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S224 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000 In früheren Jahren blieben nach ge- lenknahen Frakturen häufig funktionel- le Defizite zurück, die z. T. gravierend waren. Wesentlich verbesserte Operati- onsmethoden sowie erheblich verfeiner- te physiotherapeutische Behandlungs- methoden lassen heute frühzeitig eine Behandlung an jedem Gelenk zu. In der Folge von Frakturen finden sich immer Schmerz, Schwellung sowie eine Funktionsstörung, ausgelöst durch eine Verletzung der umgebenden Struk- turen. Physiotherapeutische Maßnah- men sind geeignet, an allen betroffenen Strukturen, wie Gefäßen, Muskeln und Sehnen, Kapseln und Bändern, zu wir- ken und diese in ihrer Funktion positiv zu beeinflussen. Ziel aller Bestrebungen sind der Er- halt bzw. die Wiedergewinnung einer koordinierten Gesamtbewegung. Daher sind von beiden Seiten, vom Arzt und vom Physiotherapeuten, Voraussetzun- gen zu schaffen, die eine frühfunktio- nelle Behandlung ermöglichen, um jede Struktur der ihr eigenen Funktion und Belastung rechtzeitig aussetzen zu kön- nen. Voraussetzungen für eine frühfunktionelle Behandlung Die Voraussetzung, die der Operateur für eine frühfunktionelle Behandlung schaffen muss, ist die Bewegungsstabi- lität. Die Sektion Physikalische Therapie in der DGU hat den Begriff der Bewe- gungsstabilität folgendermaßen defi- niert und zur Diskussion gestellt [3]: „Der Körperabschnitt ist im vorgegebenen Bewegungsausmaß bewegungsfähig. Diese Bewegung kann sowohl aktiv als auch passiv oder assistiv erfolgen. Dabei erhebt die passive oder assistive Bewegung den geringsten Anspruch an die Bewegungsfestigkeit der betroffenen Strukturen.“ Um frühfunktionell behandeln zu können,müssen Physiotherapeuten bio- mechanische Kenntnisse besitzen, diffe- renzierte Behandlungsmethoden be- herrschen und spezielle Behandlungs- richtlinien kennen. Behandlungsprinzipien Für den geregelten Ablauf einer physio- therapeutischen Behandlung bei gelen- knahen Verletzungen sind 4 Behand- lungsprinzipien zu nennen: 1. Behandlung der vor- und nachgeschal- teten Gelenke 2. Detonisierung der Muskulatur 3. Mobilisation des Bindegewebes 4. Verbesserung der Gleitvorgänge im be- troffenen Gelenk Trauma Berufskrankh 2000 · 2 [Suppl 2]: S224–S226 © Springer-Verlag 2000 Obere Extremitäten Evelyn Borlinghaus Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Murnau Grundsätze und Möglichkeiten der Physiotherapie bei gelenknahen Verletzungen E. Borlinghaus Leitende Physiotherapeutin, Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Murnau, Prof.-Küntscher-Straße 8, 82418 Murnau (e-mail: [email protected], Tel.: 08841-482581, Fax: 08841-482600) Zusammenfassung Die Grundsätze und Möglichkeiten der Phy- siotherapie bei gelenknahen Frakturen las- sen sich in 4 Behandlungsprinzipien zusam- menfassen: 1. Behandlung der vor- und nachgeschalteten Gelenke, 2. Detonisierung der Muskulatur, 3.Mobilisation des Bindege- webes und 4.Verbesserung der Gleitvorgän- ge im betroffenen Gelenk. Maßnahmen zu den einzelnen Behandlungsprinzipien wer- den vorgestellt. Grundsätzlich ist eine früh- funktionelle Behandlung anzustreben.Von physiotherapeutischer Seite sind dazu bio- mechanische Kenntnisse, differenzierte Be- handlungsmethoden und spezielle Behand- lungsrichtlinien erforderlich. Am Ende soll ein für den Patienten funktionell gutes Ge- samtergebnis stehen. Schlüsselwörter Gelenknahe Frakturen · Physiotherapie · Behandlungsprinzipien

Grundsätze und Möglichkeiten der Physiotherapie bei gelenknahen Verletzungen

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Page 1: Grundsätze und Möglichkeiten der Physiotherapie bei gelenknahen Verletzungen

S224 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000

In früheren Jahren blieben nach ge-lenknahen Frakturen häufig funktionel-le Defizite zurück, die z. T. gravierendwaren. Wesentlich verbesserte Operati-onsmethoden sowie erheblich verfeiner-te physiotherapeutische Behandlungs-methoden lassen heute frühzeitig eineBehandlung an jedem Gelenk zu.

