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Geschichtszeichen 1789 wurde mit dem Sturm auf die Bastille der Startschuss für die französische Revoluti- on gegeben. Die monarchische Herrschaft wurde in diesem Zuge (zeitweilig) aufgehoben und die Republik begann als neue Regierungsform in Euro- pa Einzug zu halten. Imma- nuel Kant wagte wenige Jahre später in seiner Schrift Streit der Fakultäten eine geschichts- philosophische Interpretation dieser Ereignisse. Trotz der mittlerweile bekannt gewor- denen blutigen innen- und außenpolitischen Auseinan- dersetzungen, wertet er die Geschehnisse äußerst positiv: »diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemütern aller Zuschauer (…) eine Teil- nehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasmus grenzt.« 1 Dieser Enthusiasmus liege nach Kant in der morali- schen Legitimität der Revolu- tion begründet. Keine äußere Macht könne ein Volk mit Recht daran hindern, sich eine bürgerliche Verfassung zu ge- ben. Weiterhin gebe die Ein- führung eben dieser Verfas- sung Anlass zur Hoffnung auf eine Entwicklung, die auf lange Sicht vernünftige gesell- schaftliche Ordnung und Frie- den verheiße, wie er ausführ- licher in seiner Schrift Zum ewigen Frieden darlegt. Die gro- ße Revolution verstand Kant daher zwar nicht als Beweis, aber doch als ein »Geschichts- zeichen« 2 dafür, dass »das menschliche Geschlecht im be- ständigen Fortschreiten zum Besseren sei« 3 . Als wenige Jahre später, am 13. Oktober 1806, Hegel in Je- na den Kaiser beim Ausritt be- obachtet, notiert er, es sei »eine wunderbare Empfindung« »diese Weltseele« zu sehen, die »auf einen Punkt konzen- triert, auf einem Pferde sit- zend, über die Welt übergreift und sie beherrscht«. 4 Welt- geschichtliche Individuen, die hier wie Napoleon zu Pferde sitzen, handeln zwar subjektiv ihren eigenen Leidenschaften entsprechend, aber tatsächlich sind sie das Exekutivorgan des Weltgeistes. Sie vollziehen den Plan der Vorsehung und voll- bringen nur, »was an der Zeit, was wahr, was notwendig ist.« 5 Während Kant die Ge- schichte zumindest metho- disch noch auf das Deuten von Zeichen beschränkt, steht für Hegel die Notwendigkeit ver- nünftiger Entwicklung außer Frage. So gibt er der Idee eines weltgeschichtlichen Fort- schritts die für das 19. Jahr- hundert tragende – wenn auch umstrittene – Form. Geschichtsereignisse In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war dieser Optimismus, abseits der hohlen Versprechungen des legitimatorischen Marxismus- Leninismus, lange Zeit in Ver- gessenheit geraten. Doch 200 Jahre nach der französischen Revolution schienen welthisto- rische Ereignisse erneut Anlass zu größerer Hoffnung zu ge- ben. So belebte der Fall der Berliner Mauer, der zum bild- lichen Ausdruck für das Ende des Sozialismus und der Sys- temkonkurrenz wurde, die Phantasie der Zeitgenossen. Freiheit, bürgerliches Recht und Demokratie schienen ebenso zur universellen Ver- wirklichung zu streben, wie die Marktwirtschaft. Auch an dem entsprechenden Enthu- siasmus für das ›wahnsinnige‹ Ereignis hat es nicht gefehlt. Ähnlich wie Kant und Hegel konnten auch die Philosophen und Denker unserer Zeit die friedliche Revolution als Beleg für ihre anthropologischen Thesen nehmen, wonach der Mensch seinem naturgemäßen Streben nach Freiheit, Aner- kennung und persönlichem Glück auch gegen alle Wider- stände einen politisch an- gemessenen Ausdruck ver- schafft. Mit 1989 sei demnach nicht nur das »kurze zwan- zigste Jahrhundert der Extre- me« (Eric Hobsbawm) zu Ende gegangen, sondern die moralische Entwicklung und damit die Geschichte des Menschen sei erfüllt worden und an ihr Ende gelangt. So sah es jedenfalls nicht nur Francis Fukuyama in seinem berühmten Buch vom Ende der Geschichte (1992). Das Ende des Kommunismus sowjetischen Typs, das Nach- lassen der akuten Gefahr eines globalen atomaren Krieges, 1 Die Vernunft in der Geschichte fußt auf dem Handeln vernünftiger Menschen, ohne dabei zwangsläufig der Intention der Akteure zu folgen. Ein Wissenschaftler der Zentralen Einrichtung für Wis- senschaftstheorie und Wissen- schaftsethik und ein Mitarbei- ter des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover setzen sich mit der deutschen Geschichte und ihren Zeichen im philosophischen Kontext auseinander. VERKEHR GRENZ Was zeigt der Fall der Mauer? EINE GESCHICHTSPHILOSOPHISCHE BETRACHTUNG 1 I. Kant (1798): Der Streit der Fakultäten. Frankfurt/Main 1968, Bd. XI, A144 2 Ebd.: A 142 3 Ebd.: A 131ff. 4 J. Hoffmeister (Hg.): Briefe von und an Hegel. Hamburg 1952, Bd. I, S. 120. 5 G.W.F. Hegel (1822/23): Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschich- te. Hamburg 1996, S. 69.

