiste Fichtes und seiner Epoche und an einer Vertie-fung des nationalen Gefühls nach dem Vorbild Lagardes mitzuwirken«, durch die Veröffentlichung von »Tatflugschriften und Tatfeldpostbiblio-thek«, nachkommen wollte, und daher die Zeitschrift in Verzug kam 23

21 Heinrich Simon, Auch der Geist macht mobil Ein Brief, in: Frankfurter Zeitung, 13 September 1914, S 1

22 Ebd 23 An unsere Leser, in: Die Tat. Eine Monatsschrift, hg von Eugen Diederichs

und Karl Hoffmann, 6/12, September 1914 bis März 1915, S 547-549, hier

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Eugen Diederichs Bekundung des »nationalen Gefühls« aber mutet wie im Fall Heinrich Simons etwas krampfhaft an, strebte er doch mit seinem Verlag seit der Gründung 1896 eine »neue kulturelle Vergesell-schaftung« an und bot in diesem Kontext unterschiedlichen Reformbe-wegungen Raum 24 Der Verlag ist mutatis mutandis wie das Feuilleton der Frankfurter Zeitung ein Haltegriff für geistig-kulturelle Ideale in der Welt In der letzten Nummer der Tat, im Monat des Kriegsaus-bruchs, erschien Margarete Susmans Aufsatz »Über Hamlet und das Problem der Tat«, eine philosophische Neudeutung von Shakespeares tragischem Protagonisten Um das grundsätzliche Dilemma Hamlets erfassen zu können, greifen psychologische (Goethe) oder kulturhisto-rische (Nietzsche) Erklärungen Susman zufolge zu kurz Die dramati-sche Funktion Hamlets liegt nicht in der Darstellung einer individuel-len Charakterschwäche, auch wenn diese universelle Züge trägt Im Rahmen einer umfassenderen Lebensphilosophie beschreibt Susman Hamlet gerade als einen Menschen der Tat, dessen Denken und Han-deln ihn als einen jener Großen offenbart, »der das Sein der Dinge er-blickt hat«: »In ihm rast die Ganzheit des Seins, die er als Einzelner nie völlig verwirklichen kann, gegen die Vereinsamung des Lebens, das ihn mit willenloser Kälte verschlingt Seine Tat ist ein Durchbrechen in die Ordnung des Seins und eins mit seinem Zusammenbruch als Einzel-ner «25 In einer aktualisierten Weiterführung metaphysischen Denkens beschreibt Susman das Leben und den Lauf der menschlichen Ge-

S 547 Die Feldpostbücherei des Verlags Eugen Diederichs umfasst zehn Bände, vier sind eine Sammlung von Kriegsgedichten, die bis Januar 1915 in Zeitschriften und Zeitungen gedruckt wurden, die anderen sechs sind Anthologien historischer Texte zum »deutschen Volkstum«, »deutschen Glauben« oder »deutschen Menschen« Unter dem Nenner eines »deut-schen Geistes« werden unterschiedliche Autoren wie Goethe, Luther, Treitschke, Lagarde und Lessing zusammengebracht und »in die Reihe unserer kämpfenden Brüder getragen«

24 »[Diederichs] wurde nicht zum Verleger einer künstlerischen Avantgarde Er plante in Serien und lebensreformerischen Periodika Die Ideengeber und Wortführer der Gartenstadt und des Werkbundes, der Frauenbewe-gung und der Sexualreform, der körperlichen Ausdruckskultur, der Volks-bildung, der Freien Schulgemeinde Wickersdorf, und an erster Stelle der freistudentischen Jugendbewegung waren seine eigentlichen ›modernen Geister‹ […] Künstler und Jugendbewegte rangierten auf Diederichs Kre-ativitätsskala zur gesellschaftlichen Veränderung vor den Wissenschaft-lern « Gangolf Hübinger, Der Verlag Eugen Diederichs in Jena: Wissen-schaftskritik, Lebensreform und völkische Bewegung, in: Geschichte und Gesellschaft, 22, 1996, H 1, Verleger und Wissenschaftler, S 31-45, hier S 37

25 Margarete Susman, Das Problem der Tat und das Hamletproblem, in: Die Tat, S 476-489, hier S 479

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schichte als ein Meer, dessen Bewegungen im Einzelnen chaotisch und unüberblickbar erscheinen, das in seiner Gesamtheit jedoch unter einem höheren Gesetz steht, das den Zusammenhang des Ganzen bildet