In der Folge von Frakturen findensich immer Schmerz, Schwellung sowieeine Funktionsstörung, ausgelöst durcheine Verletzung der umgebenden Struk-turen. Physiotherapeutische Maßnah-men sind geeignet, an allen betroffenenStrukturen, wie Gefäßen, Muskeln undSehnen, Kapseln und Bändern, zu wir-ken und diese in ihrer Funktion positivzu beeinflussen.

Ziel aller Bestrebungen sind der Er-halt bzw. die Wiedergewinnung einerkoordinierten Gesamtbewegung. Dahersind von beiden Seiten, vom Arzt undvom Physiotherapeuten, Voraussetzun-gen zu schaffen, die eine frühfunktio-nelle Behandlung ermöglichen, um jedeStruktur der ihr eigenen Funktion undBelastung rechtzeitig aussetzen zu kön-nen.

Voraussetzungen für eine frühfunktionelle Behandlung

Die Voraussetzung, die der Operateurfür eine frühfunktionelle Behandlungschaffen muss, ist die Bewegungsstabi-lität. Die Sektion Physikalische Therapiein der DGU hat den Begriff der Bewe-gungsstabilität folgendermaßen defi-niert und zur Diskussion gestellt [3]:

„Der Körperabschnitt ist im vorgegebenen Bewegungsausmaß

bewegungsfähig.Diese Bewegung kann sowohl

aktiv als auch passiv oder assistiverfolgen. Dabei erhebt die

passive oder assistive Bewegungden geringsten Anspruch

an die Bewegungsfestigkeit der betroffenen Strukturen.“

Um frühfunktionell behandeln zukönnen, müssen Physiotherapeuten bio-mechanische Kenntnisse besitzen, diffe-renzierte Behandlungsmethoden be-herrschen und spezielle Behandlungs-richtlinien kennen.

Behandlungsprinzipien

Für den geregelten Ablauf einer physio-therapeutischen Behandlung bei gelen-knahen Verletzungen sind 4 Behand-lungsprinzipien zu nennen:

1. Behandlung der vor- und nachgeschal-teten Gelenke

2. Detonisierung der Muskulatur3. Mobilisation des Bindegewebes4. Verbesserung der Gleitvorgänge im be-

troffenen Gelenk

Trauma Berufskrankh2000 · 2 [Suppl 2]: S224–S226 © Springer-Verlag 2000 Obere Extremitäten

Evelyn BorlinghausBerufsgenossenschaftliche Unfallklinik Murnau

Grundsätze und Möglichkeitender Physiotherapie bei gelenknahen Verletzungen

E. BorlinghausLeitende Physiotherapeutin,Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Murnau,Prof.-Küntscher-Straße 8, 82418 Murnau(e-mail: [email protected],Tel.: 08841-482581, Fax: 08841-482600)

Zusammenfassung

Die Grundsätze und Möglichkeiten der Phy-siotherapie bei gelenknahen Frakturen las-sen sich in 4 Behandlungsprinzipien zusam-menfassen: 1. Behandlung der vor- undnachgeschalteten Gelenke, 2. Detonisierungder Muskulatur, 3. Mobilisation des Bindege-webes und 4.Verbesserung der Gleitvorgän-ge im betroffenen Gelenk. Maßnahmen zuden einzelnen Behandlungsprinzipien wer-den vorgestellt. Grundsätzlich ist eine früh-funktionelle Behandlung anzustreben.Vonphysiotherapeutischer Seite sind dazu bio-mechanische Kenntnisse, differenzierte Be-handlungsmethoden und spezielle Behand-lungsrichtlinien erforderlich. Am Ende sollein für den Patienten funktionell gutes Ge-samtergebnis stehen.

