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Hagiographie imKontext Wirkungsweisen und Möglichkeiten historischer Auswertung Herausgegeben von Dieter R. Bauer und Klaus Herbers Franz Steiner.Verlag Stuttgart 2000 O~/- t-;6i.' ;

Hagiographie - MGH-Bibliothek · 2013. 11. 4. · Hagiographie imKontext Wirkungsweisen undMöglichkeiten historischer Auswertung Herausgegeben von Dieter R.Bauer und Klaus Herbers

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  • HagiographieimKontext

    Wirkungsweisen und Möglichkeitenhistorischer Auswertung

    Herausgegeben vonDieter R. Bauer

    undKlaus Herbers

    Franz Steiner.Verlag Stuttgart 2000

    O~/- t-;6i.' ;

  • Ursula Swinarski

    Der ganze und der zerteilte KörperZu zwei gegensätzlichen Vorstellungen im mittelalterlichen Reliquienkult

    Den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen zur Vorstellung des corpusincorruptum, die Arnold Angenendt als eine "Leitidee der mittelalterlichen Reli-quienverehrung"! bezeichnet hat, und der dazu im Widerspruch stehenden Pra-xis, die Leiber der Heiligen in kleinste Partikel zu zerstückeln, bildet die Vita deshI. Bischofs Ulrich von Augsburg. Der Verfasser, der sein Werk wohl kurz nachUlrichs Tod am 4. Juli 973 begonnen und nach 983 vollendet hat, war mit großerWahrscheinlichkeit der Augsburger Dompropst Gerhard, ein enger Vertrauterdes Bischofs-, Verschiedene Stellen dieser Ulrichsvita, auf die ich im folgendeneingehen möchte, handeln vom Kult der Augsburger Lokalheiligen Afra und demhI. Ulrich als Reliquiensammler.

    Die Vita berichtet, Bischof Ulrich habe, durch zwei Visionen gemahnt, dieaußerhalb der Mauem von Augsburg gelegene Kirche St. Afra, die 955 durch dieUngarn gebrandschatzt worden war, wieder aufbauen lassenl. Weiter erfahrenwir, daß im Westen der Kirche eine Krypta angelegt wurde, nachdem keine ge-ringere als die hI. Afra selber die Realisierung des ursprünglichen Projekts, einenKryptenbau im Osten, verhindert habe: Nach Beten und Fasten erschien demBischof die hI. Afra in einer nächtlichen Vision und "zeigte ihm die Stelle, wo ihrLeib begraben war, nämlich, wie in ihrer Passio geschrieben, am zweiten Meilen-stein von der Stadt Augsburg entfernt, in der Kirche. Den Bau der Krypta an der

    I Arnold ANGENENDT,COrpUS incorruptum. Eine Leitidee der mittelalterlichen Reliquien-verehrung, Saeculum 42 (1991), 320-348; DERS.,Der "ganze" und "unverweste" Leib - eineLeitidee der Reliquienverehrung bei Gregor von Tours und Beda Venerabilis, in: Aus Archivenund Bibliotheken. Festschrift für R. Kottje zum 65. Geburtstag, hg. v. H. MORDEK,Frankfuna.M. 1992, 33-50; DERS.,Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühenChristentum bis zur Gegenwart, München 1994, 149-152; vg!. auch DERS.,Der Kult der Reliqui-en, in: Reliquien. Verehrung und Verklärung. Katalog z. Ausstellung der Kölner Sammlung L.Peters im Schnürgen-Museum, hg. v. A. LEGNER,Köln 1989, 12-15.

    2 Neuere Literatur zur Vita s. Oudalrici bei Georg KREUZER,Die ,Vita sancti Oudalriciepiscopi Augustani' des Augsburger Dompropstes Gerhard. Eine literaturkritische Untersu-chung, Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 26/27 (1993), 169-177, Anm.1; vg!. ebd. Helmut GIER,Neues Schrifttum zum hI. Ulrich seit 1973,783-789.

    3 Vita s. Oudalrici 12 u. 13,MGH SS 4, 401 u. 403. Zum Neubau von St. Afra durch Bf.U1rich vgl. Joachim WERNER(Hg.), Die Ausgrabungen in St. Ulrich und Afra in Augsburg 1961-1968 (Münchner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte 23/1), München 1977, darin v.a. dieBeiträge von Wilhelm VOKERT,Schriftquellen zur Baugeschichte von St. U1rich und Afra vom 8.Jh. bis zum Jahr 1467,Nr. 9-11, 100-102, und Waiter HAAS,Die Vorgängerbauten der Kloster-kirche St. U1rich und Afra, 74-76.