H Heit - Was Zeigt Der Fall Der Mauer

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Geschichtszeichen

1789 wurde mit dem Sturmauf die Bastille der Startschussfür die französische Revoluti-on gegeben. Die monarchischeHerrschaft wurde in diesemZuge (zeitweilig) aufgehobenund die Republik begann alsneue Regierungsform in Euro-pa Einzug zu halten. Imma-nuel Kant wagte wenige Jahrespäter in seiner Schrift Streitder Fakultäten eine geschichts-philosophische Interpretationdieser Ereignisse. Trotz dermittlerweile bekannt gewor-denen blutigen innen- undaußenpolitischen Auseinan-dersetzungen, wertet er dieGeschehnisse äußerst positiv:»diese Revolution, sage ich,findet doch in den Gemüternaller Zuschauer (…) eine Teil-nehmung dem Wunsche nach,die nahe an Enthusiasmusgrenzt.«1 Dieser Enthusiasmusliege nach Kant in der morali-schen Legitimität der Revolu-tion begründet. Keine äußereMacht könne ein Volk mitRecht daran hindern, sich einebürgerliche Verfassung zu ge-ben. Weiterhin gebe die Ein-führung eben dieser Verfas-sung Anlass zur Hoffnung aufeine Entwicklung, die auflange Sicht vernünftige gesell-schaftliche Ordnung und Frie-den verheiße, wie er ausführ-licher in seiner Schrift Zumewigen Frieden darlegt. Die gro-ße Revolution verstand Kantdaher zwar nicht als Beweis,aber doch als ein »Geschichts-zeichen«2 dafür, dass »dasmenschliche Geschlecht im be-

ständigen Fortschreiten zumBesseren sei«3.

Als wenige Jahre später, am13. Oktober 1806, Hegel in Je-na den Kaiser beim Ausritt be-obachtet, notiert er, es sei »einewunderbare Empfindung«»diese Weltseele« zu sehen,die »auf einen Punkt konzen-triert, auf einem Pferde sit-zend, über die Welt übergreiftund sie beherrscht«.4 Welt-geschichtliche Individuen, diehier wie Napoleon zu Pferdesitzen, handeln zwar subjektivihren eigenen Leidenschaftenentsprechend, aber tatsächlichsind sie das Exekutivorgan desWeltgeistes. Sie vollziehen denPlan der Vorsehung und voll-bringen nur, »was an der Zeit,was wahr, was notwendigist.«5 Während Kant die Ge-schichte zumindest metho-disch noch auf das Deuten vonZeichen beschränkt, steht fürHegel die Notwendigkeit ver-nünftiger Entwicklung außerFrage. So gibt er der Idee einesweltgeschichtlichen Fort-schritts die für das 19. Jahr-hundert tragende – wenn auchumstrittene – Form.

Geschichtsereignisse

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war dieserOptimismus, abseits derhohlen Versprechungen deslegitimatorischen Marxismus-Leninismus, lange Zeit in Ver-gessenheit geraten. Doch 200Jahre nach der französischenRevolution schienen welthisto-

rische Ereignisse erneut Anlasszu größerer Hoffnung zu ge-ben. So belebte der Fall derBerliner Mauer, der zum bild-lichen Ausdruck für das Endedes Sozialismus und der Sys-temkonkurrenz wurde, diePhantasie der Zeitgenossen.Freiheit, bürgerliches Rechtund Demokratie schienenebenso zur universellen Ver-wirklichung zu streben, wiedie Marktwirtschaft. Auch andem entsprechenden Enthu-siasmus für das ›wahnsinnige‹Ereignis hat es nicht gefehlt.