Schlüsselwörter

Gelenknahe Frakturen · Physiotherapie · Behandlungsprinzipien

Page 2: Grundsätze und Möglichkeiten der Physiotherapie bei gelenknahen Verletzungen

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000 S225

Behandlungsprinzip 1

Ziel des 1. Behandlungsprinzips ist es, sofrüh wie möglich wieder die Funktionder gesamten Bewegungskette in Gangzu bringen. Dazu sind die im Gehirn abgebildeten Alltagsbewegungsmusterständig von peripher her abzufragen,um sie auf diese Weise zu erhalten. Sogilt es, neben dem betroffenen Gelenkauch alle benachbarten Gelenke in ihrerFunktion zu betrachten und eine Har-monisierung der gesamten Gelenk- undBewegungskette,einschließlich der Hals-wirbelsäule, anzustreben.

Voraussetzung dafür sind ein rascherÖdemabbau sowie eine lokale Durch-blutungsverbesserung. Beides ist gezieltdurch eine frühzeitig einsetzende Lymph-drainage herbeizuführen,die den Ödem-abbau unterstützt, indem sie für einenraschen Abtransport von großmoleku-laren Substanzen sorgt.

Die allgemeine Durchblutungssitua-tion wird durch ein Training der nichtverletzten Extremitäten verbessert (Abb.1). Nach den Grundsätzen der medizini-schen Trainingstherapie sowie unterEinsatz der geeigneten Trainingsgeräte

werden damit sowohl die allgemeineLeistungsfähigkeit gesteigert als auchdie Muskelkraft verbessert.

In der Folge von Frakturen kann eszu Schonhaltungen kommen, die ihrer-seits zu Problemen an den Nachbarge-lenken führen können. Sie sind rechtzei-tig zu erkennen und über eine Hal-tungsschulung und eine Verbesserungder Gesamtstatik zu beeinflussen. Dabeiist besonderes Augenmerk auf die Hals-wirbelsäule zu legen.

Behandlungsprinzip 2

Das Ziel des 2. Behandlungsprinzips giltder Detonisierung aller beteiligten Struk-turen. Das ursächliche Trauma, die not-wendige Operation und eine evtl. ansch-ließende Ruhigstellung führen zu Rest-riktionen im Bindegewebe. In der Folgekommt es zu hypertonen Muskeln, diean ihren Ansätzen Schmerz auslösen.Diese Schmerzen sind wiederum geeig-net,die sympathische Reflextätigkeit mitall ihren negativen Folgen in Gang zusetzen. Diesen Kreislauf gilt es rechtzei-tig zu unterbrechen.

Von Anfang an ist daher auf eineLagerung der Gelenke in Ruhestellungzu achten. Dabei muss die Dauer der Ru-higstellung so kurz wie möglich sein, dasie entscheidend für das Ausmaß derBindegewebsrestriktionen verantwort-lich ist. Auch die Durchblutung wirddurch eine Ruhigstellung erheblich ver-

E. Borlinghaus

Principles and potential benefits of physiotherapy following injuries close to the joints

Abstract

The principles and potential benefits ofphysiotherapy following injuries close to the joints can be summarized as four treat-ment principles: (1) Treatment of the jointsat each side of the fracture; (2) lowering ofmuscule tone; (3) mobilization of the con-nective tissue; and (4) improvement of thegliding processes in the joint affected.Waysof realizing each of these treatment princi-ples are presented.The basic idea is to aimfor early functional treatment.The physio-therapist needs knowledge of biomechanics,the ability to apply precisely tailored meth-ods of treatment, and specific treatmentguidelines. A good overall functional resultas perceived by the patient is the ultimategoal.

Keywords

Fractures close to joints · Physiotherapy ·Treatment principles

Abb. 1 m Training der nicht verletzten Extremi-täten

Abb. 2 m Muskeldehnung innerhalb der Bewegungskette

Trauma Berufskrankh2000 · 2 [Suppl 2]: S224–S226 © Springer-Verlag 2000

Page 3: Grundsätze und Möglichkeiten der Physiotherapie bei gelenknahen Verletzungen

S226 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2000

Obere Extremitäten

langsamt. Schienen und Verbände dür-fen nicht drücken, da der durch denDruck entstehende Schmerz wiederumzu Durchblutungsstörungen im Sinn ei-ner gesteigerten sympathikotonen Re-flextätigkeit führen kann.