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    geplanten Stelle verbot sie mit Rücksicht auf die Gebeine der Heiligen, die dort inRuhe den Tag des Gerichts erwarten sollterr'", Im folgenden Kapitel wird diesesVerbot der hl, Afra, bzw. "in welch besonderem Maß dieser Platz im Osten derKirche für immer Gott geweiht sein soll"5, durch ein Strafwunder zusätzlich be-stärkt. Der Gärtner Adalbold entdeckt dort nämlich eine unterirdische gemauerteKammer und nutzt diese trotz der Mahnung Ulrichs als Gemüsekeller. Selbstre-dend verliert er bei dieser Untat seine Sinne, wird blind und gehörlos; wiedergenesen, kann er den hl. Ort nicht wiederfinden ... Gleich an diese Wunderepiso-de anschließend vermerkt die Vita, daß Bischof Ulrich in späterer Zeit an der süd-lichen Außenwand der Afrakirche sein eigenes Grab herrichten ließ6. Wie andereAugsburger Bischöfe vor ihm erwählte er St. Afra als Grablege - möglichst nahebeim Grab der Heiligen, ohne dieses durch den eigenen Grabbau zu stören.

    Eher am Rand der Legalität scheint sich Bischof Ulrich dagegen zum Teilbewegt zu haben, wenn es darum ging, fremde Reliquien für die Domkirche vonAugsburg zu beschaffen", Die Vita weiß einen bei einer Romfahrt'' von Ulrichbegangenen Reliquienraub nur schlecht zu kaschieren. Ein Kleriker. der von Ul-richs Vorhaben erfahren hatte. in Rom Heiligenreliquien zu erwerben. führte denBischof - offenbar heimlich - nachts in eine Kirche. wo der Kopf des hl, Mär-tyrers Abundus in einem Altar verschlossen ruhte. Er las Ulrich die Passio desHeiligen vor. zeigte ihm das Haupt und schwor zum Beweis von dessen Echtheiteinen Eid über vom Bischof mitgebrachten Reliquien, worauf sich die beidenhandelseinig wurden". Eine weitere Reise mit dem Zweck. Reliquien zu erwer-ben. führte Bischof Ulrich wohl um 940 nach St. Maurice ins Wallis1o• UmReliquienpartikel des hl, Mauritius und seiner Gefährten der Thebäischen Legionzu erhalten. dürfte der aus dem alemannischen Hochadel stammende Bischof Ul-rich seine verwandschaftliehen Beziehungen zum burgundischen Königshauseingesetzt haben!'. In der Vita heißt es. Ulrich sei vom burgundischen König(Konrad 937-993) vor Antritt seiner Reise zugesichert worden, "daß er als

    4 Vita s. Oudalrici 13, MGH SS 4, 403.S Vita s. Oudalrici 14, MGH SS 4, 403.6 Vita s. Oudalrici 14, MGH SS 4, 403.7 Zum folgenden vgl, auch Manfred WElTLAUF,Bischof Ulrich von Augsburg (923-973).

    Leben und Wirken eines Reichsbischofs der ottonischen Zeit, Jahrbuch des Vereins für Augs-burger Bistumsgeschichte 26/27 (1993), 69-142, hier: 109f.

    8 Zur Datierung (932-954) vg!. Friedrich ZoEpFLlWilhelm VOKERT,Die Regesten derBischöfe und des Domkapitels von Augsburg, Augsburg 1985, Nr. 107,67 mit Nachtrag 329.

    9 Vita s. Oudalrici 14, MGH SS 4,404.10 Friedrich ZoEpFLlWilhelm VOKERT,Regesten (wie Anm. 8), Nr. 112 u. 132,69 u. 78f.11 Bf. Ulrich entstammte dem alemannischen Hochade!. Über seine Mutter Dietpirch war

    er mit den Burchardingem (Hunfridingern), seit 917 Inhaber des Herzogtums Schwaben, ver-wandt. Über Berta, Schwester Burchards 11. und Ehefrau König Rudolfs 11. von Burgund, er-gaben sich durch Kaiserin Adelheid auch verwandtschaftliche Beziehungen zum sächsischenKaiserhaus. Hierzu grundlegend Heinz BOHLER,Die Herkunft des Hauses DiIlingen, in: DieGrafen von Kyburg. Kyburger Tagung 1980 in Winterthur (Schweizerische Beiträge zur Kultur-geschichte und Archäologie des Mittelalters 8), OltenlFreiburg LBr. 1981,9-30; ferner Fried-rich ZoEpFLlWilhelm VOKERT,Regesten (wie Anm. 8), Nr. 102, 62f mit Nachtrag 327; ManfredWElTLAUF,BischofUlrich (wie Anm. 7),79-82.