Ähnlich wie Kant und Hegelkonnten auch die Philosophenund Denker unserer Zeit diefriedliche Revolution als Belegfür ihre anthropologischenThesen nehmen, wonach derMensch seinem naturgemäßenStreben nach Freiheit, Aner-kennung und persönlichemGlück auch gegen alle Wider-stände einen politisch an-gemessenen Ausdruck ver-schafft. Mit 1989 sei demnachnicht nur das »kurze zwan-zigste Jahrhundert der Extre-me« (Eric Hobsbawm) zuEnde gegangen, sondern diemoralische Entwicklung unddamit die Geschichte desMenschen sei erfüllt wordenund an ihr Ende gelangt. So sah es jedenfalls nicht nurFrancis Fukuyama in seinemberühmten Buch vom Ende der Geschichte (1992).

Das Ende des Kommunismussowjetischen Typs, das Nach-lassen der akuten Gefahr einesglobalen atomaren Krieges,

1

Die Vernunft in der Geschichte

fußt auf dem Handeln

vernünftiger Menschen,

ohne dabei zwangsläufig der

Intention der Akteure zu folgen.

Ein Wissenschaftler der

Zentralen Einrichtung für Wis-

senschaftstheorie und Wissen-

schaftsethik und ein Mitarbei-

ter des Forschungsinstituts für

Philosophie Hannover setzen

sich mit der deutschen

Geschichte und ihren Zeichen

im philosophischen Kontext

auseinander.

V E R K E H RG R E N Z

Was zeigt der Fall der Mauer?

EINE GESCHICHTSPHILOSOPHISCHE BETRACHTUNG

1 I. Kant (1798): Der Streit derFakultäten. Frankfurt/Main 1968, Bd. XI,A144

2 Ebd.: A 1423 Ebd.: A 131ff.4 J. Hoffmeister (Hg.): Briefe von und an

Hegel. Hamburg 1952, Bd. I, S. 120.5 G.W.F. Hegel (1822/23): Vorlesungen

über die Philosophie der Weltgeschich-te. Hamburg 1996, S. 69.

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die Übernahme demokrati-scher Regierungsformen inOsteuropa sowie ökonomischeErfolge bei der Transformationehemaliger Planwirtschaftenkönnten durchaus den Ein-druck verdichten, dass der Fallder Mauer ein Geschichtszei-chen sei, hinter das man nichtmehr zurücktreten könne.Allerdings muss man dasrasche Verblassen dieses Zei-chens konstatieren. Von derHoffnung auf eine langfristigeBesserung des Menschen-geschlechts und seiner Lebens-

bedingungen ist heute deut-lich weniger zu spüren als vorzwanzig Jahren. Spätestensder 11. September 2001 setzteein neues dramatisches Zei-chen, das in der Geschichtenach wie vor vieles möglichist. Die sozialen, politischen,ökonomischen und ökologi-schen Probleme unserer Zeitgeben genügend Anlass, aneinem Ende der Geschichte zuzweifeln, welches geschichts-philosophisch ohnehin nichtzu denken ist.

Es ist daher nötig, dieGeschichte als offenen Prozessohne lineare Entwicklungsge-

setze und historische Gewiss-heiten zu denken. Ereignisse,Revolutionen und Wenden wi-dersetzen sich klaren und ein-fachen Deutungen, sie wollenin ihrer Komplexität und Zu-fälligkeit erfasst und verstan-den werden. Dies wird beson-ders deutlich, wenn man sichdie Handlungen und Wirkun-gen historischer Akteure vorAugen führt. Vaclav HavelsVersuch, in der Wahrheit zu leben(1978) und Rudolf BahrosKritik des real existierenden So-zialismus (1977) waren noch

ausdrücklich dem Ziel einesechten, besseren, eines Sozia-lismus mit menschlichem Ant-litz gewidmet – und habenbeide ins Gefängnis gebracht.An der ersten Leipziger Mon-tagsdemonstration nahmenkaum 5000 Menschen teil, diefür eine grundlegende Demo-kratisierung eintraten, füreinen Aufbruch in eine andereDDR.6 Am 6. November warenes bereits 450.000.7 Die Parole»Wir sind das Volk« wandeltesich, nicht zuletzt durch eineKampagne der CDU, zu »Wirsind ein Volk«. Während derZentrale Runde Tisch der DDRnoch an einem Verfassungs-

entwurf arbeitete, entwickeltedie Regierung Kohl einenFahrplan für den Anschlussder DDR. Am Runden Tisch sa-ßen sich Vertreter der »alten«und der »neuen Kräfte« mit je19 Stimmen gegenüber.8 Beiden Volkskammerwahlen am18. März 1990 jedoch kommendie neuen Kräfte – ohne dieSPD – auf insgesamt 8,6 Pro-zent der Stimmen; der RundeTisch tritt nicht mehr zusam-men. Die meisten Köpfe derBürgerrechtsbewegung ver-schwinden, ähnlich ihrem Idol

Michail Gorbatschow, in derBedeutungslosigkeit. Dabeiwäre ohne sie der Stein wohlnie ins Rollen gekommen.Auch die friedliche Revolutionfrisst ihre Kinder, allerdingsnicht auf dem Schafott, son-dern durch politische Margi-nalisierung.