Diese allgemeine Gesetzmäßigkeit allein ist der Grund des ewigen Zusammenhanges unseres Welterfassens mit der Welt, der selbst da noch, wo Erfassendes und Erfaßtes als verschiedene Erscheinungs-weisen eines Identischen begriffen werden, bei der ungeheuren Spannung dieser Lebensgegensätze ein uns bis ins Letzte durch-schaubares Wunder ist: das Wunder, das wir erkannt haben als Wahrheit, gebildet als Schönheit, erlitten als Religiosität, gelebt als Sittlichkeit 26

Das Leben ist keine Ordnung an sich, doch ohne diese Ordnung ist es auch nichts Der große Geist aber schaut »in das Wesen der Dinge und handelt, und es wird wahr«: dieses Handeln, die Tat also, zeichnet das besondere Individuum aus, das aufgrund der erschauten Gesetzlichkeit in die Welt eingreift und entsprechend jene höhere Ordnung wieder herstellt Susman betont mehrmals, dass nur wenige sich über die Ver-wirrung des Lebens erheben können; diese gehören zwei Welten an, der der überindividuellen Ethik und jener der widersprüchlichen Irdi-schen 27 Die Tragik Hamlets liegt darin, dass er als einer dieser Hell-sichtigen durch das Entsetzen über das Ereignis, das ihn zur Wiederher-stellung der Ordnung aufruft, in Verwirrung gerät, wodurch ihm der höhere Sinn abhandenkommt Er kann nicht handeln, er kann die wah-re Tat nicht vollbringen, solange der Sinn des Ganzen ihm nicht gewiss ist Wäre Hamlet nicht ein Mensch des Tuns, dann würde er den Ra-cheakt, der ihm der Geist einflüstert, rasch vollbringen Doch im Gegen-satz zu Orest, der ohne Nachdenken dem direkten Befehl der Götter befolgt, muss er, als freier Mensch, selber alles erwägen und entschei-den und kann nicht durch die Götter entsühnt werden Hamlet ist in Susmans Deutung ein moderner Mensch, der im Gegensatz zum an tiken Helden in einer Welt ohne theologisch begründetes Gesetz lebt, und der durch die Vernunft jene höhere Ordnung erfasst und sie in die Tat umsetzt Hamlets Umwelt gleicht insofern der imaginären Welt Kafkas, der das göttliche Gesetz ebenfalls abhandengekommen ist und in der die Protagonisten umherirren, ohne den Sinn des Lebens auch nur erfas-sen zu können Die Protagonisten sind Hiobsgestalten, die menschlich Unbegreifliches hinnehmen Hamlet unterscheidet sich davon grund-sätzlich, weil er als freier Handelnder ohne Gott die höhere Ordnung

26 Ebd , S 477 27 Ebd , S 480

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wiederherstellt, auch wenn dies dem Durchschnittsmenschen unklar bleibt Diese »Sinnlosigkeit, die mit seinem Namen verbunden bleiben soll« kann er allerdings 28 In dieser Hinsicht ist er allzumenschlich

Margarete Susmans Interpretation von Hamlet als Tatmenschen ist unorthodox in Hinsicht auf eine hermeneutische Tradition, die ihn als Zauderer und Melancholiker deutet, als unfähig zur Tat Hamlets scheinbar verworrenes und aufschiebendes Verhalten wurzelt in Sus-mans Deutung im Wissen um den höheren Sinn der Welt und das Di-lemma, ihn in einem Leben voller Widersprüche wiederherzustellen Dass dies ihm gelingt, und zwar nicht durch eine direkte Tat, sondern auf Umwegen und um den Preis des eigenen Lebens, macht ihn zu einem jener Auserwählten, deren Sein grundsätzlich von ethischen Prinzipien gesteuert wird

Der Hamlet-Aufsatz ist ein philosophischer Text, in dem die Frage ethischen Handelns und die Bedeutung der Literatur im Mittelpunkt stehen Die Zeit der Veröffentlichung aber, August 1914, gibt den Titel-worten »Problem der Tat« und »Hamlet« eine ungewollt ins Histori-sche weisende Bedeutung Gerade Hamlet zum Tatmenschen umzu-deuten, wäre in dieser Hinsicht brisant, greift es doch die Metapher vom flügellahmen Deutschland in einem Gedicht Ferdinand Freilig-raths aus dem Jahr 1844 auf:

