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Berte Bratt (Ulla Scherenhof) Großartige Gina

Großartige Gina

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Berte Bratt

(Ulla Scherenhof)

Großartige Gina

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Ginas phantasievolle Einfälle werden von ihren Verwandten mit Mißtrauen betrachtet. Gina ist jung und unbekümmert, und auch die gewagtesten Dinge erscheinen ihr möglich. In diesem letzten Jahr auf der Oberschule genießt sie in vollen Zügen, was ihr das Leben an Kameradschaft und Freundschaft, an geistigen und anderen Genüssen bietet. Und das ist ziemlich viel, denn Gina ist zwar früh Waise geworden, wird aber von ihrer viel älteren Schwester, einer berühmten Opernsängerin, mit viel Liebe und Verständnis erzogen und von der langjährigen Haushälterin gewissenhaft betreut. Am wirksamsten in dieser Erziehung ist wohl das Beispiel der geliebten und bewunderten Schwester, die mit ihrem gütigen Herzen und ihrem klaren Kopf überall hilft, wo sie helfen kann. Auch Gina hat diese Veranlagung mitbekommen. Ihre neue Lehrerin, die den Kindern durch ihre Strenge und Humorlosigkeit sehr viel Kummer macht und allgemein abgelehnt wird, erweist sich allmählich als ein recht hilfsbedürftiges Menschenkind. Gina gelingt es, sie ein wenig aufzulockern, und kann dann später mit Hilfe ihrer sehr vermögenden Schwester dieses schwere Schicksal wesentlich erleichtern. Es macht Freude, die muntere, gar nicht engelhafte, aber grundanständige und sehr selbständig denkende junge Gina ein Stück auf ihrem Lebensweg zu begleiten.

Verlags-Nr. 776 1. Auflage 1969 Umschlaggestaltung: E. Grauel- von Mandelsloh Originaltitel: Ina har ideer Aus dem Norwegischen übersetzt von Dagmar von Wrangell (c) der deutschen Buchausgabe 1969 by Engelbert-Verlag, Balve Nachdruck verboten – Printed in Germany Satz, Druck und Einband: Gebr. Zimmermann, Buchdruckerei und Verlag GmbH, Balve/Westf.

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Vorwort

Ich selbst lese nie ein Vorwort. Denn Vorworte sind langweilig. Aber ich bin tatsächlich gezwungen, eines zu schreiben.

Ich muß doch schließlich dafür sorgen, daß ihr orientiert seid. Das einfachste wird wohl sein, die handelnden Personen vorzustellen, wie es in einem Theaterprogramm geschieht. Also, in diesem Buch treten auf:

Gina Rieger, fünfzehn Jahre alt, das bin ich. Geggi Rieger, siebzehn Jahre, meine Kusine. Assi Rieger, meine Schwester, 31 Jahre, berühmte Sängerin. Advokat Torbjörn Hanning, Assis Verlobter, ein feiner Kerl. Christian Hanning, sein Zwillingsbruder. Tante Karen, deren Mutter. Frau Nathansen, von mir Tante Randi genannt. Unsere

Haushälterin. Fräulein Mosgard, meine Klassenlehrerin. Der Rektor, die Lehrer, meine Klassenkameraden. Vier Mädchen, die Pilze suchten. Onkel Paul und Tante Katrine, Geggis Eltern. Im übrigen sind noch Helga, Egil, Mette und Anny erwähnt. Von

denen habe ich schon früher erzählt. Geggi und ich lernten sie im vorigen Sommer kennen. Das war ein furchtbar spannender Sommer mit einem Blitzschlag, einem durchgegangenen Mädchen, einem Brand, einem Krankentransport im Hubschrauber – und der Lösung eines großen Liebesproblems.

Mehr kann ich darüber nicht sagen. Aber jetzt seid ihr also im Bilde.

Viele Grüße! Gina Rieger

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Ein Einfall, der nichts taugt

„Ich habe eine Idee!“ rief ich.

„Wieder einmal!“ sagte Torbjörn. „Willst du an einer Südpolexpedition teilnehmen, oder willst du in ein Kloster gehen?“

„Nein, der Südpol ist zu kalt für mich, und ich bin nicht sanft und ruhig genug für ein Kloster. Ich will etwas ganz anderes.“

„So laß es uns hören“, sagte Assi. „Wenn aber diese Idee von derselben Sorte ist wie die siebzehn, die du schon hattest…“

„Achtzehn“, verbesserte Torbjörn. „Also, mein liebes Mädchen, heraus damit!“

„Ich will nach Geiterud fahren“, berichtete ich nun. „Nicht als Haustochter, sondern als zahlender Gast. Helga wird sicher froh sein, und wenn ich für meinen Unterhalt selbst aufkommen kann…“

Hier unterbrach mich Torbjörn. „Das einzige, was zutrifft, ist, daß du alles selbst bezahlen kannst.

Glaubst du wirklich, Helga wird so begeistert sein, wenn sie noch einen Menschen zu betreuen hat, nachdem sie schon ihren Mann pflegen und eine sechsjährige Tochter sowie einen Säugling versorgen muß? Und dann ist da noch etwas zu bedenken: Wie hast du dir die Sache mit deinem Schulbesuch gedacht? Willst du dir einen Hubschrauber anschaffen und jeden Tag nach Oslo fliegen?“

„Ich pfeife auf die Schule“, sagte ich. „Das heißt, darüber habe ich auch schon nachgedacht. Egil ist doch wohl imstande, mich zu unterrichten!“

„Ach, so meinst du das. Du mußt aber doch folgendes bedenken: Wenn Egil sich dort oben in die Einsamkeit zurückgezogen hat, dann nur aus dem Grunde, um Ruhe für seine Doktorarbeit zu haben. Meine liebe kleine Schwägerin, du bist ein sympathisches Menschenkind, doch du bist nicht gerade die Ruhe selbst. Es tut mir leid, aber dein Vorschlag ist abgelehnt. Oder was meinst du, Assi?“

Assi lächelte ihr gutes, liebevolles Lächeln. „Dasselbe wie du, mein Herr und Gebieter.“ „Ach, ihr seid unmöglich“, seufzte ich. „Hier sitzen wir und

beraten über ein Problem, das unbedingt gelöst werden muß, und jeder meiner Vorschläge wird abgelehnt!“

„Ich sehe überhaupt kein Problem, um es zum hundertneunzigsten Male zu sagen“, sagte Torbjörn.

„Nein, weil du ein verstocktes Mannsbild bist, und Assi sieht

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schon deshalb nichts ein, weil sie in dich verliebt ist und sich verpflichtet fühlt, immer deiner Meinung zu sein. Aber jetzt könnt ihr beide mir gestohlen bleiben, denn ich gehe in die Küche und helfe Tante Randi, das Abendessen vorzubereiten. Sie ist der einzige vernünftige Mensch hier im Hause, abgesehen von mir natürlich!“

Damit überließ ich Assi und Torbjörn sich selbst, oder richtiger gesagt, einander. Und darin bestand eigentlich mein ganzes Problem: Daß ich sie einander überlassen wollte.

Die Sache war nämlich die: Meine Schwester Assi, die sechzehn Jahre älter ist als ich und mir die Eltern ersetzt, seit diese gestorben sind – Assi also wollte sich in nächster Zukunft mit Torbjörn verheiraten. Sie mußte nur noch für vier Wochen nach Berlin, um die Elsa im Lohengrin zu singen. Assi ist nämlich Opernsängerin, und zwar gehört sie bestimmt zu den wirklich großen und ist sehr berühmt. Sie hat viele Engagementsangebote, bekommt phantastische Kritiken und verdient sehr viel Geld. Und obwohl sie so beliebt ist und ständig von Verehrern und Autogrammjägern belagert wird, ist sie das bescheidenste, liebenswerteste, reizendste Wesen auf dieser Welt. Ich weiß, das Schicksal hat es trotz allem gut mit mir gemeint, als es mir solch eine gute Schwester schenkte. Hätte mir nicht im letzten Sommer der Zufall geholfen, weiß ich wahrhaftig nicht, was aus Assi und Torbjörn geworden wäre. Damals wurde ich nämlich mit Torbjörn bekannt und erfuhr, daß er und Assi sich gern hatten. Und ich erfuhr seinerzeit auch, daß die beiden noch nicht geheiratet hatten, weil Assi mich nicht im Stich lassen wollte. Assi ist ja der einzige Mensch, den ich habe. Seit Mutter und Vater gestorben sind, hat Assi immer nur an mich gedacht, hat mir geholfen, mich erzogen, auf mich aufgepaßt und ist gut zu mir gewesen. Nun hatte sie sich also in den Kopf gesetzt, nicht heiraten zu wollen, bevor ich mit der Schule fertig sei und in einem Beruf Fuß gefaßt hätte. So schwirrte sie in der Welt herum, sang und verdiente Geld und war zwischen ihren Engagements einen Monat oder zwei zu Hause. Dann studierte sie neue Rollen ein und war Mutter und Schwester zugleich für mich. Inzwischen ging der bedauernswerte Torbjörn herum und wartete sehnsüchtig darauf, daß diese beschwerliche kleine Schwester groß genug sein würde, um das Leben allein meistern zu können. Assi wurde dreißig Jahre, sie wurde einunddreißig – aber still, sagt das nur niemandem, denn man darf ja eigentlich das Alter einer Künstlerin nicht verraten! Sie wäre sicher auch zweiunddreißig geworden, ohne zu heiraten, wenn nicht

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das Schicksal, der Zufall und ich – Gina Rieger, damals fünfzehn Jahre alt – uns eingeschaltet und ihre Pläne verändert hätten.

Denn als ich von dieser Liebesgeschichte erfuhr, schlug ich sozusagen auf den Tisch und sagte, sie sollten nun bitte heiraten, und zwar recht schnell. Sie hätten meinetwegen lange genug gewartet, und es sei nun wirklich an der Zeit, daß Assi einmal an ihr eigenes Glück denke und nicht nur an meines.

So sagte ich! Aber ich mußte noch ein weiteres Jahr zur Schule gehen. Und

mein Problem sah nun also folgendermaßen aus: Wenn die beiden heirateten, wollte ich nicht bei ihnen wohnen

bleiben, damit sie in ihrem jungen Eheglück nicht dauernd über mich stolperten. Ich wollte mich also selbständig machen und Assi und Torbjörn in Frieden lassen. Denn es war schon richtig, was Torbjörn gesagt hatte: Frieden und Ruhe sind nicht unbedingt mit meiner Anwesenheit verknüpft.

Aber was sollte ich nun anfangen? Ich konnte vielleicht bei Onkel Paul und Tante Katrine

unterkommen. Onkel Paul ist mein Vormund, und Tante Katrine ist der einzige wirklich vernünftige Mensch in der Familie. Ihre Tochter Geggi ist zwei Jahre älter als ich und nicht nur meine Kusine, sondern auch meine beste Freundin. Das ist eigentlich ziemlich sonderbar, denn Geggi ist beinahe ebenso vernünftig wie ihre Mutter. Aber glücklicherweise nur beinahe.

Wenn ich Tante Katrine und Onkel Paul einmal für ein Wochenende besuchte, dann ging alles gut, aber ich weiß recht wohl, daß es zu Explosionen kommen würde, wenn ich für längere Zeit bei ihnen wohnen sollte. Unser Beisammensein hatte gut geklappt, solange ich klein war, denn da konnte Tante Katrine mir in der äußersten Not eine Ohrfeige oder einen Klaps auf die Rückseite verabreichen – und diesen Ausweg hatte sie auch dann und wann beschritten. Aber jetzt war ich doch etwas zu groß für diese Erziehungsmethode geworden, und was sollte sie nun mit mir machen, die arme Seele? Am schlimmsten wäre, daß Geggi dabei zwischen Tür und Angel geraten würde, also zwischen ihre Mutter und mich, und das wollte ich wahrhaftig nicht.

Nein, diesen Gedanken hatte ich selbst bereits aufgegeben. Und alle meine übrigen Einfälle hatte also Torbjörn schon verworfen.

„Ich verstehe nicht, womit du dich überhaupt abquälst“, sagte Torbjörn. „Wenn eine junge Witwe, die eine Tochter hat, sich wieder

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verheiratet, so wirft sie doch ihr Kind deswegen nicht aus dem Hause. Es ist doch das Heim der Tochter ebenso wie das der Mutter, und der Mann, der die Mutter heiratet, weiß eben, daß er eine Tochter in Kauf zu nehmen hat! Das ist doch eine völlig klare Sache.“

„Und du hast dich also damit abgefunden, eine Schwester mit in Kauf zu nehmen“, argumentierte ich. „Das ist zwar nett von dir, Torbjörn, aber ich bin nun einmal kein Kleinkind mehr. Ihr könnt mich nicht Schlag sechs ins Bett packen und habt dann eure Ruhe. Ich bin ein ausgewachsener Teenager mit Plattenspieler und Kofferradio und vielen Freundinnen, mit Schulproblemen und schlechten Noten, mit Kleidersorgen und Wutanfällen. Du bist schon so bodenlos leichtsinnig, dich mit einer Sängerin zu verheiraten, die dir jeden Monat davonläuft, um in Mailand zu zwitschern, in London Koloraturen zu schmettern oder in Paris mit einem hohen C in der Kehle vor Liebesnot zu sterben. Wenn deine Frau dann endlich einmal nach Hause kommt, den Koffer voller Lire, Pfund und Francs – da wäre es doch wohl die Höhe, wenn du nicht wenigstens die kurzen Stunden, in denen sie daheim ist, sie für dich allein haben solltest. Ich will einfach fort, und wenn ich etwas will, dann tue ich es auch.“

Leider hatte auch Assi ihren Willen. Sie wollte, daß ich auf meiner Schule bleiben und nicht das letzte Schuljahr in irgendeinem bequemen Internat verbringen sollte. In diesem Punkt hatte sie genau denselben zähen Willen der Riegers wie ich auch.

So also war die Lage. Eine Situation, die noch geklärt werden mußte, ehe Assi nächste Woche nach Berlin reiste, oder zum mindesten unbedingt, ehe sie sich am vierten Oktober mit Torbjörn verheiratete!

Ich stand in der Küche und drehte Butterkugeln zum Abendessen und klagte Tante Randi meine Not. Für andere Leute heißt sie Frau Nathansen, und sie ist unsere Haushälterin und unser guter Engel. Sie hatte in den letzten fünf Jahren die Aufgabe gehabt, auf mich aufzupassen, wenn Assi irgendwo auf Gastspiel war. Daß sie nach der Hochzeit weiter bei Assi bleiben würde, war klar und verstand sich von selbst.

„Ich verstehe gar nicht, was du willst, Gina“, sagte Tante Randi. „Denk, wenn es umgekehrt wäre! Wenn nun Schwester und Schwager dich um jeden Preis aus dem Haus haben wollten, und du wärest verletzt und erbittert! Da ist etwas, was du ganz vergißt, Gina.

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Assi hat dich lieb und ist froh darüber, daß sie dich hat.“ „Das vergesse ich keineswegs! Das weiß ich doch. Und ich habe

sie genauso lieb. Gerade deswegen wünsche ich ihr Flitterwochen ohne die ständige Anwesenheit einer Dritten, verstehst du das nicht? Eben darum, weil Assi und ich so gut miteinander stehen, will ich es nicht erleben, mich überflüssig zu fühlen. Gerade weil ich sie so lieb habe, würde das sehr weh tun. Sag doch, daß du das begreifst, Tante Randi! Es wäre so herrlich, wenn wenigstens ein Mensch mich verstünde!“

Tante Randi lächelte und strich mir über die Wange. „Ja, doch, Ginakind. Ich verstehe dich schon. Aber nun hör mal

zu. Dein Schwager will ja ein Haus bauen. Und das wird sowohl praktisch als auch geräumig, wenn ich es richtig verstanden habe.“

„Ja, wenn das Haus erst steht, ist ja alles in Ordnung. Ich soll doch eine kleine Wohnung für mich allein bekommen! Schlafzimmer und Wohnraum und Bad und Teeküche, rede nur niemand von Luxus! Wenn es erst soweit ist, werde ich mit tausend Freuden wieder zu Hause einziehen. Aber hier, in dieser kleinen Wohnung! Sie müssen ja schließlich hier wohnen, bis das Haus fertig ist!“

„Ich werde mit dir gemeinsam überlegen“, sagte Tante Randi. „Doch jetzt ist es gleich Zeit für die Nachrichten im Fernsehen, mein Mädel, und wenn das Abendessen nach den Nachrichten fertig sein soll, muß ich nun den Tisch decken!“

„Nach dem Abendessen werde ich dir die verschiedenen Schnitte für ein Brautjungfernkleid zeigen“, rief ich.

„Denk nur, wie fein wir aussehen werden, Geggi und ich – in vielen Metern rosa Chiffon, mit silbernen Schuhen und kleinen silbernen Körben mit rosa Blüten!“

„Und dann kommen eure Bilder in die Illustrierten“, sagte Tante Randi.

„Das ist etwas, woran man sich gewöhnen muß, wenn man Assi Riegers Schwester ist“, entgegnete ich, nahm den Butterteller und den Brotkorb und machte mich auf den Weg zum Eßzimmer.

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Die neue Klassenlehrerin Der erste Schultag nach den Ferien war zugleich der erste Schultag meines letzten Schuljahres. Zum letzten Male erlebte ich die Unruhe und das Gelächter und all das Fragen und Erzählen, zum letzten Male bekam ich den neuen Stundenplan und das Verzeichnis unserer neuen Bücher. Assi hatte sich mit dem Gedanken ausgesöhnt, daß ich nicht das Abitur machen würde. Nach der mittleren Reife sollte ich ein oder zwei Jahre im Ausland verleben, und dann würden wir sehen, wie sich die Dinge entwickelten.

Alle in der Klasse schwatzten eifrig durcheinander, bis der Direktor hereinkam; er war in Begleitung einer großen, schlanken, dunkelhaarigen Dame, deren Gesicht hübsch gewesen wäre, wenn es mehr Leben gezeigt hätte. Es war ernst und verschlossen.

„Guten Tag, Mädels“, begrüßte uns der Direktor. „Willkommen im neuen Schuljahr. Ich habe euch allen einen herzlichen Gruß von Frau Kramer zu bestellen. Sie hat Urlaub bis Weihnachten, und dies ist eure neue Klassenlehrerin, Fräulein Mosgard. Ich hoffe und glaube, daß ihr Kontakt miteinander bekommen werdet und daß ein ebenso erfreuliches Verhältnis zwischen Lehrerin und Schülerinnen entstehen wird, wie es zwischen euch und Frau Kramer war.“

Fräulein Mosgard beugte den Kopf zum Gruß, aber ihr Gesicht blieb unverändert.

„Ist Frau Kramer krank?“ fragte Sonja, meine Nachbarin. Der Direktor lächelte. „Nein, das ist sie glücklicherweise nicht. Sie hat mir erlaubt, euch

den Grund zu sagen, weshalb sie vorläufig nicht unterrichten kann. Sie bekommt ein Kind.“

„Hätte sie damit nicht noch etwas warten können?“ platzte es aus mir heraus.

Der Direktor lachte. „Verlangst du da nicht ein bißchen viel, Gina? Du solltest dich

doch lieber mit Frau Kramer freuen!“ „Ja – ja, freilich, das tue ich ja auch!“ beeilte ich mich zu

versichern. „Ja, Fräulein Mosgard, nun überlasse ich also Ihnen diese Bande

hier“, fuhr der Direktor fort. „Die Mädels sind gar nicht so schlimm, wie man glauben sollte; wir haben im Laufe der Jahre wenig Mühe mit ihnen gehabt. Sie sind im allgemeinen einigermaßen vernünftig –

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natürlich mit gelegentlichen Ausnahmen – , und der Leistungsdurchschnitt der Klasse ist gut. Also, meine jungen Damen, zeigt euch von eurer besten Seite und macht Frau Kramer keine Schande. Und Ihnen alles Gute, Fräulein Mosgard!“

Dann war der Direktor fort, und wir waren mit unserer neuen Klassenlehrerin allein. Sie warf einen Blick über die ganze Klasse. Es war keine Spur von Freude in diesem Blick. Das winzige, kleine Lächeln, das sich einen Augenblick um ihren Mund zeigte, war ein Pflichtlächeln, das die Augen nicht erreichte.

„Ich werde euch in Norwegisch, Englisch und Geschichte unterrichten“, sagte nun Fräulein Mosgard. „Nehmt euer Schreibzeug heraus, damit ihr euch den Stundenplan notieren könnt.“

So geschah es. Da ich ziemlich schnell schreibe, hatte ich viele kleine Pausen, in denen ich Fräulein Mosgard betrachten konnte. Schon in diesen ersten Minuten überkam mich eine Art von Beklemmung. Ob wir wohl wirklich mit dieser ernsten Person in nähere Beziehung kommen würden?

Ihre Stimme war angenehm. Sie sprach leise, aber sehr deutlich. Nun sagte sie:

„Ich möchte jetzt eure Namen aufrufen, um euch kennenzulernen.“

Wir standen in der Reihenfolge auf, in der unsere Namen genannt wurden. Fräulein Mosgard warf einen Blick auf jede einzelne, nickte und ging weiter. ,Das ist doch barer Unsinn’, dachte ich. ,Durch eine solche Aufzählung kann sie sich doch nicht jeden Namen merken. Das wird sie erst allmählich lernen.’

Aber da irrte ich mich. Schon am nächsten Tag stellte sie hier und da in der Klasse

Fragen und redete uns mit dem Namen an. Nicht ein einziges Mal unterlief ihr ein Fehler. ,Lieber Himmel, so eine Gedächtniskünstlerin!’ dachte ich. Und das mußte ich Sonja zuflüstern.

„Sei so freundlich und paß auf, Gina! Warte mit deiner Privatkonversation bitte bis nach der Stunde!“ ertönte die kühle Stimme vom Katheder herunter. „Oder sprich laut, wenn es etwas ist, was die Klasse angeht!“

Plötzlich durchfuhr mich ein Gedanke. Wie wäre es, wenn ich erzählte, was ich gesagt hatte? Es war ja ganz harmlos – vielleicht konnte ich unsere neue Lehrerin dadurch zu einem Lächeln veranlassen? Ach was, ich wollte es wagen.

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„Nein, das hat mit der Klasse nichts zu tun, das betrifft im Grunde nur Sie“, antwortete ich. „Ich kann gut erzählen, was ich Sonja zugeflüstert habe. Ich meinte, Sie seien eine Gedächtniskünstlerin!“

Ein leichtes Erstaunen ging über das Gesicht von Fräulein Mosgard, aber dann war es wieder ebenso verschlossen wie zuvor.

„Danke für deine gute Meinung, doch ich lege mehr Wert darauf, daß du aufpaßt.“

,Meinetwegen’, dachte ich. ,Ich werde ganz gewiß keine weiteren Versuche machen, deine saure Miene ein wenig aufzuhellen!’

In der nächsten Stunde hatten wir Deutsch bei Studienrat Franzen. Er steckt immer voller Witz und Humor, und trotzdem gelingt es ihm, uns viel beizubringen. Es war eine wirkliche Freude, sein freundliches Gesicht vor sich zu sehen, nachdem wir eine Stunde lang Fräulein Mosgards ernste Blicke hatten ertragen müssen.

Aber dann dachte ich nicht mehr an die Schule und die Lehrer. Am Nachmittag sollten Geggi und ich zur Anprobe unserer Brautjungfernkleider gehen, und Assi sollte das Traumkleid anprobieren, in dem sie getraut werden wollte.

Es ist nun mal so, daß sie immer besonders schick aussehen muß, da sie doch ständig von Presse und den Leuten vom Film umgeben ist.

Zu Hause saß Torbjörn und studierte die Entwürfe zu dem Haus, das er und Assi bauen wollten.

„Es ist kein Kunststück, zu bauen, wenn man so viel Geld heiratet!“ lachte Torbjörn. „Du solltest eigentlich all dein Geld verlieren, Assi, so daß ich Gelegenheit bekäme, zu beweisen, daß ich dich liebe und nicht dein Geld!“

„Das glaube ich dir auch so“, gab Assi lächelnd zur Antwort. „Warum wollt ihr denn unbedingt bauen?“ fragte ich. „Das dauert

doch so endlos lange Zeit – einen Bauplatz habt ihr auch noch nicht! Warum wollt ihr nicht lieber ein Haus kaufen?“

„Es gibt nichts, was wir lieber täten!“ meinte Assi. „Aber kannst du mir jemanden nennen, der uns ein Haus verkaufen würde – so ein Haus, wie wir es uns wünschen?“

Nein, damit konnte ich nun doch nicht dienen, und so beugten sie sich wieder über die Entwürfe. Torbjörn aß jeden Tag bei uns zu Mittag. Er wohnte weit draußen vor der Stadt bei seiner Mutter. Es war viel zu weit, um zu Mittag nach Hause zu fahren, wenn er danach noch etwas in der Stadt zu tun hatte. Und daß dies der Fall war, das wußten sowieso alle, die ihn kannten! Bald würde es alle

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Welt wissen, denn in ein paar Tagen würde das Aufgebot der beiden in der Zeitung stehen. Tante Randi hatte schon die Wohnung auf Hochglanz gebracht. „Wenn das Aufgebot erst in der Zeitung gestanden hat, dann haben wir die Journalisten scharenweise hier“, seufzte sie, durch Erfahrung weise geworden.

Als dann tatsächlich bekannt war, daß Assi heiraten würde, ging das Gerede in der Klasse los.

„Gina, deine Schwester wird sich ja verheiraten! Gina, warum hast du das nicht erzählt? Wirst du Brautjungfer werden? Wann soll die Hochzeit sein? Du, kannst du mich nicht mit in die Kirche hineinschmuggeln? Wirst du ein neues Kleid zur Hochzeit bekommen? Welche Farbe, Gina? Wird deine Kusine auch Brautjungfer sein? Du, dann mußt du mir aber wieder ein Autogramm von deiner Schwester beschaffen, wo sie doch jetzt Hanning heißen wird. Oder wird sie sich auch künftig Rieger nennen? Gina, was ist dein Schwager? Du, wie lange sind sie verlobt gewesen?“

Die Fragen hagelten nur so auf mich nieder, ich antwortete nach allen Richtungen. Alle meine Klassenkameradinnen schwärmten ja für Assi. Alle hatten ihren Namenszug in ihren Autogrammbüchern, dafür hatte ich schon sorgen müssen. Die meisten hatten auch ihre Stimme auf Schallplatten, und viele besaßen Ausschnitte von Interviews und Kritiken.

Die Klasse war hoch begeistert. Während all dieser Fragen läutete es zur ersten Stunde, und da stand auch schon Fräulein Mosgard in der Tür. Unsere Münder schlossen sich, und von unseren Gesichtern schwand die Heiterkeit. Ja, so wirkte sie auf uns – sie dämpfte jede Freude!

Aber trotz allem glückte es mir nicht, mich ganz im Zaum zu halten, bis es zur Pause läutete. Da gab es noch etwas, was ich vergessen hatte, Sonja zu erzählen.

„Du, Assi und Torbjörn werden sich ein Haus bauen, und ich soll ein ganzes kleines Appartement bekommen…“

„Gina Rieger, dies ist nun schon das vierte Mal in wenigen Tagen, daß du im Unterricht sprichst. Jetzt muß ich zu einer Maßnahme greifen, damit du es endlich lernst!“

Damit machte sie sich daran, mich in das Klassenbuch zu schreiben. Ich erschrak. Das waren ja schöne Aussichten; da sollte ich Assi mit einem Tadel unter die Augen treten, mitten zwischen Presseleuten, Fotografen und Packerei – denn morgen sollte sie zu

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ihrem Gastspiel nach Berlin abreisen. Vertrag war Vertrag! Ich ärgerte mich und war zornig, und so geschah das, was leider

oft bei mir geschieht: Ich sprach laut aus, was ich dachte, ohne daß ich es eigentlich wollte:

„Das ist doch wohl nichts, was man so schrecklich ernst nehmen müßte!“

Es war wirklich nicht meine Absicht, vorlaut zu sein. Frau Kramer hätte mir nie im Leben für so etwas einen Tadel gegeben! Ich weiß genau, was sie getan hätte. Sie hätte gelächelt und resignierend den Kopf geschüttelt, und dann hätte sie gesagt: „Na, du kleine Plaudertasche, versuche doch, dich zusammenzunehmen bis zur Pause – oder ist dir die Hochzeit deiner Schwester so in den Kopf gestiegen, daß er überläuft?“ Dann hätte ich um Entschuldigung gebeten, und alles wäre in Ordnung und die Stimmung in der Klasse ausgezeichnet gewesen.

