25

Gustave Le Bon - download.e-bookshelf.de

  • Upload
    others

  • View
    19

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Gustave Le Bon

Die Psychologie derMassenKomplettausgabe

Gustave Le Bon

Die Psychologie derMassenKomplettausgabe

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019Übersetzung: R. Eisler1. Auflage, ISBN 978-3-954187-54-6

null-papier.de/368

null-papier.de/katalog

I

II

Inhaltsverzeichnis

Zum Buch 3 .................................................................. Vorwort zur ersten Auflage 5 ....................................... Einleitung: Das Zeitalter der Massen 11 ......................

Entwicklung des gegenwärtigen Zeitalters 11 .................. Die Massen als Zerstörerinnen der Kultur 16 ................... Die Massen und der Staatsmann 18 ..................................

Erstes Buch: Die Massenseele 23 ................................. 1. Kapitel: Allgemeine Kennzeichen der Massen.

26 .................................................................................. 2. Kapitel: Gefühle und Sittlichkeit der Massen 39 .......... 3. Kapitel: Ideen, Urteile und Einbildungskraft der

Massen 67 ..................................................................... 4. Kapitel: Die religiösen Formen, die alle Überzeu-

gungen der Masse annehmen 80 ................................... Zweites Buch: Die Meinungen und Glaubensleh-ren der Massen 88 ........................................................

1. Kapitel: Entfernte Triebkräfte der Glaubenslehrenund Meinungen der Massen 92 .....................................

2. Kapitel: Unmittelbare Triebkräfte der Anschauun-gen der Massen 117 ......................................................

3. Kapitel: Die Führer der Massen und ihre Überzeu-gungsmittel 135 ............................................................

4. Kapitel: Grenzen der Veränderlichkeit der Grund-anschauungen und Meinungen der Massen 163 ...........

III

Drittes Buch: Einteilung und Beschreibung derverschiedenen Arten von Massen 180 .........................

1. Kapitel: Einteilung der Massen 182 .............................. 2. Kapitel: Die sogenannten verbrecherischen

Massen 187 ................................................................... 3. Kapitel: Die Geschworenen bei den Schwurge-

richten 193 .................................................................... 4. Kapitel: Die Wählermassen 203 .................................... 5. Kapitel: Die Parlamentsversammlungen 216 ...............

1

Danke

Danke, dass Sie sich für ein E-Book aus meinem Ver-lag entschieden haben.

Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben,schreiben Sie mir.

IhrJürgen Schulze

2

Newsletter abonnieren

Der Newsletter informiert Sie über:

die Neuerscheinungen aus dem ProgrammNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vielesmehr

https://null-papier.de/newsletter

3

Zum Buch

Unsterblich in seinem verlegerischen Eifer wurde derfranzösische Arzt Gustave Le Bon (1841-1931) durchein Buch »Die Psychologie der Massen« – SiegmundFreud und Max Weber zählten zu seinen Bewunde-rern. Aber auch Hitler und Göbbels sollen sich hierihre Blaupausen zur Manipulation der Massen ver-schafft haben.

Le Bon kämpft mit den Waffen der Freiheit: Auf-klärung und Intellekt - gegen die Barbarei der Masse,die, einmal auf den Weg gebracht, nichts aufhaltenkann. Er beklagt den »außerordentlichen geistigenTiefstand der Massen«, ihre Triebhaftigkeit, ihrenHass, ihre Wankelmütigkeit, ihre Manipulierbarkeit.

Die Politik als Theater, als Schauspiel, als emotio-nale Inszenierung war Le Bon zuwider. Als radikalerDemokrat, liberaler Freigeist, als Mensch der Vernunftmusste Le Bon an den Auswüchsen der Jahrhundert-wende 19/20 verzweifeln: Kriege, Massenpsychosen,Aberglauben, Rassenwahn allenthalben.

Prophetisch waren seine (nun über 100 Jahre al-ten) Worte zu den Massenmedien: »… Welches Blattwäre heute reich genug, seinen Schriftleitern eigneMeinungen gestatten zu können? Und welches Ge-wicht könnten diese Meinungen bei Lesern haben, die

4

nur unterrichtet oder unterhalten werden wollen undhinter jeder Empfehlung Berechnung wittern?...« –Hört man daraus nicht das »Lügenpresse-Grölen« inDresden?

