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Berte Bratt (Ulla Scherenhof) Grosse kleine Schwester Gina

Grosse kleine Schwester Gina

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Berte Bratt

(Ulla Scherenhof)

Grosse kleine Schwester Gina

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Eigentlich hatten sich Gina und ihre Kusine Geggi die Sommerferien ganz anders vorgestellt, als sie von ihrer Heimatstadt Oslo in den Gebirgskurort Solmyr fuhren. Als gut zahlende, angesehene Gäste wollten sie in der Pension Goldlack wohnen. Aber ohne Geld? Ja, wo blieb nur der Scheck, den Ginas ältere Schwester Assi, eine berühmte Opernsängerin, an sie abgeschickt hatte? Nachdem sie lange vergeblich gewartet haben, müssen sich die beiden Mädchen schließlich schweren Herzens entschließen, die vornehme Pension zu verlassen. Wie soll es weitergehen? Sie überlegen hin und her und beschließen endlich, sich einen Job als Erntehelferinnen zu suchen. Aber wieder einmal geraten sie ganz woanders hin, und statt sorgloser Ferientage erwartet sie ein außerordentliches, schicksalbestimmendes Erlebnis. Auch das rätselhafte Verschwinden des Schecks klärt sich am Ende ganz überraschend auf.

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Verlags-Nr. 701 1. Auflage 1968 Umschlagbild: E. Grauel-v. Mandelsloh Titel der Originalausgabe: Ina innepike Aus dem Norwegischen übersetzt von Anne Busch © der deutschen Buchausgabe 1968 by Engelbert-Verlag, Balve

Nachdruck verboten – Printed in Germany Satz, Druck und Einband: Gebr. Zimmermann, Buchdruckerei und Verlag GmbH, Balve/Westf.

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Was sollen wir bloß machen?

scheck abgesandt – stop – reicht für pension und leichtsinnige einkaufe – stop – macht’s euch gemütlich – stop – singe morgen wegen krankheitsfall dingsda Stockholm – stop – daher abfahrt per schiff erst freitag – stop – tausend herzliche grüße – assi

Ich las das Telegramm nun wohl zum zehnten Male. Für Uneingeweihte mochte der Wortlaut ziemlich verwirrend klingen, für mich aber war er sonnenklar:

Assi, meine Schwester, hatte mir einen Scheck geschickt, einen großen Scheck, der für alles ausreichte, was Geggi und ich den ganzen Sommer über brauchten. Assi ist immer sehr großzügig und glücklicherweise auch finanziell in der Lage, ihre guten Absichten in die Tat umzusetzen. Ferner war es für mich klar, daß sie ein Telegramm oder einen Anruf aus Stockholm bekommen hatte – vermutlich vom Freilichttheater in Skansen, alle anderen Bühnen waren im Sommer ja geschlossen – mit der Bitte, kurzfristig für zwei Vorstellungen die weibliche Hauptrolle in der Operette „Der Vetter aus Dingsda“ zu übernehmen. Ich wußte, daß sie das konnte, denn sie hatte diese Rolle schon mindestens fünfzigmal gesungen. Aus diesem Grunde also hatte sie ihre Amerikareise um ein paar Tage verschieben müssen. Sie würde nun nicht, wie geplant, mit der „Oslofjord“ fahren, sondern mit irgendeinem schwedischen Schiff.

Am Freitag sollte die Reise losgehen, stand in dem Telegramm. Heute war Samstag. Demnach befand sie sich bereits an Bord – und ich ahnte nicht, auf welchem Schiff.

Das Telegramm, das da vor mir auf dem Tisch lag, sah schon ganz zerknittert aus. Dienstag war es angekommen. Ich hatte es in die Tasche gesteckt und Geggi zu dem Kunstgewerbeladen mitgeschleppt, in dessen Schaufenster ein zauberhaftes Kleid hing, eine handgestickte Tracht aus dem Gudbrandstal.

Geggi, die von uns beiden die ältere und zweifellos auch die vernünftigere ist, hatte versucht, mich zu bremsen. Ich solle das Kleid lieber erst kaufen, wenn der Scheck da sei, hatte sie gemeint. Doch ich hatte auf ihren guten Rat gepfiffen und erklärt, wenn Assi mir einen Scheck schicke, der „für leichtsinnige Einkäufe“ ausreiche, könne ich das Trachtenkleid ohne weiteres kaufen.

Es wäre doch schrecklich ärgerlich gewesen, wenn jemand anders

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es gekauft hätte, während ich auf den Scheck wartete. Also hatte ich es gekauft und damit so gut wie gar kein Geld mehr

in der Tasche. Aber was machte das? Am nächsten Tag würde ja der Scheck kommen!

Doch der Scheck war am nächsten Tag nicht gekommen – auch nicht am Donnerstag. Allmählich war mir etwas unbehaglich zumute geworden. Als auch der Freitag ohne die ersehnte Post vergangen war, durchfuhr mich ein ordentlicher Schreck, und heute, am Samstag, war ich in Panikstimmung.

Da hatte ich mir ja wieder mal was eingebrockt! Immer muß ich Verwirrung stiften – mit dem Anfang dieses Berichtes ist mir das wahrscheinlich ebenfalls gelungen. Ich mußte unbedingt erst einmal erzählen, daß der Scheck nicht angekommen ist, und darüber habe ich ganz vergessen, in einer richtigen Einleitung zu erklären, wie alles zusammenhängt mit Assi und mir.

„Du tust immer das, was man am wenigsten erwartet“, pflegt Assi zu sagen, wenn ich wieder mal was angestellt habe, „es hat eigentlich schon damit angefangen, daß du zur Welt kamst.“

Das stimmt. Die Eltern hatten sich längst damit abgefunden, daß Assi ein Einzelkind bleiben würde. Doch als sie bereits sechzehn Jahre alt war, entschloß ich mich plötzlich, auch noch zur Welt zu kommen.

Da ich inzwischen fünfzehn Jahre alt war, war Assi also einunddreißig. Sie schätzte es übrigens nicht, daß dies allzu laut und allzu häufig erwähnt wurde. Für eine Künstlerin ist es nicht gut, wenn alle Welt erfährt, wie alt sie ist. Und tatsächlich sah sie wie einundzwanzig aus.

Assis Pflichten als große Schwester begannen schon, ehe ich geboren wurde. Sie hat mir oft davon erzählt, wie nett es war, wenn Mutti und sie abends zusammensaßen und beim Nähen und Stricken von Babysachen über das Kleine plauderten, das da unterwegs war.

Assi wurde fast eine zweite Mutter für mich, bis sie ins Ausland ging, um Gesang zu studieren. Damals war ich drei Jahre alt. Aus dieser Zeit besitze ich noch viele Briefe von ihr an Mutti und Vati. In jedem fragt sie eingehend nach dem Schwesterchen, und in mehreren steht: „Ich habe ein Päckchen fürs Schwesterchen abgeschickt.“ – „Ich habe hier in einem Laden das süßeste Kleidchen gesehen, das man sich vorstellen kann. Das werde ich dem Schwesterchen schicken.“ Oder: „Hier ist das Spielzeug billiger als zu Hause, darum habe ich fürs Schwesterchen einen Teddybär gekauft…“

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Schwesterchen hier, Schwesterchen da! In der ganzen Familie war man der Überzeugung, daß ich

entsetzlich verwöhnt wurde. „Aus dem Kind wird ja nie was“, behauptete Tante Kathrine, die als die Vernünftigste von allen galt und die ihre Tochter zu einem solchen Musterexemplar erzog, daß meine arme Mama Minderwertigkeitskomplexe bekam.

Die Jahre vergingen. Assi debütierte und erhielt großartige Kritiken. Sie hat einen strahlend hellen Sopran und kann die Tonleiter so hoch hinauf, daß ich gar nicht begreife, wie das möglich ist. Wenn ich mit dem bißchen Stimme, das ich habe, zu singen versuche, kommt nur ein heiserer Piep heraus, ehe ich eine Oktave unter Assis höchstem Ton angelangt bin.

Assi spielte zunächst in Operetten, doch eines schönen Tages wechselte sie zur Oper hinüber. An dem Tage, als sie aus Mailand das Angebot bekam, als Gast in der „Butterfly“ zu singen, mußte sich Mutter Tränen der Rührung aus den Augen wischen, und Vater räusperte sich gewaltig und erklärte sehr nüchtern und sehr männlich: Na ja, es sei ja recht erfreulich, daß sie so gut vorankomme, da sie diesen Weg nun einmal eingeschlagen habe – und dann mußte er sich seine Brille putzen und sich nochmals räuspern.

Daran erinnere ich mich noch genau, denn ich war damals ja schon zehn Jahre alt.

Und an das, was dann folgte, erinnere ich mich noch besser, denn es war so furchtbar, daß ich bei dem Gedanken an diesen Tag noch heute aufschreien könnte.

Assi hatte so gut verdient, daß sie die Eltern nach Mailand einladen konnte, um die Premiere mitzuerleben. Ich wurde bei Tante Kathrine und Onkel Paul untergebracht, bei denen ich gleich am ersten Tag ein Glas Saft auf einer gestickten Decke umkippte, am nächsten Tag eine kostbare Vase zertrümmerte und mich am dritten so unmöglich benahm, daß Tante Kathrine die Nerven verlor und mir eine Ohrfeige gab, daß ich die Engel im Himmel singen hörte. Und hätte Geggi mich nicht beschützt und mir geholfen und meine weiteren Sünden verschwiegen, wären es bestimmt noch mehr Ohrfeigen geworden.

Geggi ist zwei Jahre älter als ich und fast ebenso vernünftig wie ihre Mutter, glücklicherweise aber nicht ganz so streng. Geggi und ich sind beide nach unserer gemeinsamen Großmutter genannt worden, und so wandern wir unter dem Namen „Georgina“ durchs

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Leben. Geggi hatte das Glück, ihren Kosenamen bereits als Säugling zu bekommen. Bei mir war es so, daß ich in meiner frühesten Jugend nicht imstande war, mehr als die letzten vier Buchstaben meines Namens auszusprechen. Da meine Eltern es dabei belassen haben, bin ich „Gina“ geblieben.

Ich wohnte also bei Geggi und tat mein Bestes, ihr, Tante Kathrine und Onkel Paul das Leben so schwer wie möglich zu machen. Aus Mailand kam ein Telegramm, das von großem Erfolg und guten Kritiken berichtete, und ich platzte fast vor Stolz auf meine Schwester.

Dann kam noch eine Karte von Mutti an mich:

Mein lieber Schatz! Nun sind es nur noch ein paar Tage, bis wir heimkommen. Wir

haben hier eine wundervolle Zeit verlebt und viel zu erzählen, das kannst Du mir glauben! Im Koffer ist schon etwas Hübsches für unser Ginakind. Samstag nachmittag treffen wir auf dem Flughafen Oslo-Fornebu ein. Bitte Geggi, Dich zum Autobus zu begleiten, damit wir auch sicher sind, daß Du in den richtigen steigst – und «mach nach Möglichkeit keine Dummheiten, während Du auf unser Flugzeug wartest, Du Racker!

Grüße Onkel Paul, Tante Kathrine und Geggi herzlich und laß Dich umarmen, mein Schätzchen, von

Assi, Vati und Deiner Mutti

Der Samstag kam. Ich schoß wie ein Pfeil von der Schule nach Hause. Um fünf Uhr sollte ich mit dem Bus zum Flughafen Fornebu hinausfahren. Ich war ganz verwirrt und vollständig durcheinander vor Freude.

Und dann – dann machte Tante Kathrine mir die Tür auf, und ihre Augen waren verweint, und aus dem Wohnzimmer hörte ich Geggis Schluchzen. Tante Kathrine nahm mich in die Arme, dann kam Onkel Paul hinzu, und ich begriff überhaupt nichts. Sie fingen an zu sprechen, und ich verstand nur etwas von „Gottes unerforschlichem Ratschluß“ und: ich müsse versuchen, tapfer zu sein, Assi komme morgen nach Hause, und nun müßten sie mir etwas berichten, das mir schrecklich, ganz schrecklich weh tun werde…

Mutti und Vati sollten in München in eine andere Maschine umsteigen, aber sie kamen nicht so weit. Das Flugzeug von Mailand nach München stürzte ab, und alle Insassen kamen ums Leben.

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Was ich in der ersten Zeit danach durchgemacht habe, kann ich nicht beschreiben und will es auch gar nicht versuchen.

Assi kam heim – zwei Särge kamen an. Ich ging nicht mit zur Beerdigung, sondern saß, zusammengekauert in Geggis Armen, im Wohnzimmer auf dem Sofa. Später hat sie mir erzählt, ich hätte gewimmert wie ein krankes Tier – aber ohne eine Träne.

Theater und Oper sind das Unbarmherzigste, was es gibt. Eine italienische Sängerin übernahm die „Butterfly“ nur für ein paar Tage, dann mußte Assi zurück nach Mailand. Kontrakt ist Kontrakt!

Ich blieb bei Onkel Paul und Tante Kathrine. Als Assis Gastspiel beendet war, kam sie zurück und setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um unsere Wohnung zu tauschen. Es gelang ihr auch bald, und als wir wieder zusammenzogen, kam ich in eine ganz neue Umgebung. Sie hatte sogar einige neue Möbel gekauft, damit ich nicht bei jedem Schritt, den ich machte, und jedem Ding, das ich in die Hand nahm, an die Eltern erinnert wurde.

In den ersten Monaten schlug Assi alle Gastspielangebote aus, denn nur eins war ihr wichtig: mir zu helfen.

Sie war einzigartig! „Schwesterchen“, sagte sie, „wenn ich dich doch bloß wieder zum

Lächeln bringen könnte!“ „Ich kann nie mehr lächeln – nie in meinem ganzen Leben“,

erwiderte ich. Wenn man zehn Jahre alt ist, sagt man so etwas, und man glaubt es auch.

Aber die Zeit ging darüber hin, und wir gewöhnten uns an unser neues Dasein. Als der Herbst kam, wurde ich in ein Internat geschickt, wo ich zwei Jahre blieb.

Die ersten Weihnachtsferien verbrachte ich mit Assi in London, wo sie in „La Traviata“ sang, am nächsten Weihnachtsfest waren wir in Basel, und jedesmal, wenn ich ins Internat zurückkehrte, hatte ich eine Menge zu erzählen.

Vom zwölften Lebensjahr an blieb ich zu Hause, denn wir hatten Frau Nathansen bekommen, die unseren Haushalt versorgte. Frau Nathansen, unübertrefflich freundlich, herzlich und geduldig, besaß außerdem einen geradezu unverwüstlichen Humor. Nach knapp einem Monat nannte ich sie bereits Tante Randi.

Zwei Jahre blieb Assi in Oslo und sang in Opern und Operetten. Dann begann sie wieder auf Gastspielreisen zu gehen, denn meinetwegen war sie nun beruhigt, erstens, weil ich inzwischen vier Jahre älter und ein ganz klein wenig vernünftiger geworden war, und

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zweitens, weil sie wußte, daß sie sich auf Tante Randi verlassen konnte.

Onkel Paul, mein Vormund, hatte Grund genug, zufrieden zu sein mit der Regelung, die Assi für mich getroffen hatte.

Dann kam das Frühjahr, in dem ich fünfzehn Jahre alt wurde, und jetzt nähere ich mich dem Ausgangspunkt meines Berichtes, nämlich dem Telegramm von Assi.

Onkel Paul und Tante Kathrine wollten in diesem Sommer ins Ausland fahren. Sie hatten das unwahrscheinliche Glück gehabt, eine Reise bei einem Preisausschreiben zu gewinnen, und zwar sollte es durch ganz Europa gehen – sie würden mehrere Städte besichtigen und am Schluß drei Wochen an einem Badestrand in Spanien verbringen. Diese Glückspilze!

Und Assi sollte für zwei Monate in die Vereinigten Staaten, um in einem großen Musikfilm mitzuwirken.

Nun blieb noch die Frage offen, was in dieser Zeit mit Geggi und mir geschehen sollte. Tante Kathrine löste schließlich das Problem. Eine ehemalige Schulfreundin von ihr betrieb eine Fremdenpension in dem stillen, friedlichen Gebirgsdorf Solmyr. Dorthin wurde geschrieben und telefoniert, und bald war alles vereinbart. Die Dame, die verwitwete Frau Svalseth, war bereit, uns aufzunehmen und ein ebenso wachsames wie mütterliches Auge auf uns zu haben.

Tante Randi fuhr hocherfreut zu ihrer verheirateten Tochter nach Kopenhagen. Unsere Wohnung stellte Assi einer Kollegin zur Verfügung, die ein Engagement in einer Sommerrevue hatte, und Geggi und ich reisten mit dem Zug nach Solmyr.

„Ach, du liebe Zeit“, sagte Assi eine Stunde vor Abfahrt des Zuges, „mein Scheckbuch ist leer – nicht ein Blatt ist mehr drin! Aber für die ersten Tage hast du ja genug Geld, Ginalein, nicht wahr? Und gleich morgen schicke ich dir einen Scheck nach.“ übrigens hatte Assi auch Geggi für diese Ferien in Solmyr eingeladen. Onkel Paul und Tante Kathrine sind finanziell nicht sonderlich gut gestellt, und Assi – nun ja, Assi kann man wohl als wohlhabende Dame bezeichnen – sehr wohlhabend sogar.

In der „Sommerpension Goldlack, Inhaberin Frau B. Svalseth“, nahm man uns freundlich auf, wir bekamen ein sehr behagliches, sonniges Doppelzimmer mit schöner Aussicht und machten uns eifrig daran, die Umgebung zu erforschen, denn – alles, was recht ist – die Landschaft ist wunderbar. Das Haus lag ein Stück entfernt von der Hauptverkehrsstraße. Man hatte eine halbe Stunde zu gehen,

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wenn man zum Kaufmann, zur Post, zur Apotheke oder zur Bank wollte, eine halbe Stunde auf einem steilen und gewundenen Weg, wo nur selten einmal ein Auto im ersten Gang heraufbrummte.

Mit diesem Weg sollte ich bald gute Bekanntschaft machen – wenn ich zur Post ging, um nach dem Brief mit dem Scheck zu fragen.

Aber der Scheck kam nicht – und nun war Samstag, und wir sollten unseren Aufenthalt hier wöchentlich bezahlen, so war es ausgemacht. Heute würde man uns die erste Rechnung vorlegen.

Das also war unsere Lage. Geggi und ich saßen auf der Bettkante und schauten uns

verzweifelt an. „Ich begreife das nicht“, sagte ich, „ich möchte Gift darauf

nehmen, daß Assi den Scheck abgeschickt hat.“ „Ich auch“, sagte Geggi. „Er muß gestohlen worden sein“, meinte ich. „Aber das ist doch unmöglich“, erwiderte Geggi, „Assi hat ihn

bestimmt im eingeschriebenen Brief geschickt.“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein, höchstwahrscheinlich hat sie das nicht getan. Sie wollte

einen Scheck ausstellen, den nur ich einlösen kann. Darum braucht er nicht eingeschrieben geschickt zu werden.“

Nun war es Geggi, die den Kopf schüttelte. „Na, so was!“ sagte sie nur. Wir schwiegen eine Weile, und ich warf einen Blick auf die

Rechnung, die wir auf dem Tisch vorgefunden hatten, als wir von unserem heutigen Gang zur Post zurückkamen.

„Wieviel Geld haben wir noch, Gina?“ fragte Geggi. Wir fingen an zu zählen. Ich durchsuchte sämtliche Taschen, denn

ich kenne mich – wie oft stecke ich Wechselgeld lose in eine Kleidertasche und vergesse es dann.

Wir besaßen haargenau noch so viel Geld, daß wir die Rechnung für die erste Woche bezahlen konnten, mit Geggis Taschengeld für den ganzen Sommer und dem, was ich zusammengekratzt hatte. Was dann noch übrigblieb, reichte kaum für eine Flasche Limonade oder ein Eis.

Somit waren wir von diesem Augenblick an sozusagen Zechpreller. Wir wohnten und aßen, ohne zu ahnen, wie wir die Rechnung dafür bezahlen sollten.

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Zwei junge Mädchen, eventuell Schülerinnen…

Es wurde ein sorgenschwerer Sonntag. Die anderen Pensionsgäste zogen mit Kind und Kegel los. Unten

im Ort gab es ein Volksfest – mit Eiskremwagen und Würstchenbuden, mit Karussell und Tanz, eine herrliche Unterbrechung des stillen Daseins in der Pension Goldlack. Wie hatten wir uns auf dieses Volksfest gefreut, auf dem ich mein neues Trachtenkleid einweihen wollte. – Und da saßen wir nun!

Das heißt, wir saßen nicht lange, sondern machten eine Wanderung, denn wir wollten nicht die ganze Zeit über Frau Svalseths fragende Blicke auf uns gerichtet fühlen.

Ihre Verwunderung darüber, daß wir im Hause zu Mittag essen wollten und nicht unten im Dorf, genügte uns vollkommen.

So trabten wir den Pfad hinauf am Bach entlang, und als wir außer Sichtweite waren, setzten wir uns auf einen flachen Stein und schauten uns an.

„Gina“, sagte Geggi, „wir müssen uns einen Plan zurechtlegen. Wir müssen unbedingt was unternehmen.“

„Ja, aber was sollen wir denn unternehmen ohne Geld?“ „Wir müssen Frau Svalseth den Zusammenhang erklären…“ „Den kennen wir ja selbst nicht einmal. Wir haben doch keine

Ahnung, warum der Scheck nicht angekommen ist.“ „Dann müssen wir ihr eben sagen, daß er nicht angekommen ist,

meine ich. – Wann kannst du frühestens eine Nachricht von Assi erwarten?“

„Tja – vielleicht schickt sie ein drahtloses Telegramm vom Schiff aus, aber das ist nicht sicher. Sie hat mir nur versprochen, sofort per Luftpost zu schreiben, wenn sie angekommen ist.“

Geggi zählte die Tage an den Fingern ab. „Ende nächster Woche also“, sagte sie, „aber damit ist es ja nicht

getan, denn erstens ist es nicht sicher, daß sie dann schon ihre Adresse weiß…“

Ich ließ den Kopf hängen. „Nein, denn sie muß ja weiter nach Boston, wo die

Filmgesellschaft eine Unterkunft für sie besorgen wollte…“ „Ja, aber hör mal – da könnten wir vielleicht an die Adresse der

Filmgesellschaft telegrafieren.“ „Und wer soll das Telegramm bezahlen?“

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„Wir müssen Frau Svalseth bitten, das Geld auszulegen“, meinte Geggi.

„Unsinn! Findest du, daß sie so aussieht, als ob sie bereit wäre, Geld für ein so irrsinnig teures Telegramm auszulegen?“

Geggi schwieg eine Weile. „Hast du in Oslo Geld?“ fragte sie endlich. „Ich habe ein Sparkassenbuch, aber das liegt im Bankfach. Alle

Wertsachen wurden dorthin gebracht, als Assi unsere Wohnung vermietete.“

„Und wo ist der Schlüssel zu dem Bankfach?“ „Den hat Assi.“ Wieder dachte Geggi eine Weile nach. „Weißt du was?“ sagte sie. „Es bleibt uns schlechterdings nichts

anderes übrig, als zu versuchen, nach Oslo zurückzukommen. Dann hausen wir einfach in unserer Wohnung. Ich hab’ ja den Schlüssel.“

„Und wovon sollen wir leben?“ „Ach, es gibt ja Konservenbüchsen und Weckgläser, die wir

aufmachen können. Und beim Bäcker und Lebensmittelhändler haben wir Kredit, die kennen uns doch.“

„Ja, ich glaube auch, es gibt keinen anderen Ausweg. Aber wie wird es mit unseren Schulden hier?“

„Dann^muß Frau Svalseth eben etwas warten. Wir können ja ein Pfand hinterlassen, zum Beispiel das Trachtenkleid.“

„Das Trachtenkleid! – Ob ich das womöglich zurückgeben kann? Dann hätten wir genug Geld für die ganze Woche. Dieses sündhaft teure Kleid! Wenn es nur nicht so scheußlich peinlich wäre, damit zurückzukommen.“

„Ist es dir recht, wenn ich es probiere?“ fragte Geggi. „Oh, Geggi, du bist ein Engel! Willst du das wirklich?“ „Ein Versuch kostet nichts“, sagte Geggi. Am nächsten Morgen ging Geggi ins Dorf hinunter. Wenn es

überhaupt jemand schaffte, eine Ware gegen klingende Münze zurückzuliefern, dann konnte es nur Geggi sein. Sie ist stets ruhig, liebenswürdig, wohlerzogen und sachlich – im Gegensatz zu mir. Ich fahre immer gleich aus der Haut, werde wütend und rede dann dummes Zeug. Oh, ich weiß selbst, daß ich so bin, und versuche mich zu beherrschen, aber wenn ich erst einmal in Wut gerate, vergesse ich alle guten Vorsätze.

Ich mußte sehr lange warten, saß in unserem Zimmer und überlegte: Gab es noch irgend jemanden, den man um Hilfe bitten

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konnte? Tante Randi war in Kopenhagen, und ich wußte ihre Adresse nicht. Assi konnte ich frühestens in einer Woche telegrafisch erreichen. Geggis Eltern schwebten kreuz und quer über den europäischen Kontinent. Dann ging ich in Gedanken meine Schulfreundinnen durch, mußte jedoch bald einsehen, daß es hoffnungslos war. Sie befanden sich alle in irgendwelchen Ferienorten.

Nein, wir mußten es so machen, wie Geggi vorgeschlagen hatte. Ach, wenn sie doch bloß das Geld für das Trachtenkleid zurückbekäme, dann hätten wir genug, um Frau Svalseth für zwei Tage – Sonntag und Montag – zu bezahlen und die Fahrkarten nach Oslo zu kaufen. War aber das Glück nicht auf Geggis Seite, dann – oh, ich schwitzte bei dieser Vorstellung!

Die Hoffnung, daß der Scheck doch noch käme, hatte ich aufgegeben. Man hörte ja hin und wieder von Postdiebstählen, und ich nahm an, daß ich das Opfer eines solchen Diebstahls geworden war.

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich machte mich auf den Weg, um Geggi entgegenzugehen. Die Sonne brannte, der steile, steinige Weg führte in vielen Kurven zum Dorf hinunter – oh, wie gut ich diese Steine kannte, und jede einzelne Biegung auch!

Endlich – da kam sie! Ich erkannte sie schon von weitem an ihrer roten Bluse. Trug sie noch etwas? Kam sie mit dem Paket zurück, oder…

Nein, sie hatte nichts in der Hand. Ich rannte auf sie zu. „Geggi, du Engelskind! Du Prachtexemplar von einer Kusine! Du

hast es geschafft!“ Geggi blickte mich unsicher an. „Ja und nein – wie man’s nimmt“, sagte sie. „Hast du Geld?“ „Ja, etwas – aber nicht alles.“ Dann berichtete sie. Nein, leider, habe die Dame in dem Geschäft

gesagt, gekaufte Waren könnten nicht zurückgenommen werden – wohl umgetauscht, gewiß, wenn etwas anderes dafür gewünscht werde, aber das Geld zurückgeben? „Bedaure, unmöglich“ – der Bon und das Kassensystem, na, und so weiter. Doch dann war ihr eingefallen, daß vor zwei Tagen eine Dame aus Schweden im Laden gewesen sei, um nach dem Trachtenkleid zu fragen, das im Schaufenster gehangen hatte. Die Kundin sei sehr ärgerlich gewesen, als sie hörte, daß es schon verkauft war. Ja, gewiß, die Dame wohne

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im Hotel, und sie heiße Jonsen oder Johannson oder Jonassen oder so ähnlich.