Nein, vorlaut wollte ich gar nicht sein, ich war nur aufgeregt und unglücklich, und diese gräßliche Humorlosigkeit von Fräulein Mosgard ging mir tatsächlich an die Nerven.

Aber das Ergebnis war, daß ich am Nachmittag dieses Tages Assi als Abschiedsgruß diesen reizenden Tadel vorzulegen hatte:

„Gina hat den Unterricht mehrmals durch nicht zur Sache gehörige Bemerkungen gestört und obendrein eine vorlaute Antwort gegeben.“

Ich hätte Fräulein Mosgard umbringen können! Dieses Scheusal! Zu Hause stand alles köpf. Assis Flugzeug sollte in drei Stunden

starten. Den ganzen Vormittag war eine wahre Invasion von Presseleuten im Haus gewesen. Tante Randi kochte sozusagen mit einer Hand das Mittagessen und packte mit der anderen Assis Koffer. Assi weinte ein Tränchen, weil sie sich von Torbjörn trennen mußte, und noch ein weiteres dazu, weil sie vor Nervosität bebte. Die arme Assi, sie wird ihr Lampenfieber nie verlieren! Das fängt in dem Augenblick an, wo sie von zu Hause abreist, und gibt sich nicht, bevor sie auf der Bühne steht und nach dem zweiten Akt den Applaus entgegennimmt.

Assi jetzt mit dem blöden Strafzettel belästigen? Nie im Leben! Es sollte gehen, wie es mochte.

Diesmal begleitete ich meine Schwester nicht zum Flugplatz. Assi umarmte mich daheim herzlich und flüsterte mir gute, zärtliche Worte ins Ohr, und dann fuhr Torbjörn sie nach Fornebu.

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Es war Tante Randi, die den Tadel unterschrieb. Ich erzählte ihr die ganze Geschichte, wie widerwärtig und eiskalt Fräulein Mosgard war und was sie als vorlaute Bemerkung bezeichnet hatte. Außerdem berichtete ich auch, wie die ganze Klasse mich nach Assis Hochzeit ausgefragt hatte und daß es äußerst schwierig war, von diesem interessanten Thema auf englische Verben umzuschalten.

Tante Randi seufzte, sprach die ermahnenden Worte, die hier gesagt werden mußten, und schrieb mit ihrer schönen, deutlichen Handschrift ihr „R. Nathansen“ unter die schicksalsträchtigen Zeilen.

Das war allerdings ein winzigkleiner Schwindel. Wir hatten nämlich mit dem Direktor vereinbart, Assi dergleichen Unheil vorzulegen, wenn sie zu Hause sei. Nur, wenn sie auf Reisen war, nahm die Schule Tante Randis Unterschrift an.

Aber Assi war doch tatsächlich abgereist, als Tante Randi unterschrieb. Dies war wohl das, was man einen Grenzfall nennt!

Dann kam Torbjörn von Fornebu zurück und aß mit Tante Randi und mir zu Abend, ehe er nach Hause fuhr.

„Du mußt einmal an einem Wochenende mit zu mir nach Hause kommen, Gina, und meine Mutter begrüßen“, sagte er. „Sie hat nach Assis kleiner Schwester gefragt und möchte dich gern kennenlernen. Vor allem, nachdem ich ihr von all unseren Erlebnissen im Sommer erzählt hatte. Sollen wir Geggi bitten, mit uns zu kommen?“

„Großartig!“ rief ich. „Ich freue mich auch, mit deiner Mutter zusammenzukommen, Torbjörn. Sind ihre Söhne ihr ähnlich?“

„Man behauptet es“, lächelte Torbjörn. „Aber sie ist trotzdem ganz reizend.“

„Unglaublich!“ erwiderte ich. In dieser unruhigen Zeit hatte sich keine Gelegenheit für mich

ergeben, Torbjörns Mutter kennenzulernen. Assi war ein einziges Mal draußen bei ihr gewesen, und es war klar, daß sie damals allein hingehen wollte, das heißt nur mit Torbjörn. Sie hatte gestrahlt, als sie zurückkam, und hatte erzählt, daß ihre Schwiegermutter die reizendste Frau auf dieser Erde sei.

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Zwischenfall in der Schule Am nächsten Morgen ging ich recht niedergeschlagen zur Schule. Vor uns lagen zwei freudlose Stunden in Norwegisch und eine langweilige Geschichtsstunde. Ach, der Unterricht machte keinen Spaß mehr! Ja, die Stunden bei Studienrat Franzen waren ein Vergnügen, und Studienrat Vangen, den wir in Mathematik und Physik hatten, war auch ganz in Ordnung. Aber wehe, wenn unsere neue Klassenlehrerin da war!

Natürlich fragte sie mich sofort nach dem Tadel. Ich ging nach vorn und legte ihr das Formular vor.

„R. Nathansen“, las sie. „Wer ist denn das, Gina?“ „Das ist unsere Wirtschafterin“, sagte ich. „Das kann ich nicht anerkennen. Warum hat niemand von deinen

Eltern unterschrieben?“ Da schoß eine heiße Welle in mir hoch, eine Welle der Wut, des

Schmerzes, der Verletztheit. Ich weiß nicht, was ich gesagt hätte, wenn mich nicht plötzlich die Tränen überwältigt hätten.

„Weil sie tot sind!“ Diese Worte brachte ich noch heraus, und dann kamen die Tränen, so ungestüm, wie ich es seit vielen Jahren nicht erlebt hatte. Ich weinte so fassungslos, so ohne jedes Maß, und hatte nur noch ein einziges Gefühl: Ich will fort, fort von dem kalten Blick dieser Frau, ich muß allein weinen dürfen. Ehe ich es selbst wußte, war ich aufgestanden, war zur Tür getaumelt, hatte sie aufgerissen – und dann verbarg ich mich hinter dem Kleiderständer im Flur und weinte, weinte ohne Ende.

Ich konnte selbst nicht begreifen, woher dieser plötzliche Tränenausbruch kam. Natürlich war es unbeschreiblich schrecklich, an den damaligen plötzlichen Tod von Mutter und Vater zu denken. Aber dieses Unglück war doch schon vor fünf Jahren geschehen. Seit damals hatte ich es wieder gelernt, zu lachen und mich über so mancherlei zu freuen. Ich war doch nicht unentwegt von der Trauer um Mutter und Vater erfüllt. Auch konnte ich jetzt ganz gut von ihnen sprechen, ohne daß es weh tat. Oft sagte ich: „das hat mir Mutti erzählt“, oder: „immer, wenn ich mit Vati einen Ausflug machte“. Die Erinnerung an beide tat nicht mehr so weh wie in der ersten Zeit nach ihrem Tod.

Aber diese kühle, fast unbarmherzige Frage Fräulein Mosgards und ihr kalter Blick – das war eben zuviel für mich gewesen. Mutti

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und Vati, das war eine wunderschöne Erinnerung, etwas unendlich Gutes, das früher mir gehörte. Etwas Herrliches, das mir einmal zu eigen war. Etwas Heiliges, hätte man beinahe sagen können. Mutti und Vati, die waren im Himmel, und manches Mal, wenn ich etwas wirklich Vergnügliches und Schönes erlebte, hatte ich das Gefühl, daß sie mich sahen und mir zulächelten und froh waren, weil ihr Kind es gut hatte.

Aber Mutti und Vati waren nichts Irdisches mehr, nichts, wovon eine kalte, strenge, widerwärtige Lehrerin mit strenger und unversöhnlicher Stimme sprechen durfte!

Ich putzte mir die Nase und trocknete meine Augen, zuweilen schluchzte ich noch einmal, und dann spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter.

„Nun, Gina, was ist mit dir los, mein Mädchen?“ Das war eine gute und freundliche Stimme – die Stimme des

Direktors. „Hat es Unannehmlichkeiten in der Klasse gegeben? Bist du

hinausgeschickt worden?“ Ich schüttelte den Kopf. „N-nein. Ich bin von selbst gegangen. Weil – weil ich weinen

mußte – und ich wollte doch nicht, daß Fräulein Mosgard das sehen sollte.“ – Und schon fingen die Tränen wieder an zu fließen!

Der Direktor legte den Arm um meine Schultern. „Besser, du kommst mit mir in mein Zimmer, Ginakind. Da

kannst du ungestört noch ein bißchen weinen, und vielleicht können wir auch einen vernünftigen kleinen Schwatz halten. Geh voraus, ich komme gleich.“

Der Direktor ging fort, auf unser Klassenzimmer zu. Im gleichen Augenblick, da er die Hand auf die Klinke legte, wurde die Tür von innen geöffnet. Ich sah einen Schimmer von Fräulein Mosgards blauer Bluse und hörte, daß sie und er ein paar leise Worte wechselten. Dann wurde die Tür wieder zugemacht, und kurz darauf saß ich vor unserem Direktor auf dem Stuhl, auf dem ich schon früher ein- oder zweimal gesessen hatte. Damals allerdings war ich hier gewesen, um Strafpredigten anzuhören, die, nebenbei gesagt, wohlverdient gewesen waren. Im übrigen war es zum Glück schon lange her, daß ich aus diesem Grunde im Zimmer des Direktors gesessen hatte.

Der Direktor faßte mit der Hand in die Schreibtischschublade. „Schau, da ist ein Paket Papiertaschentücher. Das, was du da hast,

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ist ja schon ganz naß.“ Ich putzte mir die Nase. „Tausend Dank! Ich glaube nicht, daß ich sie noch brauche.“ „Bist du ruhig genug, damit wir uns jetzt ein wenig unterhalten

können?“ „Ja – aber gewiß.“ Ich schnüffelte wieder. „Willst du mir erzählen, was vorhin geschehen ist?“ „Es war, weil Tante Randi – ich meine, Frau Nathansen…“ „Die Haushälterin“, nickte der Direktor. „Ja, sie hatte also einen Tadel unterschrieben, weil meine

Schwester in Berlin ist. Und dann wollte Fräulein Mosgard ihn nicht anerkennen – und so fragte sie, warum denn nicht Mutti oder Vati unterschrieben hätten.“ Ich merkte, daß es schon wieder um meinen Mund zuckte.

„Aber, Gina, du weißt doch, es kommt in der Schule vor, daß Schüler sich nicht getrauen, den Eltern einen Tadel vorzulegen. Fräulein Mosgard kennt dich ja noch nicht so genau. Ich finde, diese Frage war nicht so unangebracht.“

„Nein, aber – aber – es war die Art und Weise, wie sie fragte – und dann – ich weiß eigentlich selbst nicht, aber es tat plötzlich so schrecklich weh.“

Der Direktor schwieg ein Weilchen. „Natürlich ist es mein Fehler, daß ich Fräulein Mosgard die

Verhältnisse bei dir nicht erklärt habe. Ich werde ihr gleich sagen, daß wir Frau Nathansens Unterschrift anerkennen, wenn deine Schwester nicht zu Hause ist. Ich nahm übrigens an, daß deine Schwester mitten in den Vorbereitungen für ihre Hochzeit steht – ich sah doch gestern das Aufgebot in der Zeitung.“

„Ja, bei uns kommt eben alles auf einmal, das Gastspiel in Berlin und die Hochzeit und die Frage, was aus mir werden soll, und dann noch der Tadel!“

„Ja, der Tadel, in der Tat. Was hattest du denn da angestellt, Gina? Warst du wieder schwatzhaft?“

Der Direktor fragte mit einem leichten Lächeln. „Sicher war es so. Aber es war so schwierig, zu schweigen, denn

alle in der Klasse hatten das Aufgebot in der Zeitung gesehen, und sie fragten und riefen durcheinander. Ich hatte ja auch so eine Menge zu erzählen. Seit langem schon plagten mich die Neuigkeiten, aber ich hatte Assi versprochen, daß ich keinen Ton sagen würde, ehe die Verlobung nicht offiziell bekanntgegeben sein würde. Und so kam

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gestern morgen alles auf einmal zusammen. Es war so furchtbar schwer, ganz plötzlich zu schweigen, als es zur Stunde läutete.“

„Es ist dir also auch nicht gelungen“, sagte der Direktor. Das gute, leise Lächeln lag weiterhin auf seinem Gesicht. „War das alles?“

„Nein – eigentlich nicht – das heißt, das Schlimmste kam hinterher.“

Ich holte tief Atem und berichtete von meinem Ausbruch, den Fräulein Mosgard als vorlautes Benehmen bezeichnet hatte.

„Du hattest also nicht die Absicht, vorlaut zu sein, Gina?“ fragte der Direktor nach einer kleinen Pause.

„Nein, ganz und gar nicht, auf Ehrenwort! Es brach einfach so aus mir heraus. Frau Kramer hätte das nie im Leben vorlaut genannt, und außerdem hätte sie mir auch keinen Tadel gegeben!“

„Meinst du? Was glaubst du denn, was Frau Kramer wohl in dieser Lage gemacht hätte?“

„Sie hätte sicher gelächelt und mich eine hoffnungslose Schwatzbase genannt. Aber dann hätte sie zu Assis Glück gratuliert und ein wenig nach den Hochzeitsplänen und dergleichen gefragt. Ja, und anschließend hätte sie gesagt, das alles sei sehr interessant, und ich solle noch mehr erzählen, nur solle ich es nun auf englisch tun – und so wären wir ganz unvermittelt zu unserem englischen Unterricht gekommen.“

Der Direktor schwieg wieder. Seine Augen ruhten auf mir. „Ihr hattet Frau Kramer gewiß sehr gern“, sagte er dann. „Ja, sehr! Sie ist sehr nett, und obgleich sie so lustig und

kameradschaftlich ist, haben wir doch allen Respekt vor ihr!“ „Ich verstehe. Und nun scheint es euch schwerzufallen, euch mit

einer neuen Lehrerin abzufinden?“ „Ja“, erwiderte ich nur und verbarg in mir eine ganze Menge

Dinge, die ich gern gesagt hätte. „Das ist natürlich auch für euch schwierig“, erwiderte der

Direktor. „Aber nun möchte ich dich bitten, Gina, über die Situation nachzudenken, und du kannst das gern auch mit deinen Klassenkameradinnen besprechen. Ihr müßt mit einem einzigen, bisher fremden Menschen Kontakt finden, mit einer einzelnen Persönlichkeit. Dieser eine Mensch steht aber vor der sehr viel größeren Schwierigkeit, Kontakt mit achtundzwanzig völlig fremden Menschen zu bekommen – achtundzwanzig Teenagern, achtundzwanzig verschieden veranlagten Mädels, achtundzwanzig

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zum Teil ausgelassenen Wildlingen. Denk darüber nach, Gina. Das ist sehr viel schwerer für Fräulein Mosgard als für euch.“

„Daran habe ich, ehrlich gesagt, noch nicht gedacht“, gab ich zu. „Nein, Gina, darum tu es jetzt. Ich werde Fräulein Mosgard auch

gleich erklären, daß es sich bei dir sozusagen um einen besonderen Fall handelt und daß es mit Frau Nathansens Unterschrift seine Richtigkeit hat.“

Ich biß auf meine Lippen – da war etwas, was ich so gern gesagt hätte. Ach was, ich wollte es wagen:

„Darf ich Sie um etwas bitten?“ „Ja, selbstverständlich!“ „Es handelt sich nur darum, daß – daß – es gibt so viele dumme

Menschen, die glauben, sie müßten mich bedauern. Ich erlebte es einmal im vergangenen Sommer, daß eine Dame mich unendlich bemitleidete, weil ich von einer so ,unzuverlässigen Künstlerin’ abhängig sei, wie sie sagte. Aber Assi ist nicht unzuverlässig! Sie ist der beste Mensch auf der Welt und ist unsagbar gut zu mir. Deshalb gibt es nicht den geringsten Grund, mich zu bemitleiden!“

Der Direktor nickte. „Ich kenne doch deine Schwester!“ sagte er. „Sie ist eine große

Künstlerin, Gina, und sie ist wohl der letzte Mensch auf der Welt, den ich unzuverlässig nennen würde.“

Da fühlte ich selbst, daß sich ein glückliches Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. Ich hätte den Direktor in diesem Augenblick umarmen können!

„Ich bin froh, daß Sie dies sagen! Aber das, worum ich Sie bitten wollte, war auch…“

„… daß ich Fräulein Mosgard dazu bringen soll, zu verstehen, daß du ein gutes Heim bei einer einzigartig feinen Schwester hast und daß du von einem erwachsenen, verantwortungsbewußten Menschen eine gute Erziehung genießt.“

„Ja, genau das! Sie drücken es nur sehr viel besser aus, als ich selbst es könnte! Ich möchte so gern, daß Fräulein Mosgard und alle anderen dieses begreifen. Wenn ich etwas Verkehrtes tue, so ist das nicht wegen, sondern trotz meiner Erziehung! Ich werde immer wütend, wenn jemand das Klagelied anstimmt: ,Die arme Kleine, sie ist wohl von ihrer Schwester vernachlässigt worden.’ Oder: ,Da war nichts Besseres zu erwarten, sie hat ja nur so eine Künstlerin, an die sie sich halten kann.’ Können Sie verstehen, daß ich da böse werde?“

Der Direktor sah mich mit einem gütigen Blick an.

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„Ja, Gina, das verstehe ich. Aber versteh du auch folgendes: Du mußt dir immer Mühe geben, dich so zu benehmen, daß…“

„… daß die Leute nicht anfangen, mich zu bedauern!“ sagte ich. „Ja, das weiß ich. Hätte ich nicht unaufhörlich daran gedacht, so wäre ich noch sehr viel schlimmer geworden, als ich es schon bin!“

„Der Himmel bewahre uns“, lachte der Direktor. „So, kleine Gina, nun kannst du – hoppla, jetzt läutet es zur Pause. Ich verspreche dir, mit Fräulein Mosgard zu reden, und du versprichst, ein wenig auf deine Klassenkameradinnen einzuwirken. Soll das eine Abmachung sein?“

„Ja“, erwiderte ich und gab dem Direktor die Hand. „Und tausend Dank für alles miteinander – ich ahnte gar nicht, daß es so schön sein könnte, im Büro des Direktors beichten zu dürfen!“

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Die norwegische Stunde Am nächsten Morgen raste ich wieder in aller Eile zur Schule. Obwohl Tante Randi mich immer rechtzeitig weckt und mich ständig ermahnt, nicht zu spät zum Unterricht zu kommen, laufe ich immer im letzten Augenblick aus dem Haus und stürze mit baumelnder Schultasche und offenem Mantel davon.

Also, in diesem Zustand kam ich keuchend eine Minute vor dem Läuten an. Vor der Schulpforte hielt ich plötzlich inne. Da stand wahrhaftig Fräulein Mosgard!

Mitten im Lauf bremste ich, blieb stehen und brachte so etwas wie einen Knicks zustande.

„Guten Morgen, Gina.“ Es kam eine kleine Pause, und dann räusperte sich Fräulein Mosgard.

„Ich bedaure, daß ich dich gestern verletzt habe, Gina. Ich möchte dich um Entschuldigung bitten.“

Vor Erstaunen schluckte ich mindestens dreimal, erst dann konnte ich mich aufraffen, etwas zu sagen.

„Ach, das – das ist in Ordnung, Fräulein Mosgard. Sie konnten ja nicht wissen, daß ich ein – ein Sonderfall bin, wie der Direktor sagt.“

„Nein, das ahnte ich wirklich nicht. Aber nun weiß ich es. So, da läutet es, jetzt müssen wir uns beeilen.“

Gesegnete Schulglocke! Ich hatte keine Ahnung, was ich noch hätte sagen können, wenn wir nicht unterbrochen worden wären.

Ein paar Minuten später war ich auf meinem Platz in der Klasse, gerade rechtzeitig genug, ehe Studienrat Vangen zur Mathematikstunde hereinkam.

Am Tag zuvor war nichts aus meiner Absicht geworden, mit den Klassenkameradinnen zu reden. Aber inzwischen hatte ich über alles, was der Direktor gesagt hatte, nachgedacht. Ob ich wohl doch ein bißchen dazu beitragen konnte, die Beziehungen zwischen Fräulein Mosgard und uns zu verbessern?

Es war wirklich kein Kunststück, die Klassenkameradinnen in der großen Pause um mich zu versammeln! Sie kamen höchst freiwillig, und unaufhörlich prasselten ihre Fragen wegen Assi auf mich nieder. Ob sie jetzt aufhören würde zu singen. Oder zum mindesten mit den Gastspielen Schluß machen würde. Ob ich weiterhin bei ihr wohnen würde. Ob es ihr vielleicht gelingen würde, ein festes Engagement in Oslo zu bekommen. Und denkt euch nur, wenn sie nun ein Baby

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bekäme, dann müßte sie ja aufhören! Und wo würden wir wohnen? „Macht mal ein wenig Pause!“ lachte ich. „Ich werde später das

alles beantworten, aber jetzt muß ich mit euch über etwas Wichtiges sprechen. Nämlich über Fräulein Mosgard.“

„Diese widerliche Person! So ekelhaft, wie sie gestern war! Du kannst dich darauf verlassen, daß sie merken soll, was wir von ihr halten. Wir werden dasitzen wie achtundzwanzig Eiszapfen, wenn sie sich zeigt!“

„Siebenundzwanzig“, sagte ich. „Ich lege keinen Wert darauf, ein Eiszapfen zu sein. Aber nun hört mal her: Ihr wißt doch, daß ich gestern bei unserem Direktor war. Er versprach mir, mit Fräulein Mosgard zu sprechen, und ich versprach ihm, mit der Klasse zu reden. Im übrigen kann ich euch berichten, daß Fräulein Mosgard heute morgen vor der Schultür auf mich gewartet und mich um Entschuldigung gebeten hat.“

„Nun schlägt es aber Dreizehn!“ rief Berit. „Wenn nicht Fünfundzwanzig!“ sagte Lillian.

„Durchaus nicht!“ versicherte ich. „Aber hört mir nun einen Augenblick zu. Es war nämlich gar nicht so dumm, was der Direktor sagte.“

Nun versuchte ich, so wörtlich wie möglich wiederzugeben, was der Direktor mir erklärt hatte. Daß es wohl für uns schwer sei, uns auf einen einzigen uns bisher fremden Menschen einzustellen, aber für Fräulein Mosgard sei es viel schlimmer, denn sie müsse sich doch auf achtundzwanzig Neue einstellen – abgesehen von all den anderen Klassen, die sie unterrichtete. Aber bei uns war sie eben Klassenlehrerin.

„Schön, aber sie tut doch auch nichts dazu, mit uns gut Freund zu werden!“ warf Sonja ein.

„Vielleicht kann sie nicht“, sagte ich. „Vielleicht hat sie – wie nennt man das doch nur?“

„Hemmungen“, schlug Sissel vor. „Genau das meinte ich eben. Und was wir auch immer haben

mögen, Hemmungen haben wir jedenfalls nicht. Darum meine ich also, der eine Teil muß seinen guten Willen zeigen, und wenn sie es nicht fertigbringt, so wollen wir es versuchen!“

„Vielleicht hat sie nicht die geringste Lust, mit uns gut Freund zu sein“, gab Giske zu bedenken.

„Das ist ja möglich“, mußte ich zustimmen. „Aber können wir es nicht versuchen? Sozusagen aus Sportsgeist? Denn wir wollen doch

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gern mit unserer Lehrerin auf gutem Fuße stehen. Wäre es nicht großartig, wenn es uns gelänge, sie zu ändern?“

„Du Optimistin!“ Sonjas Worte klangen recht skeptisch. „Aber nun mal ernsthaft gesprochen. Wollt ihr dabei

mitmachen?“ „Was mich betrifft, gern“, versicherte Berit. „Aber was sollen wir

denn nach deiner Ansicht dabei tun?“ „Ja…“ Jetzt wurde ich unsicher. „Freundlich gegen sie sein. Ihr

zulächeln. Und zeigen, daß wir aufpassen – nicht in den Stunden schwatzen…“

Hier wurde ich durch schallendes Gelächter unterbrochen. „Das sagst ausgerechnet du, Gina!“ lachte Giske. „Du, die du

doch die schlimmste Schwatzbase in der ganzen Klasse bist!“ Da mußte ich auch lachen, und aus dem ernsthaften Gespräch

wurde nichts mehr. Aber ich hatte jedenfalls das getan, worum der Direktor mich

gebeten hatte. Nun mußte es sich zeigen, wie die Sache klappen würde.

In der norwegischen Stunde fingen wir an, Ibsens „Nordische Heerfahrt“ zu lesen. Fräulein Mosgard erzählte zunächst von der Sage, die der Geschichte zugrunde lag, und während sie sprach, fiel mir plötzlich etwas ein. Ich streckte die Hand in die Höhe.

„Nun, Gina, möchtest du etwas fragen?“ „Ja – es kam mir plötzlich der Gedanke, daß dies dem

Nibelungenring gleicht – bei Ibsen heißen die Helden Sigurd und Gunnar, bei Wagner heißen sie Siegfried und Gunter – und beide, Ibsen und Wagner, haben das Motiv benützt, daß ein Mann eine mutige Tat vollbringen muß, um eine Frau zu gewinnen. Sigurd muß den Bären töten, um zu Hjördis zu gelangen, und Siegfried muß durch den Feuerkreis auf dem Felsen dringen, um Brünnhilde zu erreichen. Nun möchte ich gern wissen, ob Wagner das auch der Eddasage entnommen hat.“

Tatsächlich! Ein lebhafter Ausdruck kam in Fräulein Mosgards Augen, und sie lächelte.

„Da spricht wohl die Schwester der Wagnersängerin“, sagte sie. „Doch, du hast recht, Gina. Wagner hat sowohl die Eddasage als auch die Wölsungensage benutzt und außerdem noch einen großen Teil des alten deutschen Nibelungenliedes. Und den Ring – den Ring der Nibelungen, weißt du – , den finden wir auch bei Ibsen wieder. Den Ring, den Hjördis dem Sigurd gibt und den er dann seiner

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Gemahlin Dagny weiterschenkt.“ Ich überlegte. „Aber Wagner muß dann doch alles ein wenig

durcheinandergebracht haben“, fand ich. „Das ist schon möglich, aber du weißt, da er so viele verschiedene

Quellen benutzte, war es kaum anders zu erwarten.“ „Das Ergebnis ist jedenfalls großartig“, sagte ich. „Kennst du den ganzen Nibelungenring?“ fragte Fräulein

Mosgard. „Ehrlich gesagt, nein“, erwiderte ich. „Ich kenne nur die Rolle der

Brünnhilde, aber die kenne ich so gut, daß ich sie geradezu singen könnte, wenn ich eine Stimme gehabt hätte! Denn die Rolle übte Assi in den Sommerferien, und ich wurde morgens geweckt mit ,Heil dir, Sonne, Heil dir, Licht’ und zum Mittagessen hereingerufen mit ,Ho-jo-to-ho’.“

Jetzt lächelte Fräulein Mosgard wirklich. „Wir fahren nun in der Vorlesung fort“, sagte sie. „Vielleicht

fallen uns dabei noch verschiedene Vergleichspunkte mit den Nibelungen auf. Ja, als Schwester der Brünnhilde bekommst du Hjördis zu lesen, Gina – Giske liest den Örnulf; Turid, du kannst dich an Sigurd versuchen – du, Lillian, nimmst Gunnar, und Sonja liest die Dagny.“

So lasen wir denn, und es war, als ob unsere Plauderei einen winzig kleinen Spalt in den Eispanzer geschlagen hätte, mit dem Fräulein Mosgard sich umgeben hatte.

,Wer weiß’, dachte ich, ,vielleicht gelingt es uns mit der Zeit doch noch, unsere böse Sieben zu zähmen.’

Aus irgendeinem Grund tat sie mir plötzlich leid. Als ich mittags die Schule verließ, hörte ich plötzlich den Ruf:

„Hei, Gina!“ Ich wandte den Kopf. Wahrhaftig, da stand Torbjörns Wagen,

drei Meter vor dem Schultor. „Sei mir gegrüßt! Kommst du, um mich abzuholen?“ „Du kannst gut kombinieren, holde Schwägerin!“ lachte Torbjörn.