  • 60 Ursula Swinarski

    Geschenk von ihm und mit seiner Hilfe einen der heiligen Märtyrer nach Augs-burg mitnehmen dürfe"12. Als, so die Vita, UIrich in St. Maurice eintraf, fand erden Ort jedoch von den Sarazenen zerstört und vom Konvent verlassen vor. ZurSonntagsmesse, die der Bischof am folgenden Tag dort feierte, seien eine MengeVolks und zwölf clerici erschienen. Diese Geistlichen, die er beschenkte unddenen er den Grund seines Besuchs nannte, hätten ihm schließlich, beeindrucktvon seiner "heiligen Frömmigkeit" und um ihn nicht enttäuscht davonziehen zusehen, einen großen Teil der Reliquien überlassen. Auf der Heimreise besuchteBischof UIrich Konstanz und die Reichenau, wo auch Abt Alewich (934-958)seiner Bitte nach Reliquien entsprochen haben soll. Er "schenkte ihm einen nichtunbeträchtlichen Teil vom Leib des hI. Mauritius und Teile von Reliquien vieleranderer HeiligerrP, Diesem kostbaren Reiliquienschatz bereiteten Klerus undVolk von Augsburg auf die Weisung UIrichs mit Kreuzen, Weihrauch und Weih-wasser den gebührenden Empfang und geleiteten ihn zur Domkirche. Der Bi-schof verwahrte die Reliquien dort in einem mit Gold und Silber bedecktenSchrein "zum Lob des allmächtigen Gottes und zum Heil des Volkes, das zuihnen käme, im Namen unseres Herrn Jesus Christus, dem Ehre ist und Ruhm vonEwigkeit zu Ewigkeit. Amen"!".

    Folgt man der ,Vita s. Oudalrici', so kann der Heiligenverehrung des Augs-burger Bischofs ein gewisser Pragmatismus wohl nicht abgesprochen werden.Einerseits betätigte er sich, um den Reliquienschatz seiner Kirche zu vergrößern,wie andere geistliche Fürsten seiner Zeit als eifriger Reliquiensammler. Aufseiner Reise ad limina apostolorum Petri et Pauli erwarb er auf etwas zweifelhaf-te Weise den Kopf des hI. Abundus. Von St. Maurice brachte er Reliquien des hI.Mauritius - die er nach unserer QueIle jedoch erst bei seinem Abstecher nach derReichenau erhielt, wo der Mauritiuskult früh bezeugt istlS - und anderer Thebäernach Augsburg. Andererseits wird Bischof Ulrich in seiner Vita als Beschützerdes Grabes der hI. Afra, die um 304 in Augsburg das Martyrium erlitten habensoll, dargestellt. Ob die Ursprünge des Afrakultes in Augsburg historischen Tat-sachen entsprechen oder ob es sich - wie so oft bei Heiligen - im FaIl der Afra umeine literarische Fiktion handelt, ist an dieser SteIle nicht relevant. Zudem seilediglich erwähnt, daß der oft zitierte Beleg für den Afrakult bei VenantiusFortunatus nicht zwingend auf einen tatsächlichen Besuch um 565 in Augsburgzurückzuführen istl6. Schließlich sind zwar spätantike und merowingerzeitliche

    12 Vita s. Oudalrici IS, MGH SS 4,404.13 Vita s. Oudalrici IS, MGH SS 4,404.14 Vita s. Oudalrici IS, MGH SS 4, 405.IS Vgl. Adalbert HERZBERG,Der heilige Mauritius. Ein Beitrag zur Geschichte der deut-

    schen Mauritiusverehrung (Forschungen zur Volkskunde 25/26), Düsseldorf 1936, 43f. u. 64f.16 Venantius Fortunatus, Vita Martini IV, 640-643, MGH AA 4/1, 368: "Wenn es dir

    gestattet wird, die barbarischen Flüsse zu passieren, so daß du leicht den Rhein und die Donauüberqueren kannst, kommst du nach Augsburg, wo Wertach und Lech zusammenfließen. Dortverehre die Gebeine der heiligen Märtyrerin Afra!" Kritisch zur schriftlichen Überlieferung desAfrakultes (Erwähnung im ,Martyrologium Hieronymianum' um 600; ältere ,Passio s. Afrae'evtl. noch aus dem 7. Jh.; ,Conversio et passio s. Afrae' spätes 8. Jh.) Bernhard SCHIMMELPFEN-NIG,War die hI. Afra eine Römerin? in: Vera lex historia. Studien zu mittelalterlichen Quellen.

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    ad sanctos-Bestattungen bei der Krypta-Grabung (1961-68) entdeckt worden,doch fehlt bis heute der archäologische Nachweis des Afragrabes als auch einerspätrömischen Memoria 17.

    Doch zurück zur Ulrichsvita! Nach der als "klassisch" zu bezeichnendenInventio des Afragrabes durch Ulrich erfolgt nicht, wie der Leser erwartenkönnte und wie dies tatsächlich beim Neubau der Afrakirche (1064-71) durchBischof Embriko geschah 18, die Erhebung der Gebeine der Märtyrerin. Vielmehrwird mit dem Verbot, die Totenruhe der Heiligen zu stören, auf antikes Sakral-recht Bezug genommen und so der heilige Ort vor Zugriffen geschützt. Durch dieStrafwunderepisode werden das Grab der Märtyrerin Afra bzw. ihre Reliquienzusätzlich mit einem Tabu belegt!".

    Es stellt sich nun die Frage, ob der mittelalterliche Reliquienkult nicht schonin früherer Zeit von einer ähnlichen Ambivalenz geprägt war. Zwei Vorstellun-gen sind dabei von Bedeutung: einerseits der Topos des corpus incorruptum bzw.die Unantastbarkeit des heiligen Körpers als Konsequenz, andererseits die Auf-fassung, daß auch in kleinsten Reliquienpartikeln der Heilige mit seiner ganzenvirtus gegenwärtig sei.

