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05.02.2014 Grundlagen der Industrie- und Organisationssoziologie 13. Arbeitsbeziehungen und Interessenorganisation Prof. Dr. Birgit Blättel-Mink e-mail: [email protected]

Grundlagen der Industrie- und Organisationssoziologie · 05.02.2014 Grundlagen der Industrie- und Organisationssoziologie 13. Arbeitsbeziehungen und Interessenorganisation Prof. Dr

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05.02.2014

Grundlagen der Industrie- und

Organisationssoziologie

13. Arbeitsbeziehungen und Interessenorganisation

Prof. Dr. Birgit Blättel-Mink

e-mail: [email protected]

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Arbeitsbeziehungen und Interessenorganisation

Lektüre

Müller-Jentsch, Walther (1995): Auf dem Prüfstand: Das deutsche Modell der

industriellen Beziehungen. In: Industrielle Beziehungen. Zeitschrift für Arbeit,

Organisation und Management, (2)1, S. 11-24.

Wiesenthal, Helmut/Clasen, Rolf (2003): Gewerkschaften in Politik und

Gesellschaft: Von der Gestaltungsmacht zum Traditionswächter. In: Schröder,

Wolfgang/Weßels, Bernhard (Hrsg.): Gewerkschaften in Politik und

Gesellschaft der Bundesrepublik - Ein Arbeitsbuch. Westdeutscher Verlag:

Opladen, S. 298-324.

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Arbeitsbeziehungen und Interessenorganisation

Inhalt

1. Begriffsarbeit – Intermediäre Organisationen

2. Das Deutsche Modell industrieller Beziehungen

3. ... in der Krise?

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Intermediäre Organisationen

Der Begriff des bzw. der Intermediären Strukturen kommt

vorwiegend im politisch-soziologischen Kontext zur Anwendung und

charakterisiert die zwischen der politisch interessierten

Bevölkerung auf der einen und dem eigentlichen

Regierungssystem auf der anderen Seite zwischengeschalteten

Organisationsformen.

Intermediäre Strukturen dienen generell der Vermittlung

zwischen BürgerInnen und Politik und übernehmen daher eine

wichtige Rolle zur Transformation politischer Inhalte und

Entscheidungen zwischen der gesellschaftlichen und der politischen

Ebene.

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Intermediäre Organisationen

Zum Intermediären System zählen neben den klassischen

Transformatoren der Parteien, Verbände und Vereine

aller Art unter anderem auch religiöse Vereinigungen,

NGOs, Soziale Bewegungen sowie Bürgerinitiativen.

Auch die Massenmedien können als intermediäre

Strukturen verstanden werden.

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5 05.02.2014

Arbeitsbeziehungen und Interessenorganisation

Gewerkschaften als Intermediäre Organisationen:

Mitgliedschaftslogik

Interesse an hohem Organisationsgrad der abhängig

Beschäftigten

Wandel der Erwerbsbiographie erfordert Anpassung an

individuelle Interessen – weg von der Gruppenlogik?

Einflusslogik

Beteiligung an gesamtgesellschaftlichen

Entscheidungsfindungsprozessen

(vgl. Wiesenthal/Clasen)

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6 05.02.2014

Arbeitsbeziehungen und Interessenorganisation

„Industrielle (oder Arbeits-; BBM) Beziehungen bezeichnen ganz allgemein die wirtschaftlichen Austauschprozesse und sozialen Kooperations- und Konfliktbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit beziehungsweise zwischen den sie repräsentierenden Akteuren in einem Betrieb, einem Wirtschaftszweig, einem Land oder einem (regulierten) transnationalen Wirtschaftsraum (z.B. Europäische Union).“ (Müller-Jentsch 2007: 9)

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Arbeitsbeziehungen und Interessenorganisation

Industrielle Beziehungen „umfassen des weiteren die aus diesen Interaktionen (und staatlichen Interventionen) hervorgehenden Normen, Verträge, Institutionen und Organisationen zur Regulierung der Arbeit.