„Ja, doch, ich wollte dich abholen, und vor allem wollte ich dir berichten, daß Assi gestern einen riesigen Erfolg hatte; sie rief heute morgen an, gleich nach Durchsicht der Kritiken. Ferner habe ich mich bei Frau Nathansen erkundigt, was sie zum Mittagessen kocht…“

„Koteletts“, sagte ich. „Du willst also bei uns essen?“

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„So ist es. Denn gleich nach dem Essen muß ich auf die entgegengesetzte Seite der Stadt und mir ein Grundstück anschauen. Kommst du mit?“

„Ja – nein – das heißt, Geggi kommt heute nachmittag; da war etwas, was sie so sehr gern im Fernsehen sehen wollte. Du weißt ja, daß sie zu Hause kein Fernsehen hat…“

„Ja, dann muß ich eben ohne dich fertig werden. Hüpf hinein, dann fahren wir. Übrigens reise ich nächste Woche nach Berlin.“

„Wenn ich mir das nicht gedacht hätte!“ „Ja, es war Pech, daß ich diese Woche nicht loskommen konnte.

Ich steckte ja bis über die Ohren in einem Prozeß, aber jetzt dämmert es so ein wenig – Mittwoch oder Donnerstag fliege ich zu Assi und bleibe über den Sonntag. Was soll ich dir mitbringen?“

„Einen Perlonpyjama mit Haremshosen in Schockfarben“, sagte ich. „Todschick, habe so etwas eben in einer deutschen Zeitschrift gesehen.“

„Schön. Solange du nur nicht verlangst, daß Assi sich etwas so Verrücktes anzieht.“

„Bist du noch zu retten? Assi und Schockfarben! Assi ist dazu geboren, Pastellblau, Silbergrau und Weiß zu tragen!“

„Einverstanden. Um auf etwas anderes zu kommen: Wollt ihr beiden, du und Geggi, morgen mit zu meiner Mutter fahren? Bleibt doch dort bis Montag morgen, dann könnt ihr mit mir zusammen zurück in die Stadt kommen.“

„Jederzeit, Torbjörn! Feine Sache!“ Schon waren wir zu Hause, und der Duft der gegrillten

Hammelkoteletts war schon im Flur zu riechen.

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Tante Karen Man hatte beinahe eine Stunde bis Blaubotten zu fahren, wo Torbjörn und seine Mutter wohnten. Mit der Kraftpost dauere es fünf Viertelstunden, erzählte Torbjörn, jedenfalls war es so, als er noch zur Schule ging.

„Der Himmel bewahre mich, so zeitig mußtest du damals aufstehen“, sagte ich voller Mitleid.

„Das ist alles Gewohnheit“, lächelte Torbjörn. „Und über die Kraftpost will ich kein einziges herabsetzendes Wort hören. Denn ihr habe ich es zu danken, daß ich das Abitur bestand, sogar ein recht gutes Abitur.“

„Wieso?“ fragte ich. „Na, denk doch daran, was fünf zusätzliche Viertelstunden zum

Durchlesen von Aufgaben bedeuten!“ erwiderte Torbjörn. „Wenn du ahntest, was ich an französischen Vokabeln und mathematischen Formeln und Geschichtszahlen in der Kraftpost gepaukt habe! Ich verstehe eigentlich überhaupt nicht, wie es möglich ist, das Abitur ohne Kraftpost oder einen Vorstadtzug zu schaffen! übrigens fährt die Kraftpost jetzt schneller, nicht mehr über eine Stunde bis zur Stadt.“

„Ja“, sagte ich. „Ich muß zugeben, daß ich hier und da auch so eine Kraftpost nötig hätte – aber schrecklich, so früh aufstehen zu müssen!“

„Ganz einfach. Man geht eine Stunde früher zu Bett, als man es sonst täte!“

„Ja, das klingt ganz einfach!“ „Strenge nun nicht dein Gehirn damit an, Gina, vorausgesetzt, daß

du eins hast. Aua, nicht zwicken! Ihr sollt euch lieber umsehen. Ist es hier nicht sehr schön?“

Gewiß war es schön. Wir fuhren gerade jetzt an einem Wald entlang, einem Mischwald, und die rötliche Septembersonne warf einen wunderbaren Glanz über das bunte Laub und die dunklen Föhrenwipfel. Der eine oder andere Strahl drang bis auf den Waldboden, wo viele kleine gelbbraune Flecken leuchteten.

„Das sieht aus, als ob der Waldboden Sommersprossen hätte!“ rief ich.

„Sommersprossen – ach, du!“ lachte Geggi. „Das sind doch Pfifferlinge – was für eine Menge, am liebsten würde ich

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hinausspringen und sie pflücken!“ „Ihr könnt ja morgen auf Pilzsuche gehen“, schlug Torbjörn vor.

„Es ist ein reines Pilzparadies bei uns hier draußen!“ Jetzt tauchten die ersten Häuser von Blaubotten auf. Erst fuhren

wir an der Haltestelle der Kraftpost vorüber, dann an einem Selbstbedienungsladen und einer Bank. Und nun konnte man auch einige moderne Mietshäuser erblicken, die über die kleinen, alten Häuser hinausragten. So richtige Wohnmaschinen waren es mit viel Glas und schräg übereinander versetzten Baikonen, Häuser, die nüchterne Sachlichkeit ausströmten.

„In solch einem Haus möchte ich nicht wohnen“, sagte ich. „Ich auch nicht“, sagte Torbjörn. „Aber warte nur. Dies ist das

untere Blaubotten, bei uns im oberen Teil sieht es anders aus.“ Ja, es stimmte freilich, daß es dort anders war! Da gab es

Wohnhäuser für ein oder zwei Parteien, zum Teil Holzhäuser; manche sahen richtig alt aus, mit spitzen Giebeln und Veranden wie bei Schweizerhäusern, und alle besaßen einen Garten. Hier und da gab es einen Hühnerhof, Hundehütten und Kaninchenställe. Hier war es richtig idyllisch.

Torbjörns Wagen fuhr zwischen zwei großen Buchen hindurch und hielt vor der Tür eines ganz altmodischen, braungestrichenen Hauses, dessen Veranda mit Efeu und verblühten Clematis bewachsen war; an einer Wand des Häuschens lief eine Rosenrabatte entlang.

„Nein, so etwas Gemütliches!“ konnten Geggi und ich gerade noch sagen, ehe die Tür aufging und sich eine stattliche, grauhaarige Dame auf der Treppe zeigte.

Es war nicht schwer, zu sehen, daß dies Torbjörns Mutter war. Sie hatte dieselben Züge und den gleichen fröhlichen, ein wenig schelmischen Gesichtsausdruck.

„Fein, daß ihr gekommen seid, meine Mädelchen!“ lächelte sie und drückte uns die Hände. „Jetzt laßt mich mal sehen. Ja, du bist doch Gina, nicht wahr? Und da haben wir Geggi. Mir ist, als ob ich euch schon sehr gut kenne. Torbjörn hat mir so viel von euch erzählt – und Christen ebenfalls, von all den dramatischen Begebenheiten im letzten Sommer.“

„Recht vielen Dank dafür, daß Sie mich eingeladen haben“, sagte Geggi.

„Es schien mir eben, als ob da jemand sei, der hier ,Sie’ sagte“, lächelte Torbjörns Mutter. „Du liebes Mädel, wir werden ja bald zu

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derselben Familie gehören. Ich heiße Tante Karen, und damit ist das erledigt.“

Das Haus war von innen ebenso idyllisch wie von außen. Die Räume waren nicht groß, aber sehr gemütlich mit ihrer

altväterlichen Einrichtung. „Ja, viele von den Möbeln stammen von meinen Großeltern, hier

sind sogar noch ein paar Sachen von meinen Urgroßeltern“, erklärte Torbjörn. „Und das Haus ist siebzig Jahre alt!“

„Es gehörte meinen Eltern“, erzählte Tante Karen. „Als ich klein war, hatten wir weder ein Bad noch eine Spültoilette hier; wir hatten zwei Wasserhähne im ganzen Haus, einen in der Küche und einen in der Waschküche. Und das Häuschen mit dem Herzen war Wand an Wand mit dem Holzschuppen!“

„Und einen Kochherd für Holz und Petroleumlampen“, fuhr Torbjörn fort. „Aber in diesem Punkt sind wir inzwischen moderner geworden.“

Ja, das war Tatsache. Die Küche glänzte in weißlackierter Pracht mit Waschmaschine, Kühlschrank und Tiefkühltruhe in Reih und Glied, und in einem kleinen Raum hinter der Küche stand ein Heimbügler. Auch sonst war alles vorhanden, was man braucht, um eine große Wäsche schnell zu erledigen.

Als wir uns zu Mittag die Hände waschen wollten, wurden wir in ein großes, schönes Badezimmer geführt, das ganz mit Kacheln ausgelegt war. Es gab einen Korb für die Gästehandtücher, blanke Glasplatten und dicke, weiche Frotteematten.

Dann machten wir uns im Gastzimmer zurecht. Es war ein behaglicher Raum mit schrägem Dach und perlgrauen, spritzlackierten Möbeln.

„Das ist aber ein reizendes Haus“, sagte Geggi. „Und reizende Bewohner“, erwiderte ich. „Ja“, stimmte Geggi mir bei und überlegte einen Augenblick. „Ich

glaube, das hängt miteinander zusammen, Gina. Natürlich können sich alle Leute ein schönes Badezimmer und hübsche Möbel und eine moderne Küche anschaffen, wenn sie nur Geld haben. Aber Behaglichkeit bekommt man nicht für Geld! Die Behaglichkeit strahlt irgendwie von den Wänden und den Möbeln aus – weißt du, hier im Haus hat man gleichsam das Gefühl, als ob – als ob – ja, wie soll ich das nur ausdrücken?“

„… als ob hier liebe Menschen wohnen müßten“, ergänzte ich. „Oder glückliche Menschen.“

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„Genau so!“ sagte Geggi. „Das spürt man sofort, wenn man den Fuß über die Türschwelle setzt! Heißa, da ertönt doch ein Gong! Das bedeutet gewiß, daß wir zum Essen kommen sollen!“

Geggi hatte richtig vermutet. Der Gong summte noch leise, als wir die Treppe herunterkamen. Aus der Küche und dem Eßzimmer roch es appetitlich nach gebratenem Fleisch.

Bei Tisch unterhielten wir uns natürlich über Assi, die Hochzeit und die Zukunft, und über Assis Erfolg in Berlin. Die Hochzeit sollte bei uns zu Hause mit ganz wenigen Gästen gefeiert werden. Nur Onkel Paul und Tante Katrine, dann Tante Karen und Torbjörns Zwillingsbruder Christian, der Arzt in Geiterud, den wir letzten Sommer kennengelernt hatten. Und seine Frau, selbstverständlich. Und dann Geggi und ich.

„Wunderbar“, sagte ich. „Da sind wir wenigstens sicher, einen gemütlichen Abend zu verbringen! Ganz ohne langweilige Pflichtgäste. Und niemand, der in Ohnmacht fällt, wenn es mir gefallen sollte, einen Schneehuhnknochen in die Hand zu nehmen und abzunagen!“

„Das wäre äußerst verwunderlich“, meinte Torbjörn, „da wir vermutlich Rebhühner bekommen werden. Hoppla, Verzeihung!“

Er lief zum Telefon im Nebenzimmer. Da wir ihn sagen hörten: „Ja, mein Schatz“, war es uns ziemlich klar, daß es sich um ein Ferngespräch aus Berlin handelte.

Anschließend durfte ich mit Assi schwatzen, Geggi sagte auch geschwind ein paar Worte und wünschte Glück. Dann kam Tante Karen an den Apparat und sprach lange mit Assi. Zweifellos war meine liebe Schwester leichtsinnig im Umgang mit Geld, jedenfalls, wenn es sich um Telefongespräche handelte. In diesem Monat kam gewiß das Fernamt in Berlin zu einem imponierenden Überschuß!

Nachdem wir gegessen hatten, gingen wir mit Torbjörn hinunter in die „Unterwelt“, wie er es nannte. Das bedeutet, in das Kellergeschoß, das übrigens gar nichts mit einem Keller zu tun hatte, denn es lag über der Erde, in einer Höhe mit dem Garten. Hier hatte er seine Privatwohnung. Hatten wir oben schon über alles gestaunt, so machten wir jetzt Augen, groß wie Zinnteller!

Daß es überhaupt möglich war, so viel aus zwei Kellerräumen zu machen! Hier war alles ganz modern, von dem mit Kalbfell bezogenen Sessel bis zu dem weißen Fernsehapparat, von der Miniaturbar in einer Ecke bis zur Stereoanlage. Der andere Raum war ein sachlich und praktisch eingerichtetes Schlafzimmer, und

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dann gab es noch eine hypermoderne, praktische Teeküche und ein kleines Bad.

„Du bringst es wirklich fertig, hier auszuziehen?“ sagte ich. Torbjörn lachte. „Ja, denk nur, das kann ich. Christian machte es vor fünf Jahren

ebenso. Wir bewohnten diese Räume gemeinsam, verstehst du? Mutter sagte immer, daß sie recht gern ihre Jungen im Hause hätte, aber sie möchte nicht, daß wir ihr dauernd vor den Füßen herumlaufen wie damals, als wir klein waren. Zwei lange, ausgewachsene Mannsbilder sollten sich selbständig fühlen und ihr eigenes Leben führen. Also sprach meine kluge Mutter!“

„Aber sag mal, was macht Tante Karen mit diesen Räumen, wenn du ausziehst?“

„Tja, wer das nur wüßte! Sie hat davon gesprochen, sie zu vermieten, wenn sie eine ruhige, nette Dame finden kann. Aber du weißt ja, das ist ein wenig schwierig, so weit weg von der Stadt. Nun, irgend etwas wird sich schon ergeben; vielleicht vermietet sie auch an den einen oder anderen, der im unteren Blaubotten arbeitet. – Da ist übrigens gleich ein Kriminalstück im Fernsehen, wollt ihr das sehen? Ich habe nämlich das Gefühl, daß Mutter nichts dagegen hätte, einen kleinen Mittagsschlaf zu halten!“

Geggi war begeistert. Torbjörn stellte das Fernsehen ein, machte einen Abstecher in die kleine Küche und kam dann mit einer großartigen Kaffeemaschine zurück. Vor unseren Augen machte er Kaffee, zauberte aus einer Büchse gefüllte Kekse, und als die Krimisendung begann, waren wir bestens versorgt.

Ich achtete überhaupt nicht auf die Sendung, denn ich hatte etwas, worüber ich nachdenken mußte. Mir war eine Idee gekommen, die Idee aller Zeiten! Und wenn Torbjörn sie wieder als unbrauchbar bezeichnen würde, dann sollte er es mit mir zu tun bekommen! übrigens sollte er vorläufig nichts davon erfahren. Ich wollte lieber erst mit Tante Karen reden! Wenn sie und ich einig wurden, dann würde ich diesmal auf Torbjörns Meinung pfeifen und ausnahmsweise auch auf die von Assi!

Als ich oben Schritte hörte und annehmen konnte, daß Tante Karen wach war, schlich ich mich aus dem Zimmer, gerade, als der unschuldig Verdächtigte auf dem Bildschirm verhaftet wurde. Ich glaube nicht, daß Torbjörn und Geggi mein Verschwinden bemerkten.

Ich fand Tante Karen in der Küche. Sie hatte eben Wasser in das

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feine Abwaschbecken aus Stahl eingelassen. Ich ergriff ein Handtuch und fing an, Gläser zu polieren. Das Abtrocknen gehört nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, aber es war nett, Tante Karen zu helfen. Außerdem gibt es wohl keine bessere Gelegenheit für zwei Frauen, sich miteinander zu unterhalten, als wenn sie gemeinsam vor einem Aufwasch stehen.

„Ginakind, du brauchst mir doch nicht zu helfen.“ „Doch, Tante Karen, das möchte ich gern. Oder störe ich dich?“ „Aber nein, Kind! Es ist doch nett für mich, Gesellschaft zu

haben. Was machen denn Torbjörn und Geggi?“ „Sie trinken Kaffee und wetten, wer der Mörder ist!“ Als ich die

beiden verließ, hörte ich Geggi flüstern: ,Ich glaube doch, daß es der Stiefsohn war!’

Tante Karen lachte. „Nun, da sind sie ja vorläufig gut aufgehoben. Machst du dir denn

nichts aus Kriminalfilmen, Gina?“ „O doch, aber nicht gerade jetzt. Ich möchte viel lieber mit dir

plaudern. Du verstehst, bei Geggi daheim ist kein Fernsehen, aber wir haben ja eins, darum…“

„Ich verstehe. Nimm das blaukarierte Handtuch für das Silber, bitte. Was denkst du wohl, was Assi jetzt macht? Glaubst du, daß sie schon in der Oper ist?“

Ich sah auf die Uhr. „Sicher. Sie ist immer zeitig da. Vielleicht wird ihr eben jetzt die

Perücke aufgesetzt – kannst du übrigens raten, woher sie die hat?“ „Das kann ich nicht ahnen!“ „Von mir! Aus meinem Haar! Ich hatte langes Haar, bis ich

dreizehn Jahre alt war. Damals schnitt ich es ab, ohne jemanden um Erlaubnis zu fragen. Wäre Assi zu Hause gewesen, hätte sie mich verhauen, fürchte ich. Aber ich hatte eine solche Unmenge Haar, daß eine wunderbare Perücke daraus wurde. Assi sagte: ,Die bewahre ich mir auf, bis ich einmal die Elsa im Lohengrin singen werde.’“

Tante Karen lachte. „Bist du denn so eine schrecklich unartige Range, Gina?“ „Nicht so arg, wie du glaubst. In der Regel versuche ich, brav zu

sein, mindestens, wenn Assi zu Hause ist. Sie ist so lieb zu mir, daß ich ihr nicht gern weh tun möchte.“

Tante Karen nickte. „Ja, Assi ist ein großartiges Menschenkind, Gina, darüber bin ich

mir klar. Ich kann dir nicht sagen, wie froh ich bin, daß sie meine

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Schwiegertochter werden wird.“ „Ach, Tante Karen, ich muß dich einfach umarmen!“ „Bitte schön, bediene dich“, lachte Tante Karen, trocknete

möglichst schnell ihre Hände ab und erwiderte die Umarmung. „Aber es wird einsam für dich werden, wenn Torbjörn auszieht“,

sagte ich. Da glitt ein Schatten über Tante Karens liebes Gesicht. „Das wird es wohl, ja. Aber weißt du, ich kann mich einfach nicht

von dem Haus trennen. Meine Kinder sind hier geboren, und ich selbst bin auch schon hier aufgewachsen. Kannst du dir etwas so Merkwürdiges vorstellen, daß man sechzig Jahre alt wird und all die* Jahre nur ein einziges Heim gehabt hat? Es ist ja nicht so, daß ich nicht auch gern eine moderne kleine Wohnung hätte, zum Beispiel wäre ich recht gern mehr in der Nähe der Stadt. Aber daß das Haus nicht mehr der Familie gehören sollte, könnte ich mir nicht vorstellen. Nun ja, wir werden sehen. Vielleicht wird Christian es einmal übernehmen, er kann doch nicht sein ganzes Leben lang da oben auf Geiterud bleiben – oder vielleicht wird ein Enkelkind es einmal erben. Ja, ja, das wird die Zeit lehren.“

„Wirst du dann Torbjörns Wohnung vermieten?“ „Ja, es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben. Es ist möglich,

daß eine der Kassiererinnen im Selbstbedienungsladen im unteren Blaubotten die Wohnung nimmt – das wird sich noch zeigen. Am liebsten hätte ich ein wenig Jugend im Hause gehabt, zwei Schulmädchen oder Studenten. Aber du kannst dir sicher denken, daß es wohl niemanden gibt, der so weit von der Stadt entfernt wohnen will!“

„Gesetzt den Fall, daß jemand möchte“, sagte ich nur. „Weißt du denn jemanden?“ fragte Tante Karen. „Ja“, sagte ich. „Ich weiß jemanden. Ein Schulmädchen, das

dringend jeden Morgen eine Busfahrt von einer Stunde braucht, um seine Aufgaben zu lernen. Ein schreckliches junges Ding ist das, gedankenlos und viel zu impulsiv, das gewiß viel Unfug machen wird, aber ehrlich ist und sogar ganz lieb sein kann. Es würde nicht dein Silberzeug stehlen und nicht in Schränken und Schubläden herumschnüffeln, und es wäre überglücklich, wenn du es haben wolltest.“

Tante Karen sah mich mit einem kleinen Lächeln an. „Sag mir“, meinte sie. „Das junge Ding heißt wohl nicht zufällig

Gina Rieger?“

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„Du durchschaust doch auch alles, Tante Karen!“ „Aber, Ginakind, willst du dich denn von Assi trennen?“ Ich holte tief Atem. Nun mußte ich noch einmal mein ganzes

Problem ausbreiten. Tante Karen hörte zu, ein paarmal nickte sie. „Ich verstehe dich gut, Gina“, sagte sie zum Schluß. „Ach, Tante Karen! Endlich ein Mensch, der mich versteht! Dein

schlimmer Sohn ist unmöglich! Er sagt immer nur, ich sei dumm, und dies sei im ganzen genommen überhaupt kein Problem!“

„Dann ist mein Sohn ein Dummkopf“, sagte Tante Karen mit hinreißender Aufrichtigkeit. „Aber du kannst dich darauf verlassen, daß ich mit ihm reden werde…“

„Nein, tu es bitte noch nicht, Tante Karen! Ich möchte ihn viel lieber überrumpeln. Es hat um diese Frage schon so viel Gerede gegeben, daß ich jetzt nicht mehr mag.“

„Wie hast du es dir denn gedacht? Wie willst du es machen?“ Tante Karen sah mich fragend an.

„Das will ich dir sagen. Nächste Woche fliegt Torbjörn nach Berlin. Während er fort ist, dachte ich, meine Sachen zu packen und zu dir zu kommen – so daß alles in Ordnung ist, wenn er zurückkommt! Die Wohnung in der Stadt ist dann leer, der Vogel ausgeflogen – der lästige Vogel also; mein Zimmer steht endlich zur Verfügung und kann Arbeitszimmer oder ein zusätzlicher kleiner Wohnraum werden, so daß das eigentliche Wohnzimmer als Musikzimmer dienen kann. Und wenn auch Assi und Torbjörn sich bis jetzt immer gesträubt und einander darin unterstützt haben, so werden sie doch glücklich sein, wenn sie die ganze Wohnung für sich allein haben. Es sind nur vier Räume außer Tante Randis Zimmer, weißt du, und diese vier Räume braucht doch wahrhaftig ein Ehepaar, wenn der Mann ein sehr beschäftigter Rechtsanwalt und die Frau eine Sängerin von annähernd Weltruhm ist.“

Tante Karen überlegte ein Weilchen. „Weißt du was, Gina“, sagte sie zum Schluß. „Ich neige dazu, dir

recht zu geben.“ „Ja, und was die Wohnungsmiete und all das betrifft, so kann ich

alles sehr gut bezahlen, Tante Karen!“ „Es beruhigt mich sehr, das zu hören“, lachte Tante Karen. „Ich

glaube beinahe, diese Frage werde ich doch mit Assi besprechen. Aber, Gina, wenn nun diese andere Dame kommt – nein, sieh nicht so erschreckt drein, sie möchte am liebsten nur ein Zimmer und die

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Küche haben.“ „Aber das paßt doch großartig! Ich brauche doch keinesfalls mehr

als ein Zimmer, das wäre noch schöner!“ „Und die Küche brauchst du schon gar nicht, du müßtest ja

Vollpension bei mir haben! Das einzige Problem ist das Bad, denn das müßtet ihr ja zusammen benutzen.“

„Und wenn schon! Wenn Torbjörn und Christian sich darüber einigen konnten, müßten doch eine Kassiererin und eine Schülerin das auch können!“

„Das sollte man glauben!“ Tante Karen trocknete den Küchentisch ab und hängte den

Lappen auf. Dann lächelte sie mir zu. „Willst du das alles wirklich, Gina?“

„Ja, Tante Karen. Noch nie in meinem Leben habe ich etwas so ernsthaft gewollt wie dies. Und willst du mich tatsächlich haben?“ „Unbedingt, mein Mädel. Ich sagte dir ja, daß ich gern Jugend im Haus haben möchte, und da kannst du sicher verstehen, daß ich am allerliebsten die kleine Schwester von Assi bei mir haben will!“

„Hast du keine Angst vor den Verrücktheiten, die mir einfallen könnten?“

„Ach, ich denke, damit werden wir fertig werden. Ist es mir gelungen, zwei wilde junge Burschen in Ordnung zu halten und brauchbare Menschen aus ihnen zu machen, so wäre es doch sonderbar, wenn ich es nicht bei einem Mädchen von fünfzehn Jahren schaffen würde!“

„Und dann ist es ja auch nur für – für“ – ich zählte an den Fingern ab – , „nur für acht bis neun Monate, Tante Karen. Sobald ich mit der Schule fertig bin, soll ich ja ins Ausland, und wenn Assi und Torbjörn erst ihr eigenes Haus haben, soll ich doch zu ihnen zurückkommen. Dann werde ich mir aber Torbjörns Wohnung zum Muster nehmen, wenn ich meine eigene einrichte!“

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Pfifferlinge und Boviste Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich so strahlend guter Laune, wie ich schon lange nicht mehr gewesen war. Tante Karen war großartig. Mein ganzes Problem war mit einem Schlag gelöst! Und ich durfte in diesem bezaubernden Hause wohnen – was hatte doch Geggi gestern gesagt? Etwas von dem Behagen und der Wärme, die gleichsam aus allen Wänden ausstrahlten – ja, das war durchaus richtig, es war etwas in diesem Haus, was von guten Menschen erzählte, von glücklichen Generationen, die hier geboren waren, gelebt hatten und gestorben waren. Ein Heim für Menschen!

Geggi bewegte sich im Bett an der anderen Wand. Nun streckte sie sich und schlug die Augen auf. Sie wandte mir den Kopf zu und lächelte.

„Guten Morgen, Gina! Stell dir vor, ich hatte ganz vergessen, wo ich war!“

„Du bist im gemütlichsten Haus der Welt!“ sagte ich. „Das stimmt. Wenn wir doch nur viel länger hierbleiben dürften.

Hoffentlich werden wir bald wieder hierher eingeladen!“ „Ja, Geggi, wenn ich dir etwas auf der Welt bestimmt zusichern

kann, so ist es dies“, sagte ich. „Vom nächsten Sonnabend an hast du eine Dauereinladung. Du kannst Tag und Nacht kommen und bleiben, solange du willst.“

Geggi machte Kulleraugen. „Könntest du wohl so freundlich sein und das etwas näher

erklären?“ „Gewiß. Wenn du mir dein Ehrenwort gibst, daß es vorläufig

zwischen dir und Tante Karen und mir bleibt.“ „Ja, wenn Tante Karen dabei ist, riskiere ich es mit dem

Ehrenwort“, lächelte Geggi. „Da kann es ja nichts Schlimmes sein.“ „Schlimmes? Es ist das Beste, was ich je in meinem Leben getan

habe! Jetzt hör nur zu!“ Ich setzte mich im Bett auf und fing an zu erzählen. Geggis

Augen wurden immer runder. „Das ist ja einfach großartig, Gina!“ sagte sie zum Schluß.

„Aber…“ „Fängst du jetzt auch wieder mit Wenn und Aber an? Da gibt es

kein Aber!“ „Der lange Weg zur Schule…“

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„Aufgabenmachen im Bus!“ sagte ich. „Ich werde bessere Zeugnisse bekommen als je zuvor! Geggi, dein Mund ist also mit sieben Siegeln verschlossen, verstehst du! Nicht einen Ton zu Assi oder Torbjörn!“

„Sieben Lacksiegel!“ versicherte Geggi. „Wann ziehst du hierher?“

„Sobald Torbjörn nach Berlin abgereist ist!“ „Und wenn er wieder nach Hause kommt, was ist dann?“ „Was wird dann sein? Da bin ich eben einfach hier!“ „Ja, aber – wo soll er denn wohnen?“ „Wohnen? Nun, hier – im Gastzimmer. Er ist ja darauf

vorbereitet, daß Tante Karen die unteren Räume vermieten will und daß sie zugreifen muß, wenn sie einen Mieter bekommen kann. Er ist einfach gezwungen, für diese paar Wochen hier heraufzuziehen.“

„Ich komme am ersten Sonnabend nach der Hochzeit zum Wochenendbesuch zu dir!“ sagte Geggi, schlug das Deckbett zur Seite, nahm den Bademantel um und verschwand in das Badezimmer.

„Was wollt ihr heute unternehmen, ihr Mädchen?“ fragte Tante Karen, als wir beinahe mit dem Frühstück fertig

waren. „Wollt ihr einen Spaziergang machen, oder…“ „Ja“, sagte ich. „Sehr gern bei diesem schönen Wetter.“ Ich brannte ja darauf, mich in Blaubotten ein wenig umzusehen,

und wollte mich über die Bushaltestellen, die Läden und dergleichen orientieren.