    In der Ostkirche scheint die Zerteilung von Märtyrerleibern sehr früh üblichgewesen zu sein. Dabei kam es offenbar auch bald zu Mißbräuchen im Reliquien-kult, zielte das Gesetz Kaiser Theodosius' aus dem Jahr 386 doch vor allem aufdie unkontrollierte Plünderung von echten und wohl auch vermeintlichen Märty-rergräbern, die Zerteilung der Heiligen und den Handel mit solchen Reliquien-",

    Festschrift für Dietrich KURZE,hg. V. S. JENKSu.a., Köln 1993,277-303, DERS.:Afra und Ulrich.Oder: wie wird man heilig?, Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 86 (1993). 23-44, hier: 35-40.

    11 Vg!. v.a. in: Joachim WERNER(Hg.), Ausgrabungen (wie Anm. 3), die Beiträge vonWalter HAAS,Die Vorgängerbauten der Klosterkirche St. Ulrich und Afra, 66f. u. 71f., JoachimWERNER,Die Gräber aus der Krypta-Grabung 196111962, 141-189, DERS.,Ergebnisse der Kryp-ta-Grabung 1961/1962 für die vorkarolingische Zeit, 217-225; WaIter SAGE,Frühes Christentumund Kirchen aus der Zeit des Übergangs, in: Geschichte der Stadt Augsburg. 2000 Jahre von derRömerzeit bis zur Gegenwart, hg. v. G. GOlTLlEBu.a., 2. durchges. Aufl., Stuttgart 1985, 100-112, insbes. 102-105.

    IS Friedrich ZoEpAiWilhelm VOLKERT,Regesten (wie Anm. 8), Nr. 310, 185f. mit Nachtrag35lf.; Wilhelm VOKERT,Schriftquellen (wie Anm. 3), Nr. 28, 109f.

    19 Zu Strafwunder u. Tabubezirk vg!. weitere Belege bei Peter DINZELBACHER,Die "Real-präsenz" der Heiligen in ihren Reliquiaren und Gräbern nach mittelalterlichen Quellen, in:Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, hg. v. P. DINZELBACHERU. D. R. BAUER,Ost-fildem 1990, 137.

    20 Codex Theodosianus IX, 17,7: Humatum corpus nemo ad alterum locum transferat,»nemo martyrem distrahat, nemo mercetur. Habeant vero in potestate, si quolibet in locosanctorum est aliquis conditus, pro eius veneratione quod martyrium vocandum sit addant quodvoluerint fabricarum. Vg!. auch Augustinus, De opere monachorum, XXVIII, hg. v. J. SAINT-MARTIN,412; Okko BEHRENDS,Grabraub und Grabfrevel im römischen Recht, in: Zum Grabfre-vel in vor- und frühgeschichtlicher Zeit, hg. v. H. JANKUHNu.a. (Abhandlungen der Akademieder Wissenschaften in Göttingen, Phil.-hist. Kt. 3.F., 113), Göttingen 1978, 85-106, hier: 97;Nicole HERRMANN-MASCARD,Les reliques des saints. Formation coutumiere d'un droit (Societed'histoire du droit. Collection d'histoire institutionelle et sociale 6) Paris 1975,31-33.

  • 62 Ursula Swinarski

    Rom hielt dagegen am antiken Sakralrecht zunächst fest, das Bestattungen inner-halb der Städte und Grabfrevel streng verbot". So überführte man, sofern mandie ,Depositio Martyrum' aus dem Jahr 258 n.Chr. auf einen Lokalkult und nichtauf eine Translation bezieht, die Reliquien des hi. Petrus nicht in die Stadt,sondern errichtete die Basilika St. Peter über dem Grab des Apostelfürsten, dasdurch einen Stollen der Verehrung zugänglich gemacht wurde22• Reliquienzertei-lungen wurden scharf abgelehnt; selbst hochgestellte Persönlichkeiten bemühtensich im 6. Jahrhundert beim Papst erfolglos um den Erhalt von Körperreliquienaus Rom23• Weder Papst Hormisdas, von dem sich 519 Justinian Reliquien derApostel Petrus und Paulus und des hI. Laurentius erbat-", noch seine Nachfolgerhaben offenbar solchen Anfragen entsprochen. Papst Gregor der Große betonte594 in seinem oft zitierten Antwortschreiben an Kaiserin Constantina von Kon-stantinopel, die ihn um das Haupt oder andere Reliquien des hI. Paulus gebetenhatte, in Rom und der ganzen westlichen Kirche sei die Zerteilung von Körperre-liquien ein Sakrileg-'. In GaIlien, wo im Gegensatz zu Rom in merowingischerZeit zahlreiche Translationen von Heiligen stattfanden, scheint man tatsächlichauf die Zerteilung der erhobenen Gebeine verzichtet zu haben. Um die großeNachfrage nach Reliquien trotzdem befriedigen zu können, wurden - wie auch inRom - Ersatzreliquien produziert, indem man Gegenstände mit dem Heiligen-grab in Berührung brachte. Gregor von Tours, unsere Hauptquelle, nennt inseinen Mirakelerzählungen eine Vielzahl solcher Kontaktreliquien wie Erde vomHeiligengrab, Wasser, Textilien, Lampenöl, Wachs, Holz etc.26 Der gleiche Au-tor weiß schließlich von neun verschiedenen Erhebungen zu berichten, bei denendie Körper der Heiligen nicht von Verwesung zerfallen, sondern auf wunderbareWeise integrum ("unversehrt") bzw. inlaesum ("unverletzt") aufgefunden wor-den seien'". Im Fall des Bischofs Gregorius von Langres nimmt er Bezug auf dietheologische Begründung des corpus incorruptum: ,,Man hätte glauben können,er sei schon damals für die Herrlichkeit der künftigen Auferstehung zubereitetgewesen"28. Anders als noch bei Paulus dachte man sich in Abgrenzung zurGnosis den irdischen Leib als eine Art "Substrat" des Auferstehungsleibes; wie