Kein Buch zur politischen Welt war jemals so zeit-los.

Die Schar der Menschenschlächter umfasste unge-fähr dreihundert Mitglieder und zeigte vollkommendie Grundform einer ungleichartigen Masse. Abgese-hen von einer ganz geringen Anzahl gewerbsmäßigerBettler, bestand sie namentlich aus Händlern undHandwerkern aller Art, aus Schustern, Schlossern, Pe-rückenmachern, Maurern, Angestellten, Dienstmän-nern usw. Unter dem Einfluss der empfangenen Sug-gestion sind sie, wie der oben erwähnte Koch, völligüberzeugt davon, eine vaterländische Pflicht zu erfül-len. Sie üben ein doppeltes Amt aus, das des Richtersund das des Henkers, und halten sich in keiner Weisefür Verbrecher.

5

Vorwort zur ersten Auflage

Meine frühere Arbeit war der Darstellung der Rassen-

seele gewidmet.1

Hier wollen wir die Massenseele un-tersuchen.

Der Inbegriff der gemeinsamen Merkmale, die al-len Angehörigen einer Rasse durch Vererbung zuteilwurden, macht die Seele dieser Rasse aus. Wenn sichjedoch eine gewisse Anzahl solcher einzelnen massen-weise zur Tat vereinigt, so zeigt sich, dass sich aus die-ser Vereinigung bestimmte neue psychologische Ei-gentümlichkeiten ergeben, die zu den Rassenmerkma-len hinzukommen und sich zuweilen erheblich von ih-nen unterscheiden.

Die organisierten Massen haben zu allen Zeiteneine wichtige Rolle im Völkerleben gespielt, niemalsaber in solchem Maße wie heute. Die unbewussteWirksamkeit der Massen, die an die Stelle der bewuss-ten Tatkraft der einzelnen tritt, bildet ein wesentli-ches Kennzeichen der Gegenwart. Ich habe versucht,das schwierige Problem der Massen in streng wissen-schaftlicherweise zu behandeln, also methodisch undunbekümmert um Meinungen, Theorien und Doktri-nen. Nur so, glaube ich, kommt man zur Erkenntnisder Wahrheit, besonders, wenn es sich, wie hier, umeine Frage handelt, die die Geister lebhaft erregt. Der

6

Forscher, der sich um die Erklärung einer Erscheinungbemüht, hat sich um die Interessen, die durch seineUntersuchung berührt werden können, nicht zu küm-mern. Ein ausgezeichneter Denker, Goblet d’Alviella,hat in einer seiner Schriften gesagt, ich gehöre keinerzeitgenössischen Kritik an und träte zuweilen in Ge-gensatz zu gewissen Folgerungen aller Schulen. Hoff-entlich verdient die vorliegende Arbeit das gleiche Ur-teil. Zu einer Schule gehören heißt: deren Vorurteileund Standpunkte teilen müssen.

Ich muss jedoch dem Leser erklären, warum ichaus meinen Studien Schlüsse ziehe, welche von denenabweichen, die sich auf den ersten Blick daraus erge-ben, z.B. wenn ich den außerordentlichen geistigenTiefstand der Massen feststelle und doch behaupte, essei ungeachtet dieses Tiefstandes gefährlich, die Orga-nisation der Massen anzutasten.

Sorgfältige Beobachtung der geschichtlichen Tatsa-chen hat mir nämlich stets gezeigt, dass es ganz undgar nicht in unserer Macht steht, die sozialen Organis-men, die ebenso kompliziert sind wie andere Organisa-tionen, jäh tiefgehenden Umwandlungen zu unterwer-fen. Zuweilen ist die Natur radikal, doch nicht so, wiewir es verstehen; daher gibt es nichts Traurigeres fürein Volk als die Leidenschaft der großen Umgestaltun-gen, so vortrefflich sie theoretisch scheinen mögen.Nützlich wären sie nur dann, wenn es möglich wäre,die Seelen der Völker plötzlich zu ändern. Die Zeit al-lein hat diese Macht. Die Menschen werden von

7

Ideen, Gefühlen und Gewohnheiten geleitet, von Ei-genschaften, die in ihnen selbst stecken. Einrichtun-gen und Gesetze sind Offenbarungen unserer Seele,der Ausdruck ihrer Bedürfnisse. Da die Einrichtungenund Gesetze von der Seele ausgehen, wird sie von ih-nen nicht beeinflusst.