„Fein!“ sagte Geggi. „Ich habe große Lust, in den Wald zu gehen, an dem wir vorbeifuhren, wo all die Pfifferlinge wuchsen. Ich möchte gern welche mit nach Hause nehmen.“

„Gute Idee“, sagte Tante Karen. „Sammle so viele, daß ein bißchen für die Hammelbratensoße zu Mittag übrigbleibt. Kennst du dich mit Pilzen aus, Geggi?“

„Ich bin mindestens bei Pfifferlingen, Steinpilzen und Hallimasch meiner Sache ganz sicher! Ich werde keine Fliegenpilze sammeln, das verspreche ich!“

„Na, das ist schon beruhigend“, lächelte Tante Karen. „Macht euch also auf, Mädels, ihr bekommt einen großen Korb mit!“

Kurz darauf zogen wir los, Richtung unteres Blaubotten. Zur Linken lagen eine Anzahl der hohen, unpersönlichen, kalten Mietshäuser. Etwas weiter vorn zur Rechten waren auch einige dieser wolkenkratzerähnlichen Gebilde.

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„Wenn man sie aus der Entfernung sieht, hat man den Eindruck, sie seien ganz dünn und müßten quer durchbrechen“, sagte ich. „Sie gleichen hohen, schmalen Kommoden, und in jeder Schublade wohnt eine Familie.“

„Mehrere in jeder Schublade“, lächelte Geggi. „Ich bin mit dir darin einig, daß sie nicht gemütlich aussehen, aber weißt du, es ist eine ausgezeichnete Ausnützung der teuren Bauplätze.“

„Ich merke, daß dein Vater im Baugeschäft tätig ist“, sagte ich. Und dann dachten wir nicht mehr an die Hochhäuser in Blaubotten – vorläufig.

Ich hatte recht damit, was ich am Tag zuvor gesagt hatte. Der Waldboden war wirklich mit Pfifferlingen gesprenkelt wie mit Sommersprossen.

Geggi und ich hockten auf dem Boden, und wir sammelten Pilze um die Wette.

„Geggi, was sind denn das für welche? Die kleinen dort?“ „Liebes, das sind doch Stockschwämmchen, die kenne ich auch.“ „Sind sie eßbar?“ „Das will ich wohl meinen! Sie sind sicher noch viel besser für

Tante Karens Hammelbratensoße! Aber irre dich nun nicht, und sammle nicht statt dessen Schwefelpilze.“

„Sterben wir dann?“ „Nein, das nicht gerade, aber die Soße ist verdorben. Ich habe

einmal einen Schwefelpilz gekostet, das hat mir gereicht für den Rest meines Lebens. Die Goldbraunen, die du da hast, sind richtig, aber wenn sie in der Sonne gelbgrün leuchten, dann sind es Schwefelpilze.“

„Gut, ich werde allen Gelbgrünen aus dem Wege gehen. Schau dir nur den Baumstumpf dort an, Geggi! Da wimmelt es von Stockschwämmchen!“

Ich sammelte eifrig weiter. Zum Schluß wies der Stumpf nicht mehr einen von den kleinen, golden leuchtenden Punkten auf, die in Scharen dort gewachsen waren.

Dann hob ich den Kopf. Ich hatte Stimmen gehört. Ja, siehe da, da waren andere Pilzsammler, vier junge Mädchen.

Wir kamen mit ihnen ins Gespräch, und sie zeigten uns ihre Beute; es waren hauptsächlich Pfifferlinge.

„Sind das nicht Boviste?“ sagte eine von ihnen und zeigte einige kleine schneeweiße Pilze vor.

„Stimmt“, sagte Geggi. „Sie sind sehr gut, wenn sie so jung sind,

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aber die alten Exemplare sind schlecht, nur mit einem widerlichen Staub gefüllt.“

Ich ging weiter. Da fand ich auch eine ganze Ansammlung der kleinen, reizenden weißen Schneebällchen. Sie sahen richtig delikat aus.

Die vier fremden Mädchen pflückten auch eifrig. Sie erzählten, daß sie im unteren Blaubotten wohnten. Die Mutter der einen hatte die Tochter gebeten, Pfifferlinge zum Sonntagsbraten zu suchen, da sie doch mit den Freundinnen spazierenging. So war es gekommen, daß aus ihrem Vormittagsspaziergang eine richtige Pilzwanderung wurde.

„Nein, so was! Es ist schon halb eins“, rief eine von ihnen. „Jetzt müssen wir aber schnell machen, um nach Hause zu kommen.“

„Wir auch“, sagte Geggi. „Die Pilze müssen ja sortiert, gewaschen und gedämpft werden und all das! Außerdem haben wir ja mehr als genug! Da kann man wirklich von einem Pilzparadies reden! Das wäre wahrhaftig etwas für Mutti gewesen, die Pilze so gern ißt!“

Es war Tante Katrine, der Geggi ihre Pilzkenntnisse verdankt. Tante Katrine ist ein wandelndes Pilzlehrbuch.

An der Ecke beim Selbstbedienungsladen trennten wir uns von den vier fremden Mädchen, und dann ging es im Geschwindschritt nach Hause zu Tante Karen. Wir packten ihr die ganze Herrlichkeit auf den Küchentisch.

„Du meine Güte, so eine Menge!“ sagte Tante Karen. „Und Stockschwämmchen – ihr Lieben, das soll aber eine erstklassige Hammelbratensoße werden! Ihr seht übrigens arg mitgenommen aus. Wie ist es nur möglich, beim Pilzsuchen so schmutzig zu werden!“

Ich hatte einen kräftigen Grasfleck auf dem einen Knie und eine Laufmasche im Strumpf. Das Haar hing borstig herab, und meine Hände waren erdfarben. Geggi sah nicht viel besser aus. Wir zogen uns ins Badezimmer zurück.

Geggi kämmte sich, und ich schrubbte gerade meine schmutzigen Hände, als wir eilige Schritte die Treppe heraufkommen hörten. Die Tür zum Bad wurde aufgerissen.

„Gina! Geggi! Um Gottes willen – habt ihr von den Pilzen gekostet? Welche in den Mund gesteckt?“

„Nein, Tante Karen – aber was ist denn…“ „Weißer Knollenblätterpilz! Weiße Knollenblätterpilze zwischen

den kleinen Bovisten! überlegt es euch, habt ihr bestimmt nichts

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davon gegessen? Ein winziges Stück davon, und ihr müßt umgehend ins Krankenhaus! Denkt genau nach, sonst ist es der sichere Tod…“

„Ganz bestimmt, Tante Karen, nicht das kleinste Stück davon habe ich in den Mund gesteckt.“

„Ich ebensowenig“, sagte Geggi. „Aber, du lieber Gott – die vier Mädchen…“

„Wer? Haben andere auch diese Pilze gesammelt?“ „Ja, vier Mädchen aus dem unteren Blaubotten – sie haben eine

Menge kleine Boviste gepflückt…“ „Wie heißen sie? Wo wohnen sie?“ „Sie haben es nicht gesagt – wir wissen nur…“ Nun kam Torbjörn auch gerannt. „Was ist los, Mutter?“ „Giftpilze, Torbjörn! Weißer Knollenblätterschwamm! Und vier

junge Mädchen aus dem unteren Blaubotten haben auch…“ Torbjörn machte kehrt. „Ich rufe die Polizei an, sie sollen den Lautsprecherwagen

ausschicken und eine Warnung durchgeben! Wißt ihr gar nichts über diese Mädchen? Wurde kein Name genannt?“

„Nein – wir trennten uns an der Kreuzung beim Selbstbedienungsladen…“

„In welcher Richtung gingen sie?“ „Ich – ich weiß nicht – wir haben uns nicht umgesehen, wir hatten

es so eilig, Tante Karen die Pilze zu bringen…“ Torbjörn war mit ein paar Sprüngen unten und lief zum Telefon.

Einen Augenblick später kam er wieder. „Zieht euch an! Du auch, Mutter. Wir fahren ins untere

Blaubotten, nehmen uns die Hochhäuser vor und geben allen Bescheid, die wir treffen. Die Leute müssen uns helfen, in allen Wohnungen Bescheid zu sagen.“

Er lief zur Garage, Tante Karen schaltete im Backofen den Strom aus und zog einen Mantel an.

„Ach, Gott – jetzt stehen vielleicht vier Hausfrauen da und kochen die schrecklichen Pilze…“

Da stieß ich einen Schrei aus. „Tante Karen! Gibt es Gas in Blaubotten? Oder kochen alle

elektrisch?“ „Nein, wir haben kein Gas…“ Ich stürzte hinaus zu Torbjörn. „Torbjörn! Du mußt das Elektrizitätswerk anrufen! Sie müssen

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den Strom abschalten, damit die Leute die Pilze nicht kochen können! Sie müssen ihn im ganzen unteren Blaubotten abschalten!“

Torbjörn warf mir einen schnellen Blick zu. „Das ist ein guter Gedanke, Gina. Ich kenne den Direktor des

Elektrizitätswerkes.“ Tante Karen hatte schon das Telefonbuch aufgeschlagen, und

Torbjörn rief an. Ich stand an seiner Seite, und mein Herz ging wie ein Hammer.

Herrgott, gab es denn etwas so Begriffsstutziges wie diesen Mann vom Elektrizitätswerk!

„Ja, das weiß ich“, sagte Torbjörn laut und ungeduldig. „Aber verstehen Sie denn nicht, daß es um Menschenleben geht – vier Familien, vielleicht zwanzig, dreißig Menschen, die eine tödliche Vergiftung erleiden können – natürlich weiß ich das, meine Mutter ist Pilzkennerin, es ist der gefährlichste Giftpilz, der hier vorkommt – es spielt keine Rolle, daß ein paar tausend Menschen mit dem Mittagessen warten müssen – natürlich können Sie das verantworten, und im übrigen übernehme ich die Verantwortung – es muß jetzt sofort geschehen, wenn Sie sich nicht mitschuldig machen wollen – o doch, ich weiß genau, wovon ich rede, ich bin schließlich Jurist – gut, also sofort, geben Sie dem Wachhabenden im Werk Bescheid – schön, ja, darüber können wir später reden…“

Endlich! Jetzt hatte er es geschafft, diese Schlafmütze von Direktor zu überzeugen.

Dann fuhren wir im Blitztempo ins untere Blaubotten. „Mutter und ich nehmen die geraden Hausnummern, ihr beiden

nehmt die ungeraden – findet ihr auch nur eine der Familien, so ist alles in Ordnung, denn dann erfahrt ihr ja die anderen Namen. Ich lasse die Wagentüren offen – wer eine der Familien findet, rast hinunter und hupt, so laut er nur kann – solltest du jemanden finden, Mutter, dann nimmst du den Wagen und fährst zu den angegebenen Adressen. Es kommt auf Sekunden an!“

Als ob wir das nicht selbst wüßten! Torbjörn parkte den Wagen auf einem offenen Platz zwischen den

Hochhäusern auf der linken Seite des Weges, und jeder von uns nahm sich ein Haus vor.

Ich wollte mit dem Aufzug hinauf- und hinunterfahren – aber der Aufzug stand still. Er rührte sich nicht.

,Stromsperre!’ dachte ich. ,Gott sei Dank, der Strom ist unterbrochen.’

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Die Türglocken blieben stumm, es war dunkel hinter den Scheiben aller Eingangstüren. Ich hämmerte mir die Knöchel wund an der ersten Tür.

„Was, in aller Welt, ist denn das für ein Radau?“ Ein wütender Mann stand in der Türöffnung.

„Menschen in Lebensgefahr!“ sagte ich. „Hat hier jemand heute vormittag Pilze gesammelt? Vier junge Mädchen…“

„Pilze? Ausgeschlossen, wir essen keine Pilze. Und laß es gefälligst bleiben, die Leute in ihrer Mittagsruhe zu stören…“

Krach! Die Tür wurde mir vor der Nase zugeschlagen. Die nächste Tür. Ein kleiner Junge. „Ist Mutter oder Vater zu Hause?“ „Was willst du denn von ihnen?“ „Es ist sehr, sehr wichtig! Sei lieb und beeil dich!“ Ach, die kostbaren Minuten! Es schien mir eine Ewigkeit, ehe

eine abgehetzte Hausfrau zum Vorschein kam. „Nein, wir essen keine Pilze. Da sieht man es wieder, das habe ich

ja immer gesagt, daß…“ Ich hatte keine Zeit, auf das zu hören, was sie „schon immer

gesagt hatte“. Ich lief weiter. Endlich traf ich einen vernünftigen Mann, einen jüngeren

Familienvater. „Um Gottes willen, das ist ja schrecklich. Ich werde Ihnen helfen,

nach diesen Leuten zu suchen. Ich fahre mit dem Rad zu den westlichen Hochhäusern und bringe noch zwei Kameraden mit…“

„Finden Sie eines der Mädchen, so kommen Sie zurück und hupen Sie in dem Wagen hier unten, dem blauen Ford; er ist offen, Nummer 1427 – tausend Dank – ich renne weiter!“

Geggi, Torbjörn und Tante Karen hatten offensichtlich ebenfalls Helfer mobil gemacht. Während ich in das nächste Stockwerk hinauflief, warf ich einen Blick aus dem Treppenhausfenster. Da startete soeben ein Motorrad, dort zwei Radfahrer, da fuhr ein junger Mann in einem Kleinauto davon.

Da erklang eine Stimme aus einem Lautsprecher: „Achtung! Achtung! Wichtige Mitteilung der Polizei!

Lebensgefahr für vier Familien im unteren Blaubotten. Die vier jungen Mädchen, die heute vormittag im Wald von Tvedte Pilze gesammelt haben, mögen sich sofort bei der Polizei melden. Die Pilze sind lebensgefährlich! Sollten Sie von Nachbarn wissen, die heute Pilze gesammelt haben, so geben Sie ihnen sofort Bescheid!“

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Gott sei Dank! Diese Stimme war nicht zu überhören. Und jetzt, wo der Strom weg war, so daß niemand Rundfunk hören konnte. Halt! Das war ein Grund, den ich dazu benützen konnte, Leute zur Hilfe für mich anzuwerben!

Nächste Tür. Eine säuerliche Hausfrau. „Verzeihung, ich komme wegen der Stromsperre. Der Strom

kommt wieder, sobald man vier Familien gefunden hat, die von Pilzvergiftung bedroht sind.“

„Wieso?“ „Vier Familien in Blaubotten haben im Augenblick giftige Pilze

in der Küche. Solange kein Strom da ist, können sie die Pilze nicht zubereiten. Haben Sie heute von Bekannten Pilze bekommen, oder…“

Nun wachte sie auf und begann zu verstehen. „Nein – aber wenn ich so darüber nachdenke – in Nummer

vierzehn, im zwölften Stock, wohnen welche, die immer Pilze sammeln…“

„Wie heißen sie? Haben sie eine Tochter von vierzehn oder fünfzehn Jahren?“

„Ja, Celia ist wohl ungefähr in diesem Alter – sie heißen Jakobsen.“

„Haben Sie Telefon?“ „Nein, leider nicht, und ich glaube auch nicht, daß Jakobsens eins

haben; das dauert so lange mit den Telefonanschlüssen hier in den Neubauten.“

Ich tat etwas, was ich nicht getan hatte, seit ich klein war: Ich glitt auf dem Treppengeländer hinunter! Und dann raste ich davon zu Nummer vierzehn. Die Treppe hinauf – du lieber Himmel, wie hoch es war bis zum zwölften Stock! Ich kam ganz außer Atem oben an.

Ich klopfte und hämmerte und trat gegen die Tür. Sie wurde geöffnet, und da stand eines der vier Mädchen von heute vormittag!

„Celia…“ keuchte ich. „Die Pilze – die Pilze sind giftig!“ Die Tür zur Küche stand offen, und da – da stand eine Hausfrau

mit einem dampfenden Kochtopf auf einem Primuskocher vor sich – in der einen Hand eine Gewürzdose, mit der anderen führte sie einen Bissen zum Munde, um zu kosten.

Ich stieß einen Schrei aus, stürzte durch die Tür und schlug ihr den Löffel aus der Hand.

„Giftig – weißer Knollenblätterpilz…“ stieß ich hervor, und dann drehte sich plötzlich der ganze Raum um mich. Es wurde mir

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schwarz vor den Augen. Celia fing mich auf, sonst wäre ich, glaube ich, glatt auf den Boden gefallen.

Celias Mutter gab mir ein Glas Wasser, half mir ins Wohnzimmer und setzte mich in einen Lehnstuhl.

„Ich muß weiter…“ keuchte ich. „Celia ist zu Sigrun hinübergelaufen, und sie geben den anderen

sofort Bescheid“, sagte Frau Jakobsen. „Du brauchst jetzt nichts mehr zu tun. Nanu – was ist denn das?“

Ein Auto hupte, daß es durch Mark und Bein ging. Jemand hielt die Hand fest auf dem Knopf und ließ die Hupe dröhnen.

„Gott sei Dank!“ sagte ich. „Gott sei Dank – jetzt haben sie noch eine weitere Familie gefunden…“

Da hörte man wieder die Stimme aus dem Lautsprecherwagen: „Achtung! Achtung! Vier Familien im unteren Blaubotten…“ Ich sank zusammen wie ein Waschlappen. Und dann kamen mir

die Tränen. Eine Stunde später waren wir zu Hause. Die Lampen brannten, in

der Küche kochten die Kartoffeln, der Braten war gleich fertig, und die Pilze lagen im Abfalleimer.

Tante Karen hatte Sigrun und ihre Familie gefunden. Der junge Mann, der zu den westlichen Hochhäusern geradelt war, hatte die Familie Nummer zwei gefunden, und Geggi hatte erfahren, daß die Familie Broas in dem gelben Holzhaus Pilze besonders liebte…

Alle vier Familien hatten sich um Torbjörns Wagen versammelt, alle redeten wild durcheinander.

„Ich hatte gerade die Pilze im Topf“, erzählte Frau Broas, „da blieb der Strom aus. Ich schob den Topf zur Seite und ging auf den Boden, um einen alten Spirituskocher herauszusuchen, den ich zum Glück nicht fand! Aber wäre der Strom nicht ausgeblieben, so wage ich gar nicht daran zu denken…“

„Genau so war es bei uns“, sagte Sigrun. Sie gehörte zur nächsten Familie. „Mutti und ich waren dabei, die Pilze zu putzen, und Mutti hatte schon den Strom eingeschaltet. Aber die Platte wurde nicht warm, und darum – ja, das war unsere Lebensrettung!“

„Aber Gina persönlich hat Mamas Leben gerettet“, sagte Celia. Sie war immer noch ein wenig blaß im Gesicht. „Wärst du zwei Sekunden später gekommen, Gina…“

„Eine Sache verstehe ich nicht“, sagte die vierte, die Hausfrau von den westlichen Hochhäusern. „Ich kenne doch wirklich den Unterschied zwischen giftigen und ungiftigen Pilzen; mir kam gar

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nicht der Gedanke, daß das nicht kleine Boviste waren!“ „Hätten Sie sie durchgeschnitten, so hätten Sie es gesehen“,

erklärte Tante Karen. „Ein weißer Knollenblätterschwamm hat im Innern deutliche Sporen, während der Bovist aus einer einzigen, zusammenhängenden weißen, festen Masse besteht.“

„Ich werde nie mehr Pilze essen!“ sagte Frau Broas. „Aber ich schon“, sagte Tante Karen. Sie lächelte. „Ich werde

mich nur bemühen, noch genauer beim Durchsehen der Pilze zu sein – und nie einen kleinen Bovist zu brauchen, ohne daß ich ihn vorher durchgeschnitten hätte!“

„Was für ein unglaubliches Glück, daß der Strom ausfiel!“ sagte Frau Jakobsen.

Da legte Torbjörn fest und stark seinen Arm um meine Schultern. „Das war nicht irgendein glücklicher Zufall“, sagte er. „Das war

dieses Mädchen hier, das den Gedanken hatte. Gedanken hat sie in reicher Auswahl, die meisten sind nicht brauchbar, aber dieser war gut.“

„Gina mit den guten Gedanken“, lächelte Geggi. „Ist das Ihre Tochter?“ fragte Frau Broas. „Nein“, lächelte Torbjörn. „Aber wenn ich einmal eine Tochter

bekomme, dann wird Gina ihre Tante sein.“ „Aha, Ihre Schwester!“ sagte ein heller Kopf. „Meine Schwägerin“, erklärte Torbjörn. „Eine kleine Schwägerin,

auf die ich gerade heute außerordentlich stolz bin. Wo ist übrigens hier das nächste Telefon? Ich muß diese Leute in Gang bringen, damit sie den Strom wieder einschalten!“

Wie gesagt, nach einer Stunde waren wir wieder zu Hause und versuchten, zu verschnaufen und nach all den Gemütsbewegungen wieder zu uns zu kommen.

Der Hammelbraten schmeckte ganz wunderbar. Obwohl keine Pilze in der Soße waren.

„Bist du nicht recht bei Trost?“ hatte Tante Karen gesagt, als ich meinte, sie könne doch wenigstens die Stockschwämmchen und die Pfifferlinge brauchen. „Denk doch daran, daß das winzigste Stückchen von einem weißen Knollenblätterpilz ausreicht, um einen Menschen zu töten! Nein, wenn sie nur in der Nähe eines Giftpilzes gewesen sind, kriegst du mich nicht dazu, sie zu gebrauchen!“

Und jetzt lagen die Pfifferlinge und die Boviste und die niedlichen Stockschwämmchen zusammen mit ihren todbringenden Artgenossen im Abfalleimer.

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Als wir beim Kaffee saßen, läutete das Telefon. Torbjörn war eben hinuntergegangen, um etwas zu holen, Tante

Karen schenkte Kaffee ein. „Nimm du den Hörer ab, Gina, ich komme gleich.“ „Hier Hanning, bitte“, sagte ich. Eine ferne Stimme drang zu meinem Ohr. „Ginakind, bist du es?“ „Oh, Assi, wie schön – wie geht es dir?“ „Fein. Ich habe nur Heimweh nach euch. Habt ihr denn einen

behaglichen, friedlichen Sonntag gehabt?“ „Ja“, sagte ich. „Unsäglich behaglich und unsäglich friedlich.“ Wenn das keine „weiße“ Lüge war! So weiß, wie ein –

Knollenblätterpilz!

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Die andere Mieterin Torbjörn war nach Berlin geflogen. Ich steckte bis über die Ohren in der Packerei.

Ich hatte mit Tante Randi einen Kampf ausgefochten. Das gehe doch nicht an, so etwas könne ich doch hinter Assis Rücken nicht machen, und was werde Assi wohl dazu sagen?

Ich redete wie ein Wasserfall, um Tante Randi zu überzeugen, daß dies für alle Beteiligten die beste Lösung sei.

Trotzdem glaube ich nicht, daß sie ganz beruhigt gewesen wäre, wenn nicht Tante Karen bei uns aufgetaucht wäre.

Die beiden Tanten, die überhaupt nicht meine Tanten waren, hielten einen vernünftigen Schwatz bei einer Tasse Kaffee oder dreien.

Und als die dritte Tasse ausgetrunken war, da war Tante Randi wirklich überzeugt.

„Wie ist es mit dir, Gina?“ fragte Tante Karen. „Bist du fertig mit der Packerei, so daß du jetzt gleich mit mir fahren kannst? Ich verfüge ja über Torbjörns Wagen, jetzt, wo er in Berlin ist, weißt du, darum…“

„Es ist doch ein Segen, daß du fahren kannst, Tante Karen“, sagte ich.

„Fahren? Du lieber Himmel, wenn ich das nicht gekonnt hätte, hätten meine schlimmen Buben den letzten Respekt vor ihrer Mutter verloren. Es steht sowieso erbärmlich genug damit – mit dem Respekt nämlich.“

„Ja, aber, was etwa an Respekt fehlt, bekommst du sicher in Form von Liebe!“ meinte ich.

Tante Karens Augen leuchteten. „Ja, mein Mädel, darin hast du recht. Wie steht es denn mit dir,

hast du denn eine Spur von Respekt vor mir?“ „Tja – bis jetzt habe ich das wohl – aber…“ „Aber?“ „… aber ich habe den Verdacht, daß es mir gehen könnte, wie es

deinen Söhnen ergangen ist. Ich fürchte, daß es mit der Zeit mehr Liebe als Respekt wird.“

„Gott sei gedankt dafür“, lächelte Tante Karen. „Ja, wollen wir nun sehen, ob wir all deine Siebensachen da mitbekommen können? Was hast du denn? Die beiden Koffer, ja, das geht fein – das Radio

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und den Plattenspieler, Gott bewahre – aber, mein Herzchen, diesen Riesenteddy…“

„Tante Karen, das ist doch Mathäus! Der muß doch mit! Den habe ich schon seit dreizehn Jahren, den kann ich nicht entbehren!“

„In Ordnung, Mathäus kommt also mit. Die drei Mäntel da – ja, die können wir auf den Rücksitz legen – nein, das Fahrrad, Gina…“

„Warte!“ sagte ich. „Das hat Assi mir aus der Schweiz mitgebracht; jetzt guck mal…“ Ich zeigte Tante Karen, wie das Fahrrad zusammengelegt und bequem im Gepäckraum verstaut werden konnte.

„Das Rettungsboot für Autofahrer!“ lachte ich. „Alle meine Freundinnen beneiden mich darum! Schau her, da ist auch noch eine Tasche dazu mit einem Schloß und allem Zubehör!“

„Du hast es gut, Gina“, sagte Tante Karen. „Ich meine, du hast eine Menge hübsche und praktische Dinge und so reizende Kleider. Weißt du eigentlich, wie gut Assi zu dir ist?“

„Ja, Tante Karen, das weiß ich! Assi schenkt mir viele schöne Sachen, das ist eine Tatsache, aber es gibt andere Dinge, die sie für mich tut – Opfer, die sie mir bringt, still und lieb und sanft, ohne daß ich davon etwas ahne…“

Tante Karen nickte. „Ja, das weiß ich wohl“, sagte sie. „Ich bin wirklich glücklich,

daß nun alles so gekommen ist!“ „Denk nur, wenn Geggi und ich nicht letzten Sommer auf

Geiterud gelandet wären“, sagte ich. „Dann hätten wir Christian nicht kennengelernt, und ich hätte nicht erfahren, daß Torbjörn immerzu auf Assi wartete – da soll man nicht von Schicksalsfügung reden!“

„Ja, das kann man wohl sagen! So, jetzt sind wir wohl fertig, Gina, oder hast du noch mehr Teddybären, die unbedingt mit müssen? Doch nicht? Ja, da haben wir uns nur noch von Frau Nathansen zu verabschieden!“

Tante Randi streckte mir die Arme entgegen, und ich fiel ihr um den Hals. Da hörte ich einen kleinen Schluchzer. Ich starrte ihr ins Gesicht – und sah zu meinem unsäglichen Erschrecken und Erstaunen, daß ihre Augen tränenblank waren! Da rollten wahrhaftig zwei Tränen über ihr gutes, liebes, ein wenig faltiges Gesicht.

„Aber nein, Tante Randi…“ sagte ich. „Hast du schon mal eine Heulsuse wie mich gesehen?“ sagte sie

mit unsicherer Stimme. „Hier stehe ich und weine, weil unser

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Nichtsnutz abzieht – der schreckliche Nichtsnutz!“ „Aber, Tante Randi, ich ziehe doch nicht für immer fort! Ehe ein

Jahr um ist, hast du mich wieder zurück, vielleicht lange vorher, vielleicht sogar schon im Frühjahr! Sobald Assi und Torbjörn ihr Haus haben!“

„Das weiß ich, mein Mädel. Aber jetzt ist es eben doch sonderbar. Du weißt ja, daß wir schon so lange Gutes und Schlimmes miteinander geteilt haben, und so…“

„Ja, du hast das Gute dazu beigesteuert und ich das Schlimme“, lachte ich. „Es wird höchste Zeit, daß du jetzt ein wenig verschnaufen kannst!“

„Ja, aber wenn ich daran denke, daß ich dich morgen früh nicht wecken und nicht dein Schulbrot schmieren soll…“

„Und nicht schelten, weil ich trödle, und nicht mein Zimmer aufräumen müssen, und nicht die Strafzettel unterschreiben…“

„So, jetzt sei endlich still, ehe ich noch mehr heule. Und komm und besuch mich bald, du Nichtsnutz.“

„Ganz gewiß, Tante Randi! Und du mußt mich auch besuchen!“ „Ja, das müssen Sie, Frau Nathansen!“ lächelte Tante Karen.