    21 Okko BEHRENDS,Grabraub (wie Anm. 20); Georg KUNGENBERG,Grabrecht, RAC 12,590-637; Nicole HERRMANN-MASCARD,Reliques (wie Anm. 20), 33-35.

    22 Engelbert KIRSCHBAUM,Die Gräber der Apostelfürsten, Frankfurt a.M.1957, 148-167,v.a. 158-160; Karlfried FROEHLICH,Petrus 11,TRE 26, 273-278, mit weiteren Literaturangaben;vg!. Arnold ANGENENDT,Corpus incorruptum (wie Anm. I), 330f.

    23 Belege bei Margarete WEIDEMANN,Reliquie und Eulogie, in: J. WERNER(Hg.), Die Aus-grabungen in St. UJrich und Afra in Augsburg 1961-1968 (Münchner Beiträge zur Vor- undFrühgeschichte 2311), München 1977,371-373.

    24 p. 218, CSEL 35/2, 679f.2S Gregor d. Gr., Ep. IV,30, MGH EE 1,263-266, Zitat: 265: In Romanis namque vel totius

    Occidentis partibus omnino intolerabile est atque sacrilegum; si sanctorum corpora tangerequisquam fortasse voluerit.

    26 Zusammengestellt bei Margarete WEIDEMANN,Reliquie (wie Anm. 23), 354-366.27 Belege bei Arnold ANGENENDT,Der "ganze" und "unverweste" Leib (wie Anm. I),

    35-38.28 Gregor von Tours, Vitae Patrum 3, MGH SS rer. Mer. 112, 238.

  • Der ganze und der zerteilte Körper 63

    beim auferstandenen Jesus, dessen Körper laut Petrus' Pfingstpredigt unverwestblieb, läßt Gott - um Psalm 15 (Vulgata 16,10) zu zitieren - "seine Heiligen dieVerwesung nicht schauen'S", Schon bei Gregor von Tours sind nun die Nachrich-ten von unversehrt aufgefundenen Heiligen stark topisch geprägt. Bedarf es beieiner Graböffnung in Clermont-Ferrand noch eines späteren Wunders, um dieUnversehrte als Heilige zu bestätigen-", wird an anderer Stelle der unverletzteLeichnam mit überschwenglichen Worten gepriesen und ist geradezu "Beweis"bzw. Voraussetzung für die Heiligkeit. Wie Amold Angenendt aufgezeigt hat,taucht die Vorstellung des corpus incorruptum auch in späterer Zeit immerwieder auf. Zu nennen ist vor allem Beda Venerabilis, der in seiner 731 vollende-ten ,Historia Ecclesiastica' bei vier Heiligen das Phänomen des corpus incorrup-turn erwärmt". "Unverwest" und "ganz" aufgefunden wurden zum Beispiel dieHeiligen Lambert von Maastricht, Hubert von Lüttich, Otmar von St. Gallen, Lulvon Mainz, Willibrord von Echtemach - die Liste wäre zu verlängern-t,

    Hat nun wirklich, um die Thesen Angenendts aufzugreifen, die Vorstellungdes corpus incorruptum in der westlichen Kirche die Reliquienzerteilung in demSinn, daß man Heiligengebeine aufteilte oder sogar zerkleinerte, im Frühmittelal-ter verhindert+'? Wurden Reliquienzerteilungen tatsächlich seit dem 9. Jahrhun-dert üblich, weil sich die gleichfalls alte Überzeugung von der .Realpräsenz" derHeiligen auch in kleinsten Reliquienpartikeln (erst damals) durchsetzte-t? Umdiese Fragen beantworten zu können, ist erstens zu untersuchen, ob es im Westennicht schon im Frühmittelalter zu Reliquienzerteilungen kam, und zweitens, wiebestimmend die Idee des corpus incorruptum für den Reliquienkult war.