Also war Geggi zum Hotel weitergezogen, und dort war es ihr geglückt, die Dame zu erwischen, die übrigens Jönsson hieß.

Das Ende der Geschichte war, daß Frau Jönsson das Kleid gekauft, aber nur die Hälfte angezahlt hatte, den Rest konnte sie erst geben, wenn ihr Mann Ende der Woche kam.

„Das war die einzige Chance, Gina“, sagte Geggi in einem Ton, als wollte sie um Entschuldigung bitten.

„Du bist fabelhaft, Geggi“, sagte ich, „nun können wir wenigstens hier bezahlen, und morgen früh brausen wir ab nach Oslo. Es bleibt uns nichts anderes übrig.“

„Ja, ja“, sagte Geggi, „es wird ja nun doch ein bißchen anders, als wir es uns vorgestellt hatten, aber…“

„Ich bitte dich, das ist doch nur ein Übergang“, tröstete ich. „Weißt du was, wenn wir bei euch daheim sind, werden wir Assi anrufen, das heißt, sobald wir ihre Adresse haben. Sie wird dann schon irgendwie Geld für uns beschaffen – vielleicht schickt sie eine telegrafische Anweisung.“

„Du kennst dich gut aus in solchen Dingen, Gina“, sagte Geggi nachdenklich.

Da mußte ich lachen. „Na klar! Wenn du wüßtest, wie viele Ferngespräche ich schon gehört habe – über Schecks, Überweisungen, Honorare, Garantien oder sonst was. Und wie oft Assi Auslandsgespräche führt! Ich bin nicht die Spur erstaunt, wenn ich zu Hause den Telefonhörer aufnehme und erfahre, daß es ein Gespräch aus Paris ist oder Rom oder – ach, du grüner Chinese!“ unterbrach ich mich, blieb stehen und starrte Geggi an.

„Chinesen sind nicht grün, sondern gelb – das heißt, zur Zeit sind sie rot.“

„Rede keinen Quatsch, Geggi, meinetwegen können die Chinesen violett sein, das ist mir egal, mir ist was viel Schlimmeres eingefallen. Der Scheck! Ich muß doch die Bank benachrichtigen, daß vielleicht ein Unbefugter versuchen wird, ihn einzulösen.“

Ich lief zur Pension zurück und stürzte in Frau Svalseths Büro. Ein Ferngespräch? Ja, gewiß, bitte schön! Das Telefonbuch von

Oslo war auch vorhanden. Mit zitternden Fingern blätterte ich in dem Wälzer und fand

endlich die Nummer der Bank. Hier oben im Gebirge, weitab von jeder Zivilisation, gab es keine Selbstwählapparate. Das Fräulein in

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der Zentrale mußte mir die schmerzliche Mitteilung machen, daß ich nach Oslo mit etwa drei Stunden Wartezeit rechnen müsse. Gut, dann ein Eilgespräch! Auch das werde einige Zeit dauern, bekam ich zur Antwort. Es half also nichts, ich mußte ein Blitzgespräch anmelden.

Bis es mir gelang, dem Bankmenschen die Angelegenheit begreiflich zu machen, waren mehrere schrecklich teure Blitzminuten vergangen. Frau Svalseth saß wie festgeklebt auf ihrem Stuhl, sperrte die Ohren auf und wandte keinen Blick von mir.

Gewiß, es war kein Geheimnis, trotzdem störte es mich sehr, daß sie zuhörte.

„Wissen Sie die Nummer des Schecks?“ fragte mich der gründliche Bankbeamte.

„Nein“, sagte ich, „das einzige, was ich weiß, ist, daß es wahrscheinlich der erste Scheck eines neuen Heftes ist. Also wird die letzte Ziffer wohl eine Eins sein.“

Das wurde notiert, und der Mann versprach mir, mich sofort zu benachrichtigen, wenn der Scheck präsentiert werden sollte.

„Und wenn sich jemand das Geld hier oben bei einer Ihrer Filialen holen will?“ fragte ich.

„Dann muß sich die Filiale sowieso erst mit uns in Verbindung setzen. Das Geld wird keinesfalls ohne weiteres ausgezahlt“, tröstete er mich.

Endlich konnte ich den Hörer auflegen. Frau Svalseth griff sofort danach und erkundigte sich bei der Zentrale, was das Gespräch gekostet habe.

Als ich die Summe erfuhr, fiel ich fast in Ohnmacht. Du meine Güte!

„Telefongespräche müssen immer sofort bezahlt werden“, teilte mir Frau Svalseth mit.

„Ja, ja, ich laufe rasch nach oben und hole das Geld“, sagte ich mit matter Stimme. Geggi war ja unsere Kassenverwalterin.

Jetzt war es an ihr, in Ohnmacht zu fallen. Eines war nun sicher: wir mußten unbedingt morgen in aller Frühe abreisen. Dabei war es fraglich, ob unser Vermögen überhaupt noch für Fahrkarten bis nach Oslo reichte, wenn wir die Vollpension für zwei Tage und das beängstigend teure Ferngespräch bezahlt hatten.

Als ich wieder nach unten kam, hörte ich Stimmen in Frau Svalseths Büro. Vielleicht war es besser, sie jetzt nicht zu stören. Ich wartete lieber noch ein bißchen.

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Ich blieb im Flur stehen und betrachtete die Wanderkarte, die dort hing. Hier lag unsere Bahnstation Solmyr, dort ging der Weg ab zur Pension Goldlack, und die Bahn fuhr weiter bergauf. Wie hieß die nächste Station? – Geiterud…

Plötzlich drängte sich eine Stimme in mein Bewußtsein: „Nein, ich bitte Sie, das habe ich ja sofort herausgehört, dieser

Scheck ist natürlich niemals abgesandt worden. Meine Liebe, wie sollte denn ausgerechnet hier ein Brief abhanden kommen? Bei uns gibt es doch Gott sei Dank nur ehrliche Menschen.“

Dann antwortete eine andere Stimme: „Aber die beiden Mädel können einem doch leid tun. Vor allem

um die Jüngere ist es ein Jammer, elternlos, wie sie ist – und dann noch abhängig von so einer Künstlerin. Man weiß ja, wie unzuverlässig diese Leute sind.“

„Es muß ja nicht böser Wille gewesen sein, vielleicht hat sie einfach nur vergessen, den Scheck abzuschicken. Du lieber Himmel, so eine Verantwortungslosigkeit. –

Ich frage mich bloß, was ich nun mit den Mädchen anfangen soll.“

Jetzt hatte ich genug. Ich kochte vor Wut. Ich riß die Tür auf und sah Frau Svalseth neben einer alten, schwerhörigen Dame, die auch als Gast in der Pension Goldlack wohnte, auf dem Sofa sitzen.

„Ich kann Ihnen sagen, was Sie tun sollen“, rief ich, „Sie sollen es gefälligst unterlassen, schlecht über Menschen zu reden, die Sie gar nicht kennen! Meine Schwester ist der beste und zuverlässigste Mensch der Welt. Nie und nimmer hat sie mich im Stich gelassen! Es ist tausendmal wahrscheinlicher, daß der Brief abhanden gekommen ist, als daß Assi vergessen hat, ihn abzuschicken! Und wissen Sie, was Sie sonst noch tun können? Unsere Rechnung ausschreiben bis einschließlich heute. Das Geld kriegen Sie sofort in die Hand, auch für mein Ferngespräch – bitte sehr, da ist es! Und im übrigen können Sie unser Zimmer ab heute abend weitervermieten, denn wir reisen heute mit dem Nachmittagszug ab!“

Frau Svalseth wollte wohl etwas erklären, ich glaube, sie murmelte, ich solle es doch nicht so auffassen. Aber ich fühlte, daß mir die Tränen schon unter den Augenlidern saßen, und so machte ich auf dem Absatz kehrt und rannte die Treppe hinauf zu Geggi.

Fünf Minuten später standen wir bereits vor unseren Koffern und packten in Windeseile. Geggi hat eine wunderbare Eigenschaft: sie kann die wütendsten Menschen beruhigen. Ich durfte nur nicht an

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Frau Svalseth denken… Ich nahm mich zusammen und packte, zielbewußt und mit

zusammengebissenen Zähnen. Du meine Güte, wie sahen meine Wanderstiefel aus! Sollte ich

mich jetzt daranmachen, sie zu putzen? Ach was! Ich lief auf den Flur und holte mir eine Zeitung aus dem großen Papierkorb, der dort stand.

Zwei Minuten später hatte ich sowohl die Stiefel als auch den Zug vergessen. Gebannt starrte ich das Blatt an, in das ich gerade einen Stiefel hatte wickeln wollen. Mein Blick war auf ein Inserat gefallen:

Zwei junge Mädchen, eventuell Schülerinnen, finden gesunden Sommeraufenthalt gegen Hilfe bei der Heuernte. Angebote an Hof Lyngbakken, Geiterud.

„Geggi!“ rief ich und hielt ihr die Zeitung hin. Sie las, dann setzte sie sich mit nachdenklicher Miene hin. Sie

drehte das Blatt um und blickte nach dem Datum. Ich schaute ihr über die Schulter. Die Zeitung war von Samstag, also vorgestern.

„Geggi, unser Geld reicht ganz bestimmt noch für Fahrkarten nach Geiterud, das ist ja schon die nächste Station. Und sobald wir wissen, ob wir dort bleiben, schreiben wir dem Postamt hier in Solmyr unsere neue Adresse, damit uns die Post nachgeschickt wird.“

„Aber meine Eltern müssen doch wissen, wo wir sind, und Assi…“

„Ja, ja, gewiß, das schreiben wir ihnen, und zwar per Luftpost, wenn wir Assis Adresse haben und wenn wir wissen, daß deine Eltern in Spanien angekommen sind.“

„Und wenn die Leute auf Lyngbakken bereits Hilfskräfte bekommen haben?“

„Ja, dann wird uns nichts anderes übrigbleiben, als nach Oslo zu trampen, vielleicht finden wir aber auch Arbeit auf einem Nachbarhof. Ich habe gar nichts dagegen, bei der Heuernte zu helfen, oder du?“

„Im Gegenteil, das macht doch Spaß. Hier ist es doch im Grunde sterbenslangweilig.“

Geggi hatte vollkommen recht. Die übrigen Gäste der Pension Goldlack waren allesamt alte Leute, abgesehen von zwei jungen Müttern mit ihren quengeligen Schreihälsen. Die ganze Woche lang hatten Geggi und ich Wanderungen gemacht oder stundenlang Federball gespielt, und wie viele Romane wir nebenher noch gelesen

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hatten, weiß ich gar nicht. Außerdem hatte Geggi noch einen halben Pullover gestrickt.

Nein, wir brachten wahrhaftig kein Opfer, wenn wir die Pension Goldlack verließen. Herrlich, wenn wir statt dessen umsonst auf einem Bauernhof wohnen und Heu zusammenharken konnten, womöglich auch noch selbst einen hochbeladenen Heuwagen fahren durften. Auf den Feldern und Äckern hier an den Berghängen benutzte man sicher noch Pferde und keine Traktoren, freundliche, starke, genügsame, kleine, gelbe Fjordpferde. Wer weiß, vielleicht konnte man auch hin und wieder einmal reiten. Auf Assis Kosten nahm ich seit einem Jahr Reitunterricht, und das Reiten machte mir so viel Freude wie kein anderes Hobby.

„Okay“, sagte Geggi, „wir versuchen unser Glück.“

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Ein Glas Wasser

Das ganze Dorf hielt Mittagsruhe, und auch der Bahnhof war fast menschenleer. Hinter einem Fenster im oberen Stockwerk des Bahnhofsgebäudes klapperte die Frau des Stationsvorstehers mit dem Abwasch, und vor der Tür mit der Aufschrift „Dienstraum – Unbefugten ist der Zutritt verboten!“ machte Karo ein wohlverdientes Schläfchen, die Schnauze zwischen den Vorderpfoten. Die Nachmittagssonne brannte, und wir schwitzten unter unserem Gepäck – jeder trug einen Rucksack und einen Koffer.

Außerdem hatten wir das Federballspiel und ein Transistorradio. Wir hatten noch eine Stunde zu warten, bis der Zug nach Geiterud

kam. Vorher, in fünfunddreißig Minuten, sollte ein Zug nach Süden, also nach Oslo, fahren. Nach und nach fanden sich ein paar Menschen ein, die anscheinend nach Oslo wollten.

Nur ein Gesicht war mir bekannt, und zwar das der schwarzhaarigen Anny. Sie war mit einem der Zimmermädchen in der Pension Goldlack befreundet und half dort jeden Mittwoch aus, wenn Gudrun frei hatte. Was sie sonst tat, wußte wohl niemand. Ständig trieb sie sich bei der Post, am Bahnhof oder auch vor den Geschäften herum.

Da kam der Zug. Unter denen, die einstiegen, war auch Anny. Was, in aller Welt,

wollte sie in Oslo? Plötzlich schnappte ich hörbar nach Luft. „Was ist denn los?“ fragte Geggi. „Geggi, hör zu und überlege!“ sagte ich hastig. „Erinnerst du dich

an den Dienstag, also vor sechs Tagen, als wir das Trachtenkleid kauften?“

„Und ob ich mich erinnere! Ich habe mich ja fast heiser geredet, um dich zu überzeugen, daß es besser sei, damit zu warten.“

„Genau so war’s! Wir standen vor dem Schaufenster, ich guckte mir das Kleid an, und du hast mir einen langen und vernünftigen Vortrag gehalten. Darauf antwortete ich…“

„Du antwortetest, da Assi dir einen riesengroßen Scheck nachschicke – und der käme ganz bestimmt morgen – , könntest du dir das Kleid doch auch gleich kaufen.“

„Stimmt! Aber hast du auch bemerkt, daß, während wir das sagten, ausgerechnet diese Anny hinter uns stand? Damals kannte ich

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sie noch nicht, aber ich erinnerte mich an ihr Gesicht, als ich sie am Mittwoch in der Pension wiedersah.“

„Na – und? Worauf willst du damit hinaus?“ „Geggi, überleg doch mal! Anny hat am Mittwoch die Post für die

Pension Goldlack abgeholt. Wahrscheinlich tut sie das immer, wenn sie Gudrun vertritt. Und an diesem Mittwoch sollte doch der Brief mit dem Scheck ankommen, Geggi.“

„Du meinst also, daß…“ „Ich meine gar nichts, ich zähle nur Tatsachen auf. Anny wußte,

daß ich einen großen Scheck erwartete, und sie hatte gehört, daß er von einer gewissen Assi kam. Am nächsten Tag holte sie die Post für die Pension, und unter anderen Briefen war auch einer mit dem Absender: Assi Rieger. Es ist doch ein bißchen merkwürdig, daß ausgerechnet dieser Brief verschwand, und zwar gerade an dem Tag, als Anny die Post holte.“

Nun machte Geggi ein sehr nachdenkliches Gesicht. „Es ist scheußlich, einen Menschen so zu verdächtigen, Gina,

aber ich muß zugeben, daß deine Kombination der Tatsachen logisch ist – ein logischer Verdacht sozusagen.“

Jetzt geriet ich in Eifer. „Und daß sie nicht versucht, den Scheck hier in der Filiale der

Bank einzulösen, ist doch wohl klar, denn in dem kleinen Ort kennt sie doch jeder. Wenn ich nur begreifen könnte, weshalb sie sechs Tage lang gewartet hat, ehe sie damit nach Oslo fährt.“

„Ich glaube, das kann ich erklären“, sagte Geggi langsam. „Du weißt, ich war heute früh im Hotel und fragte im Büro nach der Dame, die sich für das Trachtenkleid interessierte.“

„Ja, und da?“ fragte ich und trat vor Spannung von einem Fuß auf den anderen.

„Da stand Anny und steckte ein paar Geldscheine in ihre Tasche, und die Chefin sagte zu ihr so etwas wie: ‚Vielen Dank für die Hilfe, und dann kommst du also nächstes Wochenende’.“

„Dann ist ja alles sonnenklar!“ rief ich. „Sie mußte warten, bis sie genug Geld für die Fahrkarte und eventuell auch die Übernachtung in Oslo verdient hatte. – Verflixt, jetzt müßten wir eigentlich auch gleich nach Oslo.“

„Zu Fuß?“ fragte Geggi trocken. „Wir können heilfroh sein, wenn noch fünf Kronen übriggeblieben sind.“

Es zeigte sich, daß wir fünf Kronen und achtundfünfzig Öre besaßen. Es wurde wahrhaftig Zeit, daß wir ein Dach über den Kopf

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und etwas zu essen bekamen. Wenn das nur klappte auf Lyngbakken! Dann wären wir in Sicherheit, bis wir Verbindung mit Assi oder Geggis Eltern hatten.

Der Zug kam, und ein paar Minuten später rollten Geggi und ich in Richtung Geiterud.

„Lyngbakken“, sagte der Stationsvorsteher, den wir nach dem Weg gefragt hatten, „tja, das ist ein Fußmarsch von etwa anderthalb Stunden. Schade, daß ihr nicht früher gekommen seid, das Auto von Lyngbakken ist schon vor einer Stunde hier gewesen. Es fährt immer nur einmal am Tag.“

Wir gaben unsere Koffer und das Federballspiel in der Gepäckaufbewahrung ab. Dann machten wir uns an den Aufstieg nach Lyngbakken. Aufwärts, aufwärts – ab und zu ein kurzes Stück ebenen Weges, dann wieder aufwärts.

Bald spürten wir es in den Beinen. Dazu kam noch ein fürchterlicher Hunger, denn wir hatten nicht mehr zu Mittag gegessen, bevor wir loszogen, und hatten nicht einmal gewagt, zwanzig Öre beim Bäcker am Bahnhof auszugeben.

In meinem ganzen Leben war ich noch nie so hungrig gewesen. Allmählich quälte uns der Durst mehr als der Hunger, und

ausgerechnet auf dieser Strecke war nicht ein einziger Bach zu sehen oder zu hören. Sonst rieseln und sprudeln die Bächlein überall im Gebirge, aber hier horchten wir vergebens auf ein noch so entferntes Gluckern.

Und weit und breit kein Haus! Die Anwesen rund um Geiterud lagen unten im Tal und ein Stück den jenseitigen Berghang hinauf.

Aber hier – hier war es so einsam, daß man fast meinte, die Stille hören zu können.

„Hoffentlich haben wir uns nicht verlaufen“, sagte ich. „Das ist doch unmöglich“, erwiderte Geggi, „der

Stationsvorsteher zeigte direkt in diese Richtung, und außerdem siehst du hier doch Autospuren.“

Gewiß, aber das war auch der einzige Beweis dafür, daß hier jemals Menschen gewesen waren.

Es ging auf den Abend zu, und wir trotteten immer noch weiter. Mein Rucksack schien mit Blei vollgepackt zu sein. Mund und Hals waren vollkommen ausgetrocknet.

Wieder machte der Weg eine Biegung – und plötzlich lag links vor uns eine kleine Talmulde, und mitten in dieser Mulde stand ein Haus.

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„Das kann doch wohl nicht Lyngbakken sein“, meinte ich. Geggi lächelte trotz aller Strapazen. „Nein, ein Hof, der

Hilfskräfte braucht, dürfte wohl etwas anders aussehen“, sagte sie. „Dies ist höchstens ein kleiner Familienbetrieb, vielleicht nicht mal das.“

Es war ein kleines, verwittertes Holzhaus – fast hätte man es eine Hütte nennen können. Daneben stand noch ein kleiner Schuppen, und auf einem Wiesenhang grasten drei Ziegen.

„Hier könnten wir ja nach dem Weg fragen“, schlug ich vor, „und vor allen Dingen brauche ich einen Schluck Wasser.“

Also verließen wir den steinigen Weg mit den Autospuren und gingen den Pfad entlang, der zu dem Haus führte.

Ehe wir dazu kamen, an die Tür zu klopfen, wurde sie geöffnet. Eine junge Frau mit einem Eimer in der Hand stand vor uns. Sie hatte einen langärmeligen blauen Kittel an und ein buntes Kopftuch um das Haar gebunden. Aus einem sonnenbraunen Gesicht blickten uns ein Paar klare graue Augen fragend an.

„Entschuldigen Sie bitte“, begann Geggi – ich überlasse es immer gern ihr, das Wort zu führen – , „wir sind so furchtbar durstig. Würden Sie wohl so freundlich sein, uns ein Glas Wasser zu geben?“

Die Frau lächelte – und welch ein bezauberndes Lächeln war das! Sie setzte den Eimer zu Boden und sagte:

„Pem will ich gern abhelfen. Wollt ihr nicht lieber ein Glas Milch? Es ist zwar nur Ziegenmilch, aber…“

„O ja, tausend Dank!“ entfuhr es mir. Geggi puffte mich in die Seite. Ach ja, natürlich, für Milch mußten wir etwas bezahlen, Wasser konnten wir umsonst bekommen – ach, verflixt! Aber die Frau im blauen Kittel war bereits in die Küche gegangen, und wir hörten Geschirr klappern und Gläser klirren.

„Kommt herein, Mädel!“ rief sie. „Wollt ihr euch nicht ein Weilchen hinsetzen? Ihr müßt doch müde sein.“

Und ob wir müde waren! Wir ließen uns auf die Holzstühle in der sehr behaglichen Küche fallen. Zwei randvolle Gläser mit Milch wurden vor uns hingestellt. Ich leerte meins, ohne es ein einziges Mal vom Mund abzusetzen.

„Nicht so hastig, Gina!“ mahnte Geggi. „Ich hatte doch solchen Hunger.“ Natürlich, jetzt mußte ich mich auch noch versprechen! Komisch,

man kann ohne weiteres zugeben, daß man durstig ist, aber einzugestehen, daß man Hunger hat, ist irgendwie peinlich, vor allem

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dann, wenn man genau weiß, daß man kein Geld hat, um sich etwas zu essen zu kaufen…

Die junge Frau sagte nichts, sie öffnete nur eine Schranktür, und im nächsten Augenblick standen eine Butterdose und eine Schüssel mit frischgebackenen Waffeln vor uns.

„Aber nein, Sie sollen doch nicht…“ wehrte Geggi ab. „Warum soll ich nicht?“ fragte die Frau lächelnd. „Es ist doch so

nett, Besuch zu bekommen. Das geschieht hier wahrhaftig nicht oft. Seid ihr aus Oslo?“

„Ja, wir wohnen in Oslo, aber jetzt sind wir aus Solmyr gekommen. Ist es noch weit bis zum Lyngbakken-Hof?“

„Lyngbakken? O ja, noch etwa eine Dreiviertelstunde geht man bis dahin. Sagt mal – es geht mich zwar nichts an, aber wenn ihr vielleicht auf die Anzeige hin gekommen seid, daß auf Lyngbakken junge Mädchen für die Heuernte gesucht werden…“

„Ja“, sagten wir gleichzeitig und blickten unsere liebenswürdige Gastgeberin gespannt an.

„Dann seid ihr leider zu spät gekommen. Ich sah Hans Lyngbakken heute nachmittag hier vorbeifahren, und er hatte zwei junge Mädchen im Wagen.“

„Ach…“ sagte Geggi. Ich konnte nicht einmal das hervorbringen. Die junge Frau trat an den Tisch. Nun erst sah ich, daß sie sich

etwas schwerfällig bewegte. Trotz des weiten Kittels konnte man erkennen, daß sie ein Kind erwartete.

„Kann ich euch irgendwie helfen, Mädel?“ fragte sie. „Ich will gewiß nicht indiskret sein, aber ihr seht so unglücklich aus, und wenn ich kann – ich heiße übrigens Helga Reinas, und ihr?“

„Geggi Rieger, und das ist Gina Rieger. Wir sind Kusinen.“ „Jetzt begreife ich!“ Helga Reinas lächelte. Ihre freundlichen

Augen waren auf mich gerichtet. „Ich überlege schon die ganze Zeit über, woher mir dein Gesicht so bekannt vorkommt, Gina. Nun weiß ich es: du bist die Schwester von Assi Rieger, nicht wahr?“

„Ja, das bin ich. Kennen Sie Assi?“ „Nein, leider nicht, nur ihre wunderbare Stimme. Aber ich habe…

Warte mal!“ Sie öffnete die Küchentür und rief hinaus: „Mette, lauf rasch nach

oben und hol die Zeitschriften, die im Schlafzimmer unten im Regal liegen!“

Man hörte trippelnde Schritte von Kinderfüßen. Gleich darauf erschien ein kleines Mädchen in langen Trägerhosen und mit

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abstehenden Rattenschwänzchen. Es legte drei Nummern der „Welt der Dame“ auf den Tisch. Da ging mir ein Licht auf.

„Ach, Sie haben das Interview ,Daheim bei Assi Rieger’ gelesen? Das ist in der Nummer mit den beiden Hunden auf dem Titelbild.“

Wir hatten sie zu Hause in mehreren Exemplaren. Sie enthielt ein Interview, das im letzten Winter gemacht worden war, zusammen mit einer ganzen Reihe Fotos – auf einigen war auch ich zu sehen. Der Journalist hatte dick aufgetragen, als er Assis gute Seiten schilderte – meine übrigens auch: daß Assi wie eine Mutter für mich sorge – was ja auch stimmte – und daß ich in rührender Weise die berühmte große Schwester betreue, wenn sie müde aus dem Theater oder von Gastspielreisen heimkomme – das stimmte leider nicht so ganz. Jedenfalls aber sah man in der Zeitschrift auf einem Bild Assi im Sessel sitzen, und ich stand mit dem Teetablett neben ihr.

„Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß mich einmal die Schwester der berühmten Assi Rieger besuchen würde“, sagte Helga Reinas. „Sieh mal, Mette, erkennst du das Mädchen da auf dem Bild?“

Die kleine Mette blickte auf das Foto und dann auf mich. „Das bist du ja! Warum ist dein Bild in der Zeitung? Und warum

bist du hier?“ „Das werden wir dir gleich erzählen, Mette“, sagte ihre Mutter.