„Und denken Sie daran, daß wir nur tauschen. Ich übernehme den Unruhestifter, und Sie übernehmen meinen Sohn; und wenn Sie glauben, das sei eine bequeme Sache…“

Da lächelte Tante Randi. „Ach, dem Herrn Advokaten kann man es leicht recht machen.

Solange man ihm keine gebackenen Makrelen oder gefüllte Tomaten gibt…“

„Ach, das wissen Sie schon! Ja, dann müßte eigentlich alles ausgezeichnet gehen“, lachte Tante Karen. „Sonst, wenn er sich unmöglich benehmen sollte, dann rufen Sie mich nur an und beschweren Sie sich!“

„Da kann ich wohl nur ,Danke gleichfalls’ sagen“, lachte Tante Randi.

So löste sich zum Glück die Abschiedsszene in Gelächter auf, und zwei Minuten später saß ich neben Tante Karen in Torbjörns Ford, mit dem Teddybären Mathäus auf dem Schoß.

Wir fuhren im dichtesten Nachmittagsverkehr nach Hause. Wie sicher war doch Tante Karen hinter dem Steuerrad!

„Wie lange hast du schon deinen Führerschein, Tante Karen?“ „Gut und gerne zwanzig Jahre. Aber nun hör mal, Gina, wenn du

mir einen großen Gefallen tun willst, so versuche nicht, mich in ein

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Gespräch zu ziehen, während ich fahre. Ich kann mich unterhalten und ich kann fahren, aber ich kann nicht beides auf einmal tun.“

„In Ordnung“, sagte ich, und dann schwieg ich. Wir brauchten heute mehr Zeit als sonst für den Heimweg. Häufig

mußten wir bei rotem Licht warten; dann gerieten wir in eine Verkehrsstockung, als wir über die Stadtgrenze fuhren, und schließlich fanden wir uns in einer meilenlangen Autoschlange wieder, die vermutlich von einem Fahrer angeführt wurde, der noch nicht entdeckt hatte, daß sein Wagen mehr als einen Gang besaß, so langsam ging es voran.

Aber ich schwieg und überließ mich meinen Gedanken. Mir fiel die Schule ein und unsere Klassenlehrerin. Ich dachte

daran, daß wir heute wieder einmal eine von Anfang bis Ende ungemütliche Englisch-Stunde gehabt hatten. Fräulein Mosgard war so merkwürdig bleich und angespannt im Gesicht gewesen und hatte nicht ein einziges Wort gesprochen, das nicht mit dem Unterricht zu tun hatte. Wir alle waren dadurch gewissermaßen befangen. So eine Stunde konnte nett sein, wenn wir diskutierten, wenn die Lehrerin uns ermunterte, zu fragen, oder wenn sie etwas erzählte, was nicht direkt mit der Grammatik und der Übersetzung des Tages zu tun hatte. Aber heute war es, milde ausgedrückt, langweilig gewesen.

Sogar die Norwegisch-Stunden, die im Grunde so gut mit unserem kleinen Gespräch über Ibsen und Wagner, über die nordische Heerfahrt und die Nibelungen begonnen hatten – sogar die hatten sich in dieser Art nie wiederholt.

Allzu streng war sie auch, dieses Fräulein Mosgard. Eines aber mußte ich anerkennen: Ungerecht war sie nicht. Sie behandelte alle gleich.

Noch etwas, was ich aus persönlicher Erfahrung wußte: Hatte sie einem von uns Unrecht getan, so bat sie um Entschuldigung.

Ich seufzte ein wenig. Die Worte des Rektors hatte ich mir wirklich zu Herzen genommen. Ich hatte versucht, nett zu sein, hatte auch verschiedene andere in der Klasse dafür gewonnen – aber es half so kläglich wenig!

An Fräulein Mosgards Können gab es keinen Zweifel. Sie wußte eine Menge. Ihre Strenge hatte zur Folge, daß wir unsere Aufgaben aus purer Angst lernten. O ja, wir lernten schon tüchtig bei ihr. Aber wir hatten auch viel bei Frau Kramer gelernt. Die Aufgaben für ihre Stunden lernten wir jedoch nicht aus Angst, sondern weil wir sie gern hatten und sie ungern enttäuschten.

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Es war sonderbar mit Fräulein Mosgard. Ich mochte sie ganz gewiß nicht, und ich freute mich nie auf ihre Stunden, ganz im Gegenteil. Aber ich war nicht mehr so wütend auf sie wie am Anfang. Wenn ich ihr blasses, ernsthaftes Gesicht sah, fühlte ich eine Art von Mitleid, das ich mir nicht erklären konnte.

Nun ja, es war jedenfalls ein Glück, daß wir uns nur während des Unterrichts sahen. Die Schulstunden aber machten ja nur einen kleinen Teil des Tageslaufs aus, und in den übrigen Stunden des Tages war ich immer mit lieben und netten Menschen zusammen, die ich gern hatte und mit denen ich vergnügt sein konnte.

Eigentlich hatte ich doch großes Glück. Auch darin, daß ich die Lösung für das einzige, mich

bedrückende Problem gefunden hatte. Ich würde von jetzt ab in dem schönen, großen Zimmer von Torbjörn wohnen – es fügte sich so glücklich, daß die andere Mieterin lieber das kleine Zimmer haben wollte. Mit meiner Nebenmieterin würde es sicher keine Probleme geben. Sie war ja den ganzen Tag im Geschäft, ich würde wohl von ihr nicht viel zu sehen bekommen. Außerdem hatte ich es gelernt, Rücksicht zu nehmen. Tante Randi hatte immer sorgsam darüber gewacht, daß ich abends den Plattenspieler nicht zu laut einstellte. „Die Nachbarn wollen nachts schlafen und nicht Schallplatten hören!“ sagte sie streng, wenn ich ihre Weisungen vergaß. Ich hatte nämlich die Gewohnheit, eine Platte aufzulegen, ehe ich am Abend einschlief. Ich bin aber mir selbst schuldig, zu sagen, daß ich immer wirklich gute Musik hörte. Unzählige Male trugen mich die Töne von Brahms’ „Wiegenlied“ oder von Liszts „Es muß ein Wunderbares sein“ in den Schlummer – gesungen von meiner Schwester!

Für Assi war es eine große Freude, in mir eine Liebhaberin guter Musik zu haben, und sie hatte mir eine reichhaltige Plattensammlung angelegt.

Jetzt fuhren Tante Karen und ich durch das untere Blaubotten. Dabei mußte ich an das Erlebnis von neulich denken, an diese schreckliche Pilzgeschichte, übrigens hatte darüber eine Notiz in der Zeitung gestanden, aber zum Glück ohne Namensnennung. Ich hatte einen Ausschnitt davon in meiner Schreibmappe, und natürlich war ich ganz im geheimen sehr stolz auf die Überschrift: „Schnelle Reaktion einer Fünfzehnjährigen rettet zwanzig Menschenleben“. Der Direktor des Elektrizitätswerkes hatte Anrufe bekommen, mit denen man ihm für sein entschlossenes Handeln dankte, wie

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Torbjörn erzählt hatte. Denn es war eine Tatsache, daß die Stromunterbrechung Menschen das Leben gerettet hatte, weil sie wirksam wurde, ehe das Lautsprecherauto in Tätigkeit getreten war.

„Ich habe wahrhaftig vergessen, dir zu sagen, daß meine zweite Mieterin heute abend ankommt“, sagte Tante Karen. „Torbjörn weiß davon und ist darauf vorbereitet, im Gastzimmer zu wohnen, wenn er nach Hause kommt. Er ahnt nur nicht, daß er seine Schwägerin auch hier finden wird!“

„Glaubst du, daß er böse sein wird?“ fragte ich. „Das soll er nur wagen! Dann bekommt er es mit mir zu tun. Torbjörn ist im allgemeinen ein ordentlicher und gutmütiger junger Mann, aber er ist wie die meisten Männer: Von seelischen Problemen versteht er nicht gerade viel. Alles ist für ihn gleichermaßen einfach und schlicht – mit den juristischen Problemen, die sein tägliches Brot sind, ist es etwas anderes. Aber die feineren, kleinen Schwierigkeiten im täglichen Leben, dafür hat er nicht viel Verständnis. Christian ist übrigens genauso veranlagt, falls er sich nicht in den letzten paar Jahren unter der Einwirkung seiner ärztlichen Tätigkeit verändert hat.“

„Assi wird mich verstehen“, sagte ich. „Assi ist eine Frau!“ lächelte Tante Karen. „So, nun sind wir also

da! Nimm dein Untier mit – wie hieß er doch? Mathäus? Der Himmel bewahre mich vor diesem Namen! Schön, nimm ihn mit und ebenso den kleinen Koffer und begib dich gleich in die Unterwelt. Kannst du noch den Mantel über den Arm nehmen? Das ist großartig. Du lieber Himmel, Gina – jetzt habe ich das Wichtigste vergessen, ich habe keine Butter im Hause, und der Laden schließt in zehn Minuten! Ich eile wie ein geölter Blitz! Schau, hier ist der Schlüssel, du kannst doch so lange allein fertig werden…“

Fort war Tante Karen. Mit dem großen Koffer, dem Fahrrad und dem Plattenspieler im Auto.

Ich schloß meine Wohnung auf – meine schöne Wohnung mit eigenem Eingang und allem, was dazugehört.

Nein, diese Tante Karen! Da standen wahrhaftig ein Blumenstrauß auf dem Tisch in Torbjörns Wohnzimmer und auf dem Nachttisch eine Schale Obst. Das Sofa, offensichtlich ein Patent-Schlafsofa zum Aufklappen, war mit Federbett, Wolldecken und blendend weißer Bettwäsche einladend ausgestattet.

Das Bücherregal gähnte mir leer entgegen. Herrlich, dieser viele Platz! Auch der Wandschrank war leer und der Schreibtisch

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ausgeräumt. Du meine Güte, was hatte Tante Karen für Arbeit gehabt! Alles wartete nun nur noch auf mich und meine Siebensachen.

Ich setzte Mathäus in den Lehnstuhl, öffnete den Koffer und fing an auszupacken. Ich hatte eben den besten Platz für das große Bild von Vati und Mutti und das Bild von Assi als „Lakme“ gefunden – da fuhr der Wagen vor.

Ich wollte gerade hinauslaufen, um meine restlichen Sachen hereinzutragen, da hörte ich Stimmen.

„Bitte hierher“, sagte Tante Karen. „Das junge Mädchen, ist eben angekommen, sie ist wohl beim Auspacken. Ein Glück, daß ich Sie getroffen habe. Hätte ich nur gewußt, wann Sie kommen, so hätte ich Sie am Bus abgeholt – so, da wären wir.“

Da kam schon Tante Karen mit einem Koffer in der Hand und hinter ihr eine hohe, schlanke weibliche Gestalt.

„Na, Ginakind, da bist du ja. Dies ist also meine kleine Freundin Gina Rieger, und dies ist…“

„Die Vorstellung ist überflüssig, Frau Hanning“, sagte eine mir nur allzu gut bekannte Stimme. „Gina und ich kennen einander.“

Ich hatte unwillkürlich die Hand zur Begrüßung ausgestreckt. Sie begegnete einer anderen Hand. Einer schmalen, etwas knöcheligen Frauenhand.

Ich stand mit meiner Hand in der von Fräulein Mosgard. Was mir alles in den ersten Sekunden durch den Kopf fuhr, war

so verwirrt, so ein Durcheinander, daß ich mich nicht daran erinnern kann. Aber quer durch das Staunen und das Entsetzen schoß ein Gedanke hervor, wie ein Blitz, ein leuchtend klarer Gedanke. Und der sah ungefähr so aus:

,Gina, jetzt hast du die große Gelegenheit! Sieh zu, daß du sie dir nicht selbst verdirbst! Nimm deine Chance wahr, ergreif sie in der Sekunde, in der sie dir geboten wird!’

Und genau das tat ich auch. Ich drückte Fräulein Mosgard kräftig die Hand und lächelte. Ich

betete, daß meine Stimme natürlich klingen würde, als ich sagte: „Das war aber eine nette Überraschung, Fräulein Mosgard!“ Eine Spur von Verwunderung, von fragendem Erstaunen glitt

über das ernste Gesicht. „Wußtest du denn nicht, daß ich es war, die hier…?“ „Keine Ahnung! Ich glaubte, daß eine der Kassiererinnen aus dem

unteren Blaubotten hier wohnen sollte!“

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„Ach, mein Liebes!“ sagte Tante Karen. „Habe ich vergessen, dir das zu sagen? Also nein, sie hatte anderwärts ein Zimmer bekommen, und ich war so froh, als Fräulein Mosgard… Aber sagen Sie mir doch, Fräulein Mosgard: Gina ist doch wohl nicht eine Ihrer Schülerinnen?“

„Und ob sie das ist!“ lachte ich. „Das schlimmste Problemkind und die schrecklichste Plaudertasche in der ganzen Klasse! Fräulein Mosgard, wußten Sie auch nicht, daß…?“

„Nein, Frau Hanning sagte nur, in das andere Zimmer zöge eine Schülerin ein.“

„Armes Fräulein Mosgard!“ sagte ich. Ich hielt krampfhaft an dem munteren Ton fest. In gewisser Weise half er mir über den ersten Schock hinweg. „Nicht genug, daß Sie diese Schwatzbase in der Schule ertragen müssen, jetzt haben Sie nicht einmal zu Hause Ruhe vor ihr!“

„Es war aber entschieden besser mit dir in den letzten Tagen, Gina“, sagte Fräulein Mosgard. Und dann lächelte sie! So wahr ich hier stehe, sie lächelte! Nicht sehr ausgiebig und nicht lange, aber es war doch ein Lächeln!

Zwanzig Minuten später saß ich aufrecht neben dem Haufen Bettzeug auf dem Sofa, starrte in die Luft und versuchte, mich von dem Schock zu erholen. Wenn Brigitte Bardot oder die Kaiserin Farah meine Mitmieterin geworden wäre, hätte ich nicht fassungsloser sein können.

Es wäre gelogen, wenn ich behauptet hätte, ich sei froh über den Gang der Dinge. Aber es war etwas in mir, was stärker war als der Schrecken. Ich glaube, ich muß es Sportsgeist nennen! Es stellte für mich eine sportliche Herausforderung dar, Fräulein Mosgard zum Lächeln zu veranlassen, sie dazu zu bringen, ein bißchen menschlich zu sein!

Aber freilich mußte ich auch lachen. Ein Stündchen früher hatte ich dagesessen und an Fräulein Mosgard gedacht, erleichtert darüber, daß ich nichts mit ihr zu tun hatte. Wie tröstlich erschien es mir, sie den überwiegenden Teil des Tages nicht sehen zu müssen – und eine halbe Stunde später standen wir uns als Mieterinnen von Torbjörns Wohnung gegenüber!

Wenn man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll, soll man immer das Lachen wählen. Das ist eine Weisheit, die ich von Tante Randi habe.

Also setzte ich mich hin und lachte.

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Tante Karen rief nach mir. Das Abendessen wartete. Ich hatte ja das Glück, in Vollpension zu leben. Drunten in Torbjörns Küche war Fräulein Mosgard geschäftig, und wenig später hörten wir das Klappern einer Schreibmaschine. Unglaublich, schrieb sie auch auf der Maschine? Ich hatte immer gedacht, wenn eine Lehrerin schrieb, so tat sie das entweder mit dem Füllfederhalter in den Zeugnisbüchern oder mit Rotstift in den Aufsatzheften.

„Ein spaßiges Zusammentreffen mit deiner Lehrerin, nicht wahr?“ sagte Tante Karen.

„Ja, das kann man wohl sagen! Wie, in aller Welt, ging denn das nur zu, Tante Karen?“

„Der reine Zufall, weißt du. Als es mit der Dame aus dem Selbstbedienungsladen nicht klappte, erwähnte ich so nebenbei etwas im Hausfrauenverein.“

„In was für einem Ding?“ „Im ,Verein Blaubottener Hausfrauen’, wenn du es ganz genau

wissen willst. Du weißt anscheinend nicht, daß ich dort ein geschätztes Mitglied bin! Also, ich erwähnte, ich hätte’ ein Zimmer, das ich gern vermieten wollte. Eine der Damen wußte von jemandem, der von jemandem gehört hatte, der eine Bekannte hatte, die – und so weiter. Jedenfalls kam Fräulein Mosgard gestern her und mietete das Zimmer sofort. Sie fragte, ob es passen würde, wenn sie heute einzöge, und wie gesagt, ich vergaß völlig, dir das zu erzählen. Aber du bist doch sicherlich damit einverstanden, Gina? Ich hoffe doch, daß du mit deiner Lehrerin gut Freund bist.“

„Sie ist noch neu bei uns“, sagte ich. „Aber ich will sehr gern gut Freund mit ihr werden. Gesegnete Mahlzeit, Tante Karen, ich gehe hinunter und packe fertig aus. Außerdem muß ich früh zu Bett, gar nicht davon zu reden, daß ich es dringend nötig habe, zwei Seiten Geschichte zu lesen!“

„Gute Nacht denn, meine Liebe. Merk dir gut, was du träumst; du weißt, die erste Nacht an einem neuen Ort…“

„Es ist gar nicht die erste Nacht“, lachte ich. „Ich habe doch vor einer Woche hier schon übernachtet. Damals träumte ich, daß ich auf einem Kamel quer über den Schulhof und die Treppe hinauf ins Klassenzimmer ritt!“

Ich stieg in meine Unterwelt hinunter und fing an, die Wäsche und die Strümpfe in die Schubladen zu räumen. Meine Gedanken wanderten hin und her, zuweilen waren sie im Nebenzimmer bei Fräulein Mosgard, zuweilen waren sie in Berlin, und dann wieder

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machten sie einen Abstecher in die Zukunft, bis zur Hochzeit. Morgen sollte ich wieder mein Kleid, und zwar zum letzten Male, anprobieren. Nächsten Montag war schulfrei. Geggi und ich wollten dann zur Stadt fahren und uns Schuhe kaufen.

Aus meinen Schuh- und Kleiderträumen wurde ich durch ein Klopfen an der Tür aufgeweckt.

Es war Fräulein Mosgard. „Verzeihung, daß ich störe, Gina…“ „Bitte, kommen Sie herein, Sie stören nicht im geringsten!“ In

aller Eile nahm ich einen Haufen Wäsche vom Lehnstuhl. „Setzen Sie sich bitte, Fräulein Mosgard.“

„Danke, aber ich möchte nur mit dir verabreden, in welcher Reihenfolge wir morgens das Badezimmer benutzen wollen.“

„Das bestimmen natürlich Sie. Wann stehen Sie auf?“ „Ach, ich bin immer früh auf den Beinen. So gegen sechs, ich

muß doch Frühstück machen und möchte gern den Bus um halb acht erreichen.“

„So zeitig? Reicht es nicht mit dem Bus ein Viertel vor acht?“ „Doch, eigentlich schon, aber ich komme nicht gern in der letzten

Minute zum Dienst. Da ist es wohl das beste, wenn ich zuerst ins Badezimmer gehe.“

„Ja, bestimmt. Ich bleibe sicher bis halb sieben im Bett.“ Fräulein Mosgard zögerte ein wenig und sagte dann: „Ich habe leider das Pech gehabt, meine Weckeruhr auf den

Boden fallen zu lassen – ich werde das morgen in Ordnung bringen lassen, aber…“

„Sie können meinen Wecker nehmen!“ sagte ich. „Ich muß Sie dann allerdings bitten, mich zu wecken, wenn Sie im Bad fertig sind.“

„Natürlich. Vielen Dank, Gina, es ist sehr lieb von dir.“ „Das ist doch selbstverständlich! Aber seien Sie auf eine

Mordsarbeit gefaßt. Sie ahnen nicht, wie schwer es ist, mich zu wecken. Ich schlafe wie ein Murmeltier. Wenn Sie es auf andere Weise nicht schaffen, dann rate ich Ihnen, das Radio auf volle Lautstärke einzustellen, das hilft sicherlich.“

Wieder glitt das kleine scheue Lächeln über Fräulein Mosgards Gesicht. Ihr seltenes kleines Lächeln, das erstarb, ehe es die Augen erreichte.

Aber einerlei. Ich hatte sie zum Lächeln gebracht!

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Ein Brief von Mette Wie recht hatte Torbjörn doch gehabt!

Die Stunde im Bus war wirklich Goldes wert! Ich machte Schulaufgaben, daß die Umwelt für mich gar nicht existierte. Dadurch war ich besser auf die Schule vorbereitet als je zuvor!

Natürlich fiel es mir schwer, so früh aufzustehen, aber noch hatte das Ganze den Reiz des Neuen. Mittags freute ich mich immer darauf, nach Hause zu kommen. Es war warm und gemütlich in der Küche bei Tante Karen, und es roch nach gutem Essen. Wir aßen in einem bequemen Winkel mit einer Eckbank – im Eßzimmer wurde nur gedeckt, wenn Gäste da waren.

Fräulein Mosgard wirtschaftete unten für sich allein; sie war so leise, daß wir sie kaum wahrnahmen. Wir hörten manchmal das Geräusch fließenden Wassers und zuweilen das leise Klappern eines Kochtopfes, das war alles. In meinem eigenen Zimmer hörte ich oft ihre Schreibmaschine, aber sie hatte sie wahrscheinlich auf einer dicken Filzplatte stehen, denn nur ein gedämpftes Geräusch war vernehmbar.

Natürlich war es schön, daß sie so ruhig war und so wenig in Erscheinung trat. Das führte allerdings dazu, daß ich mich verpflichtet fühlte, auch sehr rücksichtsvoll zu sein. Deshalb vermißte ich meine allabendliche Musik um so mehr. Es gibt die seltsamsten Gewohnheiten, die der Mensch sich zulegen kann. Meine kleine Schwäche war nun eben die Schallplatte, die ich beim Einschlafen ablaufen ließ.

Aber spät am Abend Platten spielen, das wollte ich nun doch nicht!

Wenn Fräulein Mosgard den Eindruck bekam, ich sei rücksichtslos, würde dieses Gefühl bestimmt nicht meinem Plan dienen, nämlich, sie aufzutauen, sie zum Lächeln zu bringen, sie ein wenig umgänglicher zu machen.

Eines Tages geschah es, daß ein wohlbekannter blauer Wagen vor der Schultür stand, als ich herauskam. Torbjörn lächelte mir entgegen.

„Hei, da bist du ja, du Racker! Komm sofort hierher, du sollst Prügel bekommen.“

Er hielt die Wagentür auf. „Glaubst du, deine Mutter erlaubt dir, mich zu verhauen?“

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„Nein, das ist es gerade, das wird sie nicht tun, und da ich ein folgsamer Sohn bin, muß ich also davon Abstand nehmen. Aber du bist mir ein schönes Früchtchen! Packt die Zahnbürste ein und zieht daheim einfach aus, ohne Assi oder mir einen Ton zu sagen!“

„Das ist deine eigene Schuld, lieber Schwager! Jedesmal, wenn ich eine Idee habe, wird sie überstimmt. Diesmal wollte ich sie aber durchführen! Tante Karen war auch mit mir einig. Es ist kaum glaubhaft, daß du, der du so ein Schafskopf bist, eine so kluge und vernünftige Mutter haben sollst.“

„Es gibt etwas, das noch unglaubhafter ist“, sagte Torbjörn. „Daß so ein Schafskopf höchst unverdient die bezauberndste Frau dieser Erde als Eheweib bekommt. Können wir jetzt fahren? Wünscht Euer Gnaden geradewegs nach Hause zu fahren, oder hat das gnädige Fräulein zuerst noch etwas zu besorgen?“

„Nein, fahr nur – ach nein, warte ein Weilchen! Können wir nicht Fräulein Mosgard mitnehmen?“

„Mosgard? Ich habe noch nicht die Ehre gehabt. Ist sie hübsch?“ „Nein, aber sie ist meine Lehrerin und die Mieterin deiner

Mutter.“ „Ach ja, richtig, Mosgard heißt sie wohl! Ja, so etwas leitet meine

unternehmungslustige Mutter in die Wege, während ich nichtsahnend in Berlin sitze! Schön, sieh zu, daß du diese Mosgard herzauberst, damit wir sie ins Auto setzen, das macht keinen Unterschied.“

Ich lief zurück, quer über den Schulhof, ins Schulgebäude, die Treppe hinauf und schnurstracks auf das Lehrerzimmer zu. Auf dem Gang wäre ich beinahe mit dem Direktor zusammengestoßen.

„Nanu, Gina, hast du etwas vergessen?“ „Keineswegs, ich wollte nur sehen, ob ich Fräulein Mosgard

finden kann, um sie zu fragen, ob sie mit meinem Schwager nach Hause fahren will – er ist mit dem Wagen hier.“

„Das will sie doch sicher. Nett, daß du daran gedacht hast, Gina. Ich glaube, Fräulein Mosgard ist noch im Lehrerzimmer.“

So war es auch. Als ich meine Frage aussprach, bekam ihr Gesicht einen neuen Ausdruck, einen Ausdruck des Staunens – ja, ich hätte beinahe gesagt, einer gewissen Unsicherheit.

„Danke, gern – das war wirklich liebenswürdig von deinem Schwager…“

Eigentlich war es ja meine Idee’, dachte ich, aber das sagte ich natürlich nicht.

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Als wir zusammen im Gang an dem Direktor vorbeigingen, lächelte er uns zu. Es schien mir fast, als könnte ich ein leichtes Blinzeln in seinen Augenwinkeln entdecken. Vielleicht dachte er auch an das Gespräch in seinem Büro.

Ich warf meine Schultasche in den Rücksitz des Wagens und mich selbst hinterher, so daß Fräulein Mosgard vorn sitzen konnte. Abgesehen von den üblichen höflichen Worten bei der Vorstellung sagte sie nicht viel. Ich dagegen konnte natürlich den Mund nicht halten.

„Wann bist du gekommen, Torbjörn? Und wie war es in Berlin? Hat Assi schön gesungen? Hast du mir etwas Schönes mitgebracht? War das Fliegen fein? Warst du im Zoo in Berlin? Hast du dort das Vogelhaus gesehen?“

„Halt!“ sagte Torbjörn. „Du weißt, ich habe gesagt, ich könne nicht mehr als zehn Fragen auf einmal behalten. Also, ich kam heute früh an und nahm den Bus nach Hause zu Mutter. Dort erfuhr ich von deinen Schandtaten und von deiner Übersiedlung – fuhr dann in die Stadt, um nachzusehen, was sie im Kontor für Dummheiten angestellt hatten, während ich fort war, und dann fiel mir ein, daß ich dich abholen könnte. Siehst du, wie lieb ich bin. Was gab es noch? Ja, also, es war großartig in Berlin. Assi sang wie ein Engel, ich beneidete direkt Lohengrin…“

„Ach nein, so etwas! Hast du ihn beneidet, der doch davonziehen muß, ohne seine Geliebte zu bekommen? Denk nur, wenn eines Tages eine Taube käme und dich von Assi wegführte?“

„Das ist ja erstaunlich, wie gut du den Verlauf der Dinge in Lohengrin kennst! Was war das nächste – ach ja, ich habe etwas für dich mitgebracht, es steht in deinem Zimmer – der Flug war wunderbar, wir bekamen ein prachtvolles Frühstück zwischen Kopenhagen und Oslo. Der Zoo? Doch, wir waren gestern vormittag dort, ich fotografierte Assi mit einem Löwenjungen in den Armen.“

„Da hast du wohl das Löwenjunge auch beneidet?“ „Und ob ich das tat! Ja, wir waren im Vogelhaus, und da stand ich

lange tief gerührt vor dem Papageienkäfig, weil mich die Papageien so lebhaft an meine Schwägerin erinnerten!“

„Habe ich nicht einen schlimmen Schwager, Fräulein Mosgard?“ sagte ich. „Können Sie verstehen, daß ich trotz alledem gut Freund mit ihm bin?“

„Ja, das kann ich eigentlich“, sagte Fräulein Mosgard. Sie saß ja vor mir, so daß ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, aber es schien mir

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tatsächlich, daß ein kleines Lächeln in ihrer Stimme erklang. „Ich bin überzeugt, daß Fräulein Mosgard mit mir

übereinstimmt“, sagte Torbjörn. „Wie bringen Sie es im allgemeinen fertig, dieser jungen Dame den Mund zu stopfen, Fräulein Mosgard?“

„Tja-a-a…“ zog Fräulein Mosgard die Antwort in die Länge. „Mit einem strengen Blick!“ sagte ich. „Und einmal mit einem

Strafzettel!“ „Nur einmal? Das bleibt gewiß nicht das letzte Mal“, sagte

Torbjörn. „Aber das mit dem strengen Blick müssen Sie mir beibringen, Fräulein Mosgard. Sonst brauchen Sie mir ja nur Bescheid zu geben, wenn sie sich gar zu unmöglich benimmt. Wenn ich mich mit ihrer Schwester verheirate, bin ich doch ihr Vorgesetzter; ich werde mir morgen für alle etwa eintretenden Fälle einen soliden Rohrstock kaufen!“

„Da wird Assi sich von dir scheiden lassen“, sagte ich. „Oder sie wird dir die Augen auskratzen.“

„Reizende Aussichten für unser Familienglück“, lachte Torbjörn. So trieben wir weiter unsere Späße, lachten und rissen dumme

Witze. Fräulein Mosgard sagte nicht viel. Aber mir kam der Gedanke, daß diese Tonart vielleicht gerade für sie angebracht war. Sie sollte nur hören, daß es Menschen gab, die so froh und vergnügt waren und die ihre Freude als munteren Unsinn äußerten.