Das Studium der sozialen Erscheinungen lässt sichnicht von dem der Völker trennen, bei denen sie sichgebildet haben. Philosophisch betrachtet, könnendiese Erscheinungen unbedingten Wert haben, prak-tisch aber sind sie nur von bedingtem Wert.

Man muss also beim Studium einer sozialen Er-scheinung dieselbe Sache nacheinander von zwei ganzverschiedenen Gesichtspunkten aus betrachten. Wirsehen demnach, dass die Lehren der reinen Vernunftsehr oft denen der praktischen entgegengesetzt sind.Es gibt keine Tatsachen, auch nicht auf physischemGebiet, auf die sich diese Unterscheidung nicht anwen-den ließe. Vom Gesichtspunkt der unbedingten Wahr-heit aus sind ein Würfel, ein Kreis unveränderlichegeometrische Figuren, die mittels feststehender For-meln genau zu bestimmen sind. Für den Gesichtssinnkönnen diese geometrischen Figuren sehr mannigfa-che Formen annehmen. In der Wirklichkeit kann diePerspektive den Würfel in eine Pyramide oder in einQuadrat, den Kreis in eine Ellipse oder Gerade verwan-deln. Und diese angenommenen Formen sind von vielgrößerer Bedeutung als die wirklichen; denn sie sinddie einzigen, die wir sehen und die sich fotografisch

8

oder zeichnerisch wiedergeben lassen. Das Unwirkli-che ist in gewissen Fällen wahrer als das Wirkliche. Eshieße, die Natur umformen und unkenntlich machen,wollte man sich die Dinge in ihren streng geometri-schen Formen vorstellen. In einer Welt, deren Bewoh-ner die Dinge nur abbilden oder fotografieren könn-ten, jedoch nicht berühren, würde man nur sehrschwer zu einer genauen Vorstellung ihrer Form gelan-gen, und die Kenntnis dieser Form, die nur einer gerin-gen Zahl von Gelehrten zugänglich wäre, würde nurschwaches Interesse wecken.

Der Philosoph, der die sozialen Erscheinungen stu-diert, muss sich vor Augen halten, dass sie neben ih-rem theoretischen auch praktischen Wert haben unddass dieser vom Gesichtspunkt der Kulturentwicklungder einzig bedeutsame ist. Das muss ihn sehr vorsich-tig machen gegen die Folgerungen, welche die Logikihm zunächst einzugeben scheint. Auch andereGründe veranlassen ihn zur Zurückhaltung. Die sozia-len Tatsachen sind so verwickelt, dass man sie in ihrerGesamtheit nicht umfassen und die Wirkungen ihrerwechselseitigen Beeinflussung nicht voraussagenkann. Auch scheinen sich hinter den sichtbaren Tatsa-chen oft Tausende von unsichtbaren Ursachen zu ver-bergen. Die sichtbaren sozialen Tatsachen scheinendie Folgen einer riesigen, unbewussten Wirkungskraftzu sein, die nur zu oft unserer Untersuchung unzu-gänglich ist. Die wahrnehmbaren Erscheinungen las-sen sich den Wogen vergleichen, welche der Ober-