„Hör mal zu, mein Schatz! Nimm den Eimer, lauf hinüber und fang an, Ragga zu melken, mit der wirst du ja schon allein fertig. Ich komme gleich nach.“

Da stand Geggi auf. „Darf ich Mette helfen, Frau Reinas?“ fragte sie. „Ich kann

nämlich Ziegen melken. Sie sollten das wohl lieber nicht mehr tun, weil – äh – ich meine…“

„Weil ich ein Kind erwarte, meinst du?“ Frau Reinas lachte. „Melken muß ich trotzdem!“

„Aber nicht, solange ich hier bin“, erwiderte Geggi eifrig. „Könnte das vielleicht als Bezahlung für Milch und Waffeln gelten?“

„Ja, ja, meinetwegen, wenn du absolut willst. Es ist mir übrigens schleierhaft, wie eine Osloerin Ziegen melken kann.“

„Das habe ich im vorigen Jahr in den Sommerferien gelernt“, erklärte Geggi. „Komm, Mette, zeig mir mal, welche Ziege ich melken soll.“

Nun war ich allein mit Helga Reinas, und ehe ich mich dessen versah, war ich schon mitten im Erzählen. Bald kannte Frau Reinas

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die ganze Geschichte von Assi, von der Pension Goldlack und von dem Scheck, der nicht angekommen war. Sie lächelte, als ich ihr von meinem Wutausbruch nach Frau Svalseths Sticheleien berichtete.

„Sehr diplomatisch war das nicht gerade von dir“, meinte sie, „aber ich kann gut verstehen, daß du aus der Haut gefahren bist, als jemand deine Schwester verdächtigte, sie hätte dich im Stich gelassen. Aber ihr armen Mädel seid ja nun in einer scheußlichen Klemme.“

„Ja, im Augenblick sind wir das wohl. Aber in ein paar Tagen kann ich Assi telegrafieren…“ Ich stockte. Assi telegrafieren, wenn ich nicht genug Geld hatte? Ich schluckte und sprach weiter: „Ich meine, sobald wir in Oslo sind, können wir das machen. Dann schlachten wir Geggis Sparschwein und können telegrafieren. Haben wir erst mal Verbindung mit Assi, dann…“

„Aber der Scheck!“ sagte Helga Reinas. „Wo kann der bloß hingekommen sein? übrigens wollen wir erst einmal das Nächstliegende besprechen. Selbstverständlich könnt ihr heute nacht hierbleiben – nein, nur keinen Dank! Du kannst dir nicht vorstellen, welch eine nette Abwechslung euer Besuch in meiner Einsamkeit hier ist.“

„Ja, aber – du mußt mir schon erlauben, daß ich mich bedanke, – , aber bist du denn ganz allein hier – ich meine – dein Mann…“

Erst hinterher wurde mir klar, daß ich „du“ zu Helga gesagt hatte, doch sie schien das ganz natürlich zu finden.

„Das ist es ja“, sagte sie seufzend, „mein Mann hatte das Pech, einen steilen Abhang ‘runterzustürzen, und es war noch ein Wunder, daß er auf halber Höhe an einer Zwergbirke hängenblieb. Nun liegt er in Oslo im Krankenhaus – mit einem gebrochenen Bein, einer geschienten Schulter, einer Gehirnerschütterung und noch verschiedenen anderen Verletzungen. Aber gottlob besteht keine Lebensgefahr. Der Arzt meint sogar, daß er nichts zurückbehalten wird. Es dauert nur eben seine Zeit, bis er wieder gesund ist.“

„Ja, aber dann bist du ja ganz allein hier. Und wenn das Kind kommt, was dann?“

Helga lächelte. „Ach, das ist nicht so schlimm, wie du denkst. Das Baby kommt erst in zwei Monaten, und ich erwarte in drei oder vier Wochen meine Mutter hier oben. Zur Zeit macht sie Ferien auf den Kanarischen Inseln, aber sobald sie zurück ist, kommt sie mit dem ersten Zug hierher.“

So saßen wir noch eine Weile plaudernd beisammen, fragten und

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erzählten abwechselnd, und ich merkte, daß es wirklich angenehm für Helga war, einen Menschen um sich zu haben, mit dem sie sich unterhalten konnte, auch wenn es nur ein fünfzehnjähriges Mädel war.

Ich half ihr, den Abendbrottisch zu decken, während sie auf einem praktischen kleinen Propangasherd Tee zubereitete.

„Alles muß hier entweder mit Propangas oder Batterien gemacht werden“, erklärte sie, „an das Stromnetz sind wir nicht angeschlossen.“

Geggi und Mette kamen mit vollen Eimern zurück. Nach dem Abendessen schickten wir Helga in die Stube und widmeten uns dem Abwasch. Helga holte Bettwäsche, und wir machten uns in einer Kammer hinter der Küche zwei einladende Betten zurecht. Punkt zehn Uhr lagen wir in den Federn – Himmel, wie wunderbar das war!

„Viel zu schön, um wahr zu sein!“ meinte Geggi. „Daß so viel Gutes herauskommen kann, wenn man nur um ein

Glas Wasser bittet“, sagte ich. Eine Minute später schliefen wir so fest, wie nicht einmal

Dornröschen geschlafen haben konnte.

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Hausmädchen Gina

Als wir am nächsten Morgen um den Frühstückstisch saßen, erklärte uns Helga, weshalb die Familie Reinas in dieser Weltabgeschiedenheit lebte. Uns war das rätselhaft erschienen, denn sie waren doch Städter – Helga sprach unüberhörbar im Osloer Tonfall – und betrieben keinerlei Landwirtschaft. Sie hatten nicht mehr als ein Gärtchen mit etwas Gemüse, drei Ziegen und ein paar Kaninchen. In der Stube standen eine Schreibmaschine und ein Tonbandgerät. Uns war es nicht gelungen, diese widerspruchsvollen Tatsachen zu kombinieren. Aber, wie gesagt, am Frühstückstisch erfuhren wir von Helga die Zusammenhänge.

Ihr Mann war Wissenschaftler, Botaniker, und schrieb zur Zeit an seiner Doktorarbeit. Dazu hatte er von der Schule, an der er unterrichtete, ein Jahr Urlaub bekommen, und so war er mit Frau und Kind hinauf in die Bergeinsamkeit gezogen, um in Ruhe arbeiten zu können. Kaum hatten sie sich hier eingerichtet, merkte Helga, daß sie schwanger war. Das komplizierte die Sache natürlich etwas, aber Helga meinte lächelnd, schließlich sei es für sie ja auch nicht schlimmer als für andere Frauen, die im Hochgebirge lebten. Unten im Dorf gab es eine Hebamme und einen Arzt, im Schuppen stand ein Fahrrad, und so konnte ihr Mann, wenn es soweit war, ziemlich rasch Hilfe herbeiholen. Bergab ging es ja schnell, man brauchte sich nur aufs Rad zu setzen, den Fuß auf der Bremse zu halten und war in kurzer Zeit im Dorf und beim Doktor. Außerdem sollte ja auch Helgas Mutter kommen.

„Und warum seid ihr gerade in dieses Haus gezogen?“ fragte Geggi.

„Das hat uns ein Freund meines Mannes zur Verfügung gestellt. Ursprünglich war es eine Jagdhütte – es wimmelt hier nämlich von Hasen und Schneehühnern. Als der Besitzer starb, erbte der Freund das Haus, und zwar in dem Augenblick, als er sozusagen mit einem Bein auf dem Schiff nach Amerika stand und daher keine Verwendung für seinen neuen Besitz hatte. Also fragte er uns, ob wir vielleicht… Na, und das war genau das Richtige. Mein Mann zerbrach sich ja gerade den Kopf darüber, wo er sich wohl für ein Jahr niederlassen könnte, möglichst an einem Ort ohne Telefon und in einem Haus ohne Gäste, die einander die Tür in die Hand geben. Ja, so war das. Ende Februar kamen wir herauf, glücklicherweise bei

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verhältnismäßig mildem Wetter, denn wäre alles dick verschneit gewesen, hätten wir das Haus sicher gar nicht gefunden. Zuerst fiel es uns ja nicht leicht, uns an das neue Leben zu gewöhnen, vor allem an die Einsamkeit. Aber bald gefiel es uns hier sehr gut. Bis Egil, mein Mann, verunglückte, führten wir ein geradezu idyllisches Leben, und wir waren von Herzen froh, hierhergezogen zu sein.“

„Aber wie kommst du mit dem täglichen Kleinkram zurecht?“ fragte ich. „Wie kannst du hier etwas einkaufen, wie regelt ihr denn das mit der Post und so weiter?“

„Hans Lyngbakken nimmt uns manchmal zum Einkaufen mit, wenn er ins Dorf fährt, und unsere Briefe holt er ab und bringt täglich die Post für uns mit. Außerdem haben wir das Fahrrad, wenn’s mal ganz eilig ist. – Aber nun zu euch beiden: in zwei Stunden kommt Hans Lyngbakken, und…“

„Dann können wir mit ihm hinunterfahren“, ergänzte ich. „Halt, stop, ich wollte ja ganz was anderes vorschlagen“,

unterbrach mich Helga Reinas. „Hört mal her! Egil und ich haben oft davon gesprochen, wie praktisch es wäre, wenn wir eine Hilfe im Haus hätten, damit ich ihm besser zur Hand gehen kann. Er hat nämlich immer abends den Text auf Tonband gesprochen, und am nächsten Tag schrieb ich ihn mit der Maschine ins reine. Jetzt hat er sich von Freunden ein Bandgerät geborgt, diktiert im Krankenhaus weiter und schickt mir die Bänder, aber die stapeln sich hier, weil ich einfach nicht genug Zeit zum Schreiben habe. Ich wollte zwar nicht gleich zwei junge Mädchen ins Haus nehmen, aber – da ihr nun einmal da seid und anderswo nichts versäumt: was würdet ihr davon halten, mir vorläufig zu helfen? Ihr bekommt freie Kost und freundliche Behandlung und ganz wenig Geld, denn ihr müßt euch das teilen, was ich sonst einem Mädchen gezahlt hätte. Könnt ihr euch innerhalb von zwei Stunden entscheiden?“

„In zwei Sekunden!“ rief ich. „Du bist ein Engel, Helga! Im Augenblick gibt es nichts auf der Welt, was ich mir mehr wünschte, als hierbleiben zu dürfen.“

„Ich auch“, sagte Geggi mit leuchtenden Augen. „Ich kann die Ziegen melken und die Kaninchen versorgen, und du glaubst nicht, wie geschickt ich im Unkrautjäten auf Gemüsebeeten bin.“

„Und ich kann immerhin abwaschen und Tee und Kaffee machen, Staub wischen und die Fußböden scheuern“, versicherte ich.

Helga blickte lächelnd abwechselnd Geggi und mich an. „Dann ist die Lage ja geklärt“, sagte sie, „ab heute habe ich Geggi

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als Stallmagd und Gina als Hausmädchen. Nun setzt euch mal gleich hin und schreibt eure neue Adresse an das Postamt in Solmyr, damit euch die Post nachgesandt werden kann. Und falls ihr am Bahnhof noch irgendwelches Gepäck liegen habt, dann gebt die Scheine her, damit Hans es abholen und heraufbringen kann. Ist sonst noch was?“

„Noch nicht“, sagte ich, „aber in zwei oder drei Tagen kann ich Assi sicher telegrafieren – das heißt, wenn ich…“

„Wenn du einen kleinen Vorschuß auf deinen Lohn bekommst“, meinte Helga lächelnd.

Ich schrieb rasch eine Karte an das Postamt in Solmyr und eine zweite an Frau Jönsson, die ich bat, den Rest des Geldes für das Trachtenkleid an unsere neue Adresse zu senden. Geggi ließ sich von Helga eine Schürze geben und ging zu den Kaninchen, den Ziegen und dem Unkraut.

Am liebsten hätte ich die ganze Welt umarmt, so froh und erleichtert war ich. Und da mir im Augenblick nur Mette zur Verfügung stand, mußte sie als Stellvertreterin der ganzen Welt meine stürmische Umarmung über sich ergehen lassen. Sie schickte sich gutwillig in das Unvermeidliche.

Zehn Minuten später stand ich am Abwaschbecken und pfiff vor mich hin, während aus der Stube das regelmäßige Klappern von Helgas Schreibmaschine herüberklang.

„Was sind wir doch für Riesenglückspilze“, sagte Geggi, als sie mit den Futternäpfen der Kaninchen hereinkam, um sie unter der Pumpe auszuwaschen. Einen Wasserhahn gab es nicht, aber die Pumpe tat es ja auch. „Es macht mir solchen Spaß, die Ziegen und Kaninchen zu betreuen, sie sind so niedlich. Du mußt mal mitkommen und sie dir ansehen. Ein Kaninchen hat acht Junge, die sind einfach zum Fressen!“

„Ja, dazu sind Kaninchen für gewöhnlich da“, sagte ich lachend. „Na, und wie gefällt dir das Abwaschen?“ fragte Geggi. „Vorläufig gut, noch hat diese Tätigkeit den Reiz des Neuen.“ „Sag mal ehrlich, Gina, hast du schon jemals in deinem Leben

Geschirr abgewaschen?“ „Was hältst du denn von mir! Im Internat mußten wir nach der

Hauswirtschaftsstunde selber abwaschen. Außerdem mache ich das doch zu Hause auch, wenn Tante Randi frei hat.“

„Entschuldige, daß ich dich unterschätzt habe“, sagte Geggi. „Dann hast du womöglich auch gelernt, Fußböden aufzuwischen?“

„Natürlich. Aber ich habe mir nicht träumen lassen, daß ich mir

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damit mal den Lebensunterhalt verdienen müßte. Ich bin nur froh, daß Helga selbst kocht, denn Kochen war für mich das schrecklichste Schulfach. Du ahnst nicht, was ich zustande gebracht habe an angebrannten Soßen, klumpiger Grütze, Fleischklößen, die auseinanderfielen, und Pfannkuchen, die wie alte Wischlappen aussahen. – Halt, Geggi, nimm bitte diesen Eimer mit! Helga läßt dir sagen, daß die Kaninchen alle Gemüseabfälle und Brotreste bekommen.“

Geggi verschwand, und als nächste erschien Mette. „Gina, ein Zopf ist aufgegangen“, sagte sie. Ich trocknete meine Hände ab und flocht das linke

Mauseschwänzchen. „Was willst du denn jetzt machen, Mette?“ fragte ich.

„Ich baue mir draußen auf der Wiese einen Stall – mit ganz vielen Tannenzapfen.“

„Ganz allein? Hast du niemanden, der mit dir spielt?“ „Doch, manchmal, aber heute nicht. Manchmal spiele ich mit

Inger Lyngbakken, bis ihr Vater aus dem Dorf zurückkommt und sie abholt.“

„Und sonst? Spielt dann deine Mutti mit dir?“ „Nein, Mutti hat zuviel zu tun“, erwiderte Mette altklug. „Und

mein Vati ist im Krankenhaus. Mit Vati spielen macht Spaß. Aber weißt du, bald kriege ich jemanden zum Spielen, ein Brüderchen oder ein Schwesterchen. Jetzt ist es noch bei Mutti, aber bald kommt’s.“

„Freust du dich darauf?“ „Ja, sehr! Dann werd’ ich eine große Schwester, und ich kann

Mutti helfen, unser Baby zu versorgen. Weißt du, die Träger von dem weißen Strampelhöschen, die hab’ ich gestrickt!“

„Du meine Güte, du kannst stricken? Gehst du denn schon in die Schule?“

„Nein, erst im Herbst. Dann fahr’ ich jeden Tag mit Inger Lyngbakken, die kommt auch in die Schule. Aber stricken kann ich schon, das hat Mutti mir gezeigt, damit ich ihr helfen kann, Sachen für mein Brüderchen oder Schwesterchen zu stricken.“

Ich erzählte Mette, daß ich auch eine große Schwester hätte, die ich sehr, sehr liebte, und Mette nickte verständnisvoll. Dann verlangte sie, ich solle ihr ein Frühstücksbrot machen und einpacken. Wenig späte* zog sie los, um ihren Stall weiterzubauen.

Das Klappern der Schreibmaschine verstummte, und gleich

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darauf erschien Helga in der Küche. Ich berichtete ihr von meiner Unterhaltung mit Mette. Helga lächelte.

„Ja, Gott sei Dank, sie hat mit der Zeit die richtige Einstellung zu dem Baby gefunden“, sagte sie. „Als ich ihr erzählte, daß ein Geschwisterchen kommen werde, sah es zuerst aus, als fürchtete Mette, ich würde das Baby mehr lieben als sie und mich nur noch mit ihm beschäftigen. Mein Mann und ich haben lange gebraucht, um das Mädel umzustimmen. Aber wie du siehst, ist es uns gelungen. Nun freut sich Mette wirklich und fühlt sich schon jetzt mitverantwortlich für das Kleine.“

Ich mußte daran denken, was eine Freundin von Assi erzählt hatte, als ihr zweites Kind kam. Das Erstgeborene war so eifersüchtig, daß es anfing, sich wie ein hilfloses Baby zu gebärden. Es konnte plötzlich nicht mehr allein essen, wollte gefüttert werden, stahl dem Kleinen die Milchflasche und nuckelte daran, ja, es fing mit seinen fünf Jahren sogar wieder an, die Höschen naß zu machen.

Helga nickte, als ich ihr das erzählte. „O ja, glaub mir, solche Fälle kenne ich! Ich war nämlich selbst

schon sechs Jahre alt, als mein Bruder geboren wurde. Daher erinnere ich mich noch gut daran, wie unglücklich ich war, daß meine Mutter nun weniger Zeit für mich hatte, und daß ich absichtlich die unmöglichsten Dinge tat, ungehorsam und widerspenstig war, bis ich schließlich Prügel bekam. Und gerade das war es, was ich wollte. Wenn es auch weh tat, ich hatte erreicht, daß man sich mit mir beschäftigte. Wenn ich die Großen nicht dazu zwingen konnte, zärtlich zu mir zu sein, so sollten sie mich wenigstens schlagen, denn dann konnten sie sich zumindest eine Zeitlang nicht mit dem Brüderchen abgeben.“

Ich schüttelte den Kopf. „An was man alles denken muß, wenn man Kinder hat“, sagte ich.

„Ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß Assi auf mich hätte eifersüchtig sein können.“

„Na ja, bei euch ist der Altersunterschied aber auch besonders groß“, meinte Helga. „Deine Schwester ist sicher immer schon mehr wie eine Mutter für dich gewesen.“

„Das kann man wohl sagen“, stimmte ich zu. „Und sie ist der beste, der liebenswerteste Mensch der Welt.“

„Komisch, daß sie nicht geheiratet hat“, sagte Helga. „Ich bin froh, daß sie es nicht getan hat“, sagte ich lachend, „ich

kann keinen Schwager gebrauchen, und außerdem – was sollte dann

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aus mir werden?“ „Na ja, von deinem Standpunkt aus…“ sagte Helga. „Bist du

fertig, Gina? Und weißt du, wo Mette ist?“ „Sie baut einen Stall.“ „Ja, sie kann sich recht gut allein beschäftigen. Das ist ein Glück,

denn das einzige Problem für uns ist eben dies, daß sie hier oben kaum Spielkameraden findet.“

„Ich stehe zu Diensten“, sagte ich. „Du glaubst nicht, wie geschickt ich darin bin, aus Tannenzapfen und Streichhölzern Tiere zu fabrizieren, die wie Kühe oder Ziegen aussehen.“

„Oh, Gina, ein Lob ins Klassenbuch, wenn du ab und zu mit Mette spielen würdest!“ sagte Helga, während sie Wasser in einen Kochtopf pumpte und anfing, Kartoffeln zu schälen. Ich zog mit Eimer und Besen ab, um mich der Fußböden in Stube und Schlafzimmer anzunehmen.

Mich beschäftigte eine Frage, die ich bisher stets beiseite geschoben hatte, weil ich nicht daran denken wollte.

Assi war einunddreißig Jahre alt, eine außerordentlich beliebte Sängerin und zudem ein bezaubernder Mensch. Warum heiratete sie nicht?

Bei diesem Punkt angelangt, pflegte ich sonst immer rasch an etwas anderes zu denken. Aber hier – weitab von Stadtlärm und Menschengewühl, von Fernsehen und Telefon und allem, was sonst geeignet ist, die Gedanken abzulenken – , hier konnte ich diesem Problem nicht mehr entgehen. Und schon stellte ich mir die Frage, der ich bis dahin ausgewichen war:

War es meine Schuld? Hatte Assi auf die Ehe verzichtet, um weiterhin Mutter für mich

zu sein? Fühlte sie vielleicht eine Art Schuld, weil Mutti und Vati damals ihretwegen nach Mailand geflogen waren? Sie hatte ja über Muttis Furcht vor dem Fliegen gelächelt und ihr erklärt, daß Unglücksfälle im Autoverkehr viel häufiger vorkämen. Und Assi war es, die den Eltern die Flugkarten geschenkt hatte.

Glaubte sie wirklich, eine Schuld sühnen zu müssen? Oh, Assi – liebe Assi! Eines wurde mir klar, während ich über den Eimer gebeugt stand

und den Wischlappen ausdrückte: ich mußte unbedingt mit Assi darüber sprechen! Falls es einen Mann gab, den sie liebte, wollte ich sie nicht daran hindern, ihn zu heiraten, selbst wenn ich dann noch einmal für ein paar Jahre ins Internat zurück müßte. Gewiß wäre das

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für mich ein Opfer, aber war es denn jetzt nicht an mir, ein Opfer zu bringen?

Ich warf den Lappen auf den Boden und begann, mit langen, energischen Strichen zu wischen.

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Endlich kommt Post

Geggi und ich hatten es herrlich. Das war doch was ganz anderes als das sterbenslangweilige

Leben in der Pension Goldlack! Hier hatten wir etwas zu tun und doch nicht so viel, daß es den ganzen Tag ausfüllte. Es gab viel freie Zeit. Wir spielten mit Mette und plauderten mit Helga – wie gemütlich waren diese Plauderstunden! Helga war so lustig und trotz ihrer Warmherzigkeit so klug und nüchtern in ihren Ansichten.

„Für eins werde ich ganz bestimmt sorgen“, sagte ich zu Geggi, „nämlich, daß Assi und Helga sich kennenlernen. Sie werden sich gut verstehen.“

„Daran habe ich auch schon gedacht“, sagte Geggi. Sie schwieg eine Weile, dann fuhr sie fort: „Wenn Assi mal Kinder hat, wird sie sicher auch so eine gute Mutter wie Helga, so heiter, so vernünftig und so – so liebevoll.“

Da war es wieder: Wenn Assi mal Kinder hat… Und wieder fragte ich mich: War es meine Schuld? Verzichtete sie auf eigene Kinder, um mir die Mutter zu ersetzen? Opferte sie mir ihr Glück? übrigens hätte sie nun allmählich etwas von sich hören lassen können. Ich erwartete auch andere Post: von Frau Jönsson und von der Bank. Der Mann, mit dem ich telefoniert hatte, wollte mich doch benachrichtigen, sobald jemand den Scheck vorlegte.

Oder war mein Verdacht doch unbegründet? Hatte Anny den Brief mit dem Scheck nicht unterschlagen?

Das ging mir durch den Kopf, als ich das abgewaschene Frühstücksgeschirr wegräumte. Vor dem Küchenfenster schwatzte Mette mit Inger Lyngbakken. Der Vater war wieder ins Dorf gefahren und hatte die Kleine bei uns gelassen. Ein Segen, daß wir Hans Lyngbakken hatten, der alle Einkäufe für uns erledigte und die Post abholte – sofern es welche abzuholen gab!

Gegen Mittag hörte ich sein Auto kommen und lief hinaus. „Heute sind aber endlich Briefe vom Liebsten dabei, Gina“, sagte

er lächelnd, „und auch ein Brief für Mette vom Vati. Bitte, Gina, trag du den Korb, für Helga ist er zu schwer.“

In meiner Hand lagen drei Briefe. Ich überließ es Geggi, den Korb zu tragen und Inger zu holen, rannte in unsere Kammer und riß die Umschläge auf – zuerst las ich natürlich den Luftpostbrief mit der amerikanischen Marke.

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Mein lieber Ginaschatz! Nun bin ich angekommen, und morgen beginnen die Aufnahmen.

Ich bin noch ein bißchen durcheinander von all den neuen Eindrücken, aber es geht mir prächtig, und alle Leute hier sind reizend zu mir. Ich habe ein unerhört elegantes Appartement in einem hübschen Hotel und wurde bereits von einem ganzen Rudel Journalisten interviewt. Ich bin gespannt, was sie mir in den Mund legen werden. Die Reise war wunderbar, ständig schönes Wetter, und so konnte ich nach den zwei turbulenten Tagen in Stockholm richtig ausspannen und für die Anstrengungen hier neue Kräfte sammeln. Hoffentlich habt Ihr, Geggi und Du, es gut getroffen in der Pension Goldlack, und Du machst nicht allzu viele Dummheiten, Du Strolch!

Wie lange ich hierbleiben werde, weiß ich noch nicht. Man hat mir zugesagt, meine Szenen zuerst zu drehen, damit ich vor meinem Gastspiel in Berlin noch mal nach Hause kommen kann. Ich hoffe, daß die Zeit nicht zu knapp sein wird, denn ich möchte nach Möglichkeit den Flug vermeiden und wieder mit dem Schiff fahren. Bist Du dann beruhigt? Grüße Geggi herzlich und sage ihr, wie froh ich bin, daß sie bei Dir ist. Schreib mir gleich ein paar Worte per Luftpost, damit ich weiß, wie es Euch geht. Tausend liebe Grüße und einen dicken Kuß von

Deiner alten Assi

Gott sei Dank, nun wußte ich, daß Assi gut gelandet war – und ich hatte ihre Adresse!

Der nächste Brief! Mein Herz machte einen Sprung, als ich den Namen der Bank las. Und während ich den Text überflog, wurden meine Augen immer größer. Dann rannte ich hinaus und rief nach Geggi. Ich fand sie bei den Kaninchen. Sie reinigte gerade einen Stall, und von der Taille aufwärts war nicht viel von ihr zu sehen.

„Geggi, Geggi – nun lies das bloß mal!“ „Glaubst du vielleicht, ich kann den Brief halten – mit einem

Kaninchen in der einen Hand und einer Schaufel in der anderen? Was ist denn da so ungeheuer spannend?“

„Der Brief ist von der Bank! Menschenskind, wir sind reich!“ Geggis Strubbelkopf kam hervor. Mit schmutzigem Handrücken

wischte sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Lies vor – ich spitze die Ohren!“

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Und ich las:

„Sehr geehrtes Fräulein Rieger! Wir nehmen Bezug auf Ihr Telefongespräch mit uns und teilen Ihnen mit, daß der fragliche Scheck, von Frau Assi Rieger auf Ihren Namen ausgestellt, nunmehr vorgelegt worden ist. Ein junges Mädchen hat versucht, in einer unserer Filialen das Geld abzuheben. Der Scheck war unterschrieben, aber der Beamte merkte sofort, daß die Unterschrift gefälscht worden ist, denn Ihr Familienname war nicht mit ,ie’, sondern nur mit ,i’ geschrieben. Leider ist die junge Betrügerin entkommen. Wahrscheinlich wurde sie ängstlich, als man sie bat zu warten, vielleicht hat sie gesehen, daß sich der Kassierer an den Filialleiter wandte, jedenfalls war sie verschwunden, als sie aufgerufen wurde. Der Scheck befindet sich vorläufig bei der Polizei. Sie können jedoch schon über den Betrag von dreitausend Kronen verfügen, Sie brauchen sich nur an unsere Filiale in Solmyr zu wenden und eine Interimsquittung zu unterschreiben. Wir bitten Sie jedoch, sich dort mit Reisepaß oder Personalausweis zu legitimieren. Alles Weitere ordnen wir mit Ihrer Frau Schwester nach ihrer Rückkehr.