Es geht nicht darum, diesehistorische Entwicklung zubewerten, vielmehr kann man1989 auch als Zeichen dafürnehmen, dass die Geschichtenicht den Intentionen der Ak-teure folgt. Wenn man abernicht (mehr) daran glaubenmag, dass die agierenden

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Abbildung 1Der Sturm auf die Bastille imJahre 1789 gilt als ein signifikan-tes Geschichtszeichen, weil ernicht nur als Symbol der Franzö-sischen Revolution gilt, sondernauch für den Drang des Men-schen nach Freiheit und Gerech-tigkeit angesehen werden kann.

Abbildung 2Genau zweihundert Jahre nachdem Sturm auf die Bastille wirddie Deutsche Botschaft in Prag zu einem Geschichtszeichen derGegenwart für Freiheit.Foto: Kemmether, picture-alliance/dpa

6 H. Knabe (Hg.): Aufbruch in eine andereDDR. Reformer und Oppositionelle zurZukunft ihres Landes. Hamburg 1989.

7 K.D. Opp u.a.: Die volkseigene Revolu-tion. Stuttgart 1993, S. 46.

8 U. Thaysen: Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk? Opladen 1990, S. 47.

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Menschen nur das Instrumenteines zugrundeliegendenEntwicklungsgesetzes oderdes Weltgeistes sind, reduziertsich die Vernunft in der Ge-schichte auf das Handeln be-dingt vernünftiger Menschen.Wir machen Geschichte, aber

wir lenken sie nicht. In diesemSinne schreibt ein großer Anti-pode Hegels: »Die Kräfte imSpiel der Geschichte gehor-chen weder einer Bestimmungnoch einer Mechanik, sonderndem Zufall des Kampfes.«9

Damit ist nicht gesagt, dass indiesem Spiel der Kräfte jeder-zeit alles gleich wahrscheinlichist. Der menschengemachteLauf der Dinge setzt durchausZeichen von bleibender Kraft;der Fall der Mauer kann nichtrückgängig gemacht werden.»Weder geschichtsphiloso-phische Systeme, noch dasLob der Kontingenz – wenndas die Ausgangslage ist, dannbedarf es eines kritischen Um-gangs mit ›Geschichtszei-chen‹.«10

Geschichtspolitik

Wie schwierig sich dieser kriti-sche Umgang in Ansehung derDDR und ihres Endes erweist,wird an der Debatte um die of-fizielle Geschichtspolitik derBundesrepublik nach 1990

deutlich. In drei Kommissio-nen wurde intensiv um denangemessenen Umgang mitder Geschichte der DDR vonSeiten des Staates gestritten.Hierbei ging es unter anderemum die Ausrichtung und Aus-stattung der Arbeit derGedenkstätten, Archive undBehörden, die sich mit derDDR-Hinterlassenschaftbeschäftigen. Insbesondere inden Gedenkstätten wird deruntergegangene Staat von sei-nem Ende her betrachtet unddie Beschäftigung dient zu-dem der pädagogisch-politi-schen Selbstvergewisserung.Im Jahr 2005 beauftragte dieBundesregierung eine Exper-tenkommission, ein Konzeptfür einen dezentral organisier-ten Geschichtsverbund zurAufarbeitung der SED-Dikta-tur vorzulegen. Die Kommis-

sion sollte einen Vorschlag fürdie organisatorische und in-haltliche Ausrichtung der wei-teren Gedenkstättenarbeit er-arbeiten. Es wurde dabeivorgeschlagen, drei »Aufarbei-tungsschwerpunkte« zu bil-den: 1. »Herrschaft – Gesell-

schaft – Widerstand«; 2.»Überwachung und Verfol-gung«; 3. »Teilung und Gren-ze«.11 In der Aussprache überdiese Einteilung wurde deut-lich, dass gegen die inhaltlicheSchwerpunktsetzung im Prin-zip keine Einwände vorlagen,auch wenn die Rolle und dasVerständnis des »Alltags« inder DDR umstritten war undeinigen Experten die Anklageder DDR zu schwach betontund der Kontinuität alter DDR-Kader in Politik und Gesell-schaft der gegenwärtigen BRDzu wenig Aufmerksamkeit ge-widmet wurde.