„Um auf etwas anderes zu kommen: Hast du seitdem wieder Pilze gesammelt?“ fragte Torbjörn ein wenig später.

„Nein, besten Dank. Mein Bedarf an Pilzen ist zumindest für dieses Jahr gedeckt!“

Da sagte endlich Fräulein Mosgard etwas. „Pilze – war das nicht in Blaubotten, wo vor einer oder zwei

Wochen die Sache mit den Giftpilzen passierte? Ich habe etwas in der Zeitung darüber gelesen, daß ein geistesgegenwärtiges junges Mädchen Menschenleben gerettet hat.“

„Sie können sie selbst danach fragen“, lachte Torbjörn. „Die Geistesgegenwärtige nämlich – sie sitzt hinten im Wagen.“

In diesem Augenblick drehte Fräulein Mosgard sich um, und jetzt war ihr Gesicht weit aufgeschlossener, als ich es je vorher bei ihr gesehen hatte.

„Gina, warst du es, die diese phantastische Idee hatte, den Strom sperren zu lassen?“

Ich merkte, daß ich rot wurde, und versuchte, den munteren Ton

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beizubehalten. „Ich habe immer phantastische Ideen, nur wollen mein Schwager

und meine Schwester das nicht einsehen“, sagte ich. „Dieses eine Mal war es wirklich eine gute Idee“, sagte Torbjörn.

„Tatsache ist jedenfalls, daß sie zwei der Familien gerettet hat. Die guten Leutchen hatten nämlich den Lautsprecherwagen nicht gehört. Wäre der Strom nicht ausgeschaltet worden, so hätten sie vermutlich gegessen, ehe wir sie finden konnten.“

„Das ist gerade noch gut abgegangen“, sagte ich. „In der einen Familie stand die Hausfrau da und dämpfte Pilze auf dem Primuskocher und wollte sie eben abschmecken. Man kann sich vorstellen, was sie dachte, als ein wildfremdes Mädchen in die Küche gestürzt kam und ihr den Löffel aus der Hand schlug, so daß die Pilze in die Gegend spritzten!“

„Und davon hast du nicht ein Wort erzählt!“ sagte Fräulein Mosgard.

„Aber nein, warum hätte ich das tun sollen“, sagte ich. „In Blaubotten wissen es ja alle und nennen mich in den Läden und auf der Post das Pilzmädchen.“

Fräulein Mosgards Augen ruhten auf mir. „Das hast du gut gemacht, Gina“, sagte sie. Da entdeckte ich etwas sehr Sonderbares. Tante Karen hatte mich

an jenem bewegten Sonntag in die Arme genommen und gesagt, ich sei das Mädchen des Jahrhunderts. Torbjörn hatte gesagt, er sei stolz auf mich. Wildfremde Menschen hatten mich unterwegs angehalten und schöne – allzu schöne – Dinge zu mir gesagt. Der Direktor des Elektrizitätswerkes hatte mich angerufen, um mir ein paar sehr schmeichelhafte Worte zu sagen. In der Zeitung hatten sie auch nett über mich geschrieben.

Aber nichts von alledem hatte mich so sehr erfreut wie die paar einfachen Worte von Fräulein Mosgard: „Das hast du gut gemacht, Gina.“

Weshalb ich das so empfand, verstand ich selbst nicht. Ein paar Tage darauf kam Tante Randi in der großen Pause in die

Schule, um mir zwei Briefe zu übergeben, die am selben Morgen gekommen waren. Der eine war von Anny; er war lang und ausführlich, und die Rechtschreibung darin war unbeschreiblich. Der andere war noch länger und mit der Maschine geschrieben. Er war von Helga, und darin lag ein kleiner Zettel von Mette.

Erst auf der Heimfahrt im Bus konnte ich anfangen zu lesen. Aber

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die Zeit reichte nur zu dem Brief von Anny und der Hälfte von Helgas Schreiben. Annys Schrift stand im Einklang mit ihrer Rechtschreibung, so daß es Zeit kostete, sich hindurchzuarbeiten. Arme kleine Anny! Gott sei Lob und Dank, daß sie uns im Sommer in den Weg gelaufen war und daß Torbjörn und sein Bruder sie vor dem entsetzlichen Pflegevater gerettet hatten, vielleicht sogar vor noch Schlimmerem.

Als ich nach Hause kam, eilte ich so schnell wie möglich nach unten, um meine Schultasche in die Ecke zu werfen. Ich nahm nur Helgas Brief mit hinauf, um ihn beim Mittagstisch ganz zu lesen und Tante Karen seinen Inhalt zu erzählen. So viel hatte ich schon aufgeschnappt, daß Helga und ihre Familie nach Weihnachten nach Oslo zurückkehren sollten. Das wäre schön, wenn ich sie wiedersehen könnte, und vor allem Helga und Assi hätten dann Gelegenheit, sich kennenzulernen!

Ich las und erzählte. Tante Karen nahm regen Anteil, und wir sprachen wieder von all den spannenden Ereignissen im letzten Sommer, von Anny und dem Gewitter, von Helgas Erkrankung und wie ich mitten in der Nacht den Arzt holte – und wie alles damit endete, daß Torbjörn und Assi so unsagbar glücklich wurden.

Nach Tisch setzte ich mich mit dem Briefblock und dem Kugelschreiber hin, um gleich ein paar Worte an Helga zu schreiben. Ich hatte ihr ja so viel zu erzählen. Wie so häufig fing ich damit an, mich mit dem Kugelschreiber zu beschmieren. Ich drücke immer beim Schreiben so hart auf, daß es Flecken gibt. Meine Hände sehen dann dementsprechend aus.

Ich mußte ins Badezimmer gehen und mich waschen. Während ich dastand und mir die Finger schrubbte, fielen meine Augen auf ein Papier auf der kleinen Kommode neben dem Waschtisch. Das war ein Brief, mit großen, mühsamen Kinderbuchstaben geschrieben. Ach ja, richtig, der Brief von Mette. Also hier hatte ich ihn liegenlassen, als ich vor dem Essen im Badezimmer war! Während ich weiter meine Hände wusch, glitten meine Augen die Seite abwärts. Offensichtlich las ich die Rückseite des Briefes, aber jetzt konnte ich ihn mit meinen seifennassen Fingern nicht umdrehen.

… ich sene mich sehr nach dir und kannst du nicht kommen und mich bald besuchen ich kann jetzt ale Buchstaben, es ist lustig, in die Schule zu gehen und Grosmutter sagt ich bin tüchtig im striken. ich werde dir etwas schönes zu Weihnachten striken. du must dich beeilen gesund zu werden damit du zu mir körnen kanst. tausend

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Küsse fon deiner kleinen Mette. Komisch. Warum schrieb Mette, daß ich bald wieder gesund

werden sollte? Verwechselte sie mich mit jemand anderem? Mette und ich waren wohl gute Freunde, aber doch nicht so sehr, daß es sie zu tausend Küssen berechtigen konnte! Großmutter sagt, sie sei tüchtig – aber, Liebes, Großmutter war doch jetzt gar nicht dort… Ich trocknete mir die Hände und wendete den Brief, um den Anfang zu lesen.

Und da stand mit großen, deutlichen Kinderbuchstaben: Meine libe Mama! Mama? Wie, in aller Welt, kam Mette dazu? Jetzt verstand ich gar

nichts mehr. Wieder drehte ich den Brief um. … tausend Küsse fon deiner kleinen… Aber du meine Güte, da

stand ja gar nicht Mette! Die Unterschrift war klein und undeutlich, ganz zuunterst auf den vollgeschriebenen Bogen gekritzelt. Es war nicht erstaunlich, daß ich sie als Mette gelesen hatte, aber jetzt sah ich, daß da Milli stand.

Aber – dieser Brief war ja gar nicht an mich gerichtet! Du lieber Himmel, was hatte ich getan! Ich hatte hier gestanden und einen Brief gelesen, der für einen anderen Menschen bestimmt war!

Aber es gab ja nur einen einzigen anderen Menschen, der außer mir dieses Badezimmer benutzte. Niemand sonst als ich – und Fräulein Mosgard.

„Meine libe Mama…“ Es war Fräulein Mosgard, die einen Brief von einem kleinen

Mädchen bekommen hatte. Einem kleinen Mädchen, das eben schreiben gelernt hatte. Einem

kleinen Mädchen, das bei seiner Großmutter wohnte. Einer kleinen Milli, die Fräulein Mosgard „meine liebe Mama“ nannte.

Ich legte den Brief dahin zurück, wo er gelegen hatte, und schlich mich aus dem Badezimmer hinaus. Mein Herz klopfte so stark, daß ich es hörte. Wenn doch nur Fräulein Mosgard nicht entdeckte, daß ich den Brief gelesen hatte – wenn sie nur nicht gehört hatte, daß ich ins Badezimmer gegangen war! Ach, das arme, arme Fräulein Mosgard! War es nicht ganz klar, daß sie so verschlossen und ernst war? Konnte es einen wundern, daß sie nicht scherzen und lachen und vergnügt sein konnte, wenn sie sich dauernd nach ihrem Kind sehnte?

Ja, aber – wenn sie nun aller Welt ohne Scheu erzählt hätte, daß sie ein Kind hatte? Würde sie jemand deswegen verdammen?

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Jedenfalls niemand in unserer Klasse! So viel wußte ich. Aber – vielleicht einige von den Eltern. Möglicherweise auch ein paar Kollegen. Es konnte auch sonst noch Leute geben, die so verhärtet und pharisäerhaft waren, daß sie eine Frau schief ansahen, weil sie ein Kind hatte, ohne verheiratet zu sein.

Das arme Fräulein Mosgard! Sie stammte aus einer Kleinstadt, aus einer der kleineren

Küstenstädte, das hatte ich irgendwo gehört. In so einer kleinen Stadt wurde wohl geschwatzt und geklatscht, und jeder kannte jeden. Vielleicht war das für Fräulein Mosgard so unerträglich gewesen, daß sie sich aus diesem Grunde um eine Stellung in einer großen Stadt beworben hatte, wo sie unbeachteter leben konnte.

Eines wußte ich: Was ich heute erfahren hatte, das durfte ich keinem Menschen erzählen. Ich mußte so tun, als ob ich diesen unglückseligen Brief nie gesehen hätte.

Ich mußte mich benehmen, als ob mir diese rührenden Kinderbuchstaben: „meine libe mama“ nie vor die Augen gekommen wären.

Kleine Milli, die nach der Mutter Heimweh hatte! Aber warum schrieb sie „du mußt dich beeilen, gesund zu

werden“? Vielleicht hieß das, Mama sei krank und habe deshalb von Milli fortfahren müssen. Man konnte ja nicht wissen, was Großmutter für Ausreden und Erklärungen benutzte.

Warum wohl hatte Fräulein Mosgard nicht geheiratet? Wollte es der Mann nicht? Kümmerte er sich nicht um sie? Oder war er tot? Oder – war er mit einer anderen verheiratet? Nein, das konnte ich nicht glauben. Aber vielleicht war er gleichgültig und gewissenlos gewesen, war verschwunden und hatte Fräulein Mosgard ihrem Schicksal überlassen.

Herrgott, war es da zu verwundern, wenn sie niedergedrückt war, wenn sie kein Lächeln zustande brachte, wenn sie hin und wieder einen bitteren Zug im Gesicht hatte?

Vielleicht – vielleicht konnte ich alles Assi erzählen. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit natürlich. Assi wußte immer Rat. Assi war reich. Wenn etwas mit Geld in Ordnung gebracht werden konnte, so würde Assi es auf eine diskrete und taktvolle Art tun.

Ich saß am Schreibtisch und starrte gedankenvoll vor mich hin. Da fiel mir etwas ein, was mich ganz froh machte. Als ich in der Klasse erzählt hatte, ich wohne im selben Haus, ja

sogar in derselben Wohnung wie Fräulein Mosgard, hatten die

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anderen vor Schrecken aufgeschrien. Nein, so ein Pech! Ich armes Wesen – man denke sich, diesen Kinderschreck Tag und Nacht in der Nähe zu haben! Und jetzt würde ich wohl nicht dort wohnen bleiben?

„Aber klar bleibe ich da wohnen“, sagte ich. „Wißt ihr nicht mehr, wie wir davon sprachen, wir wollten versuchen, Fräulein Mosgard aufzuheitern? Habe ich jetzt nicht eine gute Gelegenheit dazu? Und ihr auch, wenn ihr mich besuchen kommt.“

„Du bist verrückt“, sagte Turid. „O nein, nicht mehr als sonst“, lachte ich. „Aber ist das vielleicht

kein guter Sport? Es macht doch Spaß, Aufgaben zu lösen. Denkt doch nur, wie versessen ich auf Kreuzworträtsel bin, und diese Aufgabe ist doch viel schwieriger!“

„Ja, da kann ich dir nur recht geben“, sagte Sonja. „Eins senkrecht: gräßliche Vogelscheuche, eins waagerecht: reizende Lehrerin…“

„Wenn mir das passiert wäre, hätte ich den ganzen Tag lang Beatmusik gespielt, dann wäre sie schon ausgezogen!“ äußerte sich Giske. Giske war an diesem Tag besonders verbittert, denn sie hatte gerade einen saftigen Tadel mit nach Hause bekommen.

„Versteht ihr denn nicht – ich habe einfach keine Lust, ekelhaft gegen sie zu sein!“ sagte ich, und auf einmal fühlte ich mich so hilflos. Ich verstand selbst nicht recht, was in mir vorging. Wie sollte ich dann die anderen dazu bringen, mich zu verstehen?

„Ätsch, du bist ja ein richtiger Tugendspiegel geworden!“ neckte mich Giske.

Aber das mit dem Tugendspiegel mußte sie in der nächsten Stunde hübsch zurücknehmen! Denn da vergaß ich mich und war vorlaut gegen Studienrat Franzen. Zum Glück hielt er nichts davon, Strafzettel auszuteilen. Diesmal tat er etwas anderes. Er blieb ganz ruhig, rief mich nach vorn ans Katheder und zeigte auf die Ecke hinter der Tafel.

„Es ist besser, wenn du dich dort hinten hinstellst“, sagte er. „Ich habe im Augenblick nicht viel Lust, dich gerade vor mir zu sehen.“

Und wer zehn Minuten lang in der Ecke stehen mußte wie ein ungezogenes kleines Kind, das war ich.

Natürlich schämte ich mich. Aber trotz allem war es schön, als Giske das Wort „Tugendspiegel“ zurücknehmen mußte!

Nun saß ich also hier und war innerlich recht froh, damals der ganzen Klasse gegenüber meine Meinung gesagt zu haben, nett

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gegen Fräulein Mosgard zu sein und den Versuch zu machen, sie aufzutauen.

Ob ich je damit Erfolg haben würde, wußte ich nicht. Aber daß ich nach dem, was ich jetzt erfahren hatte, immer nett zu ihr sein wollte, das war unumstößlich!

Ich schob den angefangenen Brief an Helga beiseite und öffnete die Schulmappe. Ich wollte meine Englisch-Aufgabe lernen. Im Augenblick sah ich keine andere Möglichkeit, ihr Freude zu machen.

Als ich das Englisch-Buch öffnete, fiel ein Papier heraus. Hier war er, der Brief von Mette! Ich schob ihn zur Seite. Für heute hatte ich genug von

Kinderbriefen. Also versuchte ich, mich auf Oliver Twist zu konzentrieren. Aber

das war schrecklich schwierig. Denn die ganze Zeit drehten sich meine Gedanken um ein kleines sehnsuchtsvolles Mädchen, das Milli hieß.

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Wochenend mit Geggi „Du bist ein Scheusal, Torbjörn“, sagte ich zwei Tage später beim Mittagessen.

„Hast du das jetzt auch entdeckt?“ sagte mein lieber Schwager. „Darf ich fragen, wie du gerade jetzt zu dieser Feststellung kommst?“

„Du schläfst zu lange am Morgen. Du versäumst deine Arbeit. Du solltest Punkt neun Uhr in deinem Kontor sein, aber was tust du? Du liegst und schnarchst, anstatt aufzuspringen, unter die kalte Dusche zu hüpfen und dann morgenfrisch und munter deinen Karren genau um acht Uhr fünf zu starten, so daß eine arme, überanstrengte Schülerin mit zur Stadt fahren könnte.“

„Zuzüglich einer mindestens ebenso überanstrengten Lehrerin“, sagte Torbjörn. „Schön, wir werden sehen, was wir tun können. Jedenfalls kannst du damit rechnen, daß du heute zum Essen heimgefahren wirst.“

„Wunderbar! Ich habe nämlich Geggi zum Wochenendbesuch eingeladen. Mit Tante Karens Erlaubnis.“

„Wollt ihr Pilze sammeln?“ fragte Torbjörn. „Ja, weißen Knollenblätterschwamm – für dich! Nein, mein

Lieber, ich sammle im Leben keine Pilze mehr!“ „Das ist hoffentlich nicht dein Ernst“, lächelte Tante Karen. „Es

wäre doch schade, alle die herrlichen Pfifferlinge und Steinpilze, die Reizker und Stockschwämmchen stehen zu lassen, nur weil es auch giftige Pilze gibt! Du kannst es ja sicherheitshalber bleiben lassen, junge Boviste zu pflücken, oder wenn du es tust, dann schneide sie durch; du weißt, was ich dir neulich zeigte.“

„Du hast recht wie immer – wie fast immer, Tante Karen“, sagte ich. „Aber diesmal werden wir also keine Pilze suchen. Wir werden es uns im stillen Kämmerlein gemütlich machen und von der Hochzeit schwatzen. Bist du dir darüber klar, daß du in vierzehn Tagen heiraten sollst, Torbjörn?“

„In sechzehn“, sagte Torbjörn. Er schaute auf die Uhr. „In sechzehn Tagen, einer Stunde und dreiunddreißig Minuten.“

„Ach, was ich sagen wollte, Tante Karen“, sagte ich. „Ich übernachte nach der Hochzeit bei Geggi, so daß Christian und seine Frau mein Zimmer haben können.“

„Danke, Ginakind, aber du weißt, das Gastzimmer ist dann ja

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auch frei. Aber es ist doch gut, für alle Fälle von dieser Möglichkeit zu wissen. Eßt ihr nichts mehr von der Nachspeise? Ihr seid doch eine unmögliche Gesellschaft. Ich kann sie nicht aufbewahren, sie fällt zusammen wie ein Lappen, ehe eine Stunde vergangen ist. Könnt ihr wirklich nicht mehr?“

„Das hättest du früher sagen sollen, Tante Karen, dann hätte ich nicht so viel von dem Heilbutt gegessen. Jetzt kann ich wirklich nicht mehr!“

„Schade“, seufzte Tante Karen und warf einen wehmütigen Blick auf den Rest des delikaten Puddings. „Du, Gina – glaubst du, man könne Fräulein Mosgard fragen, ob sie Appetit auf Pudding habe?“

„Warum sollte das nicht möglich sein?“ sagte Torbjörn. „Ja, ich weiß nicht recht – sie ist so zurückhaltend. Sie spricht

doch beinahe kein Wort, ich habe ihr gegenüber gewissermaßen Hemmungen.“

„Das muß im Kalender rot angestrichen werden!“ rief Torbjörn aus. „Meine Mutter hat Hemmungen!“

„Ja, aber es ist wahrhaftig schade, wenn ich an alle die Eier in dem Pudding denke. Gina, du kennst Fräulein Mosgard besser – hast du den Mut, sie zu fragen?“

„Ich riskiere es!“ entgegnete ich. „Das Schlimmste, was mir passieren kann, ist, daß sie den Pudding ablehnt. Sie hat nicht Temperament genug, ihn mir an den Kopf zu werfen.“

Kurz darauf ging ich die Treppe hinunter, mit dem Pudding, der auf einem Glasteller hübsch angerichtet war.

Ich hörte das Klappern der Schreibmaschine aus Fräulein Mosgards Zimmer und klopfte vorsichtig an.

„Herein!“ „Verzeihung, daß ich störe“, sagte ich und fühlte mich hilflos und

ungeschickt. Es war so schwierig, einem so zurückhaltenden und verschlossenen Menschen etwas anzubieten.

„Ich sollte von Tante Karen fragen, ob Sie – ob Sie etwa bereit wären, uns zu helfen“, stotterte ich, und es gelang mir, ein Lächeln hervorzubringen. „Sie hat viel zuviel Zitronenpudding gemacht, und sie sagt, er muß unbedingt gegessen werden, ehe er zusammenfällt – und darum sollte ich fragen, ob Sie sich erbarmen könnten…?“

Eine Röte schoß in Fräulein Mosgards Wangen. „Eigentlich habe ich schon zu Mittag gegessen, aber – der sieht ja

ganz herrlich aus. Also tausend Dank! Du mußt Frau Hanning grüßen und ihr danken, sie ist sehr liebenswürdig.“

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Meine Blicke wanderten im Zimmer umher. Da fanden sie, was sie suchten: ein Kinderbild. Das Foto eines reizenden kleinen Mädchens mit hellen Locken.

Fräulein Mosgard folgte der Richtung meines Blickes. „Ist es dies Bild, das du anschaust? Ist sie nicht goldig, meine

kleine Patentochter?“ Es war ein neuer Ausdruck in Fräulein Mosgards Augen. Es war

Wärme in ihrem Blick und Wärme in ihrer Stimme. „Was für ein bezauberndes kleines Kind“, sagte ich. „Ja, sie ist wirklich lieb. Sie ist jetzt sieben Jahre alt und geht in

die erste Klasse.“ Fräulein Mosgards Tonfall setzte irgendwie dem Gespräch einen

Punkt. Ich wünschte ihr guten Appetit und zog mich zurück. Dann hörte ich kein Klappern der Schreibmaschine mehr. Sie aß jetzt wahrscheinlich ihren Pudding.

Sie hätte zu Mittag gegessen, hatte sie mir versichert. Ein Verdacht stieg in mir auf.

Ob sie sich wohl ein ordentliches Mittagessen machte? Ich hatte keine Spur von Essensgeruch in ihrer Wohnung wahrgenommen. Nichts, was auf ein schnell gebratenes Steak, ein Kotelett oder Spiegelei mit Speck hingedeutet hätte. Es sind wohl solche Schnellgerichte, zu denen berufstätige Frauen ihre Zuflucht nehmen.

Ihre Küche sah jederzeit so unbenutzt aus. Sauber, ordentlich und leer. Einmal allerdings hatte ich einen Grützetopf gesehen, der mit Wasser gefüllt zum Aufweichen hingestellt war. Einmal einen tiefen Teller mit einem Löffel. Aber ich war sehr selten in ihrer Küche. Ich hatte ja volle Pension bei Tante Karen.

In tiefe Gedanken versunken, ging ich wieder hinauf und teilte meine Beobachtungen Tante Karen mit.

„Weißt du, diesen Verdacht habe ich auch“, äußerte sich Tante Karen. „Nicht, daß ich herumschnüffle, um Himmels willen! Aber wenn ich daran denke, welchen Lärm und Betrieb solche Mieterinnen mit den Kochtöpfen und dem Abwasch veranstalten können, und wie der Geruch nach angebranntem Speck durch das ganze Haus ziehen kann, dann scheint mir dein Verdacht begründet. Aber wer weiß, vielleicht ißt sie in der Stadt!“

„Weit gefehlt! Sie eilt immer gleich zum Bus. Zuweilen geht sie in den Selbstbedienungsladen und kauft ein. Aber viel kann das nicht sein, denn ich habe sie nie mit einem gefüllten Netz oder einer schweren Tasche gesehen.“

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„Pfui, was sind wir doch für gräßliche Schnüffler“, sagte Tante Karen. „Das geht uns doch gar nichts an.“

„Nein“, pflichtete ich ihr bei. „Da hast du recht.“ Dann ging ich in mein Zimmer und versuchte, ein paar Gedanken

für einen norwegischen Aufsatz zu sammeln. „Erzähle von einem Bild, das du liebst.“

Es gab so viele Bilder, die ich liebte. Welches sollte ich wählen? Ich kaute an meinem Bleistift und überlegte lange. Dann

entschloß ich mich für Gainsboroughs „Blue Boy“. Jetzt klapperte die Schreibmaschine im Nebenzimmer wieder. „Riesig gemütlich!“ war Geggis Urteil, als sie mein Zimmer

wiedersah. „Einfach großartig! Aber wo soll ich schlafen?“ „Hier!“ sagte ich. „Das ist eine doppelte Schlafcouch, man muß

nur die Rückenlehne so nach unten umlegen…“ „Feine Sache! Du, Mutti hat mir Kuchen mitgegeben, damit wir

es uns in unserem Zimmer am Abend gemütlich machen können. Ich werde sie in den Kühlschrank stellen!“

Geggi ging in die Küche und kam gleich darauf wieder herein. „Da gab es ja Platz genug, das muß man sagen“, berichtete sie.

„Ich muß nur noch meine Pfoten vor dem Essen waschen – hallo, da ruft Tante Karen!“

„Wie ich euch kenne, wollt ihr wohl gern bei euch unten Kaffee trinken“, bemerkte Tante Karen nach Tisch. „Möchtet ihr Sahne haben? Nehmt diese Büchse hier – Kaffee und alles übrige hast du doch unten?“

„Kaffee und zwei Tassen und zwei Teller, alles, was dazugehört“, erwiderte ich. „Bist du froh, daß du uns jetzt los wirst?“

„Ja“, bekannte Tante Karen mit schöner Aufrichtigkeit. „Dann jetzt muß ich mich mit meinem Staatskleid hinsetzen. Ich habe den schlimmen Verdacht, daß es ausgelassen werden muß.“

„Da siehst du es, Tante Karen, du kochst zu gutes Essen!“ triumphierte ich.

„Ja, du weißt, ich habe doch die Verantwortung dafür, daß meine Mieterin nicht Hunger leidet“, lachte Tante Karen. „So, jetzt macht, daß ihr wegkommt. Wenn ich jetzt nicht Ruhe zum Arbeiten bekomme, dann habe ich zur Hochzeit nichts anzuziehen!“

„Daß die Mieterin nicht Hunger leidet“, wiederholte Geggi nachdenklich. „Aber ich bin gar nicht sicher, ob die andere Mieterin das nicht tut!“

„Was meinst du damit, Geggi?“ fragte Tante Karen mit

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aufmerksam forschendem Blick. „Ach, ich legte ein Kuchenpaket unten in den Kühlschrank, der

war buchstäblich leer, außer einer Packung Margarine und einer Milchflasche. Und das an einem Sonnabend! Wenn ich auf einer Bude hauste und für mich selbst sorgen müßte, hätte ich mir doch zum Sonntag ein Steak oder ein Kotelett oder etwas dergleichen gekauft.“

„Hm“, machte Tante Karen. „Du hast also auch schon angefangen, dich zu wundern, Geggi. Das tun Gina und ich schon lange.“

„Aber ich verstehe gar nicht – eine Studienrätin an einer Oberschule muß doch gut verdienen!“

„Vielleicht hat sie vom Studium her Schulden“, sagte Tante Karen. „Oder Familie, der sie helfen muß.“

Ich schwieg und biß mir auf die Lippen, um nicht zu erzählen, was ich entdeckt hatte. Mir war klar, weshalb Fräulein Mosgard sich nichts gönnte. Ich wußte, wo ihr Geld hinging. Aber ich hatte kein Recht, darüber zu sprechen. Ich durfte es eigentlich gar nicht wissen, aber ich konnte ja nichts dafür, daß ich es wußte.

Kleine Milli. Kleine, blondlockige Milli. „Mein Patenkind“, hatte Fräulein Mosgard gesagt. Wie schrecklich mußte es sein, wenn man nicht zu bekennen wagte, daß man ein Kind hatte – und ein so bezauberndes kleines Kind!