Deutschland ist Hamlet! Ernst und stummIn seinen Toren jede NachtGeht die begrabne Freiheit um, Und winkt den Männern auf der Wacht

Das Gedicht spricht Verzweiflung aus über die politisch kontempla-tive Haltung des deutschen Bürgertums, das, reglos feudalen autokrati-schen Machverhältnissen gegenüber und versunken im Geistigen, sein Vaterland bedrohenden Kräften ausliefert:

Oh, raff dich auf, und komm zu Streiche […]Mach den Moment zunutze dir!Noch ist es Zeit – drein mit dem Schwert, Eh’ mit französischem RapierDich schnöd vergiftet ein Laert!

Vor diesem Hintergrund könnte Susmans Hamlet als Metapher eines Deutschlands gelesen werden, das geistig nicht verwirrt ist, sondern überlegen mit Blick auf ein höheres Gesetz ein ethisches Handeln auf-zeigt, das den im unmittelbaren Leben verhafteten Außenstehenden

28 Ebd , S 489

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unbegreiflich ist, obwohl es um die Wiederherstellung der Ordnung, die »Ganzheit des Seins« geht Die Idee einer höheren deutschen Geistig-keit wie die Überzeugung eines gerechten Krieges stimmten mit dem Diskurs der Zeit überein Susmans Essay auf diese Weise als Pamphlet zu lesen, ist aber in mehr als einer Hinsicht nicht plausibel Wie gesagt, war schon das Verhältnis des Verlegers Eugen Diederichs und seiner Zeitschrift zum Nationalismus der unmittelbaren Vorkriegszeit kom-plex Diederichs, der mit Margarete Susman befreundet war und sie als Autorin Vom Sinn der Liebe (1912) außerordentlich schätzte, strebte mit seinem Verlagsprogramm eine geistige Erneuerung Deutschlands an, die kulturell wie politisch aufgeschlossen und dialogisch war 29 Der idealistische Kulturreformer war der Überzeugung, dass »über dem Nationalen […] das weite Reich des Geistigen [steht]«30 und in Deutschland ein neues geistiges Leben und politische Beteiligung an-zustreben sei 1913 kritisierte er öffentlich den »Hurra-Patriotismus«31, und auch während des Kriegs verhielt er sich zurückhaltend, auch trotz der regen Drucktätigkeit seines Verlags 32 Die Tat wurde ab 1917 das Forum für eine Debatte über das Deutschtum Seine Kritik am soge-nannten »›gesunden Menschenverstand‹ der Völkischen«33 brachte ihm selbst Kritik ein; wenn er spreche, »glaube [man] den Präsidenten Wil-son zu hören« 34 Das Reformstreben der Zeitschrift wurde folgender-maßen festgelegt:

Deutsch denken heißt jedem die Entfaltung seines Wesens aus sei-nen inneren Kräften und Anlagen heraus zuzugestehen In diesem Sinne umfasst Die Tat alles, was auf die Erneuerung unseres volk-lichen Lebens zustrebt Ihre besonderen Arbeitsgebiete sind: Un-dogmatische Religion, Soziale Umgestaltung des Lebens, Erzie-hungs- und Volksbildungsfragen, Neugestaltungen in Literatur und Kunst, Vertiefung des Volkstumsempfindens, Aufbau eines Volks-staates, Entwicklung des Nationalgefühls zum Menschheitsdienst 35

29 Vgl Irmgard Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt, Wies baden 1998, S 88, S 375-377

30 Diederichs zitiert in: ebd , S 377 31 Ebd , S 378 32 Vgl Edith Hanke, Gangolf Hübinger, Von der Tat-Gemeinde zum Tat-

Kreis Die Entwicklung einer Kulturzeitschrift, in: Versammlungsort mo-derner Geister. Der Eugen Diederichs-Verlag. Aufbruch ins Jahrhundert der Ex treme, hg von Gangolf Hübinger, München 1996, S 299-334

33 Irmgard Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs, S 407 34 Ebd , S 408 35 Zitiert in: Edith Hanke, Gangolf Hübinger, Von der Tat-Gemeinde zum