Hochachtungsvoll…“

Geggi fiel die Schaufel aus der Hand, und sie starrte mich mit großen Augen an.

„Ach, du grüne Neune!“ „Das kann man wohl sagen! Hast du vielleicht eine schwache

Ahnung, wer das Mädchen sein könnte?“ „Ja, denk mal an, die hab’ ich! Ich frage mich bloß, wo das

Frauenzimmer hin ist.“ „Vielleicht kann ich das morgen herauskriegen. Ich werde Helga

bitten, mir für morgen vormittag freizugeben, und dann fahre ich nach Solmyr und hole unser Vermögen. Komm ins Haus, sobald du kannst, Geggi! Ich laufe schon hinein und erzähle Helga alles. Ich platze, wenn ich’s nicht umgehend loswerde. – Ja, richtig, von Assi habe ich auch einen Brief bekommen und – ach, du meine Güte, den dritten hab’ ich noch gar nicht aufgemacht!“

Er war von Frau Jönsson. Sie schrieb, es sei etwas Unvorhergesehenes dazwischengekommen, und sie würde gern mit mir darüber sprechen – ob ich wohl an einem der nächsten Tage zufällig in Solmyr sei. Wenn nicht, dann wolle sie nach Geiterud

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kommen, ich solle ihr auf einer Karte mitteilen, wie sie mich am besten erreichen könne.

„Oh, Geggi, paß auf, das bedeutet nichts anderes, als daß sie das Trachtenkleid nicht behalten will, und ich kann es zurückkaufen“, rief ich glücklich.

„Aber nicht eher, als bis du das Geld in der Hand hast, wenn ich bitten darf“, sagte Geggi, „wir wollen nicht zweimal denselben Scherz machen.“

Ehe ich darauf antworten konnte, kam Mette angelaufen und sagte, das Mittagessen stehe auf dem Tisch.

Beim Essen erfuhr Helga alle Neuigkeiten. Sie hörte lächelnd zu, als ich Assis Brief vorlas, und dann zeigte ich ihr den von der Bank.

„Kinder, das ist ja wirklich wunderbar für euch“, sagte sie. „Aber traurig für mich“, fügte sie hinzu.

„Wieso denn das?“ fragte ich erstaunt. „Ich meine, weil ich nun meine beiden tüchtigen Hilfskräfte

wieder loswerde: Gina, das Hausmädchen, und Geggi, die Stallmagd“, erklärte Helga, „denn ihr werdet doch sicher in die Pension Goldlack zurückziehen.“

„O nein, vielen Dank!“ riefen Geggi und ich wie aus einem Munde und blickten uns an.

„Tja, was sollen wir machen, Geggi?“ fragte ich. „Geld haben wir nun…“

„Wenn schon!“ sagte Geggi achselzuckend und wandte sich an Helga. „Würdest du uns tatsächlich gern hierbehalten?“

„Darauf kannst du dich verlassen. Seitdem ihr mir Gesellschaft leistet, ist mir erst klargeworden, wie einsam ich war. Und eure Hilfe ist mir geradezu unentbehrlich. Ihr glaubt gar nicht, was ich in den letzten Tagen auf der Schreibmaschine geschafft habe, aber es liegt noch mindestens doppelt soviel Arbeit da. Heute kam wieder ein neues Tonband.“

„Na also – dann bleiben wir eben“, sagte ich. „Aber ohne Lohn“, fügte Geggi hinzu. „Ab heute sind wir keine

Hausmädchen, sondern Gäste, die gegen Arbeit in Haus und Hof Kost und Unterkunft erhalten.“

„Das wollte ich gerade auch vorschlagen“, rief ich begeistert, „denn wir fühlen uns pudelwohl bei dir, Helga.“

„Aber was werden eure Angehörigen dazu sagen – deine Schwester, Gina, und deine Eltern, Geggi?“

„Die werden dir auf Knien dafür danken, daß du uns geholfen

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hast, als wir in Not waren“, versicherte Geggi. „Glaubst du, das werden wir jemals vergessen?“

„Ich überlege mir“, sagte ich, „ob ich Assi vorläufig noch gar nicht schreibe, was passiert ist. Sie sorgt sich meinetwegen immer gleich und macht sich womöglich noch Vorwürfe, weil sie den Brief mit dem Scheck nicht eingeschrieben geschickt hat. Und gerade jetzt hat sie wirklich andere Dinge im Kopf.“

„Und eine schlaflose Nacht wegen der kleinen Schwester könnte sich nachteilig auf ihre Stimme auswirken“, meinte Helga, „du hast also ganz recht, Gina. Warte wenigstens ein paar Tage, ehe du ihr davon berichtest, und dann werde ich auch ein paar Zeilen an sie in deinen Brief legen, die sie hoffentlich beruhigen werden.“

„Du bist und bleibst ein Engel, Helga!“ Mette hatte schweigend dabeigesessen, aber ihre Augen gingen

aufmerksam von einem zum anderen. Ich weiß nicht, wieviel die Kleine von unserem Gespräch verstanden hatte. Vielleicht war es reiner Zufall, daß sie mir am selben Nachmittag erzählte, Inger Lyngbakken habe eine Puppen-Nähmaschine, auf der man richtig nähen könne, und wenn sie, Mette, einmal reich werde, wolle sie sich auch so eine Nähmaschine kaufen. Ferner teilte sie mir unüberhörbar mit, daß man ein solches Wunderwerk in dem Laden neben dem Bahnhof kaufen könne.

Ich hörte aufmerksam zu und merkte es mir genau. Am nächsten Morgen lieh ich mir Helgas Fahrrad und sauste

hinunter zum Bahnhof. Gut, daß Geggi mich noch rechtzeitig erinnerte, sonst hätte ich meinen Ausweis vergessen. Den mußte ich doch vorzeigen, um die Inter… was für eine Quittung unterschreiben zu dürfen?

„Die Interimsquittung“, erklärte Helga, „das bedeutet: eine Zwischenquittung. Die bekommst du zurück, wenn eine von euch, du oder deine Schwester, den Scheck ordnungsgemäß unterschreibt.“

Dann saß ich im Zug und fuhr abermals auf der Strecke zwischen Solmyr und Geiterud, diesmal in entgegengesetzter Richtung und – entgegengesetzter Stimmung, nämlich in allerbester. Herrlich, so viel Geld zu bekommen! Eines war sicher, mit leeren Händen würde ich nicht nach Geiterud zurückkehren. Ich begann zu überlegen, was ich alles kaufen wollte. Die Liste wurde immer länger, und mir wurde klar, daß ich unbedingt den Zwölf-Uhr-Zug erreichen mußte, damit ich mit Hans Lyngbakken im Auto hinauffahren konnte. Es erschien mir schon fraglich, ob er in seinem Lieferwagen neben meinen

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vielen Paketen überhaupt noch Platz für das Fahrrad finden würde. Ich war so früh in Solmyr, daß ich vor der Bank warten mußte, bis

geöffnet wurde. Offensichtlich war man dort bereits informiert. Als ich den Brief der Hauptgeschäftsstelle und meinen Ausweis vorwies, legte man mir sofort die bereits ausgestellte Interimsquittung vor. Eine Minute später steckte ich dreißig Hundertkronenscheine in das hinterste Fach meiner Umhängetasche und zog sorgsam den Reißverschluß zu.

Die Dame, die mich bediente, war ebenso freundlich wie neugierig. Ob ich denn gar keine Ahnung hätte, auf welche Abwege der Scheck gekommen sein könnte, wollte sie wissen.

„Nein, keine Ahnung!“ log ich. Helga und Geggi hatten mir eingeschärft, ich solle um Himmels willen nichts über meinen Verdacht verlauten lassen.

„Es ist also ungewiß, ob der Scheck hier oder in Oslo oder unterwegs gestohlen wurde?“ fuhr die Bankangestellte fort.

„Völlig ungewiß“, sagte ich und wandte mich zum Gehen. Doch dann fiel mir etwas ein, und ich drehte mich um.

„Würden Sie mir einen Gefallen tun?“ fragte ich. „Ja, natürlich, gern!“ „Frau Svalseth kommt sicher oft in Ihre Bank, nicht wahr?“ „Gewiß, mindestens einmal in der Woche.“ „Dann seien Sie bitte so freundlich und erzählen ihr, daß der

Scheck von Assi Rieger wieder aufgetaucht ist, nachdem er unterwegs gestohlen worden war, und daß er sich jetzt bei der Polizei in Oslo befindet.“

„Das habe ich ihr gestern schon erzählt“, sagte die Dame. Große Zufriedenheit, angereichert mit viel Schadenfreude, erfüllte

mich. Wenn Frau Svalseth es wußte, dann erfuhr es der ganze Ort, und kein Mensch konnte noch behaupten, meine Schwester ließe mich im Stich und es sei kein Verlaß auf „diese Künstlerinnen“. Oh, wie gut tat mir der Gedanke, daß die beiden Klatschtanten in der Pension Goldlack nun jedes Wort zurücknehmen mußten!

Ich ging weiter zum Hotel und traf Frau Jönsson, eine reizende junge Frau, die mir errötend zu erklären versuchte, daß sich etwas ganz Unerwartetes ereignet habe, das es ihr sehr schwer mache, das teure Kleid zu bezahlen. Sie bereue den Kauf ohnehin, weil sie nicht bedacht habe, daß sie als Schwedin ja kaum Gelegenheit haben werde, eine ausgesprochen norwegische Tracht anzuziehen.

Ich kürzte ihre Qual ab, indem ich einfach das Geld auf den Tisch

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legte. Mein Herz machte einen Freudensprung, als Frau Jönsson das Kleid einpackte, wobei sie sorgsam Seidenpapier in alle Falten legte. Währenddessen unterhielten wir uns noch ein bißchen. Ich fragte sie, wie ihr unsere norwegischen Berge gefallen hätten. Die Landschaft sei wunderschön, antwortete sie, aber als Tourist empfände man den Personalmangel in den Hotels als recht lästig. Es werde einem bei weitem nicht der Komfort geboten, den die Prospekte versprächen, und seitdem hier im Hause auch noch die Aushilfe, die bisher am Wochenende kam, weggeblieben sei…

„Ach, Sie meinen das junge Mädchen, die Anny?“ fragte ich so unbefangen wie möglich.

„Ja, ich glaube, sie hieß Anny. Sie soll spurlos verschwunden sein, ihre Familie weiß auch nicht, wo sie ist. Jemand hat sie letzten Montag im Zug nach Oslo gesehen, und seitdem hat niemand etwas von ihr gehört.“

Das Paket war fertig, und wir trennten uns im besten Einvernehmen.

Im Lebensmittelgeschäft, einem modernen Selbstbedienungsladen, ging die Kauflust mit mir durch. „Nichts untergräbt die Moral mehr als ein Selbstbedienungsladen“, pflegt Tante Randi zu sagen. Die unmöglichsten Dinge glaubt man plötzlich unbedingt zu brauchen, oder man findet zumindest, es sei gut, sie für alle Fälle im Hause zu haben. Eine Packung, eine Büchse, eine Flasche nach der anderen landeten in meinem Drahtwagen. Es macht aber auch zu viel Spaß, zwischen all den Regalen und Tischen umherzuschlendern und auszusuchen. Ich jedenfalls genoß es sehr und lud den Wagen so voll, daß ich mir noch ein Netz kaufen mußte, um alles mitnehmen zu können.

Neben dem Selbstbedienungsladen befand sich ein Geschäft für Haushaltswaren und Campingausrüstung. Da ich noch viel Zeit hatte, bis mein Zug fuhr, blieb ich vor dem Schaufenster stehen. Mein Blick blieb an einem praktischen Schneeschläger hängen. Den wollte ich Helga mitbringen, denn ich hatte gesehen, wie unbrauchbar ihr alter Schneebesen war.

Ich mußte etwas warten, denn die Verkäuferin war mit einem Kunden in ein Privatgespräch vertieft.

„Das müssen Sie der Polizei melden“, sagte sie, „vielleicht ist ihr etwas zugestoßen.“

„Ach was, ich kenne doch das Mädel“, sagte der Mann – er war groß und kräftig und trug Arbeitskleidung – , „nichts anderes im

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Kopf als Heftromane und Beatmusik und Lippenstifte und so was. Jetzt treibt sie sich in Oslo ‘rum, und die Götter mögen wissen, was sie da ausheckt. Es ist ja nicht das erste Mal. Ich dachte, ich hätte sie kuriert, als ich ihr so viel Prügel gab, daß sie eine Weile dran denken mußte, aber nein, diese Jugend heutzutage…“

Nun merkte er anscheinend, daß er nicht mehr mit der Verkäuferin allein war. Er wandte den Kopf und sah mich. Darauf murmelte er etwas von einer Sechzigwattbirne, steckte sie ein, bezahlte und verließ den Laden.

Ich brauchte nicht lange zu rätseln, von wem hier die Rede gewesen war. Ich hätte meine Hand dafür ins Feuer gelegt, daß dieser Mann niemand anders als Annys Vater gewesen sein konnte. Bisher war ich wütend auf Anny gewesen, diese Diebin, diese Betrügerin, aber in diesem Augenblick fühlte ich etwas ganz anderes – Mitleid mit dem geprügelten Mädchen.

Sollte etwa… „Bitte schön, was darf es sein?“ unterbrach die Verkäuferin meine

Gedanken. Ich nahm mich zusammen und verlangte den Schneeschläger. Er

erwies sich als eine großartige Neuheit, speziell fürs Camping erfunden, ein elektrisches Gerät mit Batterieantrieb. Natürlich war es teuer, zumal ich ja außerdem noch ein paar Reservebatterien kaufen mußte. Aber welche Erleichterung beim Kochen! Geld hatte ich ja genug – schwindelerregend viel Geld.

„Du lieber Himmel!“ rief Hans Lyngbakken, als ich in Geiterud aus dem Zug stieg. „Hast du halb Solmyr aufgekauft?“

„Nur ein Drittel“, erwiderte ich lachend, „willst du jetzt gleich zurückfahren, Hans?“

„In fünf Minuten. Ich muß nur noch was von der Gepäckaufbewahrung abholen.“

„Dann sei doch auch so gut und bring das Fahrrad mit. Ich laufe inzwischen in das Geschäft nebenan und bin auch in fünf Minuten zurück.“

„Nanu, willst du noch mehr kaufen?“ „Es geht ganz schnell, Hans, ich muß nur noch eine Nähmaschine

besorgen“, rief ich ihm im Fortlaufen zu. Vor der Ladentür drehte ich mich um und mußte laut auflachen. Sein Kinn war auf den dritten Jackenknopf gesunken!

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Zwei Briefe nach Amerika

Noch ehe eine Stunde vergangen war, hatte Mette ihr erstes Puppenkleid genäht. Ob das Modell einer fachlichen Kritik standgehalten hätte, bezweifle ich, aber daß die Maschine „richtig“ nähen konnte, stand nunmehr fest.

Geggi lief selig in dem Overall herum, den ich ihr mitgebracht hatte und der sich zum Kaninchenstallsäubern und Ziegenmelken wesentlich besser eignete als die Kittelschürze, die sie sich von Helga ausgeliehen hatte. Und in der Küche stand Helga und schlug Eier mit Zucker in Blitzesschnelle schaumig – für einen Kuchen zum Nachmittagskaffee. Dabei schüttelte sie den Kopf und sagte:

„Gina, du bist total verrückt. Was soll ich nur mit dir machen?“ Gleichzeitig aber strahlte sie und murmelte: „So was Großartiges!“ und: „Himmel, wie fix das geht!“ und dann: „Samstag mache ich eine Sandtorte.“

Meine Einkäufe waren also samt und sonders ein großer Erfolg. Ich selber stand in der Speisekammer und räumte zahllose Konservenbüchsen ein. Helga war froh, daß ich ihr das abnahm.

Schon in den letzten Tagen hatte sie sich nicht so recht wohl gefühlt.

„Als ich Mette erwartete, ging es mir besser“, sagte sie, während wir um den Kaffeetisch saßen, „und dabei muß man doch bedenken, daß ich noch fast zwei Monate vor mir habe.“

„Vielleicht werden es Zwillinge“, rief ich begeistert. Helga lachte. „Der Doktor behauptet jedenfalls, es sei nur eins“,

sagte sie. „Ich habe mir übrigens schon überlegt, ob ich nicht doch besser nach Oslo fahre und in die Frauenklinik gehe, wenn es soweit ist. Ich könnte jederzeit ein paar Wochen bei meiner Mutter wohnen. Na ja, das kann ich mit meiner Mutter besprechen, wenn sie da ist. Es hängt ja auch noch davon ab, wann mein armer zusammengeflickter Mann aus dem Krankenhaus entlassen wird.“

So plauderten wir über das Baby, und ich merkte, daß Helga stets darauf bedacht war, die kleine Mette ins Gespräch mit einzubeziehen. Als ich fragte, wie das Kind denn heißen solle, schaltete sich Mette ein und verkündete, wenn ein Brüderchen käme, solle es Björn heißen, und wenn es ein Schwesterchen sei – Kari.

„Und wenn Kari groß ist, dann zeige ich ihr, wie man auf der Nähmaschine näht“, sagte Mette stolz.

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Helga lächelte. Ich mußte an unsere Unterhaltung vor ein paar Tagen denken. Helga hatte es erreicht, daß Mette nicht das sagte, was unzählige andere Mädchen in ihrer Lage gesagt hätten: ,Aber Kari darf nicht auf meiner Nähmaschine nähen!’

„Ich möchte bald mal zum Arzt und mich untersuchen lassen“, sagte Helga nach einer Weile, „würdet ihr dann auf Mette achten?“

„Mal sehen“, sagte Geggi und lachte, „wenn sie uns zu sehr plagt, lasse ich sie Kleider für sämtliche Kaninchen nähen. Du fährst sicher mit Hans Lyngbakken ins Dorf, nicht wahr?“

„Ja, natürlich.“ „Wo wohnt der Arzt eigentlich?“ fragte Geggi. „Etwa fünf Minuten vom Bahnhof entfernt, in Richtung Solmyr.

Es ist ein gelbes Holzhaus mit einer Birkenallee quer durch den Garten. Hast du die Absicht, ihn aufzusuchen?“

„Vorläufig nicht, aber ich meine, es ist für alle Fälle gut, wenn man es weiß. Und wo wohnt die Hebamme?“

„Na, diese Frage stellst du gewiß nicht deinetwegen“, meinte Helga lachend, „und wir wollen hoffen, daß du die Hebamme nicht für mich holen mußt. Sie wohnt in dem Neubau gleich hinter dem Bahnhof, im zweiten Stock links. Frau Oppland heißt sie. Willst du sonst noch was wissen – vielleicht über den Zahnarzt, die Polizeistation…“

„Die Nervenklinik, das Gefängnis…“ setzte Geggi die Aufzählung fort. „Nein, danke, das genügt vorerst. Jetzt muß die Stallmagd für Milch zum Abendessen sorgen. Hilfst du mir melken, Mette?“

„Und ich muß abwaschen“, sagte ich seufzend. Das gehörte nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen.

„Warum hast du in Solmyr nicht auch eine Geschirrspülmaschine gekauft?“ fragte Helga lachend.

„Die waren gerade ausverkauft“, behauptete ich, während ich das Kaffeegeschirr abräumte und mich damit pflichtschuldigst in die Küche zurückzog.

Am Abend stellte Helga das Tonbandgerät an. Von ihrem Mann war ein Band gekommen, das er für uns alle besprochen hatte. Er sprach so nett zu uns, sagte, wie er sich freue, daß Helga Gesellschaft habe, und daß er nun große Lust bekommen hätte, wieder einmal eine von Assi Riegers schönen Platten zu hören, und er fragte, ob Helga ihm nicht eine auf ein Tonband überspielen könne. Außerdem bat er um einen gesprochenen Gruß von Geggi

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und mir. Helga zeigte uns, wie man den Plattenspieler mit dem

Tonbandgerät verbinden mußte. Es war ein einfaches, handliches kleines Gerät, sogar Mette konnte es bedienen.

Stolz berichtete sie, daß Vati schon oft Briefe an sie gesprochen habe und manchmal auch Märchen erzählt.

Ich war hell begeistert. Zu Weihnachten würde ich mir unbedingt auch ein Tonbandgerät wünschen. Ich wußte, daß ich es bekommen würde – Assi konnte mir ja keinen Wunsch abschlagen.

„Deine Schwester scheint ein sehr großzügiger und lieber Mensch zu sein“, sagte Helga.

„Das kann man wohl behaupten“, bestätigte Geggi und nickte. „Da mußt du dich doch ungeheuer auf ihre Rückkehr freuen, nicht

wahr?“ fragte Helga mich. „Ja, das kannst du wohl annehmen!“ versicherte ich. „Es gibt für

mich nichts Schöneres, als am Kai oder auf dem Bahnsteig zu stehen und die Minuten zu zählen, bis das Schiff oder der Zug ankommt.“

„Schiff oder Zug“, wiederholte Helga nachdenklich, „benutzt sie denn nie ein Flugzeug?“

„Doch, ab und zu schon, aber nur, wenn es unumgänglich ist“, erklärte ich.

„Es gibt ja viele Leute, die nicht gern fliegen“, meinte Helga. „Ich weiß nicht…“ sagte ich und dachte eine Weile nach, denn in

diesem Augenblick war mir ein Gedanke gekommen. „Ich glaube fast, daß Assi mir zuliebe mit dem Schiff oder dem Zug fährt. Ich hab’’ nämlich immer solche Angst – du weißt ja, wie meine Eltern…“

Helga nickte. „Ja, ich weiß, Gina, und ich kann deine Angst sehr gut verstehen. Aber sieh mal, wenn deine Eltern nun durch ein Eisenbahnunglück ums Leben gekommen wären, könntest du es doch nicht dein ganzes Leben lang vermeiden, mit dem Zug zu fahren. Und Autos verunglücken zum Beispiel sehr viel häufiger als Verkehrsmaschinen.“

„Aber wenn mit einem Flugzeug etwas passiert, kommt fast nie jemand mit dem Leben davon“, sagte ich.

„Ja, das stimmt allerdings“, räumte Helga ein. Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie lächelnd: „Assi ist rührend zu dir.“

„Weil sie nicht mit dem Flugzeug reist, meinst du?“ „Deshalb auch, ja. Man könnte es so ausdrücken: sie nimmt das

Schiff, den Zug und Rücksicht.“

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Wir lachten. Geggi schaute auf die Uhr. Es war Schlafenszeit. Nachdem ich Geggi gute Nacht gesagt und das Licht gelöscht

hatte, blieb ich noch lange wach liegen und starrte in die Dunkelheit. Daß ich das noch nicht eher begriffen hatte… Assi, für die Zeit Geld war, Assi, die so leicht seekrank wurde, reiste meinetwegen tagelang mit dem Schiff, wenn sie mit dem Flugzeug in wenigen Stunden an Ort und Stelle sein könnte! Meinetwegen rumpelte sie mit dem Zug durch halb Europa, wenn sie in Oslo frühstücken und in Rom zu Mittag essen könnte. Meinetwegen nahm sie lange, anstrengende Bahnreisen auf sich, kam womöglich müde und abgespannt an, während sie nach einem kurzen Flug frisch und ausgeruht sein könnte, und mußte am nächsten Tag singen…

Alles, alles tat Assi für mich. Erst in den letzten Tagen war mir das allmählich bewußt geworden – hier, wo jeder Gedanke zu Ende gedacht werden mußte, weil einen nichts ablenkte und es keinen Vorwand gab, eine lästige Gedankenkette abzubrechen.

Ich mußte Assi schreiben! In Gedanken begann ich den Brief zu formulieren. Ich durfte

keinesfalls viel Aufhebens von meiner veränderten Haltung machen, damit sie es nur ja nicht so auffaßte, als sei nun ich es, die ein Opfer brachte.

„Liebe Assi, ich freue mich so unbeschreiblich auf Deine Rückkehr! Könntest Du nicht mit dem Flugzeug kommen, damit es schneller geht?“ So etwa! Oder: „Hast Du eigentlich was gegen das Fliegen, Assi? Es wäre doch viel bequemer für Dich…“ Ja, so oder ähnlich wollte ich schreiben!

Als ich zum Einkaufen in Solmyr gewesen war, hatte ich auf dem Postamt rasch ein paar Zeilen an Assi geschrieben und per Luftpost abgeschickt. Aber morgen wollte ich mir die Zeit nehmen, ihr ausführlich von all unseren Erlebnissen zu berichten. Und dann konnte Helga, wie sie vorgeschlagen hatte, einen Brief beilegen.

„Lieber Gott, behüte Assi!“ flüsterte ich in der Dunkelheit vor mich hin.

Kurz darauf schlief ich ein. Am nächsten Morgen erfüllte mich eine eigentümliche Unruhe.

Am Tag vorher war ich so glücklich und munter gewesen, es hatte mir solchen Spaß gemacht, die vielen hübschen Geschenke zu kaufen. Ich hatte das Trachtenkleid anprobiert, es saß wie angegossen, so daß Helga vor Bewunderung die Hände zusammengeschlagen hatte. Aber, wie gesagt, an diesem Morgen

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war ich merkwürdig ruhelos. Beim Frühstück erzählte ich den anderen von dem brutal

aussehenden Mann in dem Haushaltswarengeschäft und seinem Gespräch mit der Verkäuferin.

„Das kann nur Annys Vater gewesen sein“, meinte auch Geggi, „denn so viele junge Mädchen werden ja nicht per Eisenbahn von Solmyr nach Oslo auf und davon gehen.“

„Das arme Mädel“, sagte Helga. „Ich will zwar keineswegs behaupten, daß immer die Eltern daran schuld sind, wenn die Jugend auf die schiefe Ebene gerät, aber in diesem Fall fürchte ich, daß der Vater nicht schuldlos ist. Wenn er öffentlich erzählt, daß er eine erwachsene – oder doch fast erwachsene – Tochter verprügelt hat, und zwar so, daß sie ,daran denken mußte’, dann scheint das der Kindesmißhandlung bedenklich nahe zu kommen.“

„Aber deshalb nun gleich einen Scheck zu stehlen…“ wandte ich ein.