    Wie bereits erwähnt, sind im Westen Zeugnisse für eigentliche Reliquienzer-teilungen für das Frühmittelalter sehr selten. Beide Belege aus der merowingi-schen Zeit verurteilen sie auf den ersten Blick klar als Sakrileg. Es handelt sicheinerseits um die Zerteilung der Fingerreliquie des hI. Sergius in Bordeaux durchGundowald und seine Anhänger, von der Gregor von Tours in seinen ,Historien'(Buch VII, c. 31) zum Jahr 585 berichtet, andererseits um die Abtrennung einesArmes des hI. Dionysius durch König Chlodwig 11.(639-657) im ,Liber HistoriaeFrancorum' (c. 44). Der Ausspruch Gregors zur frevelhaften Zerteilung der Re-liquie des hI. Sergius, daß dies "nicht mit der Gnade des Märtyrers, wie sich diesauch in der Folge zeigte"35 geschehen sei, muß nun aber im Kontext des siebtenBuches der ,Historien' gesehen werden. Darin wird König Gunthchramn als rex

    29 Zur Problematik des Auferstehungsleibes vgl. Arnold ANGENENDT,Corpus incorruptum(wie Anm. 1),338-343.

    30 Gregor von Tours, In gloria confessorum 34, MGH SS rer. Mer. 1/2,319.31 Hierzu Arnold ANGENENDT,Der "ganze" und "unverweste" Leib (wie Anm. 1),41-47.32 DERs., Corpus incorruptum (wie Anm. 1), 326f.; DERS.,Heilige (wie Anm. 1), 150-152.33 DERS., Kult (wie Anm. 1),15: "zu deutlich stand [der Reliquienteilung] die Idee des .cor-

    pus incorruptum' entgegen." DERS., Corpus incorruptum (wie Anm. 1),333.34 Arnold ANGENENDT,Heilige (wie Anm. I), 155: "Ein Partikel genügt, um den ganzen

    Heiligen präsent zu haben. Im weiteren Verlauf des Mittelalters hat sich diese Auffassungdurchgesetzt, so daß die Aufteilung allgemein üblich wurde."

    35 Gregor von Tours, Historiarum Iibri decem, VII, 31, MGH SS rer. Mer. 111.312.

  • 64 Ursula Swinarski

    bonus, seine Herrschaft als richtig und gottgefällig dargestellt; als Gegenfigurenerscheinen Gundowald, angeblich ein Sohn Chlothars I. und Thronprätendent,und seine Verbündeten. Der Raub und die Zerteilung der Sergiusreliquie, dieGundowald im Kampf zum Sieg verhelfen soll, leitet bezeichnenderweise dieErzählung vom Untergang Gundowalds (c. 32-39) ein36• Nicht weniger tenden-ziös gefärbt ist die Nachricht des um 727 abgefaßten ,Liber Historiae Franeo-rum', Chlodwig II. habe instigante diabulo einen Arm des Märtyrers Dionysiusabschneiden lassen. Der König wird darauf als ein den Frauen, dem Essen undTrinken ergebener Wüstling geschildert, über dessen Ende bei den scriptoresnichts Gesichertes überliefert seP7. Die ,Gesta Dagoberti: aus der ersten Hälftedes 9. Jahrhunderts bezeichnen die Tat Chlodwigs 11.als Raub und ergänzen, derneustrisehe Herrscher sei als Folge dem Wahnsinn verfallen und gestorben-",Falls diese schlecht bezeugte Reliquienzerteilung tatsächlich stattgefunden hat,dürfte sie wohl kaum heimlich erfolgt sein. Ob man aufgrund dieser Quellenstel-len und der Nachricht bei Gregor von Tours auf eine generelle Verurteilung derReliquienzerteilungen im fränkischen Reich schließen darf, scheint demnachzumindest fraglich; "e silentio" das Gegenteil zu behaupten - Zerteilungen seienim Westen seit dem Frühmittelalter üblich gewesen'? - wohl ebenso. Für dieFrühzeit bleibt meines Wissens ein einziger Beleg aus dem angelsächsischenRaum, bei dem eine Reliquienzerteilung nicht als Unrecht dargestellt wird. BedaVenerabilis berichtet, die Reliquien des hI. Aidan (gest. 652), der die Abtei vonLindisfarne gegründet hatte, seien von Abt Colman zerteilt worden. Dieser ver-ließ nach der Synode von Whitby im Jahr 664 Lindisfarne und kehrte in seineirische Heimat zurück. Dabei nahm er einen Teil der Reliquien des hI. Aidan mitsich, den anderen ließ er in Lindisfarne zurück. Die Frage um den Besitz derÜberreste des Heiligen konnte offenbar nur mit einer tolerierten Teilung gelöstwerderr'P.

    In einer Art "Grauzone" bewegte man sich im Frühmittelalter bei der anläß-lieh von Translationen geübten Praxis, dem erhobenen Heiligen noch vorhandeneHaare oder Finger- und Zehennägel abzuschneiden bzw. sogar Zähne herauszu-brechen. Sind diese Handlungen mit der Vorstellung des corpus incorruptum zuvereinbaren, oder sind sie als Beginn der später auch im Westen bezeugten Re-Iiquienzerteilungen zu werten? Zwar hat Augustinus in seinen Bemerkungen überden Auferstehungsleib Haare und Nägel gleichsam als "überschüssig", das heißtnachwachsend, bezeichner'J, doch dürfte vor allem die Entnahme von Zähnen

    36 Martin HEINZELMANN,Gregor von Tours (538-594): ,Zehn Bücher Geschichte'. Historio-graphie und Gesellschaftskonzept im 6. Jahrhundert, Darmstadt 1994, 49-56.