„Fräulein Mosgard tut mir so furchtbar leid“, sagte ich. „Das klingt aber ganz anders!“ wunderte sich Geggi. „Anfangs

hast du sie nur Vogelscheuche genannt, und jetzt hast du Mitleid mit ihr!“

„Ja, denn sie sieht immer so bekümmert aus – und wenn sie tatsächlich halbverhungert herumläuft, weil jemand da ist, dem sie helfen muß…“

„Hört zu“, sagte Tante Karen. „Zieht jetzt endlich ab, damit ich Ruhe bekomme. Dann werde ich etwas besonders Gutes zum Abend kochen und Fräulein Mosgard einladen, mit uns zu essen. Mein ausschweifender Sohn kommt spät nach Hause – aber nein, Gina, du brauchst nicht so erschrocken auszusehen, er ist nur im Philatelistenklub – , und so wollen wir vier Frauenzimmer einen gemütlichen Abend verbringen!“

Wir zogen also mit der Sahnedose hinunter, und ich ging in unsere Gemeinschaftsküche und kochte Kaffee. Du meine Güte, was für eine Menge Kuchen Tante Katrine Geggi mitgegeben hatte! Wer

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es nur wagen dürfte, Fräulein Mosgard etwas davon anzubieten… Aber wenn Tante Karen sie zum Abend einladen wollte, dann

durfte ich ihr nicht noch Kuchen anbieten, sonst würde sie Wohltätigkeit wittern!

Da kam der Zufall mir zu Hilfe. Der gesegnete Zufall! „Hast du keine neuen Platten, Gina?“ fragte Geggi, als der Kaffee

eingeschenkt war. „Doch, ja, aber du verstehst, ich kann mich nie dazu entschließen,

sie zu spielen – ich habe Hemmungen!“ „Du und Hemmungen? Was du nicht sagst! Davon habe ich nie

etwas bemerkt. Wann hast du dir die zugelegt?“ „Als ich hier einzog. Verstehst du, ich habe das Gefühl, Fräulein

Mosgard arbeitet ständig, und die Wände sind nicht gerade schalldicht. Du weißt, ich möchte sie nicht ärgern.“

„Kaum zu glauben, wie rücksichtsvoll du geworden bist! Weißt du noch, wie du als Kind bei uns zu Besuch warst…“

„… und Platten in voller Lautstärke mitten im Mittagsschlaf deiner Eltern abspielte – und eine Ohrfeige von deiner Mutter bekam! Jawohl, ich erinnere mich daran!“

„Hast du Angst, daß Fräulein Mosgard dir vielleicht auch eine Ohrfeige geben könnte?“

Da mußte ich lächeln. „Ach nein, das nicht gerade. Aber du weißt, ich habe mir

vorgenommen, sie aufzutauen.“ Geggi nickte. Ihr war die Lage klar, denn ich hatte ihr von

Fräulein Mosgard erzählt und von meinem Gespräch mit dem Direktor sowie von meiner festen Absicht, Fräulein Mosgard das Lächeln beizubringen.

„Und du meinst, es könnte das Auftauen stören, wenn du am hellen Nachmittag eine schöne Platte spielst?“

„Ach, ich weiß nicht, Geggi. Jedenfalls hätte ich keine Freude an der Musik, wenn ich den Verdacht haben müßte, daß sie eine Störung sei.“

„Frag sie doch einfach!“ sagte Geggi. „Oder wagst du dich nicht in die Höhle des Löwen hinein?“

Ich dachte einen Augenblick nach. „Also gut. Ich werde fragen. Wenn sie sagt, daß es sie nicht stört,

so können wir ja ein paar Schallplatten spielen!“ Ich ging also hinaus in den Flur und klopfte bei Fräulein Mosgard

an. Sie rief sofort: „Herein!“

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Sie stand da und bügelte. Vor sich auf dem Tisch hatte sie eine der Blusen, die ich so gut von der Schule her kannte. Der Gedanke fuhr mir durch den Sinn – ob sie wohl so wenig anzuziehen hatte, daß sie den Sonnabend und Sonntag immer zum Waschen und Bügeln brauchte?

Sie nickte mir zu, und dann, wahrhaftig, brachte sie ein kleines Lächeln zustande.

„Nun, Gina, hast du etwas auf dem Herzen?“ Das war auch etwas Neues. Eine so natürliche kleine Frage, mit

freundlicher Stimme vorgebracht! „Ja, ich – Verzeihung, daß ich störe, ich wollte nur fragen – ich

habe Besuch von meiner Kusine…“ „Ist das die mit den Pilzen?“ fragte Fräulein Mosgard. „Ja, eben die. Und wir hatten solche Lust, eine Schallplatte zu

spielen oder zwei, aber zuerst wollte ich fragen, ob es Ihnen etwas ausmacht…“

„Mir? Etwas ausmachen? Aber, liebes Kind, du kannst und darfst doch in deinem eigenen Zimmer Platten spielen, wann du magst – das heißt, natürlich nicht gerade mitten in der Nacht oder um die Mittagszeit. Ja, gewiß, spiele du nur, und wenn es etwas Schönes ist, so stelle den Apparat lauter ein, damit ich mich auch daran erfreuen kann!“

„Mögen Sie Musik gern?“ Fräulein Mosgard zog einen Blusenärmel vom Ärmelbrett. „Ja, sehr. Sind es vielleicht Platten von deiner Schwester?“ „Ja – aber, Fräulein Mosgard, kommen Sie doch zu mir herein,

wenn Sie wirklich… Denn Sie verstehen, ich habe gerade ,Ho-jo-to-ho’ da – Sie wissen, wir sprachen von Brünnhilde in der norwegischen Stunde – von Wagner und Ibsen und alledem…“

„Jetzt bin ich an der Reihe zu sagen, daß ich nicht stören möchte“, sagte Fräulein Mosgard. „Ihr beiden jungen Mädchen habt es ohne die Anwesenheit einer alten Lehrerin gemütlicher – aber stellt, wie gesagt, den Apparat lauter ein!“

„Ach nein, seien Sie so lieb und kommen Sie doch“, bat ich. „Haben Sie es nie selbst erlebt, als Sie noch klein oder schon ein Teenager waren, wie nett es ist, mit seiner Lehrerin privat zusammen zu sein?“

Fräulein Mosgard sah mich mit verwundertem Blick an. Dann zog sie den Stecker des Bügeleisens aus der Steckdose.

„Ja, wenn du das wirklich meinst…“

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„Aber Sie müssen eine Tasse mitbringen!“ sagte ich. „Wir sitzen da und trinken Kaffee, und ich habe nur zwei Tassen!“

Sie bewegte sich irgendwie anders, als sie zum Eckschrank hinüberging und eine Tasse holte. Ihre Bewegungen waren weicher – ja, der ganze Mensch war weicher.

Man denke sich nur, wenn es wirklich glücken sollte, sie aufzutauen!

Wenn nur die kleine Milli hier gewesen wäre. Sie würde im Handumdrehen das Eis zum Schmelzen bringen!

Ich warf noch einmal einen schnellen Blick auf das Bild. Die Kinderaugen sahen gerade auf mich. Zwei große, ausdrucksvolle Augen hatte sie, die kleine Milli.

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Mathäus „Ich bringe eine Zuhörerin mit, Geggi!“ kündigte ich an. „Das ist also meine Kusine Geggi. Sie heißt Georgina, und so heiße ich auch, aber wir haben uns in den Namen geteilt, sie hat den Anfang behalten und ich den Schluß!“

„Komisch“, sagte Fräulein Mosgard. „Dasselbe haben meine Nichte und ich gemacht. Sie ist nach mir genannt worden, sie heißt Emilie – aber ich bin Emmi geblieben, und sie heißt Milli!“

,Aha! dachte ich. ,Heute ist es die Nichte. Neulich war es die Patentochter. Ach, wenn doch alles so einfach und unkompliziert wäre, daß Fräulein Mosgard ganz einfach sagen könnte: Meine Tochter…’ Geggi bot Kuchen an, und ich schenkte Kaffee ein. Dann brachte ich den Plattenspieler in Gang. Es ist ein erstklassiger Plattenspieler – ich habe ihn ja auch von Assi bekommen – , und dies war eine erstklassige Aufnahme. Assis Stimme erklang voll und glockenrein.

Fräulein Mosgard saß ganz still. Der Kuchen lag vergessen auf dem Teller, der Kaffee wurde kalt in der Tasse. Als die Platte zu Ende war, sagte sie nichts. Ich warf einen Blick auf sie, schwieg und legte eine neue Platte auf.

Fräulein Mosgard saß mit geschlossenen Augen da. Jetzt konnte ich in voller Ruhe ihr Gesicht studieren. Eigentlich war es hübsch. Sie hatte regelmäßige Züge und eine hohe, reine Stirn unter dem glatten Haar. Die Frisur machte sie alt. Wenn sie sich eine moderne Dauerwelle leisten könnte, wieviel jünger würde sie aussehen.

Wie sie dasaß, entspannt, still, mit geschlossenen Augen, war sie ein ganz anderer Mensch als unsere ernsthafte, niemals lächelnde Klassenlehrerin. Sie war keine Lehrerin mehr. Sie war nur noch Mensch. Ein Mensch, der mir so innig, so herzlich leid tat, nachdem ich damals zufällig den Brief der kleinen Milli gelesen hatte.

Die Platte war zu Ende, und ich stellte den Plattenspieler ab. „So“, sagte Geggi. „Wenn ihr glaubt, daß ich mit der Hälfte der

Kuchen wieder nach Hause zu Mutti gehen will, so täuscht ihr euch. Du liebe Zeit, der Kaffee ist ja eiskalt geworden! Ich werde neuen machen.“

„Nicht meinetwegen!“ wandte Fräulein Mosgard ein. Sie hatte sich im Lehnstuhl aufgerichtet, hatte sich gewissermaßen gesammelt, aber den strengen, lehrerhaften Ausdruck hatte sie nicht. Sie war

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noch immer Mensch. „Ich muß gestehen, daß ich lauwarmen Kaffee mag!“

„Dann ist es ja gut“, antwortete Geggi. „Möchten Sie nicht einen von den Kuchen mit Schokoladenguß versuchen, Fräulein Mosgard? Ich garantiere Ihnen, daß Sie nicht enttäuscht sein werden!“

Sie wurde nicht enttäuscht. Sie aß nicht nur diesen, sondern auch einen zweiten mit Zuckerglasur.

„Was hast du nur für einen riesigen Teddybären, Gina“, sagte sie plötzlich. Ihr Blick war auf Mathäus gefallen, der auf der Kante der Sofalehne saß. „Der ist sicher im Ausland gekauft worden, nicht wahr?“

„Ja, in Deutschland“, berichtete ich. „Aber das ist schon sehr lange her, ich war zwei Jahre alt, als ich ihn geschenkt bekam.“

Ihr Blick hing immer noch an dem Bären. „Ich wüßte gern, ob es jetzt noch solche Teddys gibt“, sagte sie.

„Er ist so ganz anders als die, die man hier bekommt. Gesicht und Tatzen aus hellerem Plüsch – das macht sie so – ja, so menschlich.“

„Bären sollten doch am besten ,bärlich’ sein“, lachte Geggi. „Ja, aber nicht in den Augen kleiner Kinder. Die sehen ja einen

Teddy als Puppe an – meine kleine Nichte hatte einen, den sie an- und auszog und in den Puppenwagen legte, den sie fütterte und zu Bett brachte.“

Ich merkte mir, daß Fräulein Mosgard das Wort „hatte“ gebrauchte. Er war also auf irgendeine Weise verlorengegangen.

„Ich fürchte, diese Sorte wird nicht mehr hergestellt“, sagte ich. „Assi versuchte vor zwei Jahren, ein Gegenstück dazu für die Tochter einer Freundin zu bekommen, aber es war nicht möglich, einen zweiten Mathäus zu finden.“

„Mathäus?“ fragte Fräulein Mosgard. „Jawohl, er heißt Mathäus. Ich ahne nicht, weshalb. Es war mein

Vater, der ihn so nannte.“ Ihre Augen hingen weiter an Mathäus. Da wurde es mir plötzlich

klar, was ich zu tun hatte. Dieses arme Wesen, das sich für sein Kind abmühte und abarbeitete – das in einem kleinen, bescheidenen Zimmerchen wohnte, das sich beinahe nicht den Bissen im Munde gönnte – dieses Wesen, das Sorgen und Schwierigkeiten ernst und bitter gemacht hatten – gab es jemanden auf der Welt, der eine Freude mehr brauchte als sie? Und wenn es jemanden auf der Welt gab, der eine kleine Freude leicht entbehren konnte, weil er so unsagbar viele davon hatte, dann war das wahrhaftig ich!

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Ich nahm Mathäus und reichte ihn ihr. „Glauben Sie, die kleine Milli würde sich freuen, wenn sie ihn

geschenkt bekäme?“ sagte ich. „Nehmen Sie ihn nur, ich bin ja eigentlich über das Teddybärenalter hinausgewachsen!“

Zwei Augenpaare waren auf mich gerichtet, beide fragend, Geggis überdies erschrocken. Sie wußte doch genau, wie sehr ich an meinem Glücksbringer hing.

„Aber, liebe Gina…“ sagte Fräulein Mosgard. „Du darfst doch nicht…“

„Warum denn nicht?“ sagte ich. „Ich verstehe doch gut, daß es die kleine Milli war, an die Sie dachten – und wenn ich damit diesem bezaubernden Kind eine Freude machen kann, so will ich von Herzen gern einen alten Teddybären opfern!“

Ich setzte Mathäus auf Fräulein Mosgards Schoß. Sie hielt ihn, wie man ein Baby hält.

„Gina – das ist doch viel zuviel… Ich kann gar nicht sagen, wie…“ Sie schwieg und schluckte.

„Ich laufe hinauf zu Tante Karen und frage, ob sie einen alten Karton hat“, sagte ich. „Dann können wir Mathäus gleich einpacken.“

Ich benutzte den ersten besten Vorwand, um fortzukommen, denn ich hatte an dem Beben von Fräulein Mosgards Stimme gehört, daß jetzt gleich die Tränen kommen würden.

Geggi hatte gewiß dasselbe gemerkt. Denn sie mußte plötzlich zur Toilette.

Als ich mit einem alten Margarinekarton wieder herunterkam, war Fräulein Mosgard in ihr eigenes Zimmer gegangen. Sie öffnete die Tür, als sie meine Schritte hörte, und zog mich in ihr Zimmer herein.

„Gina – ich konnte dir nicht richtig danken. Du ahnst gar nicht, was für eine Freude du mir gemacht hast… Die kleine Milli steht mir so nahe, und es ist so lange her, seit ich etwas für sie tun konnte – tausend, tausend Dank, Gina!“

Sie nahm meine Hand und drückte sie fest. Ihre Stimme war bewegt.

„Ach, das ist doch nicht der Rede wert – ich finde es nur sehr schön, etwas für ein so reizendes Kind tun zu können…“ Ich nickte in Richtung des Bildes.

Fräulein Mosgard schluckte. „Ja, siehst du – deswegen nehme ich es ja auch an – weil es für

Milli ist.“

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Da geschah es wieder einmal, daß mir eine unüberlegte Äußerung herausrutschte.

„Hätten Sie für sich selbst nichts angenommen, Fräulein Mosgard? Warum machen Sie es anderen Menschen so schrecklich schwer, nett zu Ihnen zu sein?“

Sie wurde nicht böse. Sie schaute mich nur mit einem nachdenklichen Blick an.

„Vielleicht, weil es mir so ungewohnt ist, daß jemand es ist“, sagte sie leise.

In diesem Augenblick hatte ich sie gern. Ja, mehr als das, ich hatte sie beinahe lieb. Ich hatte sie lieb, weil ich so grenzenloses Mitleid mit ihr hatte.

„Aber können Sie es nicht wenigstens mir erlauben? Verstehen Sie – ich – ich finde, es macht Spaß, zu jemandem nett zu sein. Das habe ich von meiner Schwester gelernt. Alle sind lieb gegen mich gewesen, immer, verstehen Sie…“

„Ja, Gina. Ich verstehe. Du hast so viel Güte empfangen, daß du ganz davon erfüllt bist, und du mußt sie weitergeben, ist es nicht so?“

„Ja“, sagte ich froh. „So, wie Sie es ausdrücken, so ist es richtig! Ich habe so viel Güte und Freundlichkeit empfangen, daß es einfach überläuft! Aber dafür bin ich furchtbar empfindlich geworden. Ich werde ganz krank, wenn jemand unfreundlich gegen mich ist.“

Es entstand eine kleine Pause. Fräulein Mosgards Augen begegneten meinen, und wir dachten beide an dasselbe: an den Tag, als sie mich dazu gebracht hatte, in der Stunde laut loszuheulen und aus der Klasse zu fliehen.

Dann wandte ich den Blick ab zu Mathäus. „Soll ich Ihnen einpacken helfen?“ fragte ich. Sie förderte aus ihrem Schrank Papier zutage. Wir polsterten rund

um Mathäus alles gut mit altem, zusammengeknülltem Seidenpapier aus. Plötzlich stießen unsere Hände zusammen und sie lächelte mir zu.

Und dann – dann handelte ich, ohne nachzudenken, wie so unzählige Male in meinem Leben.

Ich schlang die Arme um Fräulein Mosgards Hals. „Ich bin so froh, weil die kleine Milli jetzt auch eine Freude hat“,

sagte ich. Dann wurde mir klar und bewußt, daß ich dastand, mit den Armen

um den Hals der „Vogelscheuche“ – unseres Hauskreuzes, unserer

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jede Freude tötenden Lehrerin, die wir alle verabscheuten! Nein – meine Arme lagen um den Hals von Klein Millis Mutter. Und die verabscheute ich nicht! Im Gegenteil!

„Ach – Tante Karen ruft!“ sagte ich. Damit verschwand ich wie ein Blitz.

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Aber es hing anders zusammen Am Sonntag machten Geggi und ich einen Vormittagsspaziergang. Am Nachmittag hatten wir Generalprobe. Hochzeits-Generalprobe. Es war mir erschreckend klar geworden, welche schwere Pflicht auf meinen schwachen und unerfahrenen Schultern ruhte: Wenn Assi und Torbjörn nach vorn vor den Altar getreten waren, war ich es, die Schleppe und Schleier ordnen sollte – wobei ich es nicht etwa mit einem modernen kurzen Schleier zu tun hatte. Assi sollte in Tante Karens Schleier getraut werden, den diese wiederum von ihrer Mutter und Großmutter geerbt hatte. Mir blieb beinahe der Atem weg, als Tante Karen ihn auspackte und uns zeigte. „Der Himmel stehe mir bei!“ sagte ich. „Und den soll ich mit meinen ungeschickten Händen anfassen – und nicht nur das, ich soll ihn leicht und elegant ordnen, so daß es sich auf allen Presseaufnahmen gut ausnimmt!“

Es war Tante Karen, die eine Generalprobe vorschlug. Sie kramte zwei lange, alte, durchlöcherte Gardinen heraus, steckte sie mit Sicherheitsnadeln zusammen und gab sie uns, um damit zu proben. Geggi mußte sich das eine Ende um den Kopf befestigen, ein paar Schritte gehen und dann stehenbleiben, und dann sollte ich mich anmutig und graziös niederbeugen und die Falten ordnen.

Anmut und Grazie sind die Eigenschaften, von denen ich am wenigsten mitbekommen habe. Tante Karen verbesserte und erklärte. Ich stöhnte und schwitzte, und Geggi stöhnte auch vor Ungeduld.

Zum Schluß mußten wir alle zusammen lachen, dann kam Torbjörn und lachte mit, und es wurde im Ganzen genommen ein äußerst munterer Nachmittag.

„Wenn du nun an diese alten Gardinen denken mußt, genau in dem Augenblick, da der Pfarrer dich fragt, ob du Astrid Magdalene Elisabeth Rieger zur Frau nehmen willst“, sagte ich. „Da kommt dein Ja womöglich vor Lachen erstickt heraus!“

„Du wirst noch erstickt werden“, sagte Torbjörn. „Von mir persönlich. Aber weißt du, ich glaube nicht, daß ich in diesem Augenblick dazu komme, an Schwägerinnen oder alte Gardinen zu denken. Bist du dir übrigens klar darüber, daß diese selbe Astrid Magdalene Elisabeth bald nach Hause kommt, und zwar in – in – laß mal sehen – in sechsundneunzig Stunden?“

„Wenn du das sagst, wird es wohl stimmen“, sagte ich. „Nein, wie

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ich mich freue!“ „Was du nicht sagst“, sagte Torbjörn. Als wir abends im Bett lagen, sagte Geggi: „Daß du wirklich Mathäus verschenken konntest, Gina! Bereust

du das denn nicht?“ Ich warf einen Blick hinüber zu dem leeren Stuhl, auf dem

Mathäus immer gesessen hatte. „Nein“, erwiderte ich. „Ich vermisse ihn, aber ich bereue es nicht.

Wenn ich es noch einmal zu tun hätte, würde ich dasselbe machen.“ „Wer aus dir schlau werden könnte!“ sagte Geggi. „Da gibt es doch nichts schlau zu werden. Fräulein Mosgard tut

mir leid. Und ich habe auch das Gefühl, daß sie furchtbar wenig Freude und vielleicht viele Sorgen hat. Und ich sah an ihren Augen, wie sehr sie sich so einen Bären für die kleine Milli wünschte.“

Geggi schwieg eine Weile. „Im Grunde bist du ein lieber Mensch, Gina“, sagte sie. Da mußte ich lachen. „Denk nur, das sagte Fräulein Mosgard auch. Aber weißt du,

woher das kommt? Du bist zum Beispiel schrecklich ordentlich, weil du es von deinen Eltern so gelernt hast. Sonja in meiner Klasse ist ein phantastisches Sportsmädchen, weil ihr Vater so ein eifriger Sportsmann ist und mit ihr trainiert hat. Berit ist glänzend in Handarbeit, weil ihre Mutter…“

„…ihr das beigebracht hat“, fuhr Geggi fort. „Ich verstehe, worauf du hinaus willst. Was du in deinem Heim gelernt hast, das ist, lieb zu sein. Das meinst du doch wohl?“

„Ja, wenn ich das wirklich geworden bin. Mutti pflegte zu sagen: ,Denk daran, Ginalein, es macht viel mehr Freude, lieb zu sein als böse.’ Vermutlich hat sie das gleiche zu Assi gesagt, als diese noch klein war. Aber das ist so wahr, Geggi! Wenn ich wirklich lieb bin, wie du sagst, dann nur, weil es Spaß macht, lieb zu sein.“

„Sei froh, daß du diese Einstellung hast“, sagte Geggi. „Es gibt genug Menschen, die finden es nötig, hart, unfreundlich und böse zu sein!“

„Solche Menschen sind bedauernswert“, stellte ich fest. „Du liebe Zeit, was bin ich doch für ein Glückspilz, Geggi. Ich habe nie etwas anderes als Güte erfahren!“

„Das ist freilich wahr“, sagte Geggi. „Das schönste ist, daß du es selbst verstehst und dafür dankbar bist. Gute Nacht, Gina!“

Am nächsten Morgen klopfte ich um Viertel nach sieben bei

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Fräulein Mosgard an, um ihr zu sagen, sie brauche nicht den Bus zu nehmen, sondern sie könne kurz vor acht mit Torbjörn und uns fahren. Aber da war der Vogel schon ausgeflogen. Ich lächelte. Ich wußte ja so genau, warum sie so zeitig aufgebrochen war. Sie wollte vor Schulbeginn zur Post gehen, um das Paket mit Mathäus abzuschicken.

Es war doch ein wenig sonderbar, wenn ich daran dachte, daß mein Lieblingsspielzeug, mein Talisman, mein Freund und Begleiter in so vielen Jahren, jetzt unterwegs zu einem fremden kleinen Mädchen in einer fremden Stadt war. Es tat ein klein wenig weh. Aber dann dachte ich an Fräulein Mosgards Augen, als ich ihr Mathäus gab, und ich dachte an die eifrigen Hände, mit denen sie ihn eingepackt hatte. Dann tat es nicht mehr weh.

Ein paar Tage später saß ich auf der Heimfahrt im Bus neben Fräulein Mosgard. Sie lächelte und rückte zur Seite, als ich hereinkam. Es war zur Selbstverständlichkeit geworden, daß ich neben ihr saß, wenn wir uns trafen. Ja, sie war anders geworden. Sie war immer noch still, und ihre Stimme war gedämpft, aber in der Klasse merkten sie es auch, daß sie sich verändert hatte. „Sie ist beinahe im Begriff, menschlich zu werden“, wie Giske sich ausdrückte.

„Ich bekam heute einen Brief in die Schule, Gina“, sagte Fräulein Mosgard. „Er geht dich mehr an als mich, du mußt ihn also lesen.“

„Mich?“ fragte ich verwundert. „Ja. Ein Brief von Milli, verstehst du. Du kannst mir glauben, daß

sie glücklich ist. Warte mal.“ Aus ihrer Mappe holte sie drei oder vier Bogen mit Kinderschrift bedeckt heraus. „Hier – ach nein, das ist ein anderer, den hat sie an ihre Mutter geschrieben. Verstehst du, meine Schwester ist ja so stolz auf ihr Kind, daß sie mir die Briefe der Kleinen schickt. Ich als Lehrerin soll mich dazu äußern, ob dieses Kind nicht etwas Besonderes ist – hier haben wir den Brief, den ich heute bekam, den mußt du also lesen.“

„Ich glaubte, Milli sei…“ Da hatte ich mich beinahe verplappert. „Was glaubtest du?“ „Daß sie Ihr Patenkind sei.“ „Ja, aber, Liebe, das eine schließt doch das andere nicht aus. Sie

ist beides, meine Nichte und mein Patenkind.“ „Und sie – sie wohnt also nicht mit ihrer Mutter zusammen?“ Da ging ein Schatten über Fräulein Mosgards Gesicht. „Zur Zeit ist meine Schwester im – im – Krankenhaus. Milli

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wohnt bei ihrer Großmutter, der Mutter ihres Vaters also. Ihr Vater ist tot. Aber schau dir jetzt an, was sie schreibt, Gina. Wie gesagt, ist es ebensosehr für dich wie für mich bestimmt.“

Jetzt drehte sich mir alles im Kopf. Milli war wirklich die Nichte – Milli war gar nicht unehelich geboren – ich hatte Mathäus Fräulein Mosgards Patenkind, nicht ihrem Töchterchen geschenkt – ich hatte mich von einem Mitgefühl hinreißen lassen, für das überhaupt kein Grund vorlag!

Aber halt – es gab doch einen Grund. Einen Grund, den ich nicht kannte. Wenn Fräulein Mosgard knauserte und sparte und von Grütze und Milchbrei lebte, wenn sie sich damit begnügte, in einem Zimmerchen zu wohnen, einem kleinen und billigen Zimmerchen, dann tat sie das, weil sie Sorgen und Schwierigkeiten hatte. Sogar große Sorgen und Schwierigkeiten. Ihre Freude, die man ihr ansehen konnte, als sie Mathäus geschenkt bekam, war sicherlich groß und echt gewesen. Nein, es reute mich nicht. Man soll es nicht bereuen, wenn man andere Menschen glücklich gemacht hat. Dann kam ich endlich zum Lesen, „libe Tante Emmi tausend milionenmal danke für den Teddi und ich freute mich so schrecklich und matteus ligt jede Nacht in meinem Bett und Grosmutter hilft mir eine Jake für ihn zu striken. das Medchen das dir mateus gegeben hat is ser lib und du must sie ganz furchtbar grüsen. ich will auch an Mamma schreiben und von Mateus erzälen. komst du und besuchst mich Weihnachten, ich sene mich nach dir und Mamma und jeden tag behte ich im abendgebeht das Mamma bald gesund wird, tausend libe grüse von deiner Milli. nachschrift vergis nicht das medchen zu grüsen das dir Mateus gab. nachschrift Mateus sagt brumbrum und das heist vile grüse.“

Ich schluckte einmal, ich schluckte zweimal. Ich reichte Fräulein Mosgard den Brief zurück.

„Das ist aber wahrhaftig eine Leistung von einem so kleinen Mädchen, einen so langen Brief zu schreiben“, sagte ich. „Sagten Sie nicht, daß sie im ersten Schuljahr ist?“

„Doch, aber sie kannte die Buchstaben, ehe sie in die Schule kam. Ich mußte sie ihr beibringen, damit sie an ihre Mutter schreiben konnte.“

„Ach, ist Ihre Schwester so lange Zeit im Krankenhaus gewesen, die Arme?“

Fräulein Mosgard biß sich auf die Lippen, als ob es ihr leid täte, was sie gesagt hatte.