„Nein, du darfst natürlich nicht glauben, daß ich das entschuldigen will. Ein Vergehen ist es auf jeden Fall. Ich versuche nur, eine Erklärung dafür zu finden, versuche es zu verstehen.“

„Alles verstehen heißt alles verzeihen!“ zitierte Geggi. „Richtig – tout comprendre c’est tout pardonner“, sagte Helga,

„es ist nämlich ein französisches Sprichwort. Sollte diese Anny irgendwann einmal meinen Weg kreuzen, würde ich zunächst versuchen, sie zu verstehen. Und wenn man jemanden versteht, kann man ihm verzeihen und schließlich auch helfen.“

„Wie klug du bist, Helga!“ rief ich aus. „Oh, könntest du mir das nicht schriftlich geben?“ sagte Helga

trocken. „Apropos, schriftlich! Ich habe die Absicht, mich gleich hinzusetzen und an deine Schwester zu schreiben, Gina, wenn du nichts dagegen hast.“

„Denk mal, ich hatte gerade dasselbe vor“, sagte ich. „Ich habe keine Ruhe, ehe Assi nicht Bescheid weiß. Wenn ich auch furchtbar viel Unfug und Schnitzer in meinem Leben gemacht habe, niemals war ich Assi gegenüber unehrlich.“

„Ich weiß gar nicht, Gina“, sagte Helga nachdenklich, „du behauptest immer, so viele Dummheiten gemacht zu haben, aber solange du hier bist, habe ich davon noch nichts bemerkt – abgesehen von den irrsinnig teuren Einkäufen gestern, meine ich.“

„Als kleines Kind war Gina furchtbar“, sagte Geggi. „Wären ihre Eltern altmodisch streng gewesen, hätten sie pro Woche eine Rute

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verbraucht. Erinnerst du dich noch, Gina, wie du den Weihnachtsbaumschmuck auf den besten, polierten Tisch geklebt hast – und Apfelschalen ins Klavier gesteckt – und Mehl und Milch in den neuen Schnellkochtopf deiner Mutter geschüttet, um zu sehen, wie schnell Brei daraus wird? Na, ich kann euch sagen, das wurde vielleicht ein Brei! Die ganze Wohnung stank vierzehn Tage lang danach!“

„Hör auf!“ rief ich. „Wenn du hier noch mehr von meinen Sünden preisgibst, wird mir als Hausmädchen gekündigt.“

„Keine Sorge, hier gibt es weder einen Schnellkochtopf noch ein Klavier, und elektrischen Strom schon gar nicht“, tröstete Geggi. „Du wärst also nicht einmal in der Lage, dein Glanzstück zu wiederholen, nämlich den elektrischen Heizofen flach auf den Boden zu legen…“

„…auf volle Heizkraft zu schalten und alle meine nassen Wollsocken und Handschuhe daraufzulegen und sie dann zu vergessen“, vollendete ich. „Aber nun bist du still, Geggi, wenn ich bitten darf. – Seid ihr fertig mit dem Frühstück? Dann darf ich wohl den Tisch abräumen, damit Helga anfangen kann zu schreiben.“

Bald darauf waren wir alle mit unseren Aufgaben beschäftigt. Als ich abgewaschen, das Geschirr weggestellt und die Küche saubergemacht hatte, ging ich in die Stube. Helga drehte sich zu mir um und lächelte.

„Du platzt wohl vor Neugier, was?“ fragte sie. „Schau her, du darfst den Brief lesen, damit du siehst, daß ich euch nicht allzu schlecht gemacht habe.“

Es war ein reizender Brief, teils ernst, teils heiter, nüchtern, vernünftig und sehr beruhigend. Aus jeder Zeile sprach Helgas Warmherzigkeit.

Nachdem ich diesen Brief gelesen hatte, fiel es mir um so leichter, an Assi zu schreiben. Das Wesentlichste hatte Helga bereits erzählt, so daß ich nicht mehr ausführlich über alle Ereignisse zu berichten brauchte.

„… Ich behalte Geggi und Gina so lange hier, wie es notwendig ist“, hatte Helga geschrieben, „und ich versichere Ihnen, daß Sie sich um Ihre Schwester keine Sorgen zu machen brauchen. Falls Sie wünschen, daß die Mädchen nach Oslo zurückkehren, bin ich natürlich auch damit einverstanden. Aber ich wäre sehr froh und dankbar, wenn ich die beiden lieben Mädel, die mir so tüchtig in Haus und Hof helfen, noch eine Weile behalten dürfte. Wir haben es

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so gemütlich zusammen…“ So blieb mir nicht viel mehr übrig, als zu bekräftigen, was Helga

geschrieben hatte. Und als ich gerade schrieb: „Laß Dich innig umarmen und küssen von Deiner Gina“, hörte ich Hans Lyngbakkens Hupsignal, und ich rannte hinaus, um ihm den Brief mitzugeben.

Nun war mir leichter ums Herz. Ich hatte das Gefühl, reinen Tisch gemacht zu haben. Von jetzt ab würde das Leben hier oben für mich noch mal so schön sein – jetzt, da ich ein gutes Gewissen hatte.

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Neue Aufregungen

Zwei Tage, nachdem ich den Brief an Assi abgeschickt hatte, erwachte ich, als erst schwaches Dämmerlicht das Zimmer erhellte, und es schien mir, als hörte ich Geggi aus der Kammer schleichen. Na ja, so was soll vorkommen. Also nahm ich weiter keine Notiz davon, sondern drehte mich auf die andere Seite und schlief weiter.

Wie lange ich danach wieder geschlafen habe, weiß ich nicht. Das nächste Mal jedenfalls wurde ich mit einem Ruck hellwach, denn Geggi stand über mein Bett gebeugt und schüttelte mich.

„Gina, du mußt aufwachen! Gina, hör doch! Beeil dich und zieh dich an. Bei Helga droht was schiefzugehen. Du mußt, so schnell du kannst, zum Arzt radeln.“

Ich warf die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett. „Was ist denn los, Geggi?“ fragte ich, als ich bereits den

Schlafanzug aufs Bett geschleudert hatte und nach meinen Sachen griff.

„Helga rief mich vorhin – sie hat Wehen. Du, Gina, ich fürchte, das Kind kommt zu früh. Also beeil dich! Ich will Helga nicht allein lassen. Sag dem Doktor, Helga bitte ihn, sofort heraufzukommen, irgend etwas sei nicht in Ordnung. Ich will jetzt wieder zu ihr gehen – also los, los, Gina! Hier, gib dem Arzt diesen Zettel, Helga hat ihm ein paar Zeilen geschrieben.“

Es dauerte wohl kaum zwei Minuten, bis ich fertig war. Während ich durch die Stube lief, warf ich einen Blick auf die Wanduhr. Es war halb vier Uhr morgens.

Ich rannte über den kleinen Hof zum Schuppen und holte das Fahrrad heraus. Die Ziegen meckerten verwundert. Geggi hatte sie gestern abend von der Wiese hereingeholt, weil es aussah, als ob es nachts regnen würde. Für gewöhnlich blieben sie draußen, denn im Schuppen hatten sie nur einen kleinen Verschlag. Dahinter befand sich noch ein Raum mit Heu, Brennholz und verschiedenem Gartengerät.

Dann sauste ich den Weg hinab und im Eiltempo durch alle Kurven. Ich fuhr zwar, so schnell es ging, aber doch vorsichtig, denn wenn mir etwas zustieß, bekam Helga keine Hilfe. Einmal sprang ein Hase über den Weg, und ich mußte hart bremsen. Aber zum Glück konnte ich mich noch auf dem Rad halten und gleich weiterfahren.

Das Dorf schlief noch. Es wirkte fast geheimnisvoll in seiner

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Stille. Ohne die Angst um Helga hätte ich diese schöne Morgenstunde genossen. Die drohenden Wolken von gestern abend hatten sich verzogen. Nun verkündete ein schwacher goldroter Schimmer am Horizont, daß der Tag anbrechen wollte.

Ein gelbes Holzhaus neben dem Bahnhof, in Richtung Solmyr – ja, da lag es, das mußte es sein.

Kurz nachdem ich auf den Klingelknopf gedrückt hatte, erschien in einem Fenster über mir ein strubbeliger Kopf.

„Wer ist da?“ „Ich komme von Frau Helga Reinas, die Sie bittet, gleich zu

kommen. Sie scheint eine Frühgeburt zu haben.“ „Ich komme sofort!“ rief die Stimme, und der Kopf verschwand. Der Arzt brauchte sicher nur ein paar Minuten, um sich

anzuziehen, aber mir erschien die Wartezeit schrecklich lang. Endlich kam er heraus, eine große Tasche in der Hand.

„Wer bist du denn?“ fragte er mich. „Wohnst du bei Frau Reinas?“

„Ja, ich bin zu Besuch bei ihr.“ „Was für ein Glück“, sagte er, „warte hier, ich hole meinen

Wagen aus der Garage. Dein Rad legen wir hinten hinein.“ Der Arzt hatte einen Kombiwagen, und so machte es keine Mühe,

das Fahrrad zu verstauen. Im nächsten Augenblick brausten wir am Bahnhof vorbei und die Straße hinauf.

„Hat Frau Reinas dir Näheres gesagt?“ fragte der Arzt. „Nein, nur meine Kusine hat mit ihr gesprochen, aber sie hat mir

diesen Zettel für Sie mitgegeben.“ „Lies ihn mir vor!“ Ich tat es, und der Arzt nickte. „Na, so was“, sagte er, „und das ausgerechnet jetzt, da ihr Mann

im Krankenhaus liegt.“ Während der Fahrt blickte ich mich im Auto um, und plötzlich

traute ich meinen Augen nicht. „Sie haben ja ein Telefon im Auto, Herr Doktor“, sagte ich. „Ja, wie du siehst. Sündhaft teuer, aber durch den Apparat ist

schon mehr als ein Menschenleben gerettet worden – Gold wert für einen Landarzt in einem so großen Kreis, in dem die meisten Patienten kein Telefon haben.“

„Aha, da können Sie also von diesem Apparat aus jederzeit das nächste Krankenhaus erreichen und notfalls Hilfe anfordern.“

„Ja, einen Hubschrauber zum Beispiel, das ist schon ein paarmal

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vorgekommen. Außerdem kann mich meine Frau anrufen und mir Bescheid geben, wenn ich in der Gegend, wo ich gerade bin, noch einen weiteren Krankenbesuch machen soll.“

„Sehr praktisch!“ sagte ich. „Wer bist du eigentlich?“ fragte er. „Wie heißt du, und woher

kommst du?“ „Aus Oslo, und ich heiße Gina Rieger.“ „Rieger? Gina? – Menschenskind, du bist doch nicht etwa die

Schwester von Assi?“ „Doch! Kennen Sie meine Schwester?“ „Ja, ich habe sie vor einigen Jahren mal getroffen. So, du bist also

die Schwester, die…“ „Die in der Bildreportage in ,Welt der Dame’ abgebildet ist,

meinen Sie?“ „Bildreportage? – Ja, ja, natürlich, das meinte ich.“ Er schwieg

einen Augenblick, dann fragte er: „Und wo ist deine Schwester jetzt?“

„In Amerika. Sie spielt in einem Musikfilm, der dort gedreht wird. Ende August kommt sie zurück.“

„Sag mal – es ist schon so lange her, daß ich sie das letzte Mal gesehen habe, daher würde ich gern einiges über sie hören – ist sie inzwischen verheiratet, oder…“

„Nein, weder verheiratet noch verlobt“, sagte ich, „Assi und ich wohnen zusammen.“

„Ach so!“ Und nach einer kleinen Pause sagte er lächelnd: „Ich glaube, du hast allen Grund, deine Schwester sehr lieb zu haben.“

„Das tue ich auch!“ versicherte ich. „Assi ist der liebste und beste Mensch der Welt.“

Wir bogen gerade in den Weg ein, der zum Haus führte. In der Küche und im Schlafzimmer brannte Licht. Geggi kam uns entgegen.

„Ich habe warmes Wasser bereitgestellt“, sagte sie, „ich dachte…“

„Ausgezeichnet! Und haltet bitte Mette zurück!“ „Sie schläft im Kinderzimmer. Aber wir werden auf sie achten,

wenn sie wach wird. Soll ich mit hinaufkommen, Herr Doktor?“ „Ja, die ältere von euch kann mir behilflich sein. Das bist du

wohl, nicht wahr?“ Er blickte Geggi an. „Und du, Gina, kümmerst dich um Mette. Du kannst auch noch mehr Wasser warm machen.“ Dann gingen der Arzt und Geggi eilig die Treppe hinauf.

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Nachdem ich den großen Wasserkessel auf den Propangaskocher gesetzt hatte, begann ich in der Küche hin und her zu gehen. Von hier aus konnte ich jeden Laut in Mettes Zimmer hören. Plötzlich kam mir die Idee, Kaffee aufzubrühen. Damit konnte ich dem Doktor sicher eine Freude machen. Dann begann ich, von dem frischen Weißbrot, das Hans Lyngbakken uns gestern mitgebracht hatte, Scheiben zu schneiden und mit Butter zu bestreichen.

Dabei schlug mein Herz vor Unruhe wie ein Hammer. Wenn das Kind jetzt schon zur Welt kam, zwei Monate zu früh…

Geggi kam die Treppe herab. „Hast du warmes Wasser, Gina?“ „Ja. – Wie geht’s oben, Geggi?“ „Der Doktor will sie sofort in die Frauenklinik nach Oslo

schicken. Er kann hier nicht viel mehr als Erste Hilfe leisten.“ „Ja, aber kommt denn das Kind schon?“ „Ich glaube nicht – ich weiß nicht, Gina. Ich muß rasch nach

oben.“ Einige Zeit später kam der Arzt herunter. Er ging zum Auto, und

ich sah durchs Fenster, daß er telefonierte. Geggi und ich standen auf dem Hof und sahen den Hubschrauber

wie ein großes, merkwürdiges Insekt in südlicher Richtung verschwinden. Es war der Hubschrauber, der Helga an Bord hatte.

„Also auf dem kürzesten Wege zur Frauenklinik“, hatte der Arzt angeordnet, „ich habe dort schon Bescheid gesagt, Frau Reinas wird erwartet.“

Das Flugzeug wurde kleiner und kleiner, war bald nur noch ein Pünktchen am Himmel. Dann verschwand auch das.

Geggi und ich sahen uns an. Geggi war blaß und übernächtigt, ich wahrscheinlich auch. In der Küche saß der Arzt bei einer Tasse Kaffee. Er stand auf, als wir eintraten.

„Tja, ihr Mädchen, das ist wohl ein Strich durch die Rechnung für euch, was? Bleibt ihr hier, oder…“

„Selbstverständlich bleiben wir hier“, sagte Geggi, „jetzt erst recht! Wer sollte denn sonst für Mette sorgen und für die Ziegen und Kaninchen?“

„Habt ihr keine Angst – so ganz allein hier oben?“ „Ach wo!“ versicherte Geggi. „So friedlich, wie es hier ist.“ Der Arzt überlegte, dann sagte er: „Moment mal, hat Frau Reinas

nicht ein Tonbandgerät? Könnt ihr damit umgehen?“ „Ja, Helga hat es uns gezeigt.“ Gleich darauf saß der Doktor mit dem Mikrophon vor dem Gerät

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und fing an zu sprechen: „Ja, was ist denn nun schon wieder? Ist es denn in diesem Haus nicht möglich, einen Augenblick Ruhe für die Arbeit zu haben?“ Pause. „Ja, warte, ich komme gleich. Ich will mir nur meine Jacke anziehen. – Faß die Papiere nicht an, ich habe das alles gerade sortiert. – Frag ihn, was er will.“ Dann schaltete er den Apparat ab.

Noch ehe er es uns erklärte, begriff ich, was das bedeuten sollte: Kam irgendein aufdringlicher Kerl, brauchten wir nur zu sagen: „Einen Augenblick, ich will eben den Vater holen“, und dann ließen wir das Tonband ablaufen. Wahrhaftig, er war einfallsreich, der gute Doktor. Er war überhaupt großartig!

„Darf ich Ihnen noch eine Tasse Kaffee eingießen, Herr Doktor?“ fragte Geggi.

„Ja, bitte! Aber ich möchte ihn mit ins Auto nehmen, denn ich muß aufs Telefon achten.“

Ich erbot mich, dies für ihn zu tun, damit er hier bequem am Tisch seinen Kaffee trinken konnte.

Ich saß also behaglich im Wagen, müde und doch – wie ich glaubte – viel zu erregt, um etwa aus Versehen einzuschlafen. Ach, wenn doch nur alles gutging mit Helga und dem Kind! Wir mußten uns so rasch wie möglich mit ihr in Verbindung setzen. Natürlich hatten wir ihr beide zum Abschied die Hand gedrückt und versichert, daß wir bei Mette bleiben würden und sie sich keine Sorgen zu machen brauche, aber sie wollte doch recht oft, möglichst jeden Tag, Nachricht haben, wie es uns allen ging. Ein Glück, daß ich reichlich mit Geld versorgt war. Wir konnten jederzeit telegrafieren oder mit Hans Lyngbakken ins Dorf fahren und in der Klinik anrufen.

Arme Helga – die freundliche, ruhige, kluge Helga! Nein, es durfte einfach nichts passieren, weder ihr noch dem Kind, auf das sie sich so freute.

Der gute Doktor nahm sich reichlich viel Zeit für seinen Kaffee! Oh, wie müde ich war! Es konnte doch nichts schaden, wenigstens für ein Weilchen die Augen zu schließen. Wenn das Telefon klingelte, würde ich schon wach werden.

Ich lehnte mich gegen die Kopfstütze. Oh, war das ein herrliches Gefühl, endlich zu entspannen. Meine Gedanken verwirrten sich, alles um mich herum entfernte sich – und verschwand.

„Na, kleine Telefonbewacherin, jetzt mußt du aber aufwachen“, sagte eine Stimme nahe an meinem Ohr.

Ich fuhr zusammen. Es war blendend hell. Die Sonne war

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aufgegangen und schaute eben strahlend über die Felsgipfel im Osten.

„Hab’ ich lange geschlafen?“ fragte ich und blinzelte verwirrt. „Eine Stunde etwa!“ Ich streckte mich und stieg aus, ein wenig steif von der

ungewohnten Schlafstellung. Der Arzt wandte sich an Geggi: „Ich werde dafür sorgen, daß ihr

Bescheid bekommt. Laßt es euch so gut wie möglich gehen. Sobald ich es einrichten kann, schaue ich mal nach euch. Und nun müßt ihr euch wohl um Mette kümmern.“

Er stieg in den Wagen und fuhr ab. Während ich geschlafen hatte, war Mette in der Küche

erschienen, im Schlafanzug und mit zerzausten Rattenschwänzchen. Der Arzt hatte ihr erzählt, daß die Mutti nach Oslo gefahren sei, um dort ein Brüderchen oder Schwesterchen für sie zu bekommen. Mette solle nun ein liebes Mädel sein und Geggi und Gina helfen, das Haus zu versorgen. Sie sei ja schon so tüchtig und wisse über alles Bescheid, so daß Geggi und Gina sie fragen könnten, wenn sie etwas nicht wüßten.

Inzwischen hatte Mette sich angezogen. Nun erschien sie wieder, das Stupsnäschen hoch in der Luft, angetan mit einer Schürze, dem Zeichen ihrer Hausfrauenwürde.

„Geggi, es ist höchste Zeit, die Ziegen zu melken“, sagte unsere kleine Hausfrau.

„Jawohl, gnädige Frau!“ sagte Geggi lachend und ging hinaus. Am ersten Tag fanden Geggi und ich erst nach dem Mittagessen,

das ich mit viel Mühe zusammengepanscht hatte, Zeit zu einem Plauderstündchen.

„Du, Geggi, weißt du eigentlich, daß der Doktor Assi kennt?“ fragte ich. „Er benahm sich so komisch, als er erfuhr, daß ich ihre Schwester bin.“

Geggi nickte. „Ja, er erzählte mir auch, daß er sie kennt.“ „Sag mal, verstehst du, warum sie mir gegenüber nie von ihm

gesprochen hat? Und er ist auch niemals bei uns gewesen.“ „Er sagte, er habe sie kennengelernt, als du im Internat warst.“ „Aber – da – da – kann doch nichts gewesen sein zwischen ihnen

– ich meine – Liebe? Der Doktor ist doch verheiratet.“ „Nein, Liebe war es nicht. Was würdest du übrigens dazu sagen,

Gina, wenn Assi sich eines Tages verheiraten sollte?“ Ich mußte lächeln. „Merkwürdig, daß du mich danach fragst.

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Gerade darüber habe ich nämlich vor ein paar Tagen nachgedacht. Hättest du mich vor einem halben Jahr gefragt, wäre ich zutiefst erschrocken und hätte gesagt: ,Sie soll es nur wagen!’ Aber jetzt…“

„Jetzt siehst du die Sache anders?“ „Ja, stell dir vor, das tue ich! Ich mußte daran denken, welch eine

bezaubernde Mutter Assi abgeben würde – wie Helga. Und dann dachte ich mir, daß – daß ich…“

„Ja, sag doch, was du dir gedacht hast, Gina!“ Geggis Stimme war weich und warm.

„Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, erst mit Assi selbst darüber zu sprechen… Weißt du, mir kam plötzlich der Verdacht, daß alles, was Assi tut, mir zuliebe geschieht. Wenn sie mit dem Schiff fährt, anstatt zu fliegen, was doch viel praktischer für sie wäre, dann tut sie das vielleicht, weil sie weiß, daß ich solche Angst vor dem Fliegen habe – seit damals.“

Geggi nickte. „Das verstehe ich, Gina, es ist doch begreiflich – daß du Angst hast, meine ich. Aber erzähle weiter, was du gedacht hast.“

„Ich dachte, Assi könnte sich womöglich mit der Vorstellung abquälen, sie habe etwas zu sühnen, es sei ihre Schuld, daß wir Mutti und Vati verloren haben, weil die Eltern damals ihretwegen nach Mailand geflogen sind. Natürlich weiß ich nicht, ob es so ist, mir kam nur diese Idee. Erinnerst du dich, wie Helga einmal von Assi sagte: ,Komisch, daß sie nicht geheiratet hat.’?“

„Ja, das habe ich gehört.“ „Vielleicht war ich bisher zu egoistisch und gedankenlos. Erst

jetzt, seit wir hier oben sind, habe ich angefangen darüber nachzudenken, und ich begreife wahrhaftig auch nicht, warum Assi noch nicht verheiratet ist, so nett und hübsch, wie sie ist.“

„Und so warmherzig“, fügte Geggi hinzu. „Ja, genau! Und, weißt du, mir wurde heiß und kalt bei der

Vorstellung, daß sie womöglich meinetwegen darauf verzichtet hat. Sollte sie wirklich meinen, es sei ihre Pflicht, mir die Mutter zu ersetzen, weil sie sich am Tode unserer Eltern schuldig fühlt? Vielleicht ist das nur eine dumme Einbildung von mir, Geggi, aber…“

„Nein, Gina, ich glaube nicht, daß du dir das einbildest, ich glaube, daß du recht hast.“

Ich schaute Geggi an. Sie sprach anders als sonst – so erwachsen, so wissend.

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„Geggi“, sagte ich, „jetzt ist mir alles klar: Der Doktor hat mit dir über Assi gesprochen, darum hat er sich so lange mit dem Kaffeetrinken aufgehalten, stimmt’s?“

„Ja, das stimmt. Er hat von Assi gesprochen und davon, weshalb sie nicht geheiratet hat.“

„Erzähl doch, Geggi! Bitte, behandele mich nicht als dummes kleines Ding, mit dem man nicht über alles sprechen kann. Ich vermute, daß Assi mir etwas verschwiegen hat, das ich wissen muß – ich bin jetzt wohl alt genug, um es zu erfahren.“

Geggi nickte. „Ja, das bist du, Gina. Außerdem hast du nun ja schon selbst gemerkt, wieviel Assi für dich getan hat. Es gibt also wirklich einen Mann, den Assi gern hat und der sie über alles in der Welt liebt, so sehr, daß er bereit ist zu warten, bis du auf eigenen Füßen stehen kannst und die mütterliche Fürsorge deiner Schwester nicht mehr brauchst.“

„Und wer ist es, Geggi? Was hat dieser Mann mit dem Doktor zu tun?“

„Sehr viel!“ sagte Geggi und lächelte. „Er ist nicht nur sein bester Freund, sondern auch noch – sein Zwillingsbruder.“

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Nächtliches Unwetter

Durch den Arzt erhielten wir Bescheid aus der Frauenklinik. Helga war außer Gefahr, aber sie mußte noch liegen und sollte nicht eher in die Gebirgseinsamkeit zurückkehren, bis das Kind geboren war. Helga hatte uns durch die Stationsschwester die Adresse ihrer Mutter geschickt und gebeten, ihr in einem Brief unsere Lage zu schildern. Geggi übernahm diese Aufgabe. Sie ist immer diejenige von uns beiden, die alle schwierigen und verantwortungsvollen Aufträge erledigen muß.

Ich machte die Hausarbeit, so gut ich konnte, und es gelang mir, einigermaßen eßbare Mahlzeiten zu kochen. Außerdem nahm ich mich der kleinen Mette an. Ich erzählte ihr, daß sie wahrscheinlich bald zur Großmama ziehen werde, vielleicht käme aber auch die Großmama hierher.

„Großmama soll herkommen!“ entschied Mette mit Bestimmtheit. „Denn wenn ihr wegfahrt, du und Geggi, dann muß ich doch auf die Ziegen und die Kaninchen achten.“

Mette war unbestritten eine sehr verantwortungsbewußte junge Dame. Zuerst hatte sie wohl ein bißchen geschluckt, als sie hörte, daß die Mutter fort war, aber glücklicherweise hatten Verantwortungsgefühl und „Hausfrauenwürde“ bei ihr bald die Oberhand gewonnen. Ich besprach immer mit ihr, was es zu Mittag geben sollte und wie man dies oder jenes am besten machen könnte.

Jeden Tag gaben wir Hans Lyngbakken einen Brief mit ein paar Zeilen für Helga, damit sie wußte, daß alles in bester Ordnung war und sie sich darauf verlassen konnte, daß Geggi und ich bis zur Ankunft von Mettes Großmutter oder des Vaters ganz gut zurechtkämen.

Unsere Ferien verliefen wahrhaftig nicht planmäßig, aber ich muß sagen, gerade das machte mir Spaß.

Eines Tages brachte Hans Lyngbakken einen Brief aus Amerika. Assi schien sich über unser Erlebnis nicht aufgeregt zu haben. Wahrscheinlich hatte der reizende Brief Helgas ihr gezeigt, daß sie sich um uns keine Sorgen zu machen brauchte. Assi bat uns nur, vorsichtig und vernünftig zu sein und sie auch weiterhin auf dem laufenden zu halten. Im übrigen schrieb sie schwesterlich lieb und teilte mir ihre neue Adresse mit, über die ich sie im folgenden Monat erreichen konnte. Und dann stand da noch eine Nachschrift:

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„Eben fällt mir noch etwas ein: Ist nicht in Geiterud ein Doktor Henning als Landarzt tätig? Solltest Du ihm dort zufällig begegnen, Gina, dann grüße ihn bitte von mir. Ich habe ihn und seinen Bruder vor ein paar Jahren kennengelernt, und wir waren gute Freunde.“

Ich las diese Zeilen noch einmal. Dann lächelte ich. Aha! dachte ich. Die Aufregung mit Helga und später unsere neue Aufgabe, für

Haus, Kind und Tiere zu sorgen, hatten die Gedanken an den verschwundenen Scheck und Anny völlig in den Hintergrund gedrängt. Das Geld hatte ich ja bekommen, und das war die Hauptsache. Alles Weitere mußten die Bank, die Polizei und später vielleicht auch Assi erledigen.