Es ist offensichtlich, dass einesolche Schwerpunktsetzungeinen deutlichen normativenStandpunkt vertritt, der in derCharakterisierung der DDR als»zweiter deutscher Diktatur«

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Abbildung 3Das Brandenburger Tor, 1788–1791 im frühklassischen Stil er-baut, diente als Kulisse vieler ge-schichtsträchtiger Ereignisse, soauch beim Einzug des siegreichenNapoleon (1769–1821) in Berlinam 27.10.1806.

Abbildung 4Ein Teil der Berliner Mauer steht heute als Mahnmal und Ge-schichtszeichen am Weissekreuz-platz in HannoverFoto: Volker Drell

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9 M. Foucault: Nietzsche, die Genealogie,die Historie (hg. v. W. Seitter). Frank-furt/Main 1996, S. 80.

10 H. D. Kittsteiner: Geschichtszeichen.Köln 1999, S. 9.

11 M. Sabrow u.a. (Hg.): Wohin treibt dieDDR-Erinnerung? Dokumentation einerDebatte, Bonn 2007, S. 17ff.

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und ihrem Unrechtscharakterzusammenläuft. Es wird sor-tiert, gewichtet und bewertet.Dies ist bei einer staatlichenGeschichtspolitik ebensonotwendig wie bei jeder Ge-schichtsschreibung, wenn-gleich die Kriterien, Wesent-liches und Unwesentliches zusortieren, andere sind. Als Teilder eigenen Legitimation dientdie national organisierte Ge-schichtspolitik auch dem Ziel,eine kollektive Identität an-zubieten, in der potenziell alleMitglieder der nationalenGemeinschaft sich selbst oderihre eigene Geschichte alsnationale Geschichte wiedererkennen. Wer wissen will,was er oder sie als Deutscheroder Deutsche ist, fragt auchdanach, welche GeschichteDeutschland hat.

Insoweit ist diese offizielleAuseinandersetzung mit derGeschichte eine Leistung deskulturellen Gedächtnisses, »dasGemeinschaft stiftet« durchdie Rekonstruktion und Ak-tualisierung einer spezifischgewerteten gemeinsamenVergangenheit.12 Wie Jan Ass-mann mit Blick auf verschie-dene antike Kulturen zeigt, istdie Identität und Dauer einer

Kultur vor allem »eine Fragedes kulturellen Gedächtnissesund seiner Organisationsfor-men«, und dementsprechendist auch der Untergang einerWir-Gruppe in der Regel »kei-ne Sache physischer Auslö-schung, sondern kollektivenund kulturellen Vergessens«.13

Nur durch kontrolliertes Erin-nern und Vergessen kann eineGruppe ein Bewusstsein vonGemeinsamkeit durch Erin-nerung kontinuierlich aktuali-sieren. Im Fall der deutsch-deutschen Geschichte führtder Versuch, sie als einheitlicheGeschichte zu erinnern undfür eine deutsche Identitätnutzbar zu machen, zu spezifi-schen Problemen: Die Bürgerder DDR werden als histori-sches Kollektiv dem offiziellenVergessen anheim gegebenoder auf Bewohner eines Un-rechtsstaats reduziert. WessenErfahrungen darin nicht auf-gehen, fällt aus der kollektivenIdentität heraus. Stefan Heymwies schon Ende 1989 auf die-se Gefahr hin, »es wurde janicht nur geschludert, geheu-chelt, betrogen, es haben sichMenschen ja auch gemüht,ehrlichen Herzens, und habentrotz aller Behinderungenmanch Gutes zutage gefördert,

das nun, zusammen mit demSchmutz und den Torheitendieser Jahre, auf dem ge-schichtlichen Kehrichthaufenzu landen droht.«14 Eine Erin-nerungspolitik, die diesen Teilder Geschichte gänzlich unter-schlägt, wird ihrem Gegen-stand ebenso wenig gerecht,wie sie bei der Legitimationder bundesdeutschen Verhält-nisse und ihrer Geschichteüberzeugt.

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Volker Drell, M.A.Jahrgang 1977, ist Alumnusder Leibniz Universität Hanno-ver und Mitarbeiter am For-schungsinstitut für Philosophiein Hannover. Kontakt: [email protected]

Dr. Helmut HeitJahrgang 1970, lehrt seit 2003an der Zentralen Einrichtungfür Wissenschaftstheorie undWissenschaftsethik (ZEWW) derLeibniz Universität Hannover.Kontakt: [email protected]

12 J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis.München 1997, S. 30.

13 Ebd.: S. 160.14 S. Heym, in M. Naumann (Hg.): Die

Geschichte ist offen. Hamburg 1990, S. 72f.