9

fläche des Ozeans die unterirdischen Erschütterungenmitteilen, die in seinen Tiefen vorgehen, und die wirnicht kennen. In den meisten Fällen zeigt die Hand-lungsweise der Massen eine außerordentlich niedrigeGeistigkeit; aber in anderen Handlungen scheinen sievon jenen geheimnisvollen Kräften gelenkt zu wer-den, welche die Alten Schicksal, Natur, Vorsehungnannten, die wir als die Stimmen der Toten bezeich-nen, und deren Macht wir nicht verkennen können, sounbekannt uns auch ihr Wesen ist. Oft scheint es, alsob die Völker in ihrem Schoß verborgene Kräfte tra-gen, von denen sie geführt werden. Kann etwas verwi-ckelter, logischer, wunderbarer sein als eine Sprache?Und entspringt nicht dies wohlgeordnete und feine Ge-bilde der unbewussten Massenseele? Die gelehrtestenHochschulen verzeichnen nur die Regeln dieser Spra-chen, wären aber nicht imstande, sie zu schaffen. Wis-sen wir sicher, ob die genialen Ideen der großen Män-ner ausschließlich ihr eigenes Werk sind? Zweifellossind sie stets Schöpfungen einzelner Geister, aber dieunzähligen Körnchen, die den Boden für den Keim die-ser Ideen bilden, hat die Massenseele sie nicht er-zeugt?

Gewiss üben die Massen ihre Wirkungskraft stetsunbewusst aus. Aber vielleicht ist gerade dies Unbe-wusste das Geheimnis ihrer Kraft. In der Natur gibt esWesen, die nur aus Instinkt handeln und Taten voll-bringen, deren wunderbare Mannigfaltigkeit wir an-staunen. Der Gebrauch der Vernunft ist für die

10

Menschheit noch zu neu und zu unvollkommen, umdie Gesetze des Unbewussten enthüllen zu könnenund besonders, um es zu ersetzen. Der Anteil des Un-bewussten an unseren Handlungen ist ungeheuer undder Anteil der Vernunft sehr klein. Das Unbewusste isteine Wirkungskraft, die wir noch nicht erkennen kön-nen. Wollen wir uns also in den engen, aber sicherenGrenzen der wissenschaftlich erkennbaren Dinge hal-ten und nicht auf dem Felde unbestimmter Vermutun-gen und nichtiger Voraussetzungen umherirren, sodürfen wir nur die Erscheinungen feststellen, die unszugänglich sind, und müssen uns damit begnügen.Jede Folgerung, die wir aus unseren Beobachtungenziehen, ist meistens voreilig; denn hinter den wahrge-nommenen Erscheinungen gibt es solche, die wir un-deutlich sehen, und hinter diesen wahrscheinlichnoch andere, die wir überhaupt nicht erkennen.

Le Bon

Psychologische Gesetze der Völkerentwick-1.lung. <<<

11

Einleitung: Das Zeitalter derMassen

Entwicklung des gegenwärtigen Zeitalters — Die gro-ßen Kulturwenden sind die Folge von Wandlungen imDenken der Völker — Der Glaube der Neuzeit an dieMacht der Massen — Er verändert die hergebrachte Po-litik der Staaten — Wie sich das Emporkommen derVolksklassen vollzieht und wie sie ihre Macht ausüben— Die Syndikate — Notwendige Folgen der Macht derMassen — Sie können nur eine zerstörerische Rollespielen — Durch sie vollendet sich die Auflösung derzu alt gewordenen Kulturen — Allgemeine Unkenntnisder Psychologie der Massen — Wichtigkeit des Studi-ums der Massen für Gesetzgeber und Staatsmänner

Entwicklung des gegenwärtigenZeitaltersDie großen Erschütterungen, welche den Kulturwen-den vorangehen, scheinen auf den ersten Blick durchbedeutsame politische Veränderungen bestimmt zusein: durch Völkerinvasion oder durch den Sturz vonHerrscherhäusern. Eine aufmerksame Untersuchungdieser Ereignisse enthüllt jedoch hinter ihren schein-baren Ursachen als wahre Ursache eine tiefgehende

12

Veränderung in den Anschauungen der Völker. Dassind nicht die wahren historischen Erschütterungen,die uns durch ihre Größe und Heftigkeit verwundern.Die einzigen Veränderungen von Bedeutung — die ein-zigen, aus welchen die Erneuerung der Kulturen her-vorgeht — vollziehen sich innerhalb der Anschauun-gen, der Begriffe und des Glaubens. Die bemerkenswer-ten Ereignisse der Geschichte sind die sichtbaren Wir-kungen der unsichtbaren Veränderungen des mensch-lichen Denkens. Wenn diese großen Ereignisse so sel-ten sind, so hat das seinen Grund darin, dass es nichtsBeständigeres in einer Rasse gibt als das Erbgut ihrerGefühle.