Aber dann geschah etwas. Es war ein ungewöhnlich warmer Tag gewesen und so schwül,

wie man es im Gebirge selten erlebt. Sonst war die Luft immer so herrlich frisch und selbst bei Sonnenschein eher ein bißchen kühl.

Gegen Abend zogen sich im Westen dunkle Wolken zusammen. Geggi holte die Ziegen herein, denn es sah aus, als ob ein Unwetter drohte.

Wir gingen schlafen. Nach Helgas Abflug waren Geggi und ich nach oben in das Schlafzimmer des Ehepaares Reinas gezogen. So lagen wir Wand an Wand mit Mette, und sie konnte uns jederzeit rufen, wenn sie uns brauchte.

Wir hatten noch nicht lange geschlafen, als wir von einem Krachen erwachten, wie ich es noch nie gehört hatte. Es war, als ob Gesteinsmassen tonnenweise von den Felswänden herabstürzten, und das Echo verstärkte das Getöse noch um ein Vielfaches.

„Geggi – was – was war das?“ stotterte ich entsetzt. „Donner“, sagte Geggi, „aber ich hab’ noch nie – o Gott!“ Ein Blitz fuhr durch die Nacht, und für den Bruchteil einer

Sekunde war das ganze Zimmer blendend hell. Einen Augenblick später folgte der Donner. Diesmal klang es, als detoniere eine Bombe direkt über unseren Köpfen.

Geggi sprang – nein, sie fiel fast aus dem Bett. „Wir müssen aufstehen, Gina!“ rief sie. Mit zitternden Händen zog ich mir irgend etwas über. Abermals

ein Blitz und ein Donnerschlag – und was für einer! Da ging die Tür auf, und Mette stand da – klein und verängstigt.

Von der selbstbewußten Hausherrin war nicht mehr viel übrig. „Ich will bei euch sein“, sagte sie kläglich.

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„Wir gehen alle zusammen hinunter in die Stube“, sagte Geggi. „Komm, Mette, wir ziehen dir was an, damit…“

Da schien die ganze Welt um uns in Flammen aufzugehen. Das Licht blendete die Augen, es knisterte und krachte, daß wir glaubten, das Haus bräche über uns zusammen oder die Felsen wollten uns unter sich begraben.

Vielleicht dauerte das alles nur ein oder zwei Sekunden. Als ich wieder zu mir kam, sah ich Geggi noch neben mir stehen, und Mette hatte sich fest an sie gepreßt.

„Rasch, Gina! Ich fürchte, es hat eingeschlagen. Wir müssen die Tiere ‘rauslassen!“

Wir stürzten die schmale Treppe hinab. Mette lief in die Stube und verkroch sich in der Sofaecke, während Geggi und ich auf den Hof hinausrannten.

Eine Ecke vom Dach des Schuppens hing zersplittert herab, und Flammen züngelten an den Dachsparren entlang.

„Hol die Ziegen heraus! Ich nehme die Kaninchen“, rief Geggi und lief zur Westseite des Schuppens, wo sich die Kaninchenställe befanden.

Ich riß die Tür zum Schuppen auf. Die Ziegen standen dicht zusammengedrängt in dem Verschlag. Ich mußte sie nacheinander an Gehörn und Nackenfell herauszerren.

Wieder erhellte ein Blitz die Nacht, und der Donner polterte hinterher. Diesmal aber war eine ganz kleine Pause dazwischen. Gott sei Dank, das Gewitter war nicht mehr direkt über uns.

Aber der Schuppen brannte. Der Qualm quoll immer dichter vom Dach in den Raum herunter. Da war nichts zu machen, wir konnten nicht löschen, sondern nur versuchen, so schnell wie möglich die Tiere zu retten. Ich stieß die letzte Ziege kräftig von hinten zur Tür hinaus. Dann griff ich nach dem Fahrrad.

Ich schob es gerade aus der Tür, als ich plötzlich zusammenfuhr. Mein Herz schlug bis zum Hals. Aus dem Nebenraum, wo das Holz lag, ertönte ein Poltern, als werfe sich jemand gegen die Tür. Dann folgte ein Schrei, so verzweifelt, wie ich noch nie einen gehört hatte. Jetzt weiß ich, wie es klingt, wenn jemand in Todesangst schreit.

„Hilfe! – Hilfe! – Laßt mich ‘raus – es brennt! – Hilfe! Hil…“ Ein Hustenanfall erstickte die Stimme, dann schnappte jemand röchelnd nach Luft.

Mit einem Ruck warf ich das Rad hinaus und schlug die Tür des Ziegenverschlags zu, die den Eingang zum Nebenraum versperrte.

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Im gleichen Augenblick wurde die Tür zum Holzraum auch schon von innen aufgedrückt, und eine kleine, magere, elende Gestalt fiel mir entgegen. Ich konnte nur erkennen, daß es ein Mädchen war. Ich fing es gerade noch auf, ehe es zu Boden stürzte, und indem ich das Mädchen halb stützte, halb trug, schleppte ich es ins Freie. Hustend rangen wir beide nach Luft, und ich war fast blind vom Rauch. Erst als uns die kühle Nachtluft entgegenschlug, konnten wir wieder Atem holen, und ich brachte das Mädchen ein Stück weiter fort.

Da kam Geggi, schmutzig und verrußt, aber unverletzt. Im Halbdunkel der Sommernacht hoppelten die Kaninchen wie weiße Flecken auf dem Hof vor dem Wohnhaus herum, während die Ziegen zu dem Wiesenhang hinaufsprangen, wo sie zu grasen pflegten.

„Du lieber Himmel, wer ist…“ rief Geggi, als sie uns sah. „Sie war im Holzschuppen“, erklärte ich und zog das Mädchen

weiter. Geggi lief uns voraus ins Haus. Da versuchte das Mädchen, sich loszureißen. Doch ich hielt es fest.

„Laß mich los!“ „Jetzt noch nicht“, sagte ich, „du kannst dich ja kaum auf den

Beinen halten. Ich weiß zwar nicht, weshalb du in dem Holzschuppen Unterschlupf gesucht hast, aber eins ist mir klar: daß du Hilfe brauchst.“

Hinter dem Küchenfenster wurde es hell und gleich darauf auch in der Kammer nebenan, wo Geggi und ich in der ersten Zeit geschlafen hatten.

„Komm“, sagte ich zu dem Mädchen, „du brauchst keine Angst zu haben. Wir wollen dir doch nur helfen.“ Damit zog ich das widerstrebende Wesen ins Haus.

Hinter uns stand der Schuppen in hellen Flammen. Erst in der Küche konnte ich der Fremden ins Gesicht sehen, und

zum dritten Male in dieser Nacht begann mein Herz bis zum Hals zu schlagen.

„Anny!“ rief ich aus. Sie warf mir einen Blick zu, dann machte sie kehrt und versuchte,

die Tür zu erreichen. Aber ich war mit einem Satz bei ihr. „Jetzt bleibst du hier! – Ich weiß genau, was du getan und

weshalb du dich versteckt hast, und ich kann mir deinen Schreck vorstellen, als du merktest, daß du ausgerechnet bei uns gelandet bist. – Also komm, Anny! Du brauchst was zu essen, du mußt dich waschen und dann schlafen. Und vor allem brauchst du Menschen,

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mit denen du reden kannst. – Na, keine Bange, Kleine! Wir tun für dich, was wir können.“

Gut, daß Geggi nicht dabei war, sie hätte sich vor Lachen nicht halten können, weil ich „Kleine“ gesagt hatte. Anny war mindestens drei Jahre älter als ich. Aber vielleicht veranlaßte sie gerade dieses Wort, sich zu fügen. Außerdem war sie offensichtlich todmüde, unsagbar schmutzig und verwahrlost und furchtbar hungrig – und allein, entsetzlich allein und verlassen.

Ich kann mich nicht entsinnen, jemals mit einem Menschen solches Mitleid empfunden zu haben wie mit ihr. Ich war überhaupt nicht mehr böse auf sie. Die Scheckfälschung erschien mir auf einmal ganz unwichtig. Vor mir stand keine durchtriebene Verbrecherin, sondern ein verzweifeltes, heruntergekommenes Mädel, das Hilfe brauchte.

Geggi war verschwunden, vermutlich hatte sie sich mit Mette in die Wohnstube zurückgezogen. Das war das beste. Die Anwesenheit eines zweiten Menschen hätte Anny nur noch mehr eingeschüchtert und verwirrt.

„Komm, Anny“, sagte ich und öffnete die Tür zur Kammer, „setz dich hierher, du kannst dich auch hinlegen. Und dann bekommst du gleich was zu essen. Nachher bringe ich dir warmes Wasser, damit du dich gründlich waschen kannst.“

Sie war nun ganz folgsam und setzte sich auf die Bettkante. „Leg dich ruhig hin, wenn du dich ausruhen willst“, sagte ich.

Dann ging ich in die Küche, setzte den großen Kessel auf den Gasherd und begann, Butterbrote zu schmieren. Da hörte ich Geggi die Treppe herunterkommen. Von fern her klang schwaches Gewittergrollen herüber – der Abschiedsgruß des Unwetters. Es schien selbst zu meinen, daß es in unserer Gegend genug angerichtet hatte.

„Ist es Anny?“ fragte Geggi flüsternd. „Ja“, flüsterte ich zurück. „Das dachte ich mir“, sagte Geggi leise. „Ich habe übrigens Mette

ins Bett gebracht. Sie schlief sofort ein.“ „Das ist gut.“ „Was willst du mit Anny machen?“ „Vorläufig will ich ihr nur was zu essen geben und ihr Wasser

zum Waschen bringen. Und dann werde ich versuchen, mit ihr zu sprechen. Vielleicht ist es am besten, wenn du dabei bist, Geggi. Deine ruhige Art flößt allen gleich Vertrauen ein.“

Eine Viertelstunde später hockte Anny in einer Ecke des Bettes

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und aß und aß. Schließlich mußte Geggi bremsen. „Anny, wir gönnen es dir von Herzen“, sagte sie, „aber glaub mir,

es ist besser, wenn du jetzt eine Pause machst, sonst wird dir schlecht. Du hast sicher tagelang gehungert, und dann muß man mit dem Essen vorsichtig anfangen. Wann hast du zuletzt etwas gegessen?“

„Vorgestern“, murmelte Anny. „Na, siehst du, dann hör jetzt lieber auf. In ein paar Stunden

bekommst du wieder was.“ „Ich denke, das Waschwasser wird jetzt warm sein“, sagte ich und

ging in die Küche. Durch das Fenster sah ich, daß der Schuppen noch immer brannte. Aber es war windstill, und so bestand keine Gefahr, daß Funken auf das Wohnhaus überspringen würden. Gerade als ich den Kessel vom Herd nahm, klatschten die ersten schweren Regentropfen gegen die Scheiben. Einen Augenblick später goß es in Strömen – Gott sei Dank!

Als ich die Kammer wieder betrat, war Geggi dabei, Anny den Pullover über den Kopf zu ziehen. Du lieber Himmel, wie sahen ihre Kleider aus – schmutzig, verknittert und voller Staub und Heu. Unterwäsche und Strümpfe waren zerrissen, und die Schuhsohlen hatten große Löcher. Als sie die Strümpfe auszog, glaubte ich meinen Augen nicht zu trauen. Einer klebte an einer offenen Wunde an der Ferse, so daß wir ihn erst mit lauwarmem Wasser behutsam abweichen mußten. Und die Füße, die da zum Vorschein kamen! So schmutzige Füße hatte ich in meinem Leben noch nicht gesehen.

„Du mußt dich ganz ausziehen, Anny, damit du dich richtig waschen kannst“, sagte ich, „und dann bringe ich dir einen Schlafanzug von mir.“

Anny stand unschlüssig da, offensichtlich genierte sie sich. „Ich glaube, ich muß mal nach Mette sehen“, sagte Geggi und

stand auf. Und ich ging nach oben, um den Schlafanzug zu holen. Als ich zurückkam, stand Anny mit dem Rücken zu mir nackt vor

der Waschschüssel. Herrgott: von oben bis unten lauter Striemen, blau, gelb und rot!

Ich schluckte, um die Tränen zurückzudrängen. Einen Augenblick lang mußte ich mich abwenden und die Zähne in die Unterlippe beißen, bis ich mich gefangen hatte und wieder ganz ruhig erscheinen konnte.

„Hier hast du einen Schlafanzug“, sagte ich zu Anny, die sich halb umgedreht hatte, „und eine neue Zahnbürste hatten wir zufällig

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auch noch im Haus.“ Die hatte ich aus Helgas Medizinschränkchen gemopst. Frisches Bettzeug hatte ich ebenfalls mitgebracht, und kurze Zeit später lag Anny unter der Decke. „Glaubst du, daß du schlafen kannst?“ fragte ich. „Weiß ich nicht.“ Ihre Blicke folgten mir, wachsam und ängstlich. Plötzlich stieß sie hervor: „Ich habe den Scheck nicht unterschrieben, Gina!“

„Da bin ich aber sehr froh, Anny“, sagte ich. „Wer hat’s denn getan?“

„Na, er – der Mandus.“ Ich fragte nicht, wer Mandus sei, das interessierte mich im

Augenblick gar nicht. Hauptsache, Anny hatte es nicht getan. „Aber du warst auf der Bank, Anny, nicht wahr?“ „Ja, weil er mir gedroht hat, der Mandus. Aber wir haben das

Geld ja gar nicht gekriegt, also haben wir’s dir auch nicht geklaut, Gina.“

„Gut, daß du mir das gesagt hast, Anny, und nun wird sich alles wieder einrenken, paß auf. Jetzt mach die Augen zu und schlaf! Denk daran, daß du hier ganz sicher bist.“

Ich weiß nicht, ob es meine Worte waren, die sie beruhigten. Vielleicht war es auch etwas anderes: Von Mitgefühl überwältigt, streichelte ich ihre Wange.

„Arme Kleine!“ flüsterte ich. Gut, daß niemand es hörte. Aber vielleicht brauchte Anny gerade

diese Worte. Der angstvoll-gequälte Ausdruck wich von ihrem Gesicht. Nur noch Hilflosigkeit lag in ihrem Blick. Dann übermannte sie die Müdigkeit. Die Lider schlossen sich, der Kopf sank zur Seite, und endlich fand der arme, mißhandelte Körper Ruhe.

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Noch ein unerwarteter Gast

Geggi stand in der Küche und machte Kaffee. Es war vier Uhr morgens.

„Ich merke, daß ich doch nicht mehr schlafen kann“, sagte sie, „ich bin zu aufgeregt.“

„Und ich erst!“ sagte ich. „So eine Nacht habe ich noch nie erlebt.“

Wir waren beide froh, daß die Unruhe im Haus Mettes gesunden Schlaf nicht stören konnte. Sie hatte geschlafen, als ihre Mutter ins Krankenhaus gebracht wurde, und auch in dieser Nacht war sie nur wach geworden, als das Unwetter am allerschlimmsten tobte. Von Annys Anwesenheit hatte sie keine Ahnung.

„Wie, in aller Welt, ist das Mädchen nur hier gelandet?“ fragte Geggi. „Daß Anny von daheim ausgerissen ist, kann ich verstehen, aber daß sie dann nicht lieber…“

„Warte nur, bis der Kaffee fertig ist“, sagte ich, „dann setzen wir uns zusammen, und ich werde dir erzählen, was ich weiß. Es ist zwar nicht viel, aber jedenfalls das Wichtigste.“

Während Geggi zwei große Tassen aus dem Schrank nahm und einschenkte, warf ich einen Blick aus dem Fenster. Der Regen hatte das Feuer gelöscht. Aber fast das ganze Dach des Schuppens war abgebrannt, und die Wände waren verkohlt.

„Hoffentlich wird die Feuerversicherung…“ begann ich. – „Du, Geggi, was ist das für ein Geräusch?“

Geggi horchte. „Wenn mich nicht alles täuscht, ist das ein Auto.“ Ich lief zur Tür und wußte, daß in dieser Nacht noch keineswegs

Schluß war mit dem Herzklopfen. Ich sah wirklich ein Auto kommen – aber eins, das ich nicht kannte.

Es war ein großer, eleganter Wagen – ein blauer, soweit die Farbe unter den Schmutzspritzern zu erkennen war.

Aus dem Auto stieg ein Mann. Aber das war ja… Ich lief ihm entgegen.

„Herr Doktor“, rief ich, „wie nett von Ihnen, daß Sie kommen! Hatten Sie gefürchtet, daß uns was zugestoßen sei?“

Der Mann lächelte. „Du bist sicher Gina, nicht wahr? Aber ich bin gar nicht der

Doktor. Ich bin sein Bruder.“ Er hieß Torbjörn Henning und war Rechtsanwalt. Am Tag zuvor

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war er nach Geiterud gekommen, um seinen Sommerurlaub bei seinem Zwillingsbruder zu verbringen. Offenbar wußte er über uns schon Bescheid.

„Ich bekam ja einen mächtigen Schreck“, sagte er, „als wir vor einer Stunde das Feuer hier oben am Berghang bemerkten. Das konnte nur bei euch sein, und so wollte ich euch sofort zu Hilfe kommen, aber der Motor sprang nicht an, und als ich den Wagen endlich in Gang brachte, fing es so stark zu regnen an, daß ich kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Und ein Stück weiter unten hat der Regen den Weg so aufgeweicht, daß ich glaubte, ich käme überhaupt nicht weiter. Aber mit Todesverachtung und Millimeterarbeit ging es schließlich doch.“

„Und Sie dachten, Sie würden zu einer Brandstätte mit verkohlten Leichen kommen, wie?“ fragte ich ironisch.

„Pfui, Gina, wie du dich ausdrückst! Ich war wirklich in großer Sorge, daß euch etwas passiert sei, denn – wie man so sagt – ein Unglück kommt selten allein, erst die Sache mit Egil Reinas, dann mußte seine Frau in die Klinik, und so fürchtete ich, nun sei das dritte Unheil geschehen.“

„Es war nicht so schlimm, wie es aussah“, versicherte Geggi, „nicht ein einziges Kaninchen, keine Ziege ist umgekommen. Die hopsen alle munter hier in der Gegend herum. Ich hoffe nur, daß es mir mit der Zeit gelingt, sie wieder einzufangen.“

Torbjörn Henning, der sich zu uns in die Stube gesetzt hatte, stand auf, trat zum Fenster und betrachtete die traurigen Reste des Schuppens.

„Den müßte man ein bißchen ausbessern können“, meinte er. „Sobald der Regen etwas nachläßt, werde ich mir die Sache mal näher anschauen. Der linke Teil scheint ja einigermaßen erhalten geblieben zu sein. Den müßte man so weit abdichten, daß er wenigstens vorläufig einen Unterschlupf für Ziegen und Kaninchen bietet.“

„Ich glaube, Sie sind extra heraufgekommen, um sich als rettender Engel bewundern zu lassen“, sagte ich lachend, „und das zu nachtschlafender Zeit.“

„Daran ist das Unwetter schuld“, sagte Torbjörn Henning, „sonst wäre ich zu einer christlicheren Zeit erschienen.“

„Aber Sie wären auf jeden Fall gekommen?“ fragte ich. „Ja, gewiß, Gina!“ versicherte er und nickte. „Ich wäre auf jeden

Fall gekommen.“

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„Ich verstehe“, sagte ich und nickte auch, „Sie wollen mit mir von Assi sprechen.“

Ich hörte ein leises Geräusch hinter mir. Geggi hatte behutsam die Tür hinter sich geschlossen. Ich war mit Torbjörn Henning allein.

Ich werde diesen Morgen nie vergessen, den grauen Morgen, als Regen an die Fenster trommelte, ein armes, verkommenes Mädchen erschöpft in der Kammer hinter der Küche schlief und ein Mann einer Fünfzehnjährigen die Geschichte seiner Liebe erzählte.

Seit vier Jahren liebte er Assi und sie ihn. Er hatte sie gedrängt, ihn zu heiraten. Und nun erfuhr ich von ihm, daß meine Vermutung richtig war: Assi betrachtete es als ihre Pflicht, der kleinen Schwester die Eltern zu ersetzen. Gerade jetzt stand sie auf der Höhe ihrer künstlerischen Laufbahn, und diese Chance wollte sie nutzen und soviel wie möglich verdienen, um meine Zukunft zu sichern. Deshalb nahm sie vor allem gutbezahlte Gastspielengagements an. Wenn ein Gastspiel beendet war, eilte sie nach Hause, um für mich Mutter, Kamerad und Schwester zu sein.

Mit anderen Worten: vorläufig konnte und wollte sie keine Ehe eingehen, obwohl sie Torbjörn von ganzem Herzen liebte. Aber Assi hatte eben nicht nur ein Herz, sondern auch Pflichtgefühl. Wenn Torbjörn sie liebte, mußte er fünf bis sechs Jahre warten, dann war sie bereit, ihn zu heiraten – also erst, wenn ich eine Berufsausbildung hatte. Während der schwierigen Jungmädchenjahre wollte sie bei mir bleiben und mir eine Stütze und Zuflucht sein. Die kleine Schwester sollte erst erwachsen sein und zu sich selbst gefunden haben; nicht früher, so meinte Assi, dürfe sie an ihr eigenes Glück denken.

„Ich habe ihr versprochen zu warten, wie lange es auch dauert“, sagte Torbjörn Henning, „aber ich sehne mich nach ihr, mehr, als so ein kleines Mädchen wie du, Gina, begreifen kann.“

Ich nickte. „O doch, das verstehe ich wohl, und ich verspreche Ihnen, daß ich alles tun werde, was ich kann, um Assi zu überreden, daß sie Sie heiratet, sobald sie aus Amerika zurück ist. Ich bin doch kein Unmensch! Glauben Sie etwa, ich mißgönne Assi ihr Glück?“

„Gina! Liebe, gute Gina!“ sagte Torbjörn Henning und drückte meine Hand.

„Ich – lieb und gut, denkste!“ sagte ich und lachte. „Ich will doch so schrecklich gern Tante werden; bloß deshalb möchte ich, daß ihr heiratet.“

Da umarmte mich Torbjörn und gab mir einen Kuß. „Ich verspreche dir hiermit feierlich, Gina“, sagte er, „daß ich

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alles in meiner menschlichen Macht Stehende tun werde, um dir deinen Wunsch zu erfüllen!“

Der Regen hatte aufgehört. Im Osten stieg langsam ein glasiger Lichtschimmer am Himmel auf, und plötzlich schoß der erste Sonnenstrahl empor und durchs Fenster zu uns herein. Es war, als wollte er Torbjörn und mich segnen und seine treue Liebe zu Assi auch.

Langsam und vorsichtig wurde die Tür geöffnet. Geggi schaute herein. „Entschuldigt, ich möchte gern hier den Frühstückstisch decken“, sagte sie, „wenn wir nämlich in der Küche essen, stören wir Anny.“

„Ja, natürlich, komm nur, Geggi“, sagte ich. „Wer ist Anny?“ fragte Torbjörn. „Anny ist unser größtes Problem“, sagte Geggi. „Ach, richtig,

sind Sie nicht Jurist?“ „Hier gibt es kein Sie mehr, Geggi“, widersprach er, „ich heiße

Torbjörn und bin mit Gottes Hilfe demnächst dein Vetter – ich meine, Schwager…“

„Du meinst Schwagervetter“, sagte Geggi lachend, „na, Gott sei Dank! – Aber, Gina, begreifst du die glückliche Fügung? Wenn jemand Anny helfen kann, dann ist es ein Jurist, noch dazu einer, der den hiesigen Landarzt zum Bruder hat.“

„Erzähl mir von dieser Anny“, bat Torbjörn. Er wandte mir sein offenes, gutes Gesicht zu und blickte mich fragend an.

Ich berichtete ihm, was ich wußte: von meinem Verdacht bis zu Annys Geständnis vor ein paar Stunden, wie ich sie im Schuppen gefunden und welche Spuren der Mißhandlung ich auf ihrem Rücken gesehen hatte – und da fing ich an zu weinen.

Torbjörn nickte mehrmals, während er mir zuhörte. „Das arme Ding“, murmelte er.

Nachdem ich ihm alles erzählt hatte, dachte er eine Weile nach, dann sagte er:

„Wenn sie aufwacht und imstande ist, wieder klar zu denken, müßt ihr sie ein wenig ausfragen. Vor allem brauchen wir natürlich ihren vollen Namen und ihr Alter. Ein Mann, der sein Kind derartig hart schlägt, kann wegen Kindesmißhandlung zur Verantwortung gezogen werden. Und ist die Tochter über achtzehn, so kann er sich nicht einmal damit herausreden, daß die Schläge eine Strafe und ein Erziehungsmittel gewesen seien – eine feine Erziehung, das muß man schon sagen – , denn dann hat er überhaupt kein Recht mehr,

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Hand an sie zu legen. Ferner müßt ihr die Zusammenhänge der Scheckfälschung klären, zum Beispiel, ob Anny selbst den Brief gestohlen hat oder ob es dieser Mandus war; wieso Mandus sie mit Drohungen zwingen konnte, zur Bank zu gehen und zu versuchen, den Scheck einzulösen. Ihr müßt dem Mädchen klarmachen, daß ich ihm helfen will, so gut ich kann. Aber das ist mir nur möglich, wenn ich die volle Wahrheit weiß.“

„Auf jeden Fall ist sie von daheim ausgerissen“, sagte ich. „Wie lange sie in dem Schuppen war, weiß ich nicht. Aber das werde ich schon erfahren.“

„Dann müssen wir an Mette denken“, fuhr Torbjörn fort, „ihr gegenüber ist Anny eine Bekannte von euch, die zu Besuch gekommen ist. Wir dürfen nicht riskieren, daß Mette etwas ausplaudert, denn Anny muß wenigstens in den nächsten Tagen unentdeckt bleiben, damit wir in Ruhe mit ihr sprechen können und mein Bruder sie untersuchen und später bescheinigen kann, daß sie mißhandelt worden ist.“

„Mette spricht ja nur mit den Leuten von Lyngbakken, die ab und zu hier vorbeikommen“, sagte ich.

„Trotzdem – lieber vorsichtig sein. Am besten wäre es sogar, ihr dächtet euch für Anny irgendeinen Kosenamen aus, damit Mette den richtigen gar nicht erst hört.“

„Ja, da wird uns schon was einfallen“, meinte ich. „Weißt du, Torbjörn, ich war ja so erleichtert, als sie sagte, sie hätte die falsche Unterschrift nicht geleistet. Denn sonst wäre eine scheußliche Geschichte daraus geworden.“

Torbjörn nickte. „Ja, gewiß. Aber der Fall scheint so zu liegen, daß eine Minderjährige von einem Jungen oder einem Mann zur Ausführung eines Verbrechens mißbraucht worden ist. Für diesen Mandus, wer er auch sein mag, wird es unbedingt eine scheußliche Geschichte.“

„Ich pfeife auf Mandus“, sagte ich, „Hauptsache, wir können Anny helfen.“

Es war heller Tag geworden, als wir Torbjörn zu seinem Auto geleiteten. Dabei fingen wir drei Kaninchen ein, die sich unter dem Wagen häuslich niedergelassen hatten, und setzten sie in eine geräumige Kiste, die am Eingang zur Küche stand.