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„Ja, sie ist lange dort gewesen“, sagte sie leise. Dann hob sie den Kopf und lächelte mir zu. „Und wie geht es denn jetzt bei dir? Hast du Hochzeits-Lampenfieber? Am nächsten Mittwoch ist doch der große Tag, nicht wahr?“

„Ja, freilich. Wenn Sie mich also am Donnerstag in Geschichte abhören, wird ein glattes Ungenügend dabei herauskommen!“

„Ist das eine Drohung oder eine Bitte, Gina?“ „Keins von beiden. Aber im Ernst gesprochen. Sie können doch

nicht erwarten, daß ich es fertigbringe, meine Aufgabe für Geschichte zu lernen, während ich mich gleichzeitig zur Hochzeit fein mache.“

„Nein, das erwarte ich nicht. Aber du weißt, daß ich ungern Unterschiede mache. Vielleicht könnten wir ein Übereinkommen treffen. Ich verspreche, dich am Donnerstag nicht abzuhören, und du versprichst mir, die Aufgabe, die du Mittwoch nicht machen kannst, nachträglich zu lernen. Ist das nicht ein fairer Vorschlag?“

„In Ordnung“, sagte ich. „Ich verspreche es hiermit hoch und heilig!“

Fräulein Mosgard hatte sich wirklich verändert! Ich pfiff und sang, als ich heimkam. Heute abend sollte Assi

kommen. Morgen wollte ich sofort nach der Schule zu ihr nach Hause eilen und sie ganz fest umarmen. Dann würde ich mit ihr zu Mittag essen und ihr zuhören. Schließlich würde ich nach langer Zeit wieder einmal zu Hause übernachten. Aber nur diese eine Nacht! Mein Auszug von zu Hause war endgültig. Damit sollte meine hartnäckige Schwester sich gefälligst abfinden!

Doch dann verging mir mein Pfeifen. Ich mußte wieder an die kleine Milli denken. Gott sei Dank, daß ich keinem Menschen davon erzählt hatte, was ich geglaubt hatte, von dem Brief an „meine liebe Mama“. Was wäre geschehen, hätte ich unter dem Siegel der Verschwiegenheit der einen oder anderen aus meiner Klasse die große Sensation berichtet: „Fräulein Mosgard hat ein Kind!“

Alle, die mich immer Schwatzbase nennen, sollten nur wissen, wie die Schwatzbase den Mund halten kann, wenn es sein muß!

Du meine Güte, wie war ich froh, daß ich meine Zunge im Zaum hatte!

Nicht einmal zu Tante Karen hatte ich ein Wort darüber geäußert. Ebensowenig zu Geggi. Zu keinem Menschen. Das war mein Geheimnis, meines ganz allein. Kein Wort, keine Silbe, die Fräulein Mosgards Ruf hätte schaden können.

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Es ist ja so einfach, ein Gerücht in Umlauf zu bringen. Dagegen ist es fast unmöglich, es wieder aus der Welt zu schaffen. Soviel wußte ich schon!

Jetzt hatte ich gelernt, daß man nie, nie ein Gerücht in Gang setzen soll. Ich hatte es gelernt, nicht aus einer bitteren Erfahrung, sondern aus einer guten Erfahrung.

Wieder war das Schicksal gut zu mir gewesen. Wieder war ich ein Glückspilz.

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Alles kommt in Ordnung Es war ein gewisses Opfer für mich, Torbjörn allein zum Flugplatz fahren zu lassen. Aber jetzt wußte ich doch, daß ich morgen, wenn ich aus der Schule käme, wie ein Blitz nach Hause zu Assi eilen und sie für eine gute Weile für mich allein haben würde. Zu meinem großen Glück hatte ich Freitag zeitig Schulschluß, und gerade an diesem Tag war Torbjörn immer lange in seiner Kanzlei, so daß Assi und ich mindestens drei Stunden lang schwatzen und fragen und erzählen konnten!

Als ich am nächsten Tag aus dem Schulportal gestoben kam, umfingen mich zwei Arme – zwei mir sehr wohlbekannte Arme – und drückten mich fest gegen ein pelzbesetztes blaues Kostüm, das ich nicht kannte. Aber – ob ich das kannte, was drin steckte! Und ob ich die Stimme kannte, die sagte: „Mein Schwesterchen, ich konnte nicht warten, ich hatte solche Sehnsucht nach dir!“ Das war schön zu hören. Dann wußte ich, daß ich trotz all ihrer Liebe zu Torbjörn noch denselben Platz in ihrem Herzen hatte, wie ich ihn immer gehabt hatte!

Wir fuhren im Taxi nach Hause. Tante Randi hatte ein richtiges Festmahl gekocht. Hinterher packte Assi alles aus, was sie mir aus Berlin mitgebracht hatte. Das Schönste von allem war ein wunderbares kleines Tonbandgerät. Es war noch dazu mit Kopfhörern ausgestattet. „So kannst du abends Tonband hören, ohne deine Nachbarin zu stören“, sagte Assi. Liebe Assi, sie dachte aber auch an alles! Mein Plan stand jetzt schon fest: Ich würde demnächst alle meine Lieblingsplatten auf Band aufnehmen!

Hübsche Unterwäsche, eine todschicke Handtasche und zum Schluß noch ein reizendes Angorajäckchen.

„Ich bin ein wenig bange wegen der Größe“, sagte Assi. „Sollte es dir zu klein sein, so kannst du es ja Mathäus verehren!“

Dann schaute ich Assi an und sagte: „Assi, ich muß dir etwas beichten. Ich habe Mathäus verschenkt.“

„Was? Mathäus verschenkt? Ist das nicht ungefähr so, als ob ich Torbjörn verschenkt hätte?“

„Nicht ganz so schlimm. Aber jetzt hör mal zu, ich werde dir alles erzählen.“ Und dann setzte ich mich hin und erzählte. Von dem Brief, den ich für Mettes Brief hielt. Von dem Mißverständnis mit Milli. Wie glücklich ich war, daß ich keiner lebenden Seele von

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meiner Vermutung etwas gesagt hatte. Von Fräulein Mosgard, wie sie ganz für sich allein ihr Leben führte und den ganzen Nachmittag an der Schreibmaschine arbeitete, wie sie von Grütze und Milchbrei, von Brot und Margarine lebte, wie sie ihre paar Blusen jeden Sonnabend und Sonntag wusch und bügelte, wie sie mit der Zeit umgänglicher geworden war und wie ich tatsächlich im Begriff war, sie liebzugewinnen.

Assi hörte aufmerksam zu. Sie nimmt immer Anteil an dem Schicksal anderer Menschen. Wenn sie von jemandem hört, der es schwer hat, ist sie stets hilfsbereit.

„Etwas möchte ich gern wissen“, überlegte Assi. „Du sagst, die Schwester sei Witwe und lange im Krankenhaus gewesen. Es wird doch wohl nicht so sein, daß Fräulein Mosgard ihren Aufenthalt im Krankenhaus bezahlt?“

„Das weiß ich nicht“, mußte ich gestehen. „Aber das kann schon sein. Ich erinnere mich nämlich, daß Fräulein Mosgard ein klein wenig zögerte, ehe sie das Wort ,Krankenhaus’ aussprach.“

„Ja, siehst du, wenn ihre Schwester durch Krankheit ganz ausgeschaltet ist und wenn Fräulein Mosgard als einzige in der Familie Geld verdient, dürfte meine Vermutung zutreffen. Sie wird den Aufenthalt im Sanatorium bezahlen und vielleicht auch noch für die kleine Milli aufkommen. Was für ein trauriges Dasein, Ginakind. Gott segne dich dafür, daß du dir vorgenommen hast, gut zu ihr zu sein.“

Ich überlegte. „Mein erstes Ziel habe ich erreicht. Ich habe sie dazu gebracht, zu

lächeln und ein wenig mitteilsamer zu werden. Das nächste ist, sie zu veranlassen, von sich selbst zu erzählen.“

„Und wenn sie das tut und es möglich ist, ihr zu helfen, so gibst du mir Bescheid“, sagte Assi. „Ich selbst bin so unsagbar glücklich, Gina. Nichts auf der Welt täte ich lieber, als anderen Menschen zu helfen, glücklich zu werden! Es quält mich einfach, daran zu denken, daß nicht alle Menschen es gut haben!“

„Da hast du aber viele Sorgen“, seufzte ich. Ich dachte an die Tagesschau im Fernsehen: Krieg und Hungersnot, Hungersnot und Krieg.

„Ja“, antwortete Assi. „Die habe ich. In Berlin kam ich ins Gespräch mit dem Zimmermädchen im Hotel. Sie war ein liebes und nettes kleines Wesen von einigen zwanzig Jahren. Ihre Mutter wohnte in Ostberlin, und nur zweimal, seitdem die Mauer

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aufgerichtet worden war, hatte sie ihre Mutter gesehen. Weißt du, es sind zwanzig Minuten Weg bis dorthin, aber die Tochter darf sie nicht besuchen, und die Mutter darf nicht zur Tochter kommen. Der Bruder wurde bei einem Fluchtversuch erschossen. Ach, Gina, wenn du wüßtest, welche Tragödien man dort sieht und hört! Ich als Ausländerin konnte ja nach Ostberlin hinübergehen. Ich besuchte die Mutter dieses Mädchens und hatte Geschenke und dergleichen mit. Die Arme, sie weinte so, daß die Tränen in Strömen flossen, und war so glücklich über die Grüße. Als ich ihr Lebewohl sagte, nahm sie meine Hände und sagte: ,Es ist mir unfaßlich, daß Sie in einer halben Stunde mit meinem Mädel sprechen werden – für mich ist sie weiter fort, als wäre sie in Amerika!’ Ja, so ist es dort.“

Assi erzählte weiter von ihren Erlebnissen in Deutschland, von traurigen und frohen Dingen. Für sie persönlich war es eine schöne Zeit gewesen, mit vollen Häusern, jubelndem Beifall und fabelhaften Kritiken. Dann mußte sie mir zeigen, was sie für sich selbst gekauft hatte. Sie ist ja verpflichtet, immer hübsch gekleidet zu sein. Schließlich holte sie einen ganz wundervollen Pelzumhang herbei, den sie für Tante Karen mitgebracht hatte.

„Du, Assi“, sagte ich. „Ob du sehr glücklich in der Wahl deiner Schwester warst, das weiß ich nicht. Aber wie glücklich bist du in der Wahl deiner Schwiegermutter gewesen! So einen Menschen wie Tante Karen gibt es nicht zum zweiten Male, das heißt, wenn ich von dir absehe. Wann soll sie die Pelzstola bekommen? Sie wird vor Freude hochspringen!“

„Morgen“, sagte Assi. „Ich komme morgen mittag mit und dachte, ich dürfte vielleicht im Zimmer meiner Schwester übernachten, falls sie nichts dagegen hat.“

„Ich werde es mir überlegen. Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben, als ja zu sagen, nachdem du mir so schöne Geschenke mitgebracht hast!“

„Also, Torbjörn und ich, wir kommen morgen nach Schulschluß mit dem Wagen und holen dich ab!“

„Und Fräulein Mosgard“, warf ich ein. „Selbstverständlich“, sagte Assi. „Als deine

verantwortungsbewußte Vorgesetzte muß ich ja mit deiner Klassenlehrerin über alle deine Sünden sprechen!“

„Torbjörn hat gedroht, einen Rohrstock zu kaufen, um mich damit zu erziehen“, lachte ich.

„Ausgezeichnet“, lobte Assi. „Wir brauchen dringend eine neue

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Blumenstütze für den Philodendron. Ich habe ihn mir eben angesehen und gefunden, daß ich gleich ausgehen und einen langen Rohrstock kaufen müßte.“

Am nächsten Tag richtete Assi es so ein, daß sie und Fräulein Mosgard zusammen im Rücksitz des Wagens saßen. Es ging Fräulein Mosgard so, wie es allen Menschen geht: Assis warmes, leuchtendes Lächeln, ihre angenehme Stimme, die schönen Augen – das bringt alle Leute zum Schmelzen. Alle fühlen sich zu ihr hingezogen und haben Vertrauen zu ihr. Man kann so gut mit ihr reden.

Ich weiß nicht alles, was hinten im Wagen gesprochen wurde, aber Assi erzählte mir hinterher:

„Es stimmt schon, was ich mir gedacht hatte, Gina. Fräulein Mosgard sorgt für ihre Schwester, die in einem sehr teuren Privatsanatorium liegt.“

„Wie, in aller Welt, hast du das aus ihr herausgebracht?“ fragte ich.

„Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht ist sie der Auffassung, sie könne Vertrauen zu den Schwestern Rieger haben. Du bist es wohl, die da eine gute Vorarbeit geleistet hat, mein Mädel.“

„Mami“, sagte Assi nach dem Essen. Ich mußte lächeln. Ich hatte Assi noch nie mit Tante Karen reden hören und wußte nicht, daß sie Mami zu ihr sagte. „Könntest du nicht Fräulein Mosgard zum Kaffee heraufbitten?“

„Doch, gewiß, herzlich gern!“ entgegnete Tante Karen. „Lauf hinunter, Gina!“

„Ich werde gehen, Mami“, erbot sich Assi. Es dauerte ein Weilchen, bis sie wieder heraufkam. „Fräulein Mosgard kommt sofort“, sagte sie. „Sie war eben im

Begriff, aufzuwaschen. Einen Teller und einen Löffel und einen Kochtopf mit Breikrusten darin. Ich hoffe, du hast viel Kuchen zum Kaffee, Mami!“

„Ausreichend!“ versicherte Tante Karen. Dann kam Fräulein Mosgard, wir tranken Kaffee, und Assi

erzählte von Berlin. Torbjörn holte die Ausschnitte mit den Kritiken aus seiner Brieftasche, und trotz Assis Protesten las er ausgewählte Abschnitte laut vor. Assi zog ihn an den Haaren, ich versuchte das zu verhindern, es entstand ein außerordentlich munteres Handgemenge, das plötzlich durch das schrille Geläut der Haustürglocke beendet wurde.

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Tante Karen ging hinaus und kam wieder herein. „Ein Telegramm für Sie, Fräulein Mosgard.“ Sie nahm es ohne ein Wort, aber ihre Augen waren voller Angst.

Wir waren alle still geworden. Es war, als ob wir Schlimmes ahnten. Dann las Fräulein Mosgard, ihr Mund bebte, und sie mußte ein

paarmal schwer atmen. „Ich – ich muß gleich morgen ganz früh nach Bjerkehaugen

fahren – Frau Hanning, wissen Sie, wann der erste Bus sonntags geht – ich muß den Zug um halb acht erreichen, damit ich morgen abend zurückkommen kann…“

Assi legte ihre weiche Hand über die von Fräulein Mosgard. „Geht es Ihrer Schwester schlechter, Fräulein Mosgard?“ „Ja – sie hat…“ Jetzt verlor Fräulein Mosgard die Fassung. Wir

hörten sie noch sagen: „… einen Blutsturz.“ Dann übermannte sie das Weinen. Sie wollte aufstehen, aber Tante Karen drückte sie milde und dennoch bestimmt in den Lehnstuhl nieder, strich ihr über die Haare und ließ sie sich ausweinen.

„So“, sagte Tante Karen. „Jetzt müssen wir sehen, was wir für Sie tun können.“

„Assi und ich fahren Sie morgen früh um sieben Uhr nach Bjerkehaugen“, erbot sich Torbjörn. „Ich weiß genau, wo das ist. Es sind nur drei bis vier Stunden Fahrzeit. So können Sie dann in Ruhe mit Ihrer Schwester sprechen, und wir können morgen abend zu vernünftiger Zeit zurück sein.“

Fräulein Mosgard stammelte und wußte nicht, wie sie danken konnte. Im Telegramm stand, daß die Schwester darum gebeten hatte, so bald wie möglich mit ihr sprechen zu können.

Ich nickte. „Es handelt sich sicher um Milli“, sagte ich. Tante Karen sah mich an, schaute auf Torbjörn und Assi, und

dann blieben ihre Blicke an Fräulein Mosgard hängen. Als sie anfing zu sprechen, klang es, als ob sie einen Entschluß

gefaßt hätte. „Fräulein Mosgard, möchten Sie nicht gern Ihre kleine Nichte bei

sich haben?“ Fräulein Mosgard heftete ihre verweinten Augen auf Tante Karen. „Und ob ich das möchte – ach, ob ich das möchte!“ „Hören Sie zu“, sagte Tante Karen. „Jetzt bin ich es, die hier

bestimmt. Morgen erzählen Sie Ihrer Schwester, daß die kleine Milli in einer Woche hierherkommt. Sie reisen Sonnabend mittag – wohnt

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sie nicht in Strandöy? – und kommen Sonntag morgen mit der kleinen Milli zu uns zurück. Gina, du ziehst hinauf ins Gästezimmer, Fräulein Mosgard bekommt dein Zimmer unten, und der andere Raum wird Kinderzimmer. Hat jemand etwas einzuwenden?“

Ich schlang Tante Karen die Arme um den Hals. „Tante Karen, du verdienst tausend Pelzumhänge, und wenn ich

einmal reich werde, schenke ich dir einen Chinchillapelz! Du hast dir das wunderbar ausgedacht. Milli kann hier zur Schule gehen, es sind ja nur zehn Minuten bis zur Volksschule im unteren Blaubotten.“

„Und ich kann sehr gut die paar Stunden auf sie aufpassen, bis ihre Tante nach Hause kommt“, fügte Tante Karen hinzu.

„Muttchen, du bist gar nicht dumm“, stellte Torbjörn fest. „Damit wird dir endlich dein Wunsch erfüllt, wieder ein Kind im Hause zu haben. Meine Mutter ist nämlich ganz närrisch nach Kindern“, erklärte er Fräulein Mosgard. „Übrigens – warte mal, Assi, wie sind unsere Pläne für nächste Woche?“

„Ach, nichts Besonderes“, sagte Assi. „Ja, das heißt, Mittwoch wollen wir mal sehen, ob wir Zeit finden zu heiraten, aber sonst…“

„Liebling, wie gut, daß du das erwähnst, sonst hätte ich es vergessen. Also am Mittwoch die Hochzeit, die Hochzeitsreise werden wir doch nicht vor dem Frühjahr machen können – Sonntag haben wir nichts vor, nicht wahr? Ich habe schon immer Lust gehabt, die Großstadt Strandöy kennenzulernen. Hat sie eigentlich drei- oder viertausend Einwohner? Also, Fräulein Mosgard, morgen Bjerkehaugen, nächsten Sonntag Strandöy, und wenn das getan ist, kommt endlich Ordnung in die Dinge!“

Fräulein Mosgard sah mit großen Augen von einem zum anderen. Es dauerte lange, ehe sie sprach.

„Ich kann es nicht fassen“, stammelte sie endlich. „Ich kann es nicht fassen, daß es solche Menschen auf der Welt gibt.“

Fräulein Mosgard aß auch mit uns zu Abend. Als sie hinuntergegangen war, lief ich ihr nach, um zu fragen, ob ich ihr irgendwie behilflich sein könne. Ich blieb bei ihr sitzen, während sie ein paar Dinge in einen kleinen Koffer packte. Inzwischen erzählte sie mir das Wenige, was ich noch nicht wußte.

Ihre Schwester hatte schon frühzeitig einen scharmanten, aber nicht gerade sehr zuverlässigen Mann geheiratet. Er beschäftigte sich ein wenig mit Journalistik und auch ein bißchen mit Werbungsarbeit, hatte verschiedene kleine zufällige Jobs und schlug sich auf mancherlei Art und Weise durchs Leben. Dann wurde Milli geboren,

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und als sie zwei Monate alt war, kam ihr Vater bei einem Unglücksfall zu Tode.

Die beiden Schwestern, Emmi und Agnes, zogen zusammen. Der Mann von Agnes hatte keinen roten Heller hinterlassen. Emmi übernahm es, für die Schwester und das Kind zu sorgen. Nach einiger Zeit nahm Agnes einen Halbtagsposten an, und Milli kam in eine Kinderkrippe und später in einen Kindergarten.

Aber dann wurde alles anders. Agnes wurde krank und mußte von zu Hause fort, und Milli kam zu ihrer Großmutter väterlicherseits. Die alte Dame hatte nur eine ganz kleine Pension. Wieder war es Tante Emmi, die alles bezahlen mußte, was das Kind kostete, und ein bißchen dazu für die Mühe. Die Großmutter war zwar eine brave und zuverlässige Person, aber auch nicht mehr. Sie kannte ihre Pflicht und tat ihre Pflicht, aber sie besaß keinen Überschuß an Wärme, geschweige denn an Lebensfreude.

Freude gehörte am allerwenigsten zu den Dingen, die Fräulein Mosgards Leben geprägt hatten. Mühe und Arbeit war es gewesen. Sie verlor früh ihre Eltern und hatte sich für die zwei Jahre jüngere Schwester verantwortlich gefühlt, an der sie von ganzem Herzen hing. Sie hatten es gut miteinander gehabt, die drei – die beiden Schwestern und das kleine Mädchen Milli, das sie beide vergötterten.

Als dann Agnes ins Sanatorium gekommen war, kam noch etwas dazu – etwas, was sie beinahe zusammenbrechen ließ. In dem kleinen Klatschnest Strandöy fingen die Leute an zu flüstern und zu tuscheln, es sei doch verantwortungslos von Fräulein Emmi, ihre Tätigkeit als Lehrerin weiter auszuüben; man stelle sich nur vor, welche Ansteckungsgefahr sie bedeuten könne. Alle wußten ja, woran Agnes erkrankt war. Immer lauter wurde getuschelt und geflüstert. So bemühte sich denn Fräulein Mosgard um ihre Versetzung und bekam die Stellung in Oslo.

„Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, Gina, daß ich mehrmals zu ärztlichen Untersuchungen war“, sagte sie. „Ich bin so gesund, wie man es sich nur wünschen kann, und Milli ebenfalls. Aber Milli hat kein vergnügliches Leben, die arme Kleine. Sie ist einsam, und sie bekommt nicht die Wärme und Zärtlichkeit, die so ein kleines Ding haben müßte. Und morgen kann ich Agnes dann erzählen, daß sie sich keine Sorgen um Milli zu machen braucht. Milli soll bei mir wohnen und bei Frau Hanning. Ach, Gina, welch glücklicher Stern hat mich damals geleitet, als ich das Zimmer hier im Haus mietete!“

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„Und Gott segne das Kind von Frau Kramer“, sagte ich. „Wenn sie das Baby nicht erwartete, hätten wir Sie ja nicht als Lehrerin bekommen!“

„Gina“, bat Fräulein Mosgard. „Ich nehme an, es ist unnötig, es zu sagen. Aber was ich dir eben erzählt habe, das bleibt unter uns, nicht wahr?“

„Ja, freilich“, versicherte ich ihr. „Ehrenwort. Ich kann nämlich den Mund halten, ob Sie es glauben oder nicht.“

Und im tiefsten Innern nahm ich mir vor, irgend einmal Fräulein Mosgard von meinem Irrtum zu erzählen. Wie ich tatsächlich eine Zeitlang fest geglaubt hatte, sie sei Millis Mutter.

Aber jetzt war die Zeit dazu noch nicht gekommen. Ich würde es ihr erst erzählen, wenn Milli da war. Milli mit Mathäus in den Armen.

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Die Glocken läuten für Assi Zusammen mit Geggi stand ich in meiner rosa Pracht im Vorraum der Kirche. Ich schaute auf Geggi und sie auf mich. Von der Frisur mit den kleinen Rosenknospen darin über die rosa Kleider und die versilberten Blumenkörbchen bis zu den leichten, ausgeschnittenen Silberschuhen waren wir gleich angezogen.

Unzählige Male waren wir von eifrigen Presseleuten fotografiert worden, Tante Karen in der neuen Stola, Torbjörn und Christian – das ganze kleine Gefolge wurde wieder und wieder fotografiert. Geggi und ich hatten offensichtlich die Journalisten und Fotografen ganz besonders angezogen. Wir wurden unaufhörlich von aufdringlichem Blitzlicht geblendet.

Nun waren die anderen Gäste hineingegangen und hatten ihre Plätze im Chor gefunden. Die Kirche war brechend voll. Ich hatte Assi gedroht, ihr sowohl Freundschaft als auch Verwandtschaft aufzukündigen, wenn sie mir nicht Zutrittskarten für meine ganze Klasse beschaffen könnte. Ich bekam sie.

Jetzt warteten nur noch Geggi und ich. Und dann natürlich die unermüdlichen Presseleute, die sich vor der Kirche aufgestellt hatten.

Wir waren sehr rechtzeitig an unserem Platz. Ich hantierte und ordnete zum zehnten Male an den Blumen im Korb. Inzwischen machten meine Gedanken einen schnellen Abstecher nach Hause, nach Blaubotten. Da saß Fräulein Mosgard – saß! Ach, Unsinn! Sie stand, sie lief, sie arbeitete wie verhext! Sie war dabei, ihr Zimmer für Milli einzurichten. Sie selbst sollte ab heute in meinem bisherigen Zimmer wohnen.

Was Fräulein Mosgard und Assi auf der Fahrt nach Bjerkehaugen und zurück im Wagen besprochen hatten, erfuhr ich nicht. Aber Tatsache war, daß Fräulein Mosgard mit ihrer Maschinenschreiberei Schluß gemacht hatte. Es handelte sich da um irgendwelche scheußlichen englischen Novellen, die sie für ein Pressebüro übersetzt hatte. Und dann hatte sie noch bis tief in die Nacht hinein unsere norwegischen und englischen Aufsätze korrigiert.

Aber, wie gesagt, jetzt war Schluß mit dem Maschineschreiben. Und gestern hatte ihre Küche nach geräucherter Wurst und Kohlrabi gerochen.

Ob das etwas mit Assi und ihrem Gespräch zu tun hatte, hat mir kein Mensch erzählt.

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Aber ich dachte mir nun meinen Teil! Sie kommt! Unruhe an der Tür. Ein Auto hält draußen. Kameras blitzen und

surren. Da stand sie an der Haustür, an Onkel Pauls Arm. Noch nie hatte ich meine Schwester so schön gesehen. Ihre Augen

leuchteten unter dem goldenen Haar und dem Myrtenkranz, und Tante Karens alten Spitzenschleier hielt sie vorsichtig über dem Arm.

Sie ging durch die Vorhalle, blieb vor der Kirchentür stehen und streckte mir die Hände entgegen. Ich beugte mich vor und küßte vorsichtig eine weiche Wange unter dem Spitzenschleier.

Dann ließ sie die Schleppe fallen. Geggi und ich ordneten sie, ehe wir hinter der Braut Platz nahmen.

Jetzt wurde die Tür zur Kirche geöffnet. Alle standen auf. Hunderte von Gesichtern waren Assi zugewandt.

Dann ertönte Mendelssohns Hochzeitsmarsch von der Orgel. Geggi und ich schritten langsam über den teppichbelegten Mittelgang der Kirche. Vorne an der Chortreppe gingen wir zur Seite und ließen Onkel Paul und Assi vorbei. Torbjörn reichte Assi die Hand. Eine Sekunde standen sie so, die beiden, die einander über alles auf der Welt liebten.

Da saß Tante Karen, da war Christian und dort seine Frau – da saß Tante Randi – dort Tante Katrine, jetzt setzte Onkel Paul sich an ihre Seite.

Dann sprach der Pfarrer. Und nun standen Torbjörn und Assi auf und gingen nach vorn zum Altar.

Ich setzte den Silberkorb auf die Bank ab und ging nach vorn. Ich wußte, daß unzählige Augen auf mir ruhten. Da war wahrhaftig wieder einer von den Pressefotografen, der blitzte und knipste. Ich faßte den Schleier an, so, wie es mir Tante Karen gezeigt hatte, vorsichtig, mit beiden Händen…

Es glückte. Ich konnte auf meinen Platz zurückkehren. Ich hörte die Worte des Pfarrers gewissermaßen durch einen

Nebel, gleichsam aus weiter Ferne. „So frage ich dich, Torbjörn Fredrik Hanning, willst du diese

Astrid Magdalena Elisabeth Rieger, die neben dir steht, zu deiner Ehefrau nehmen?“

Leise, deutliche Antwort. Wiederholte Frage. Assi war Frau Hanning geworden.

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Und die ganze Zeit waren meine Augen auf den Spitzenschleier geheftet, der wie daunenleichte Schneeflocken über den dunkelroten Teppich des Kirchenchors floß.

Ende