Das gegenwärtige Zeitalter bildet einen jener kriti-schen Zeitpunkte, in denen das menschliche Denkenim Begriff ist, sich zu wandeln.

Da die Ideen der Vergangenheit, obwohl halb zer-stört, noch sehr mächtig, und die Ideen, die sie erset-zen sollen, erst in der Bildung begriffen sind, so ist dieGegenwart eine Periode des Überganges und der Anar-chie.

Was aus diesem notwendig etwas chaotischen Zei-traum einmal hervorgehen wird, ist im Augenblicknicht leicht zu sagen. Auf welchem Grundgedankenwird sich die künftige Gesellschaft aufbauen? Wir wis-sen es noch nicht. Schon jetzt aber kann man vorausse-hen, dass sie bei ihrer Organisation mit einer neuenMacht, der jüngsten Herrscherin der Gegenwart, zurechnen haben wird: mit der Macht der Massen. Auf

13

den Ruinen so vieler, einst für wahr gehaltener undjetzt toter Ideen, so vieler Mächte, die durch Revolu-tionen nach und nach gebrochen worden sind, hatdiese Macht allein sich erhoben und scheint bald dieanderen aufsaugen zu wollen. Während alle unsre al-ten Anschauungen schwanken und verschwinden unddie alten Gesellschaftsstützen eine nach der andereneinstürzen, ist die Macht der Massen die einzige Kraft,die durch nichts bedroht wird und deren Ansehen im-mer mehr wächst. Das Zeitalter, in das wir eintreten,wird in Wahrheit das Zeitalter der Massen sein.

Vor kaum einem Jahrhundert bestanden die Haupt-triebkräfte der Ereignisse in der überlieferten Politikder Staaten und dem Wettstreit der Fürsten. Die Mei-nung der Massen galt in den meisten Fällen garnichts. Heute gelten die politischen Überlieferungen,die persönlichen Bestrebungen der Herrscher und de-ren Wettstreit nur noch wenig. Die Stimme des Volkeshat das Übergewicht erlangt. Sie schreibt den Königenihr Verhalten vor. In der Seele der Massen, nicht mehrin den Fürstenberatungen bereiten sich die Schicksaleder Völker vor.

Der Eintritt der Volksklassen in das politische Le-ben, ihre fortschreitende Umwandlung zu führendenKlassen, ist eines der hervorstechendsten Kennzei-chen unsrer Übergangszeit. Dieser Eintritt wird nichtdurch das allgemeine Stimmrecht gekennzeichnet,das lange Zeit so wenig einflussreich und anfangs soleicht zu lenken war. Die Geburt der Macht der Masse

14

entstand zuerst durch die Verbreitung gewisser Gedan-kengänge, die langsam von den Geistern Besitz ergrif-fen, sodann durch die allmähliche Vereinigung der ein-zelnen zur Verwirklichung der bisher theoretischenAnschauungen. Die Vereinigung ermöglichte es denMassen, sich, wenn auch nicht sehr richtige, so dochwenigstens ganz bestimmte Ideen von ihren Interes-sen zu bilden und das Bewusstsein ihrer Kraft zu erlan-gen. Sie gründen Syndikate, denen sich alle Machtha-ber unterwerfen, Arbeitsbörsen, die allen Wirtschafts-gesetzen zum Trotz die Bedingungen der Arbeit unddes Lohnes zu regeln suchen. Sie entsenden in die Par-lamente Abgeordnete, denen aller Unternehmungs-geist, alle Selbstständigkeit fehlt, und die oft nur zuWortführern der Ausschüsse, die sie gewählt hatten,herabgewürdigt wurden.

Heute werden die Forderungen der Massen nachund nach immer deutlicher und laufen auf nichts Ge-ringeres hinaus als auf den gänzlichen Umsturz der ge-genwärtigen Gesellschaft, um sie jenem primitivenKommunismus zuzuführen, der vor dem Beginn derKultur der normale Zustand aller menschlichen Ge-meinschaft war. Begrenzung der Arbeitszeit, Enteig-nung von Bergwerken, Eisenbahnen, Fabriken und Bo-den, gleiche Verteilung aller Produkte, Abschaffung al-ler oberen Klassen zugunsten der Volksklassen usw. —das sind ihre Forderungen.