Tat-Kreis, S 321

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Die idealistische Grundlage einer geistigen, dennoch alle Aspekte des Lebens umfassende Reform, die von ›innen heraus‹ bewerkstelligt wer-den sollte, teilte Diederich mit manchen seiner Mitarbeiter, nicht zu-letzt mit Autoren wie Gustav Landauer und Margarete Susman Der Aufsatz »Einzelmoral und Staatsmoral«, den Susman ein Jahr später in der Frankfurter Zeitung veröffentlichte und in dem sie gegen einen ab-strakten Staatsbegriff für die Teilnahme jedes Einzelnen als Bürger am Gemeinschaftsleben plädiert, erinnert in vielerlei Hinsicht an Diede-richs Ideen über Volksstaat und Sozialdemokratie 36

So wenig wie der Hamletaufsatz sich als Stellungnahme zum »hei-ligen Krieg« lesen lässt, so erscheinen Susmans öffentliche Wortmel-dungen zum Krieg immer wieder zweifelnd und zurückhaltend Ihr Kriegsgedicht Ernte, das am 10 September 1914 in der Frankfurter Zeitung erscheint, spricht von Verlust und Trauer und steht verwaist neben Gerhart Hauptmanns und Karl Wolfskehls Beschimpfungen von Romain Rolland (12 September, S 1-2) und neben den Kriegs-gedichten Fritz von Unruhs Als am 16 August 1914 in der Neuen Zürcher Zeitung auf der ersten Seite der Artikel »Der Krieg und das Wort Gottes« erscheint, ist auch hier der Titel irreführend, da von Krieg als göttlicher Gerechtigkeit nicht die Rede ist Susman drückt ihre Empörung über die Tatsache aus, dass die Geistlichkeit der durch den Krieg verunsicherten Bevölkerung keinerlei Trost bietet, sondern mittels Bußpredigten über Schuld und Strafe die zu tragende Last noch erschwert Der Krieg wird in Susmans Rhetorik abstrahiert zu einem Schicksalsschlag: »Das Ungeheure ist über uns hereingebrochen Die Zeit, in der wir leben, ist schwer von Grausen; es ist keiner, den sie nicht mit dumpfer Faust aufs Haupt geschlagen hätte, und vielen geht durch sie Leben und Existenz verloren […] Die Luft um uns her ist schwer von verhaltenen, von vergossenen und von zukünftigen Trä-nen «37 Wer genau gegen wen kämpft oder um wessen gerechte Sache

36 Zu diesem Aufsatz vgl Anke Gilleir, Margarete Susman, Staat, Literatur oder nochmals zum deutschen Intellektualismus, in: German Quarterly, 82:4, 2009, S 483-503 Wie Gangolf Hübinger nachweist, wurde die Zeit-schrift Die Tat nach 1929 zunehmend zum politischen Organ im Dienst der ›konservativen Revolution‹, da sie »den Wechsel von der parlamentari-schen Demokratie zum autoritären Ständestaat propagierte und den Kurs des Generals Kurt von Schleicher unterstützte« Gangolf Hübinger, Der Verlag Eugen Diederichs in Jena: Wissenschaftskritik, Lebensreform und völkische Bewegung, in: Geschichte und Gesellschaft, 22:1, 1996, S 31-45, hier S 44

37 Margarete Susman, Der Krieg und das Wort Gottes, in: Neue Zürcher Zei-tung, 16 August 1914, S 1

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es sich handelt, kommt nicht in den Blick Im Sinne von Goethes Iphigenie besteht Krieg aus tausend durchweinten Nächten, über die kein Dichter sprechen will Das Einzige, was der Krieg bringen kann, ist die Gewissheit des lebendigen göttlichen Bildes im Menschen: die logische Voraussetzung des Wissens um die Unvollkommenheit der menschlichen Geschichte heute ist die Gewissheit der göttlichen Voll-kommenheit, die uns als Maßstab immer vorschwebt und gerade jetzt nicht verloren gehen darf

Und mir ist, als ob den Menschen heute nichts anderes gepredigt werden sollte, als daß sie dies göttliche Bild über der gebeugten un-seligen Menschheit nicht verloren gehen lasse […] »Könnet ihr denn nicht einen Augenblick mit mir wachen?« hat Christus in sei-ner schwersten Stunde gesprochen? Und nur dies Wachen um ihn, um das göttliche Gut der Menschheit selbst, tut heute not 38