    37 Liber Historiae Franeorum c. 44, MGH SS rer. Mer. 2, 316.38 Gesta Dagoberti, c. 52, MGH SS rer. Mer. 2, 425; Karl H. KRÜGER,Grabraub in erzäh-

    lenden Quellen des frühen Mittelalters, in: Zum Grabfrevel in vor- und frühgeschichtlicher Zeit,hg. v. H. JANKUHNu.a. (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Phi!.-hist. Kt. 3.F., 113), Göttingen 1978, 182f.

    39 So z.B. Peter DINZELBACHER,.Realpräsenz" (wie Anm. 19), 118.40 Beda Venerabilis, Historia Ecclesiastica 111,26, hg. v. G. SPITZBART(Texte zur For-

    schung 34), Darmstadt 1982,296; Arnold ANGENENDT,Corpus incorruptum (wie Anm. 1),333.41 Augustinus, De civitate Dei XXII,19, hg. v. P.DOMBARTu. W. KALB, 634; vgl. Arnold

    ANGENENDT,Corpus incorruptum (wie Anm. 1),334.

  • Der ganze und der zerteilte Körper 65

    dem späteren Zerteilungsbrauch Vorschub geleistet haben. Als Beispiel ist Eligi-us von Noyon zu nennen, der kurz nach seinem Amtsantritt (641) den MärtyrerQuintinus erheben ließ. Die ,Vita Eligii' berichtet, der Bischof habe bei derErhebung des Heiligen nicht nur vom Martyrium stammende Eisennägel, sondernauch Haare und Zähne entfernt, um sie an verschiedenen Orten zur Krankenhei-lung zu verwenderr",

    Gleichwohl gab es offenbar auch im Westen Körperreliquien. Gregor vonTours erwähnt zum Beispiel eine Goldkapsel mit einem Fingerglied Johannes'des Täufers als Altarreliquie der Kirche St. Johannes in Maurienne im ,Liber inGloria martyrum'P. In seinen ,Historien' ist von der Stephanuskirche in Metz dieRede, die "Reliquien seines niederen Leibes" besessen haben soU44, und schließ-lich von der bereits erwähnten Fingerreliquie des hI. Sergius. Sie gehörte einemSyrer, der in seinem Haus in Bordeaux eine Kirche eingerichtet hatte, und war ander Wand dem Altar gegenüber in einer Kapsel angebracht'>, Bezeichnenderwei-se handelt es sich in diesen drei Fällen nicht um einheimische Märtyrerreliquien,sondern um .Jmportstücke" aus dem Osten. Westliche Große haben sich mitErfolg um begehrte Partikel des hI. Kreuzes aus Konstantinopeloder Körperreli-quien aus dem Heiligen Land bemüht. Relativ gut informiert sind wir über dieGesandtschaft, die die Königin Radegunde (gest. 587), Stifterin des Heilig-Kreuz-Klosters von Poitiers, mit Empfehlungsbriefen König Sigiberts nach demOsten schickte, um "von dort ein Stück Holz vom Kreuz des Herrn und Reliquienvon den Aposteln und anderen Märtyrern" zu holen", Tatsächlich erhielt Rade-gunde von Kaiser Justinian eine Kreuzpartikel und vom Patriarchen von Jerusa-lem einen Finger des hI. Mammetus übersandt". Weiter dürften schon im Früh-mittelalter Palästinapilgerfahrten unternommen worden sein, nicht nur um dieheiligen Stätten zu sehen, sondern auch mit der Absicht, wertvolle Reliquiennach Hause zu bringen. Bezeugt ist dies vom hI. Bercharius, Schüler von Luxeuilund Gründer der Klöster Hautvilliers und Montier-en-Der, der um 670 aus Pa-lästina viele Reliquien mitbrachte". Als eigentliche Reliquiensammler sind Gau-dentius von Brescia, dessen Kirche aus diesem Grund den Namen eoneiliumsanctorum erhielt, Simplicius von Mailand und Vitricius von Rouen zu nennerr'",Vitricius von Rouen erhielt um 380 Reliquien Johannes' des Täufer, und der hll.

    42 Vita Eligii 11,6,MGH SS rer. Mer. 4,699: ex reliquiis quae a sancto corpore sequestra-verat, multa loca condivit. - Die karolingische Überarbeitung der Vita geht auf eine Fassung ausdem späten 7. Jh. zurück; vg!. Karl H. KRÜGER,Grabraub (wie Anm. 38), 183 mit Anm. 60; Ni-cole HERRMANN-MAscARD,Reliques (wie Anm. 20), 62; Arnold ANGENENDT,Corpus incorruptum(wie Anm. I), 334.