Ihre Träger bzw. Akteure sind sowohl Verbände (Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen) als auch Gruppen und Personen beider Seiten sowie – als „dritte Partei“ – die mit Tarif-, Arbeits- und Sozialfragen befassten staatlichen Instanzen.“

(Müller-Jentsch 2007: 9)

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8 05.02.2014

Regelungsebenen

und Bereiche

Akteure

Typische

Regelungsverfahren

Normativer Output

Rechtlich-

institutioneller

Rahmen

Parlament

Arbeitsverwaltung

Arbeitsgerichte

Gesetzgebung

Verordnung

Gerichtsurteil

Rechtsnormen

Auflagen

Tarifautonomie

(Industriezweig;

sektoraler

Arbeitsmarkt)

Gewerkschaft

Arbeitgeberverband

Verhandlung

Schlichtung

Arbeitskampf

tarifvertragliche

Mindestnormen

Betriebsverfassung

(Unternehmen;

Betrieb)

Betriebsrat

Management

Mitbestimmung

Konsultation /

Information

Einigungsstelle

Betriebsvereinbarung

über Lohn- und

Arbeitsbedingungen

Arbeitsverfassung

(Produktionsprozeß

Arbeitsplatz)

(unmittelbare)

Vorgesetzte

Arbeitsgruppen

Anweisung/Kontrolle

kollektive Gegenwehr

(verdeckter

Arbeitskampf)

präskriptive

und

informelle

Leistungsnormen

Tripartismus

(staatl. Wirtschafts-

Beschäftigungs-,

Einkommenspolitik)

Spitzenverbände

(Gewerkschaften,

Arbeitgeberverbände)

Regierungsvertreter

Konsultation

Interessen-Clearing

„Konzertierte Aktion“

Leitlinien

Empfehlungen

Planungsdaten

Quelle: Müller-Jentsch 1997

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Fünf Merkmale industrieller Beziehungen in

Deutschland

1. Dualität: funktionale Differenzierung der Austragung und Verarbeitung von Konflikten

in zwei Arenen

Duales System der überbetrieblichen (Gewerkschaften) und betrieblichen (Betriebsrat)

Interessenvertretung, mit den Merkmalen Tarifautonomie und Betriebsverfassung.

„In der Arena Tarifautonomie verhandeln und vereinbaren die kollektiven Akteure

(im Gegensatz zu individuellen Akteure, die nicht organisiert sind und als

Repräsentanten für eine bestimmte Gruppe sprechen; BBM) Gewerkschaft und

Arbeitgeberverband vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, die

„Verkaufsbedingungen“ der Arbeitskraft (wie Lohnsätze, Arbeitszeiten,

Rahmenregelungen der Beschäftigungsverhältnisse), ... In der Arena

Betriebsverfassung regeln die Akteure Betriebsrat und Management die konkreten

Anwendungsbedingungen der Arbeitskraft, ...“

(Müller-Jentsch 1995: 14)

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10 05.02.2014

Fünf Merkmale industrieller Beziehungen in

Deutschland

2. Intermediarität: pragmatische Vermittlung zwischen den Interessen von Kapital und Arbeit

Sowohl die Gewerkschaften als auch die Betriebsräte vermitteln die Interessen von Arbeit und Kapital, d.h. sie verbinden die ArbeitnehmerInneninteressen mit den legitimen Interessen des Kapitals – wirtschaftliches Wachstum

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11 05.02.2014

Fünf Merkmale industrieller Beziehungen in

Deutschland

3. Starke Verrechtlichung: hohes Maß an rechtlicher Regulierung durch staatliche Gesetzgebung und Rechtsprechung der Arbeitsgerichte

Besonderheit in Deutschland, die einzelnen Elemente der industriellen Beziehungen wie Tarifautonomie, Flächentarifverträge, Betriebsverfassungsgesetz sind rechtlich abgesichert und damit einklagbar.

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12 05.02.2014

Fünf Merkmale industrieller Beziehungen in

Deutschland

4. Zentralisierung: zentralisierte und für ihren jeweiligen Organisationsbereich mit einem Monopol ausgestattete Verbände

Die gefundenen Kompromisse gelten für einen großen Teil der ArbeitnehmerInnen und Arbeitgeber.

Siehe Montanindustrie, Flächentarifverträge

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13 05.02.2014

Fünf Merkmale industrieller Beziehungen in

Deutschland

5. Repräsentativität: die Interessenorganisationen stellen Forderungen zwar im Namen ihrer Mitgliedschaft, können diese aber in relativer Unabhängigkeit von deren Zustimmung geltend machen

Die Gewerkschaften und der Betriebsrat repräsentieren die Interessen ihrer Mitglieder, wie auch die Arbeitgeberverbände. Aber sie haben den Freiraum, entsprechend der Zentralisierung und der Verrechtlichung relativ unabhängig von den von ihnen Vertretenen zu geltenden Abschlüssen zu kommen.