Je weniger die Masse vernünftiger Überlegungfähig ist, umso mehr ist sie zur Tat geneigt. Die Orga-

15

nisation hat ihre Kraft ins Ungeheure gesteigert. DieGlaubenslehren, die wir auftauchen sehen, werdenbald die Macht der alten Glaubenslehren besitzen, d.h.die tyrannische und herrische Kraft, welche sich allerAuseinandersetzung entzieht. Das göttliche Recht derMassen wird das göttliche Recht der Könige ersetzen.

Die Lieblingsschriftsteller der jetzigen Bourgeoi-sie, die am besten deren etwas beschränkte Ideen, ihrekurzsichtigen Anschauungen, ihren allgemeingehalte-nen Skeptizismus und oft übermäßigen Egoismusschildern, geraten vor der neuen Macht, die sie heran-wachsen sehen, völlig außer Fassung und richten, umdie Verwirrung der Geister zu bekämpfen, einen ver-zweifelten Appell an die sittlichen Kräfte der Kirche,die sie einst so gering schätzten. Sie sprechen vomBankrott der Wissenschaft und erinnern uns an dieLehren der geoffenbarten Wahrheiten. Aber diese Neu-bekehrten vergessen, dass die Gnade, wenn sie sie wir-klich berührte, doch nicht die gleiche Macht über jeneSeelen hat, die sich wenig um das Jenseits kümmern.Die Massen wollen heute die Götter nicht mehr, dieihre ehemaligen Herren gestern noch verleugnetenund zerstören halfen. Die Flüsse fließen nicht zu ihrenQuellen zurück.

Die Wissenschaft hat mitnichten Bankrott ge-macht und hat nichts mit der gegenwärtigen Anarchieder Geister oder mit der neuen Macht zu tun, die in ih-rem Schoße emporwächst. Sie hat uns die Wahrheitverheißen oder wenigstens die Erkenntnis der Zusam-

16

menhänge, die unsrem Verstande zugänglich sind; siehat uns niemals den Frieden und das Glück verspro-chen. In überlegener Gleichgültigkeit gegen unsre Ge-fühle hört sie unsre Klagen nicht, und nichts vermaguns die Täuschungen wiederzugeben, die sie vertrieb.

Die Massen als Zerstörerinnender KulturAllgemeine Symptome, die bei allen Nationen erkenn-bar sind, zeigen uns das reißende Anwachsen derMacht der Massen. Was es auch bringen mag, wir wer-den es ertragen müssen. Alle Anschuldigungen sindnur nutzloses Gerede. Vielleicht bedeutet der Aufstiegder Massen eine der letzten Etappen der Kulturen desAbendlandes, die Rückkehr zu jenen Zeiten verworre-ner Anarchie, die stets dem Aufblühen einer neuen Ge-sellschaft voranzugehen scheinen. Aber wie wäre erzu verhindern?

Bisher bestand die Aufgabe der Massen offenbar indiesen großen Zerstörungen der alten Kulturen. DieGeschichte lehrt uns, dass in dem Augenblick, da diemoralischen Kräfte, das Rüstzeug einer Gesellschaft,ihre Herrschaft verloren haben, die letzte Auflösungvon jenen unbewussten und rohen Massen, welcherecht gut als Barbaren gekennzeichnet werden, herbei-geführt wird. Bisher wurden die Kulturen von einerkleinen, intellektuellen Aristokratie geschaffen und ge-leitet, niemals von den Massen. Die Massen haben nur

17

Kraft zur Zerstörung. Ihre Herrschaft bedeutet stetseine Stufe der Auflösung. Eine Kultur setzt feste Re-geln, Zucht, den Übergang des Triebhaften zum Ver-nünftigen, die Vorausberechnung der Zukunft, über-haupt einen hohen Bildungsgrad voraus — Bedingun-gen, für welche die sich selbst überlassenen Massenvöllig unzugänglich sind. Vermöge ihrer nur zerstöreri-schen Macht wirken sie gleich jenen Mikroben, welchedie Auflösung geschwächter Körper oder Leichen be-schleunigen. Ist das Gebäude einer Kultur morsch ge-worden, so führen die Massen seinen Zusammenbruchherbei. Jetzt tritt ihre Hauptaufgabe zutage. Plötzlichwird die blinde Macht der Masse für einen Augenblickzur einzigen Philosophie der Geschichte.