Wenn auch nicht von Pazifismus die Rede ist, so ist Susmans Aufsatz dennoch ein Aufruf, die Ideale der Menschheit, in der Bildsprache des Aufsatzes, »der Funke des Göttlichen im Menschlichen«, als Maß und Vorbild des Lebens zu behalten Dieses universale Menschenbild un-terscheidet sich von den nationalistischen Verleumdungen der Zeit Es ist »ein ewig unerreichbares Ziel«, das dennoch als Leitbild dient und so gerade in Kriegszeiten einer als Norm akzeptierten Verrohung aus dem Weg geht Der absolute Sinn ist humanitas, nicht Germania

III Literatur in Kriegszeiten: von Gundolf zu Unruh

In dieser Sphäre lässt sich auch Susmans Rezension von Friedrich Gundolfs Goethe (1916) deuten, die im Januar 1917 in der Frankfurter Zeitung abgedruckt wird und in der die Autorin sich als Rezensentin bemüht zeigt, die jenem umfassenden Werk zugrunde liegende Gedan-kenwelt zu erläutern Wie sie am Anfang des Aufsatzes schreibt, will sie Gundolfs Goethebuch vor ungerechten Fehldeutungen, die schon das Buch Georg Simmels trafen, schützen Da es sich um ein unortho-doxes Werk und ein absolutes Novum in der Goetheforschung handle, muss es als solches erkannt, um gerecht beurteilt zu werden Im Ge-gensatz zum dominanten Positivismus der damaligen Goethefor-schung39 habe der Dichter, George-Jünger und Literaturwissenschaft-

38 Ebd 39 Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte

eines Klassikers, München 1980, S 269

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ler Gundolf aufgrund einer künstlerischen Intuition ein Goethebild geschaffen, das er in Goethes Dichtung ausgesprochen findet, das sich aber weder nachprüfen noch beweisen lässt Damit trete er weder als Philosoph, Historiker oder gar Philologe in Erscheinung, sondern als schöpferische Gestalt, die in einfühlsamer Identifikation mit ihrem Objekt eine Offenbarung erlebt und diese als Gesamtbild darlegt Wis-senschaftliche Ansprüche im herkömmlichen Sinn habe Gundolf nicht Die Grundlage der Gestaltung seien eine selbstbewusste Geistesver-wandtschaft und ein souveräner Überblick Susman zitiert Gundolfs Leitsatz: »Man muß Goethe als ein Ganzes erlebt haben, ehe man es wagen darf, seine einzelnen Leistungen einzureihen, zu deuten oder zu benützen als Formen seines Lebens «40 Wie ein roter Faden läuft das Wort »Gestalt« durch Susmans Rezension: Immer wieder betont sie die Bedeutung dieses Begriffs für das Verständnis von Gundolfs eigen-sinniger Goethedarstellung: »Das Gefühl für das Gestalthafte und das Gestaltete ist der große Pulsschlag, der das Buch von der ersten bis zur letzten Seite durchzittert […] Gestalt ist nichts anderes als das Gebilde, in dem Schöpfertum unmittelbar lebendig sich ausspricht «41 Gundolf evoziere Goethe als Künstler, das heißt, als historische Verkörperung jenes höchsten menschlichen Ideals der Einheit von Form und Geist, und dementsprechend müsse man als Leser das Werk begreifen:

Nicht also das kann die Frage gegenüber einem solchen ausgespro-chenermaßen auf eigener Intuition beruhendem Buche sein: ob ein für allemal ein Recht zu solchem persönlichen Gesamtbilde Goethes bestehe; sondern nur, wie lebenskräftig, wie allgemeingültig und fruchtbar es sich in seiner Darlegung als Voraussetzung der Wirk-lichkeitsforschung erweist 42

Damit offenbart Susman den Sinn ihrer Rezension Ihre umsichtige Präsentation ist keine Glorifizierung, denn in ihrer Kritik an mehreren Schlussfolgerungen in Gundolfs Werk zeigt sich die selbstbewusste Goetheforscherin Aber sie erkennt die »Abstraktion« dieses Werkes und seine Bedeutung als schöpferischen Akt, der in seiner kreativen statt wissenschaftlichen Darstellung ein Streben nach (geistig-ästhe-tischer) Vollendung offenbart So endet sie ihren Aufsatz mit dem Schlusssatz aus Gundolfs Einführung zu seinem Werk, das der Aus-druck

40 Margarete Susman, Friedrich Gundolfs »Goethe«, in: Frankfurter Zeitung, 21 Januar 1917, S 1

41 Ebd 42 Ebd