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14 05.02.2014

Tarifautonomie und Tarifvertrag

Tarifautonomie

„Jene Institutionen und Mechanismen, durch die die Verkaufs- und

zum Teil auch Anwendungsbedingungen der Ware Arbeitskraft in

freien Verhandlungen autonom geregelt und festgelegt werden.“

Tarifvertrag

„Der Tarifvertrag regelt die Rechte und Pflichten der

Tarifvertragsparteien und enthält Rechtsnormen, die den Inhalt, den

Abschluss und die Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie

betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen

können.“ (§ 1 Tarifvertragsgesetz)

(Müller-Jentsch)

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15 05.02.2014

Aktuelle Erosionstendezen

Organisationsgrad der Gewerkschaften

Dieser reicht von über 70% in den skandinavischen Ländern bis zum Teil deutlich unter 20% in vielen osteuropäischen Staaten.

Mit knapp über 20% liegt der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Deutschland im unteren Mittelfeld – Vgl. 2005: 40%

... und der Arbeitgeber

Deutschland knapp über 60% - Vgl. Österreich 100%, NL 85%; Fr 78%; Polen 20%

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16 05.02.2014

Aktuelle Erosionstendezen

In den meisten alten EU-Staaten Westeuropas besteht eine relativ hohe Tarifbindung zwischen 70% und 99%, während in der Mehrzahl der neuen EU-Staaten Osteuropas die Tarifbindung zum Teil deutlich unter 50% liegt. Im gesamteuropäischen Vergleich befindet sich Deutschland mit einer Tarifbindung von etwas über 60% im Mittelfeld. Betrachtet man hingegen nur die Gruppe der alten EU-Staaten, so weist Deutschland mittlerweile eine der niedrigsten Werte auf, der nur noch von Luxemburg und Großbritannien unterboten wird.

http://www.bundestag.de/dasparlament/2010/13-14/Beilage/006.html

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17 05.02.2014

Aktuelle Erosionstendezen

„In allen europäischen Ländern ist die Tarifbindung insgesamt höher als der

gewerkschaftliche Organisationsgrad, so dass überall auch

Nichtgewerkschaftsmitglieder durch Tarifverträge geschützt werden. Allerdings weisen

einige Staaten eine besonders große Diskrepanz zwischen Organisationsgrad und

Tarifbindung auf. Am deutlichsten wird dies in Frankreich, wo gerade noch 9 % aller

Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert sind, zugleich jedoch 95 % unter den

Geltungsbereich eines Tarifvertrages fallen. Eine sehr hohe Tarifbindung trotz

vergleichsweise niedrigem gewerkschaftlichen Organisationsgrad findet sich auch in

Spanien, Portugal und den Niederlanden. Schließlich liegt auch in Deutschland die

Tarifbindung immer noch dreimal höher als der Organisationsgrad der Gewerkschaften.“

http://www.bundestag.de/dasparlament/2010/13-14/Beilage/006.html

Flächentarifverträge weichen zunehmend Haustarifverträgen oder gar

Unternehmen, für die kein Tarifvertrag gilt.

Wilde oder geregelte Dezentralisierung und Verbetrieblichung!

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18 05.02.2014

Aktuelle Erosionstendezen

Gründe für die Krise

1. Hohe Arbeitslosigkeit - krasse Ungleichheiten zwischen Besitzern

und Nichtbesitzern eines Arbeitsplatzes

2. Unterhalb des Tariflohnniveaus bilden sich Koalitionen von

Arbeitgebern, die ihre Lohnkosten und womöglich ihre

Qualifizierungsaufwendungen reduzieren wollen und

ArbeitnehmerInnen, denen niedrige Bezahlung lieber ist als keine.

3. Wissensintensive Branchen verzichten auf Tarifverträge – im

Einklang mit den ArbeitnehmerInnen (Individuelle Arbeitsverträge!)

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19 05.02.2014

Aktuelle Erosionstendezen

Reformen bei den Gewerkschaften: Organizing

„…meint in diesem Zusammenhang ein Set von vielfältigen

Aktivitäten und Praktiken, die die gewerkschaftliche

Mitgliedergewinnung zur Steigerung des Organisationsgrades

zum Ziel haben.“ (Choi 2007)

„Organizing wird als strategischer Organisationswandel begriffen,

der über die bloße Mitgliedergewinnung hinaus Methoden,

organisatorische Formen und politische Ziele miteinander

kombiniert.“ (Dörre 2008)