Wird es sich mit unsrer Kultur ebenso verhalten?Es ist zu befürchten, aber wir wissen es noch nicht.

Wir müssen uns damit abfinden, die Herrschaft derMassen zu ertragen, da unvorsichtige Hände allmäh-lich alle Schranken, die jene zurückhalten konnten,niedergerissen haben.

Wir kennen diese Massen, von denen man jetzt soviel spricht. Die Psychologen von Fach, die nicht in ih-rer Nähe leben, haben sie stets ignoriert und sich mitihnen nur in Bezug auf die Verbrechen beschäftigt, zudenen sie fähig sind. Zweifellos gibt es verbrecheri-sche Massen, aber es gibt auch tugendhafte, heroischeund noch viele andersartige Massen. Die Massenverb-rechen bilden lediglich einen Sonderfall ihres Seelenle-bens und lassen ihre geistige Beschaffenheit nicht bes-

18

ser erkennen als die eines Einzelwesens, von dem mannur seine Laster kennt.

Doch offen gestanden: Alle Herren der Erde, alleReligions- und Reichsstifter, die Apostel aller Glau-bensrichtungen, die hervorragenden Staatsmännerund, in einer bescheideneren Sphäre, die einfachenHäupter kleiner menschlicher Gemeinschaften warenstets unbewusste Psychologen mit einer instinktivenund oft sehr sicheren Kenntnis der Massenseele; weilsie diese gut kannten, wurden sie so leicht Machtha-ber. Napoleon erfasste wunderbar das Seelenleben derfranzösischen Massen, aber er verkannte oft völlig die

Massenseele fremder Rassen.1

Diese Unkenntnis veran-lasste ihn, namentlich in Spanien und Russland,Kriege zu führen, die seinen Sturz vorbereiteten.

Übrigens verstanden sich seine klügsten Rat-1.geber nicht besser darauf. Talleyrand schriebihm, Spanien würde seine Soldaten als Befreierempfangen. Es empfing sie wie Raubtiere. Einmit den Erbinstinkten der Rasse vertrauter Psy-chologe hätte diesen Empfang leicht vorausse-hen können. <<<

Die Massen und der

19

StaatsmannDie Kenntnis der Psychologie der Massen ist heute dasletzte Hilfsmittel für den Staatsmann, der diese nichtetwa beherrschen — das ist zu schwierig geworden —,aber wenigstens nicht allzu sehr von ihnen beherrschtwerden will.

Die Massenpsychologie zeigt, wie außerordentlichwenig Einfluss Gesetze und Einrichtungen auf die ur-sprüngliche Natur der Massen haben und wie unfähigdiese sind, Meinungen zu haben außer jenen, die ih-nen eingeflößt wurden; Regeln, welche auf rein begrif-flichem Ermessen beruhen, vermögen sie nicht zu lei-ten. Nur die Eindrücke, die man in ihre Seele pflanzt,können sie verführen. Darf z.B. ein Gesetzgeber, dereine neue Steuer auflegen will, die theoretisch gerech-teste wählen? Keinesfalls. Die ungerechteste kannpraktisch für die Massen die beste sein, wenn sie amunauffälligsten und leichtesten in Erscheinung tritt.Auf diese Weise wird eine noch so hohe indirekteSteuer allezeit von der Masse angenommen werden.Wenn sie täglich pfennigweise für Konsumartikel en-trichtet wird, stört sie die Gewohnheiten nicht und be-einflusst sie wenig. Man lege an ihrer Stelle eine pro-portionale, auf einmal zu entrichtende Steuer auf dieLöhne oder anderen Einkommen, mag sie auch theore-tisch zehnmal weniger hart sein als die andere, sowird sie heftigen Widerspruch erregen. An Stelle dertäglichen Pfennige, die man nicht spürt, tritt nämlich