„Ich komme heute abend wieder herauf“, sagte Torbjörn, „seht zu, daß ihr bis dahin mit Anny gesprochen habt.“ Er lächelte uns zu. Wie ähnelte er doch seinem Bruder! Seine Augen strahlten, er sah

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unsagbar glücklich aus. Als ich ihm das zuflüsterte, nickte er und drückte mir fest die Hand.

„Stimmt, Ginalein, und zwar habe ich das dir zu verdanken.“ Er faßte in die Jackentasche, wahrscheinlich, um festzustellen, ob

er auch den Zettel mit Assis Adresse eingesteckt habe, den ich ihm gegeben hatte. Dann startete er.

Vom Himmel waren alle Wolken verschwunden. Hoch und klar wölbte er sich über uns, und die Sonne schien warm und leuchtend auf die Berge, auf das kleine Haus – und auf seine Bewohner.

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Anny und Mandus

„Ich muß auf Ziegenjagd“, sagte Geggi, zog sich den Overall an und griff nach dem Eimer, „ich hoffe, daß sie nicht allzu weit weg sind. Sie warten ja darauf, gemolken zu werden.“

Geggi trabte davon. Unter ihren Füßen schwappte und schmatzte es, denn der Boden war ganz aufgeweicht von dem nächtlichen Wolkenbruch.

Ich ging hinein, räumte unseren Frühstückstisch ab und deckte für Mette. Unser Hausmütterchen erschien um Punkt acht Uhr. Als erstes fragte die Kleine nach den Ziegen und Kaninchen.

Ich berichtete ihr ernsthaft und sachlich über die Ereignisse der letzten Nacht.

„Denk mal, Mette“, sagte ich, „heute ganz früh, als du noch schliefest, haben wir Besuch bekommen, ein Mädchen, das Geggi und ich gut kennen. Sie liegt jetzt in der Kammer und schläft.“

„Was will die hier?“ fragte Mette im Tonfall eines Untersuchungsrichters.

„Ach, sie will uns nur mal guten Tag sagen und sehen, wie es uns hier geht. Bald reist sie wieder ab. Als sie ankam, war sie sehr müde und wollte sich ausruhen. Darum mußt du jetzt schön leise sein, damit unsere Freundin noch eine Weile schlafen kann.“

„Wie heißt sie?“ fuhr Mette zwischen zwei Schlucken Milch in ihrem Verhör fort.

„Kleine“, sagte ich, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ist sie denn so klein?“ „Nein, eigentlich nicht, aber sie heißt nun mal so. – Soll ich dir noch einen Zwieback mit Butter streichen, Mette?“ Mette nickte. Sie machte ein nachdenkliches Gesicht, knabberte

an dem Zwieback und teilte mir dann mit, daß sie ihre Gummistiefel anzuziehen wünsche. Sie wolle zu ihrem Tannenzapfenstall gehen und nachsehen, wie er das Unwetter überstanden habe.

„Und heute nachmittag will ich einen Brief an Vati sprechen“, verkündete sie weiter. „Er hat sicher furchtbare Angst gekriegt, als es in der Nacht blitzte und donnerte.“

Wie immer packte ich für Mette Frühstücksbrote ein, und sie machte sich auf den Weg.

Als Hans Lyngbakken kam und die Ruinen unseres Schuppens sah, machte er denselben Vorschlag wie Torbjörn, nämlich erst

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einmal rasch eine Notunterkunft für die Tiere herzurichten. Er habe auf seinem Hof noch Material liegen, das er uns bringen wolle. Später, wenn die Versicherung gezahlt habe, könnte Herr Reinas den Schuppen ja von einem Handwerker in Ordnung bringen lassen.

Ich bat ihn, Helga zu telegrafieren, daß es uns dreien gutgehe, und gab ihm einen Einkaufszettel für den Lebensmittelhändler mit.

Er warf einen Blick auf die lange Liste und fragte lächelnd: „Willst du die Speisung der Fünftausend veranstalten, Gina?“

„Das nicht“, erwiderte ich, „aber wir bekommen heute abend Gäste, auch mein zukünftiger Schwager besucht uns. Außerdem sind wir von der durchwachten Nacht so hungrig, daß ich zu Mittag eine ganze Fuhre Fleischklöße machen muß.“

Ich griff tief in meine Haushaltskasse, und Hans Lyngbakken versprach, alles wunschgemäß zu erledigen. Dann setzte ich mich in die Wohnstube, um Briefe zu schreiben, einen an Assi und einen an Helga. Als Geggi mit vollem Milcheimer zurückkam, ließ sie sich von meinem Eifer anstecken. Da ihre Eltern inzwischen in dem spanischen Ferienort eingetroffen sein mußten, wurde es Zeit, daß Geggi ihnen alles berichtete, was sich seit unserer Abfahrt von Oslo ereignet hatte.

Hans Lyngbakken kam aus dem Dorf zurück, und ich begann, einen Berg Fleischklöße zu machen, denn erstens waren sie Mettes Leibgericht, zweitens hatten wir die ausgehungerte Anny mit am Tisch, und drittens eignete sich der kalte Rest gut als Belag zum Abendbrot.

Vielleicht war es der Duft der Fleischklöße und gebratenen Zwiebeln, der Anny so die Nase kitzelte, daß sie erwachte. Ich hörte, daß sich in der Kammer etwas regte.

Ich hatte schon von meinen eigenen Sachen Strümpfe, Wäsche, ein Paar Jeans und einen Pullover bereitgelegt und ging damit zu ihr.

„Na, Anny, wie geht’s dir? Hast du einigermaßen ausgeschlafen?“ „Ich war so müde“, murmelte Anny. „Das kann man verstehen. – Hier, Anny, zieh das mal an! Ich

glaube sicher, es wird dir passen. Du bist ja so dünn.“ Annys Hand strich über die weiche Wolle des Pullovers. Assi

pflegt für mich nicht eben die schlechtesten Qualitäten zu kaufen. Der Pullover war erstklassig.

„Toll – so was Feines…“ „Den kannst du behalten, Anny“, sagte ich, „ich hab’ genug.“ „Du bist wohl…“ Doch dann leuchtete ein Funken Freude in

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Annys sonst so ängstlich dreinblickenden Augen auf. Ich setzte mich auf die Bettkante, während sie sich anzog, und

erzählte ihr, daß sie sich vorläufig damit abfinden müsse, „Kleine“ zu heißen, denn niemand solle wissen, daß sie hier sei.

„Stell dir mal vor, dein Vater bekäme es heraus“, sagte ich, „das wollen wir doch möglichst vermeiden.“

„Der ist gar nicht mein Vater!“ sagte Anny. „Da kannst du aber froh sein“, meinte ich. „Ist er mit dir

verwandt?“ „Er ist mein Pflegevater.“ „Dein Pflegevater? Und der hat dich so verhauen?“ „Woher weißt du das?“ „Ich hab’ doch die Striemen auf deinem Rücken gesehen.“ „Sind die immer noch so schlimm? Ist doch schon vier Tage her.

Übrigens hab’ ich hinten immer Striemen. Aber letztes Mal war’s doll! Sonst hat er immer mit Birkenreisern gedroschen, aber letztes Mal nahm er ‘nen Stock. Ich dachte, ich sollte krepieren, so weh tat es. Nanu, was hast du denn, Gina? Warum heulst du denn?“

Daß ein Mensch aus Mitleid mit ihr weinen konnte, schien etwas völlig Neues für sie zu sein. In Unterwäsche stand sie vor mir, die Jeans in der Hand, und starrte mich an. Ihre Augen blickten nicht mehr ängstlich, sondern erstaunt.

„Komm, Kleine“, sagte ich und zog sie an meine Seite, „erzähl mir alles! Ich muß alles wissen, verstehst du, sonst kann ich dir nicht helfen.“

Sie zog die langen Hosen an und den Pullover und setzte sich zu mir.

„Ich traue mich nicht, hierzubleiben, Gina“, sagte sie, „denk mal, wenn die mich finden, die schlagen mich kaputt.“

„Nein, du, ich verspreche dir, daß sie dazu nicht kommen werden! – übrigens, wie alt bist du eigentlich, Anny?“

„Achtzehn – vorigen Monat geworden.“ „Dann hätte dich dein Pflegevater überhaupt nicht schlagen

dürfen. Wenn die Polizei das erfährt, kommt er ins Gefängnis.“ „Wenn sie ihn doch einlochten – das geschähe ihm recht!“ Anny war gar nicht mehr ängstlich, und als ich weiterfragte,

erzählte sie bereitwillig. Ich mußte ein paarmal die Zähne fest zusammenbeißen. Wie war es nur möglich, daß ein Mensch so viel erdulden konnte wie Anny! Aber eins war sicher: ich, Geggi, Torbjörn und sein Bruder würden dafür sorgen, daß Anny nicht zu

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diesem Quälgeist von Pflegevater zurückzukehren brauchte – selbst wenn wir alles in Bewegung setzen mußten: Fürsorge, Vormundschaft, Polizei und was Norwegen sonst noch an zuständigen Ämtern aufzuweisen hatte.

Ich hatte ein neues Tonband aufgelegt, das Gerät in Mettes Schlafzimmer gestellt und ihr vorgeschlagen, was sie dem Vati alles erzählen solle: daß es uns gutgehe, daß wir das Gewitter gesund überstanden hätten, daß wir Besuch von Doktor Henning und seinem Bruder, dem Onkel Torbjörn, bekämen, daß es Fleischklöße zu Mittag gebe, daß der Regen den Tannenzapfenstall nicht weggeschwemmt habe und daß eins der großen Kaninchen bald Junge bekommen werde.

Um Mette noch länger zu beschäftigen, brachte ich ihr die Puppennähmaschine und machte ihr klar, daß ihre Puppe Lisemarie unbedingt ein Nachthemd brauche, was Mette sofort einsah, als ich ihr einen überaus feinen geblümten Stoff dafür verehrte – ein fast neues Kopftuch. Mettes Abgeschiedenheit war mir dieses Opfer wert.

So hatten wir fünf Erwachsenen – mehr oder weniger Erwachsenen – unten in der Wohnstube unsere Ruhe.

Anny sah nun reizend aus. Eigentümlich, wieviel selbstsicherer ein weibliches Wesen wird, wenn es sich gut angezogen weiß. In meinem blauen Pullover fühlte sich Anny offensichtlich sehr wohl. Geggi hatte ihr geholfen, das Haar zu waschen, das fettig und voller Staub und Heu gewesen war. Nun hatte, es einen weichen Glanz und wurde von einer blauen Schleife im Nacken zusammengehalten. Erst jetzt konnte man erkennen, wie hübsch das Mädchen war.

Torbjörn und der Doktor waren gekommen. Torbjörn brachte Schokolade mit, vier gleiche Tafeln – für die „Damen des Hauses“, wie er lächelnd sagte. Die kleine Geste, daß er Anny als vierte „Dame des Hauses“ in unseren Kreis einbezog, half ihr, ihre Scheu den beiden Fremden gegenüber zu überwinden.

Torbjörn und ich hatten flüsternd ein paar Worte gewechselt. „Ich soll dich von Assi grüßen, Gina.“ „Hast du schon einen Brief von ihr?“ „Nein, ich habe mit ihr gesprochen – quer über den Atlantik.

Gina, ich kann dir gar nicht sagen…“ Er vollendete den Satz nicht. Seine Augen leuchteten. „Ich soll dich jedenfalls grüßen und dir sagen, daß du und Geggi, sobald ihr in Oslo seid, zur Schneiderin gehen und eure Brautjungfernkleider bestellen sollt. Assi möchte,

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daß ihr in Rosa geht. Die Kleider müssen bis zum zehnten Oktober fertig sein, denn an diesem Tag feiern wir Hochzeit.“

Dann wurde es ernst. Ich mußte Annys traurige Lebensgeschichte erzählen. Anny nickte nur, manchmal errötete sie auch, denn es waren viele peinliche Einzelheiten zu berichten. Ab und zu warf sie einen Satz dazwischen, wenn es sich um Dinge handelte, die ich nicht richtig begriffen oder falsch wiedergegeben hatte.

Sie war außerehelich geboren und der Vater unbekannt. Die Mutter starb, als Anny zwei Jahre alt war. So kam sie in ein Kinderheim, wo es ihr soweit recht gut ging, zumindest wurde sie ordentlich versorgt und ernährt. Aber als sie größer war, wollte sie fort aus dem Heim. Ihre Klassenkameradinnen hatten so viel von Kino und Ausflügen, Tanz und Vergnügen erzählt, sie besaßen hübsche Kleider und kannten Jungen, mit denen sie ausgingen.

Anny fühlte sich als Außenseiter. Ein Außenseiter voll Neugierde und Appetit auf das Leben, das sie nicht kannte.

Als sie vierzehn Jahre alt war, kam sie als Pflegekind zu einem Ehepaar in Solmyr, das sie zur Probe bei sich aufnahm. Wenn Anny sich gut führte, sollte sie adoptiert werden.

Die Pflegeeltern besaßen einen kleinen Bauernhof, und Anny mußte fleißig mitarbeiten. Aber das war nicht so schlimm. Die Pflegemutter, Martha Furubö, der Anny zur Hand gehen mußte, war freundlich zu ihr. Außerdem nähte Frau Furubö gern, und es machte ihr Spaß, die Pflegetochter hübsch anzuziehen. So ging in der ersten Zeit alles recht gut. Für Martha Furubö, die keine Kinder hatte, war es eine Freude, ein junges Mädchen um sich zu haben.

Der Pflegevater, Nils Furubö, sah Anny fast nur zu den Mahlzeiten, wenn er und Mandus von der Feldarbeit kamen.

Mandus, ebenfalls ein Pflegekind, war schon zwei Jahre früher ins Haus gekommen. Er war groß und kräftig und etwas älter als Anny. Meist war er mürrisch und blickte finster drein. Nur wenn die Pflegemutter einen besonderen Leckerbissen auftischte und ihm gut zuredete – „Nun mußt du aber tüchtig essen, mein Junge, du warst heute ja so fleißig!“ – , wurde er freundlicher. Martha Furubö war in ihrer stillen Art eine gute Frau.

Als sie starb, war das ein harter Schlag für Mandus und vor allem Anny, die in ihr ja gerade erst einen Menschen gefunden hatte, der ihr Vertrauen einflößte. Nun war er ihr schon wieder entrissen worden.

Es bedeutete eine große Umstellung für Anny, als die Schwester

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von Nils Furubö den Haushalt übernahm. Sie war der guten, stillen Martha so unähnlich wie nur möglich, hatte das gleiche verschlossene Wesen wie ihr Bruder und vertrat den Standpunkt, die Pflegekinder hätten gefälligst dankbar zu sein, daß man ihnen ein Heim bot.

Arbeit in Haus und Hof sei das mindeste, was man dafür erwarten könne.

Die harte Behandlung, die diesen Grundsätzen entsprach, trieb Anny und Mandus näher zueinander. Zuvor hatte sich der eine um den anderen nicht viel gekümmert, da sie zu verschieden veranlagt waren. Aber nun steckten sie in der kurzen Freizeit, die ihnen blieb, die Köpfe zusammen und versuchten herauszufinden, wie sie von dem Bauernhof fortkommen könnten. Solange sie nämlich gesund waren, satt zu essen bekamen und anständig gekleidet wurden, hatte die Fürsorge an den Pflegeeltern nichts auszusetzen. Von dorther sei also keine Hilfe zu erwarten, meinte Mandus.

Samstags gingen sie immer ins „Haus der Jugend“. Das war für sie die einzige Abwechslung in der ganzen Woche. Hier fanden sie Geschmack an Tanz und Vergnügen. Niemand war so ausgelassen und laut, niemand machte so viel Krach und Geschrei wie die beiden.

Als Nils Furubö zu Ohren kam, daß Anny eines Sonntagmorgens im Birkenwald hinter einem Schuppen schlafend und nach Schnaps riechend gefunden worden war, hatte er sie zum ersten Male verhauen. Damit erreichte er gerade das Gegenteil von dem, was er beabsichtigte. Sie wurde trotzig und hart und hielt sich nun noch enger an Mandus, um mit ihm die Flucht vorzubereiten – irgendwohin, nur weit weg, wo Nils Furubö und das Fürsorgeamt sie nicht erreichen könnten.

Aber die Schwierigkeiten schienen unüberwindlich. Woher sollten sie das Geld nehmen, das sie für ihre Flucht brauchten? All ihre Überlegungen konzentrierten sich von nun an auf diese Frage.

Eines Tages sagte die Schwester von Nils Furubö zu Anny: „Vergiß nicht, daß du alles von meinem Bruder bekommst. Du hast ja noch nichts selber verdient.“

„Ich will gerne eine Stellung annehmen“, erwiderte Anny, „dann wirst du schon sehen, daß ich Geld verdienen kann.“

So arbeitete sie als Aushilfe am Wochenende im Hotel und mittwochs in der Pension Goldlack. Als sie ihren ersten Lohn in der Tasche hatte, verschwand sie für drei Tage. Nach ihrer Rückkehr

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erzählte sie niemandem, wo sie gewesen war und was sie unternommen hatte.

Nils Furubö schlug sie so, daß ihr Geschrei auf der Straße zu hören war.

Dann kam der Tag, an dem Anny zufällig in unserer Nähe stand, als ich mit Geggi vor dem Kunstgewerbeladen laut und unbekümmert über den riesengroßen Scheck sprach, den Assi an mich abgeschickt hätte und der bestimmt morgen ankommen würde.

Anny hatte die Worte „riesengroßer Scheck“ aufgeschnappt, und sie blieben in ihrem Gedächtnis haften. Am Abend, als sie mit Mandus hinter der Scheune stand und sie sich wohl zum fünfzigsten Male flüsternd darüber unterhielten, wie man zu dem Geld für die Flucht kommen könne, hatte sie seufzend gesagt: „Und wenn man sich vorstellt, daß andere Mädchen riesengroße Schecks einfach mit der Post zugeschickt kriegen – wie die da oben in der Pension Goldlack…“

Am nächsten Tag holte Anny die Post für die Pension ab. Es war eine ganze Menge – Briefe, Zeitungen und mehrere Päckchen. Plötzlich stand Mandus neben ihr.

„Ich trage die Tasche für dich, Anny“, sagte er, „nach der Dresche, die du vorgestern gekriegt hast, schaffst du das ja gar nicht allein.“

Ja, Anny hatte wieder Schläge bekommen. Sie war dankbar und gerührt, daß Mandus ihr die Posttasche abnahm. Er war sehr nett zu ihr und sagte, es gäbe vielleicht eine Möglichkeit, daß sie beide nach Oslo und von dort weiter nach Schweden kommen könnten. Dort habe er einen Bekannten, den er voriges Jahr im „Haus der Jugend“ kennengelernt hatte.

Zwei Tage später erklärte Mandus, er besitze nun genug Geld, um nach Oslo zu fahren, und wenn Anny ihren Lohn für die Wochenendarbeit im Hotel bekommen habe, solle sie nachkommen. Dort werde er alles Weitere regeln, sie könne sich ganz auf ihn verlassen.

Mandus war gewitzter als Anny. Er riß nicht heimlich aus, sondern zeigte einen Brief, den er von dem Kinderheim, in dem er aufgewachsen war, bekommen haben wollte. Darin schrieb der Leiter, daß er Mandus unbedingt sprechen müsse, um seine Zukunft zu regeln, und ob er nicht für ein paar Tage nach Oslo kommen könne. Außer Anny ahnte niemand, daß Mandus diesen Brief selber geschrieben hatte.

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Also fuhr Mandus mit Erlaubnis der Furubös ab. Und dann kam der Montag, an dem Anny ihm folgte, der denkwürdige Montag, an dem wir sie auf dem Bahnhof in Solmyr gesehen hatten.

Am Hauptbahnhof in Oslo traf Mandus sich mit ihr. Sie fuhren ein weites Stück mit der Straßenbahn bis in einen Außenbezirk der Stadt. Dort führte er Anny zu einer kleinen Bankfiliale. Er schien den Weg gut zu kennen, denn er ging rasch und handelte offenbar nach einem festen Plan. Vor der Bank blieb er stehen und drückte ihr ein Stück Papier in die Hand.

„Jetzt gehst du ‘rein und gibst diesen Zettel an der Kasse ab. Dann kriegst du massenhaft Geld. Ich warte hier auf dich. Und morgen sind wir in Schweden!“ Anny blickte auf das Stück Papier. „Aber, Mandus, das ist ja der Scheck für die Rieger!“

„Ja, das ist okay! Zum Teufel, nun geh schon!“ „Aber der ist ja geklaut, Mandus!“ „Quatsch, wir pumpen das Geld bloß für ein paar Tage. Die

Chance müssen wir ausnutzen, Anny, sonst bleiben wir noch jahrelang bei Nils Furubö hängen, und du kriegst noch mehr Dresche. Wenn wir erst in Schweden sind, können wir das Geld bald zurückschicken, denn da finden wir im Handumdrehen einen Job. Das macht doch wohl nichts, sich für ein paar Tage Geld zu pumpen – oder?“

Als Anny noch immer zögerte, begann er zu drohen. Wenn sie jetzt kneifen wolle und sich nicht als Kamerad erweise, werde er erzählen, daß sie am letzten Samstag den Sigward geküßt und mit dem John Schnaps getrunken hatte, und dann solle sie mal sehen, wie Nils sie verhauen werde.

„Ehrenwort, daß du das Geld sofort zurückschickst?“ fragte sie schließlich, und natürlich versprach er es hoch und heilig.

Daraufhin ging Anny in die Bank und gab den Scheck ab. Doch als sie gebeten wurde zu warten, bekam sie Angst. Sie hatte ja geglaubt, sie bekäme die dreitausend Kronen sofort ausgezahlt. Sie sah, wie der junge Kassierer zu einem älteren Mann ging und ihm den Scheck zeigte. Dieser besah ihn genau von beiden Seiten und griff zum Telefon. Da lief Anny hinaus.

„Schnell, Mandus, ehe sie uns erwischen“, flüsterte sie und rannte in die nächste Seitenstraße, weiter und weiter.

„Da stimmte was nicht“, erklärte sie, als sie schließlich keuchend stehen blieben, „die haben mir kein Geld gegeben. Die haben den Scheck angeguckt und dann telefoniert, und…“

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Mandus kochte vor Wut, und sein Zorn ergoß sich über Annys Haupt. Sie sei ein Angsthase und ein Trottel, und jetzt könne sie sehen, wie sie allein fertig würde – und damit verschwand Mandus auf Nimmerwiedersehen.

Nachdem ich dies alles erzählt hatte, mußte ich erst einmal tief Luft holen. Torbjörn wandte sich Anny zu. Seine Stimme war ganz weich, als er voller Mitgefühl fragte:

„Und wie bist du in Oslo zurechtgekommen, Kleine?“ „Och, ich hab’ einen Jungen kennengelernt, der hat mir ein

Abendbrot spendiert und nachher auch Geld gegeben.“ Niemand fragte, was der Junge als Entgelt für Abendessen und

Geld verlangt habe. Anny schien noch zwei oder drei weitere Jungen kennengelernt zu

haben. Aber nach ein paar Tagen stand sie wieder hungrig und ohne Geld in Oslo und wußte nicht ein noch aus. Daraufhin schlich sie sich ohne Fahrkarte in einen Zug und versteckte sich in der Toilette, als der Kontrolleur kam. Während der Bahnbeamte in das nächste Abteil ging, huschte Anny in einen Wagen, der bereits kontrolliert war. So entwischte sie immer wieder dem Schaffner, bis der Zug eine Station vor Solmyr hielt. Dort stieg sie aus. Aber es waren noch beinahe zwanzig Kilometer bis Solmyr, und Annys Schuhsohlen waren durchgelaufen und die Strümpfe so schmutzig, daß sie an den Füßen klebten. Ein Stück weit konnte sie auf einem Lastwagen mitfahren, aber die letzten fünf Kilometer mußte sie wieder laufen. Es war später Nachmittag, als sie heimkam.

Sie hatte sich alles so fein ausgedacht. Um diese Zeit nämlich pflegte Nils Furubö seinen täglichen Gang zur Post und zum Kaufmann zu machen, und seine Schwester war im Stall. Anny wollte ins Haus schleichen, sich aus der Speisekammer etwas Eßbares und aus dem Schrank frische Wäsche und ein Kleid holen und rasch wieder verschwinden.

Als sie lautlos die Küchentür öffnete, stand der Pflegevater vor ihr. Anny schnappte nach Luft. Da hatte er schon nach dem Stock gegriffen, und dann ging die Hölle los.

Danach wurde Anny eingesperrt, aber nicht in ihrem Zimmer, sondern oben in einer Giebelkammer.

Als sie nach der Mißhandlung wieder einigermaßen zu sich kam, fand sie sich in einem fast dunklen Raum, in den nur durch eine Dachluke etwas Licht fiel. Sie kannte den Raum und wußte, daß in einer Ecke ein paar Säcke lagen und daß unter der Dachschräge eine

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Kiste mit allerlei Kram stand. Eine Zeitlang blieb sie bäuchlings auf dem Boden liegen. Ihr

ganzer Körper schmerzte noch, aber allmählich begann sie, einen Plan zu machen. Anny hatte noch nicht viel gelesen in ihrem Leben – außer ein paar Krimis, die Mandus ihr gab. Aus einem dieser Schmöker war ihr eine schöne Heldin in Erinnerung geblieben, die in einen Turm eingesperrt worden war und sich ein Seil aus ihren Kleidern geknüpft hatte.

Als es anfing zu dämmern, nahm Anny sich die Kiste vor und kramte darin herum, bis sie die Hälfte einer alten, verrosteten Schere fand. Damit trennte sie die Säcke auseinander und zerriß sie in lange Streifen, die sie aneinanderknotete. Ehe die Sonne aufging, hatte Anny sich auf diese Weise eine Art Tau gemacht.

Sie war klein und zierlich. Es gelang ihr, sich durch die schmale Dachluke ins Freie zu zwängen.

Als Nils Furubö und seine Schwester erwachten, hing das Tau aus Säcken aus dem Dachfenster, und Anny war fort. Auf wunden Füßen, schmutzig und elend und hungrig, mit blauen und grünen Striemen auf dem Körper, verließ Anny das Haus, das ihr Heim gewesen war.

Sie wandte sich nordwärts, denn sie erinnerte sich, gehört zu haben, daß in Geiterud Mädchen zur Hilfe bei der Ernte gesucht wurden. Unterwegs stahl sie aus einem Garten ein paar Mohrrüben. Dann traf sie zwei junge Arbeiter, die am Grabenrand saßen und frühstückten, und jeder gab ihr eine Scheibe Brot.

So ging Anny den ganzen Tag. Abends schlich sie in eine Scheune, wo man für die Katze eine Schüssel mit Milch hingestellt hatte. Die trank Anny aus.