Die Detonisierung des Gewebes wirddurch die Behandlung mit Kälte odermit Wärme oder mit speziellen Elektro-therapieverfahren unterstützt.

Auch Muskeldehnungen innerhalbder gesamten Bewegungskette sind ge-eignet, Restriktionen im Bindegewebeentgegenzuwirken (Abb. 2). Kann dieMuskulatur in ihrer Gesamtlänge erhal-ten bleiben, kommt es zu keinen An-satztendopathien,Bewegungseinschrän-kungen als Folge verkürzter Muskelnkönnen erst gar nicht entstehen.

Behandlungsprinzip 3

Das 3. Behandlungsprinzip beinhaltet,bereits entstandene Bindegewebsrest-riktionen zu beseitigen (Abb. 3). DieGewebetraumatisierung mit entspre-chendem Ödem führt zu Verklebungenund bindegewebigem Umbau sowohl anSehnen und Bändern als auch in derMuskulatur. Dadurch kann die Gleit-fähigkeit des Gewebes verloren gehen,die Muskulatur verliert ihre Elastizität.Durch Kapsel-Band-Schrumpfungen undAdhäsionen der Synovia verliert das Ge-lenk seine normale Gleitfähigkeit. DieFolge ist der Verlust der Propriozeption.

Einfachste Möglichkeit, den Gleit-vorgang im Gewebe zu unterstützen,sind aktive Bewegungen. Um rotatori-sche Komponenten auszuschließen,sindsie jeweils nur einachsig auszuführen.

Über Techniken aus der Bindege-websmassage und über Querfriktionensind das Muskelgewebe sowie Sehnenund Bänder in ihrer Gleitfähigkeit gün-stig zu beeinflussen.

Behandlungsprinzip 4

Das letzte Behandlungsprinzip gilt derVerbesserung der Gelenkfunktion. Umden physiologischen Roll-Gleit-Vorgangim Gelenk zu erhalten bzw. wiederher-zustellen, stehen differenzierte Techni-ken aus der manuellen Therapie zur Ver-fügung, die es ermöglichen, das betrof-fene Gelenk unter Ausschaltung von He-beln gezielt zu behandeln. Dabei ist esmöglich, die eingeschränkte Bewe-gungsrichtung direkt zu mobilisieren.Dies kann sowohl vom distalen als auchvom proximalen Gelenkpartner her er-folgen, sodass zur Gelenkmobilisationimmer der intakte Gelenkpartner ge-nutzt werden kann (Abb. 4).

Diskussion

Die frühfunktionelle Behandlung vongelenknahen Verletzungen bringt nichtnur Vorteile für den Patienten. Auch Kostenträger ziehen daraus langfristi-gen Nutzen, denn die höheren Anfangs-kosten helfen, Spätfolgen und damit Fol-gekosten zu vermeiden.

So haben die von Böhler [1] vorüber 70 Jahren aufgestellten Forderun-gen nach frühfunktioneller Behandlungauch noch heute ihre Gültigkeit. Dieschönste anatomische Rekonstruktionbleibt aber nur ein Teilergebnis,wenn sienicht durch eine sachgerechte Physio-therapie ergänzt wird, damit es letzt-endlich zu einem funktionell guten Ge-samtergebnis für den Patienten kommt.

Literatur1. Böhler L (1938) Technik der Knochenbruch-

behandlung. Maudrich,Wien2. Kaltenborn FM, Evjenth O (1992) Manuelle

Mobilisation der Extremitätengelenke.Olaf Norlis Bokhandel, Oslo

3. Moorahrend U (1999) Definition rehabilita-tionsrelevanter Begriffe: Stabilitätsgrade.Unfallchirurg 102:225–226

Abb. 3 b Behandlung des Bindegewebes

Abb. 4 b Bewegungenvom proximalen oder distalen Gelenkpartneraus (nach dem Kalten-born-Evjenth-Konzept[2])