Am nächsten Abend erreichte sie Geiterud und stieg den Weg nach Lyngbakken hinauf. Aber ihre Füße taten nun so weh, daß sie bald nicht mehr weiterkonnte.

Da sah sie Licht in einem Haus und ging darauf zu, weil sie hoffte, in der Nähe eine Scheune oder einen Schuppen zu finden. Zu ihrer Freude fand sie nicht nur eine Unterkunft, sondern auch noch einen Eimer mit Gemüseabfällen und Brotresten. Es war das Kaninchenfutter, das Geggi hinausgestellt hatte, um es am nächsten Morgen den Tieren zu geben. Anny aß davon und kroch dann in den Holzschuppen, wo sie die Nacht und den ganzen folgenden Tag verbrachte. Sie war so erschöpft, daß sie nur noch hier liegenbleiben und ausruhen wollte.

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Doch dann kam das nächtliche Unwetter, und den Rest ihrer Geschichte kannten wir.

Als Anny und ich schwiegen, war es eine Weile ganz still in der Stube. Schließlich stand Torbjörn auf.

„Armes kleines Mädel“, sagte er und strich Anny übers Haar. „Nun laß den Arzt mal deine bösen Striemen sehen, damit er dir ein Attest ausschreiben kann. Und dann wirst du auf keinen Fall zu Nils Furubö zurückgeschickt. Die Stockschläge, die er dir gegeben hat, waren die letzten in deinem Leben.“

Doktor Henning ging mit Anny in die Kammer, und es dauerte kaum zwei Minuten, bis er zurückkehrte.

„Verschafft mir etwas Schreibpapier!“ sagte er. „Und wo ist die Schreibmaschine von Frau Reinas?“

Geggi holte die Maschine und auch Papier, und der Arzt setzte sich hin und schrieb. Es schien mir, als ob die Typen eilfertig und aufgeregt unter seinen Fingern hüpften, um aller Welt, zumindest aber dem Fürsorgeamt, klarzumachen, daß für die arme, kleine, mißhandelte Anny etwas getan werden müsse.

Torbjörn steckte das Attest ein und sagte: „So, Kleine, jetzt unterschlagen wir dich, bis wir alle Räder in Bewegung gesetzt haben, um dir zu helfen. Wir werden uns deiner annehmen. – Nicht wahr, Christian?“ wandte er sich an seinen Bruder.

Der Doktor nickte. „Natürlich! Für Geggi und Gina wäre es viel zu gefährlich, sie hierzubehalten, denn man muß damit rechnen, daß Nils Furubö irgendwie Annys Spur findet. Ich schlage vor, du kommst zu uns, Anny. Ein Zimmerchen für dich haben wir, und meine Frau wird sich freuen, wenn du ihr ein bißchen in der Küche hilfst.“

„Und ich werde mich mit der Vormundschaft in Verbindung setzen“, sagte Torbjörn. „In meinem ganzen Leben bin ich noch nicht so froh gewesen wie heute, daß ich Jura studiert habe.“

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Der Mann mit dem Stock

Die einzige von uns, die am nächsten Morgen zur gewohnten Zeit erwachte, war Mette. Geggi und ich waren nach der durchwachten Nacht und dem ereignisreichen Tag danach so hundemüde, daß wir wahrscheinlich vierundzwanzig Stunden hintereinander geschlafen hätten, wäre Mette nicht so energisch und unverdrossen bemüht gewesen, uns zu wecken. Daß sie sich gewaschen hatte, möchte ich bezweifeln, aber angezogen war sie, und sie trug auch schon ihre „Hausfrau-Uniform“, die karierte Schürze mit den großen Taschen, als sie mich rücksichtslos wachrüttelte und verlangte, ich solle ihr die Haare kämmen und Frühstück machen. Dann kam Geggi an die Reihe. Die Kaninchen hätten Hunger, verkündete Mette mit durchdringender Stimme, und die Ziegen müßten gemolken werden.

Geggi und mir schien es, als hätten wir Blei in den Gliedern, aber unsere kleine Sklaventreiberin war unerbittlich.

Allmählich gelang es uns, die Augen offenzuhalten, und nachdem wir gefrühstückt hatten, fühlten wir uns wieder als Menschen, und das Mundwerk kam in Gang. Was hatten wir aber auch alles erlebt! Das mußte noch einmal gründlich beschwatzt werden.

Ob Torbjörn seine Aktion wohl schon heute starten würde? Was mochte Nils Furubö sagen, wenn er erfuhr, daß Anny sozusagen gekidnappt worden war? Und was würde das Jugendamt sagen? Und wenn Nils Furubö nun herausbekäme, daß Anny bei uns gewesen war! Himmel, daß er nur nicht hier auftauchte! Annys Erzählungen hatten mir mächtige Angst vor dem Kerl eingejagt.

„Wir wollen nur hoffen, daß die Leute vom Jugendamt den Mund halten“, sagte Geggi nachdenklich, „die müssen ja von Torbjörn die Wahrheit erfahren. Und wenn sie den Mann kommen lassen, um mit ihm zu sprechen, könnte es leicht sein, daß dabei von uns die Rede ist.“

Bei dieser Vorstellung war uns gar nicht behaglich zumute. Darum ließen wir das Thema lieber fallen. Gewiß würde Torbjörn uns bald wieder besuchen und viel zu berichten haben.

Also unterhielten wir uns über Assi und ihre Hochzeit, die im Oktober gefeiert werden sollte. Als Geggi die Tiere versorgt hatte und ich mit dem Abwaschen fertig war, setzten wir uns zusammen und zeichneten Entwürfe für unsere Brautjungfernkleider.

Diese ungemein unterhaltende Beschäftigung mußten wir bald

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unterbrechen, weil Hans Lyngbakken hereinkam und uns sein Töchterchen Inger brachte. Ehe die Kleine mit Mette hinausging, um mit dem Tannenzapfenstall zu spielen, plapperte Mette munter drauflos: bei uns sei auf einmal ein fremdes Mädchen gewesen mit ganz schwarzen Haaren, und der Onkel Torbjörn sei gekommen und der Onkel Doktor auch, und… Sie machte sich furchtbar wichtig, und Inger hörte äußerst interessiert zu und stellte neugierige Fragen. Ich war deshalb heilfroh, daß Anny nicht mehr bei uns war.

Hans Lyngbakken mußte wieder ein Telegramm an Assi aufgeben. Ich wollte ihr doch gleich sagen, wie glücklich ich über ihre Heirat sei und wie begeistert von Torbjörn.

„Das wird ja ein Vermögen kosten“, meinte Hans Lyngbakken erschrocken.

„Ich weiß“, sagte ich und drückte ihm zwei Hundertkronenscheine in die Hand. „Dieses Geld könnte gar nicht besser angelegt werden.“

Während ich damit beschäftigt war, die Fußböden zu reinigen, Staub zu wischen und das Mittagessen vorzubereiten, dachte ich immerzu an Assi.

„Ist es nicht komisch, Geggi“, sagte ich, „daß ich das nicht schon früher begriffen habe?“

„Was begriffen?“ fragte Geggi. „Daß ich für Assi jahrelang ein Klotz am Bein war, um es mal

kraß auszudrücken.“ „Das warst du keineswegs, Gina“, erwiderte Geggi. „Gewiß hat

Assi Opfer für dich gebracht, aber eins mußt du wissen, und du kannst dich darauf verlassen, daß es wahr ist: Assi tat es mit Freuden, weil sie dich so lieb hat.“

Ich mußte an einem Kloß im Hals schlucken. „Und eben das verstehe ich nicht“, sagte ich, als ich wieder

sprechen konnte, „so ein Wirbelwind und Nichtsnutz, wie ich immer gewesen bin.“

„Toll, wie du allmählich die Wahrheit erkennst“, sagte Geggi lächelnd. „Weißt du was? Ich habe fast den Verdacht, du bist auf dem Wege, erwachsen zu werden.“

Einen Augenblick lang stand ich da und starrte sie an. Dann sagte ich: „Weißt du was? Ich habe fast den Verdacht, du hast recht. Ich habe in den letzten Wochen über manches nachgedacht und vieles begriffen, was ich vorher nicht verstanden hatte. Ich merke selbst, daß ich anders geworden bin. Ich glaubte, es käme daher, daß Helga

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mir für mancherlei Dinge die Augen geöffnet hat, aber vielleicht spielt der Grund, den du nanntest, auch eine Rolle: daß ich auf dem Wege bin, erwachsen zu werden.“

„Na ja, irgendwann geschieht das eben mit jedem einmal“, meinte Geggi, „und bei dir war es in diesem Sommer soweit.“

„Was für ein Glück!“ sagte ich und lachte. „Stell dir vor, ich wäre noch so dumm wie vor einem Jahr. Dann säße ich jetzt da und heulte wie ein Schloßhund, weil Assi heiratet und mich verlassen will.“

„Bist du denn so sicher, daß sie das tun wird?“ fragte Geggi. „Ja, natürlich – oder richtiger gesagt, ich werde sie verlassen. Sie

kann doch nicht eine fast erwachsene Schwester mit in die Ehe bringen. Torbjörn und sie wollen schließlich für sich allein sein.“

„Da wird Assi schon Rat wissen“, meinte Geggi, „sie hat bisher noch immer einen Ausweg gefunden. Warum sollte ihr das nicht auch diesmal gelingen?“

„Gewiß“, sagte ich, dachte eine Weile nach und fügte dann hinzu: „Aber diesmal darf sie auf keinen Fall wieder ein Opfer bringen. Der Ausweg müßte so aussehen, daß sie dabei mit Torbjörn allein bleibt und glücklich wird. Zeit wird’s allmählich.“

Heute hatte Geggi Post bekommen. Ihre Eltern schrieben aus Spanien, daß sie in vierzehn Tagen zurückkämen. Wenn Geggi und ich schon früher nach Oslo wollten, sollten wir nur ruhig fahren. Wir seien ja wohl imstande, allein für uns zu sorgen. Und natürlich könnte ich bei ihnen bleiben, bis Assi aus Amerika zurückkäme. Geggis Brief habe sie zuerst sehr erschreckt, dann hatten sie ihn aber ein zweites Mal gelesen und langsam begriffen, daß wir in Sicherheit seien. Falls wir aber noch Rat und Hilfe brauchten, sollten wir uns an Onkel Pauls Freund und Kollegen Reider Markmann in Oslo wenden, der inzwischen aus dem Urlaub zurückgekehrt sei.

So, nun wußten Geggis Eltern und Assi, was wir erlebt hatten, und waren beruhigt. Das war gut.

Alles wußten sie allerdings noch nicht. Oh, sie würden ja Augen machen, wenn wir ihnen von der Gewitternacht, dem Schuppenbrand und von Anny erzählten! Hans Lyngbakken hatte nicht nur den Brief für Geggi mitgebracht, sondern auch ein paar Zeilen von Torbjörn an mich:

Liebes Ginalein! Heute kann ich nicht zu Euch kommen, weil ich in Sachen A. viel

herumfahren muß. Ich soll Euch von ihr grüßen. Sie ist sehr

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schweigsam und geht mit staunenden Augen umher. Aber sonst ist sie freundlich und hilft willig im Haus. Meine Schwägerin hat wie Du angefangen zu weinen, als sie Annys Geschichte hörte, und sie ist ebenso gern bereit, dem Mädchen zu helfen, wie Ihr, mein Bruder und ich. Wenn ich es schaffen kann, komme ich morgen auf einen Sprung zu Euch. – Herzliche Grüße Dein Schwager Torbjörn

Nach dem Essen warfen Geggi und ich uns auf die Betten. Zum Glück war Mette einverstanden mit einer Mittagsruhe. Kaum lagen unsere Köpfe auf den Kissen, da waren wir schon eingeschlafen, und hätten die Ziegen nicht so laut und empört unter unserem Fenster gemeckert, wer weiß, wann wir wach geworden wären.

Aber die Mittagsruhe hatte zur Folge, daß wir abends hellwach und munter waren, so daß wir, nachdem wir Mette im Bett hatten, noch schwatzend in der Stube saßen, als es schon fast zehn Uhr war.

„Nein, nun aber Schluß!“ sagte Geggi. „Wir müssen machen, daß wir ins Bett kom… Pst, was war das?“

Wir horchten. In der Stille hier oben wirkte jeder ungewohnte Laut beunruhigend.

„Da kommt jemand“, sagte Geggi, die hinausblickte. Es war noch nicht vollkommen dunkel draußen. „Gina“, flüsterte sie, „es ist ein Mann – zu Fuß!“

Nun drückte ich das Gesicht ans Fenster. Soviel ich sehen konnte, war der Mann groß und kräftig und…

„Oh, Geggi, er hat einen Stock in der Hand“, flüsterte ich aufgeregt, „es ist doch nicht etwa…“

„Hast du das Tonband bereitliegen?“ fragte Geggi leise. „Ja, ich schalte das Gerät sofort ein. Gehst du hinaus zu ihm?“ „Ja, und wenn ich rufe: ,Ist Vater drin?’, dann tust du, als ob du

mit jemandem sprichst, und läßt das Band ablaufen und antworten, verstehst du?“

„Klar!“ flüsterte ich. Da klopfte es an der Tür, und Geggi ging hinaus und fragte: „Was

wollen Sie hier?“ Die Antwort des Mannes konnte ich nicht verstehen, aber da hörte ich schon Geggis Stimme. Laut und deutlich sagte sie: „Ist Vater drin?“

„Ja, ja, ich werde ihn rufen“, antwortete ich. Ich machte ein paar Schritte durch die Stube, dann sagte ich, mit der Hand an der Stoptaste: „Vater, da ist einer, der dich sprechen möchte.“

Dann ließ ich das Band laufen, und die Stimme des Doktors sagte:

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„Was ist denn nun schon wieder los? Ist es denn in diesem Hause nicht möglich, einen Augenblick Ruhe für die Arbeit zu haben?“

Ich wußte, daß nun eine Pause kam, und sagte schnell: „Ein Mann ist da. Ich weiß nicht, wer es ist.“

„Na ja, warte, ich komme…“ Das Band lief weiter, und dann geschah etwas, was ich durchaus nicht erwartet hatte. Im Flur erklang ein schallendes Gelächter. Die Tür zur Wohnstube wurde aufgerissen – und da stand der Mann mit dem Stock.

„Dieser Doktor Henning ist wahrhaftig ein einfallsreicher Mann! Aber seine Stimme kenne ich leider ein bißchen zu gut. – Ist Mette schon im Bett?“

„Ja…“ „Lauf bitte zu ihr hinauf, Gina“ – woher kannte er meinen

Namen? – , „und hol sie. Mir fällt das Treppensteigen noch zu schwer. Sag ihr, sie solle schnell herunterkommen, der Vati sei da.“

Zwei Minuten später saß Egil Reinas bei uns und Mette auf seinem Schoß. Geggi und ich rannten umher wie aufgescheuchte Hühner. Wir hatten in den letzten Tagen so viel Aufregendes erlebt, daß wir kaum imstande waren, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Nur Mette und ihr Vater benahmen sich normal.

„Wieso mußten Sie denn zu Fuß heraufkommen?“ fragte Geggi schließlich.

„Sagt ruhig du zu mir“, sagte Egil Reinas lächelnd, „mir jedenfalls kommt es so vor, als ob ich euch schon lange kenne. – Ich bin übrigens nicht die ganze Strecke zu Fuß gegangen, sondern hatte das Glück, als ich mit dem letzten Abendzug ankam, einen jungen Bekannten zu treffen, der mich mit seinem Moped den Lyngbakken-Weg hinauf bis zur Abzweigung gebracht hat. Dann mußte er rasch umkehren, weil sein Mädchen wartete. Mein Gepäck ist noch am Bahnhof, das muß Hans Lyngbakken morgen holen. – Ich soll euch alle drei schön grüßen, das Mettekind von der Mutti und euch beide von Helga.“

„Wie geht es ihr?“ fragten Geggi und ich wie aus einem Munde. „Soweit ganz gut. Sie ist zwar noch ein wenig angegriffen, aber

sie erholt sich zusehends. – Weißt du was, Mette?“ Egil Reinas faßte sein Töchterchen bei den Schultern und stellte es vor sich hin. „Weißt du was? Heute früh um sechs Uhr bist du eine große Schwester geworden, denn genau um diese Zeit kam ein Brüderchen zur Welt.“

Mette strahlte übers ganze Gesicht und sah den Vater mit großen

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Augen an. „Wie klein ist es denn, Vati?“ „Ganz, ganz klein. Es wiegt nicht mehr als – als…“ „Als zwei Liter Wasser“, meinte Geggi. „Na, gießen wir noch gut ein Viertelliter hinzu“, sagte Egil

Reinas. „Um ganz genau zu sein: es wiegt zweitausenddreihundert Gramm. Das ist nicht viel, aber der Junge ist gesund und wohlgestaltet und wird schnell wachsen und zunehmen.“

„Wann kommt Helga wieder nach Hause?“ fragte ich. „Ach, das wird sicher noch zwei Wochen dauern, denke ich. Aber

übermorgen kommt deine Großmama, Mette. Freust du dich?“ „Ja“, sagte Mette nachdenklich, „aber Geggi und Gina reisen

deshalb doch nicht gleich ab?“ „Hoffentlich nicht“, sagte Egil Reinas. Er wandte sich zu uns um

und fuhr ganz ernsthaft fort: „Eigentlich müßte ich eine Rede halten, eine Dankesrede, weil ihr für unsere kleine Mette und für Haus und Hof so gut gesorgt habt…“

„Vati, der Schuppen ist abgebrannt“, unterbrach Mette ihn. Sie hatte noch nicht gelernt, einen Menschen auf eine unangenehme Nachricht schonend vorzubereiten.

„Ich weiß“, sagte er, „mein Mopedfreund hat’s mir erzählt. Aber es hätte ja viel schlimmer kommen können. Hauptsache, ihr seid gesund und munter.“

„Und die Ziegen und die Kaninchen auch“, fügte Mette hinzu. Endlich ging uns auf, daß wir Egil Reinas ja noch gar nicht zur

glücklichen Geburt seines Sohnes gratuliert hatten! Spätabends mußte ich noch die beiden Betten in der Kammer

hinter der Küche herrichten. Egil Reinas war aus dem Krankenhaus nur unter der Bedingung entlassen worden, daß er in den ersten vierzehn Tagen daheim keine Treppen steige. Als Mette hörte, daß der Vater vorerst in der Kammer wohnen werde, verlangte sie energisch, auch dort zu schlafen.

„Weil ich Vati doch so lange nicht gesehen habe“, erklärte sie. Während ich die Laken glattstrich und Geggi mir half, die Kissen

und Decken zu beziehen, trafen sich unsere Blicke, und wir mußten lachen.

„Was bekomme ich, wenn ich errate, woran du denkst, Geggi?“ fragte ich.

„Gar nichts! Du weißt genau, daß ich an das gleiche denke wie du, nämlich an unseren ersten Abend hier, als wir die Betten für uns bezogen und Helga unbeschreiblich dankbar waren, daß sie uns bei

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sich aufnahm.“ „Und dabei ahnte sie noch nicht einmal, wieviel sie damit für uns

tat! Und stell dir vor, Geggi, wir wären an jenem Nachmittag weitergegangen und hätten Helga gar nicht kennengelernt…“

„Und was haben wir in diesem Sommer alles erlebt, weil wir sie kennenlernten“, sagte Geggi.

Ich stand da, mit einem Kissen in den Händen. Meine Gedanken liefen rückwärts, von einem Tag zum anderen.

„Wäre Assis Scheckheft bei ihrer Abreise nicht leer gewesen, hätte ich den Scheck gleich bekommen“, sagte ich nachdenklich, „dann hätten wir in der Pension Goldlack ordnungsgemäß jede Woche bezahlt – und uns zu Tode gelangweilt!“

„Und Mandus hätte aus Annys Posttasche keinen Brief stehlen können…“

„Und Anny wäre um die furchtbaren Stockschläge herumgekommen.“

„Nein, die hätte sie bei der nächsten Gelegenheit sowieso gekriegt“, meinte Geggi mit finsterer Miene, „und niemand hätte ihr geholfen und sich ihrer angenommen. Und sie wäre nicht in das Haus von Doktor Henning gekommen, wo es ihr gutgeht.“

„Und ich hätte Torbjörn nicht getroffen“, fuhr ich fort. „Und du hättest nicht angefangen nachzudenken, Gina, und wärst

vielleicht noch nicht auf dem Wege, erwachsen zu werden.“

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Assi und Torbjörn

Im blendenden Licht der Augustsonne lag hinter uns das große Verwaltungsgebäude des Flughafens Oslo-Fornebu und vor uns das scheinbar endlose Gelände mit den Landebahnen.

Immerzu ertönten die Stimmen der Ansager aus den Lautsprechern, Autos fuhren hin und her, um die Passagiere von und zu den Maschinen zu bringen.

Torbjörn und ich waren den anderen Wartenden gegenüber im Vorteil. Wir brauchten nicht hinter den Schaltern in der großen Halle zu bleiben. Als Verlobter und Schwester der berühmten Sängerin Assi Rieger durften wir hinaus auf den Flugplatz, zusammen mit den Presse- und Fernsehleuten.

Immer schwerer fiel es mir stillzustehen, und mein Blumenstrauß wanderte ständig von einer Hand in die andere.

„Nervös, Gina?“ fragte Torbjörn. „Nein – doch.“ Meine Zunge fuhr über meine trockenen Lippen.

„Ich werde heilfroh sein, wenn die Maschine gelandet ist. Das verstehst du doch, weil…“

„Ja, ja, ich weiß, Gina. Aber sieh mal, Gefahren gibt es im Leben immer und überall, ob man fliegt, im Auto fährt oder zu Fuß über die Straße geht. Wenn ich so ruhig bin, kannst du es dann nicht auch sein? Du wartest auf deine liebe Schwester, aber ich – ich warte auf den Menschen, der mir alles im Leben bedeutet.“

Ich wandte keinen Blick von dem blauen Himmel, während ich auf die Stimme im Lautsprecher horchte. Wurde denn noch immer nicht Assis Flugzeug angekündigt?

Torbjörn begann, sich mit mir zu unterhalten. Wahrscheinlich sah er mir an, wie ängstlich ich trotz aller guten Vorsätze war, und wollte mich ablenken.

„Ich soll dir Grüße von meinem Bruder ausrichten, Gina“, sagte er, „gestern bekam ich einen Brief von ihm.“

„Wie nett – danke! Hat er etwas über Anny geschrieben?“ „Ja, natürlich. Sie hat sich nun völlig beruhigt, nachdem sich das

Jugendamt ihrer Sache angenommen hat und damit einverstanden ist, daß sie bei meinem Bruder bleibt. Inzwischen hat man festgestellt, daß das Mädel recht geschickt im Nähen ist, und so soll sie eine Ausbildung als Schneiderin erhalten.“

„Damit hat sie was Sicheres fürs ganze Leben“, meinte ich,

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„geschickte Schneiderinnen werden immer gesucht. Aber weißt du, Torbjörn, etwas verstehe ich noch nicht: wie hast du es geschafft, Anny vor einer Anklage wegen Scheckfälschung zu bewahren? Schließlich war sie doch Mitwisserin, ja sogar mitbeteiligt an einem fast gelungenen…“

„Sie ist ja minderjährig und hat die Reichweite dessen, worauf sie sich einließ, gar nicht überschauen können. Außerdem hat Mandus ihr gedroht, sie also unter Druck gesetzt. Hinzu kamen die Mißhandlungen, die sie vorher erdulden mußte. Darauf konnte ich mich berufen, als ich mich für sie einsetzte, und erreichen, daß keine Anklage gegen sie erhoben wurde. Das war ein Glück. Es hätte ja nur noch gefehlt, daß das arme Mädel zu allem Überfluß einem Prozeß ausgesetzt worden wäre. Dagegen kann Mandus noch einiges erwarten, wenn er gefunden wird. Vorläufig ist er wie vom Erdboden verschluckt.“

„Und Nils Furubö?“ „Der wird auch nichts zu lachen haben. Er wird sowohl für die

Mißhandlung eines Pflegekindes bestraft als auch dafür, daß er Hand an eine Achtzehnjährige gelegt hat.“

„Er sollte selber Stockschläge kriegen!“ sagte ich empört. „Meinst du, er würde davon ein besserer Mensch?“ fragte

Torbjörn trocken. „Du bist unlogisch, liebe Schwägerin. Erst verdammst du ihn als Schläger, und dann möchtest du am liebsten dasselbe tun.“

„Ja, aber, Torbjörn…“ Ich schwieg und horchte, denn wieder meldete sich die Stimme im Lautsprecher. Diesmal war es Assis Maschine, die gemeldet wurde.

Da – jetzt brauste sie über unsere Köpfe hinweg, setzte weit von uns entfernt auf, rollte aus, wendete und kam dann langsam auf uns zu. Immer größer und größer wurde sie, machte, kaum fünfzig Meter vor uns, nochmals eine elegante Wendung und blieb stehen – ein riesiger, silbern glänzender Vogel.

Ein Mann in Uniform nickte uns zu, und wir folgten ihm, und hinter uns kamen die Reporter und Kameraleute. Es war das erste Mal, daß ich bei einem offiziellen Empfang auf dem Flugplatz stand. Bisher kannte ich diese Zeremonien nur aus den Berichten der Wochenschau und des Fernsehens.

Die Treppe wurde an die Kabinentür gerollt – hinter uns begannen die Kameras zu surren.

Am Abend saßen Assi, Torbjörn und ich vor dem Fernsehapparat

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und sahen alles noch einmal – und uns selbst dazu. Assi hatte sich auf dem Sofa in Torbjörns Arm geschmiegt, und

ich hockte vor ihr auf einem Sitzkissen. Auf dem Fernsehschirm erschienen, von der Seite gesehen,

Torbjörn und ich im Bild, dann kam Assi die Gangway herab, ich überreichte ihr die Blumen, Torbjörn umarmte sie, die Reporter drängten heran, und sie beantwortete lächelnd ihre Fragen. Dann folgte die Großaufnahme, die später in der Halle gemacht worden war und auf der Assi einen Arm um Torbjörns Schultern legte, den anderen um meine. Nie zuvor hatte ich ein so schönes Bild von meiner Schwester gesehen, noch nie hatten ihre guten, schönen Augen so geleuchtet vor Freude.

Das alles sahen nun zahllose Menschen überall im Land, und sie hörten die sich überstürzenden Fragen der Interviewer und Assis ruhige, liebenswürdige Antworten.

Aber es waren auch Worte gesprochen worden, die nur ich gehört, die kein Mikrophon aufgenommen hatte, Worte, die Assi mir zuflüsterte, als sie mich am Fuße der Treppe an sich drückte:

„Gina, noch nie in meinem ganzen Leben bin ich so glücklich gewesen wie heute. Du liebes, gutes, tüchtiges, großes Schwesterchen, du! Du bist es, der ich alles zu verdanken habe!“

Das stimmte nun wohl nicht so ganz. Es war aber schön, daß sie es sagte.

Ende