    43 Liber in Gloria martyrum 13, MGH SS rer. Mer. 112,497; Margarete WEIDEMANN,Reli-quie (wie Anm. 23), 367.

    44 Gregor von Tours, Historiarum Iibri decem 11,6, MGH SS rer. Mer. 111,68: quia locusin ea [se. Metz] est, in quo parvitatis meae pignera contenentur.

    45 Gregor von Tours, Historiarum Iibri decem VII,31, MGH SS rer. Mer. 1/1,311.46 Gregor von Tours, Historiarum Iibri decem IX,40, MGH SS rer. Mer. 111, 396f.41 Vita s. Radegundis 11,14, MGH SS rer. Mer. 2, 386f.48 Vita s. Bercharii I 3,24, AA SS 16. Okt. VII,2, 1017, u.1I 2,14f., 1022f.49 Nicole HERRMANN-MAscARD,Reliques (wie Anm. 20), 39 mit Anm. 96.

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    Andreas und Timotheus-", Er war denn auch einer der ersten, der die Auffassungvon der .Realpräsenz" des ganzen Heiligen auch in seinen Partikeln verfochtenhat; so heißt es darüber in seinem Werk .De laude sanctorum': Ubi est aliquid, ibitotum est - ..Wo ein Teil ist, ist das Ganze"!'.

    War nun die Idee des corpus incorruptum doch so bestimmend, daß man _etwas inkonsequent - im Westen zwar östliche Körperreliquien verehrte und zuerhalten suchte, westliche einheimische Märtyrer aber vor der Teilung verschon-te? Mir scheint, daß zur Beantwortung dieser Frage die besondere Situation deröstlichen und westlichen Kirche einbezogen werden muß. Auch im Osten istnämlich bei der ersten bekannten Translation eines Märtyrerleibes überhaupt dieIdee des corpus incorruptum faßbar. Bei seiner Erhebung fand man den Leib desMärtyrers Babylas unversehrt, den man im Jahr 354 ca. 100 Jahre nach seinemTod nach Daphne übertrug, um den dortigen Apollokult zu verdrängent-. Die Re-liquienpolitik der oströmischen Kaiser dürfte dafür verantwortlich sein, daßweder am antiken Grabrecht. das Translationen eigentlich ausschloß, noch an derUnverletzlichkeit der heiligen Körper in der Folgezeit festgehalten wurde. Nachder Hauptstadt Konstantinopel, die keine eigenen Märtyrergräber besaß, wurdenzahlreiche Translationen durchgeführt'". So ließ Kaiser Konstantius im Jahr 356die Reliquien des hl. Timotheus, ein Jahr später jene des Apostels Andreas unddes Evangelisten Lukas in der Apostelkirche niederlegen. Unter Theodosius wur-den die Gebeine der Märtyrer Terentius und Africanus und das Haupt Johannes'des Täufers nach Konstantinopel überführt, das der Kaiser persönlich in seinenPurpurmantel gehüllt in die Hauptstadt brachte+', Im Gegensatz zu Konstantino-pel besaß Rom neben den Gräbern der Apostel Petrus und Paulus einen reichenReliquienschatz. Vor allem auf der Petrus-, aber auch auf der Paulusverehrunggründete der Primatsanspruch Roms. An dieser Stelle kann lediglich verwiesenwerden auf die apostolische Sukzession und die gegen Ende des 4. Jahrhundertsentstandene Lehre von der sedes apostolica, wonach der römische Bischof alsNachfolger von Petrus die Binde- und Lösegewalt besitztSs• Deshalb ist es kaumverwunderlich, daß die Päpste im Frührnittelalter an der Unverletzlichkeit der

    SO Vitricius von Rouen, De laude sanctorum 5, PL 20, 448; Nicole HERRMANN-MAscARD,Reliques (wie Anm. 20), 30.

    SI Vitricius von Reuen, De laude sanctorum 10, PL 20, 452; Amold ANGENENDT.Heilige(wie Anm. I), 154.

    S2 Bernhard KOrnNG, Der frühchristliche Reliquienkult und die Bestattung im Kirchenge-bäude, KölnlOpladen 1965. 17f.; Arnold ANOENENDT,Der ..ganze" und ..unverweste" Leib (wieAnm. 1),32, Anm. 4.

    S3 Hierzu Nicole HERRMANN-MAscARD,Reliques (wie Anm. 20), 29.S4 Nikolaus GUSSONE,Adventus-Zeremoniell und Translation von Reliquien. Vitricius von

    Rouen, De laude sanctorum, Frühmittelalterstudien 10 (1976),130.SS Bernhard SCHIMMELPFENNIG,Das Papsttum. Grundzüge seiner Geschichte von der Antike

    bis zur Renaissance, Darmstadt 1984,28-30: Sukzessionsreihe der röm. Bischöfe unter Dama-sus I. (366-384), in der Petrus als erster Bischof von Rom aufgeführt ist, mit PontifikatsbeginnTodesjahr Christi; Pseudo-Klementinen, Brief, wonach Petrus dem röm. Bischof Clemens I. dieLöse- und Bindegewalt übertragen habe; Leo I. (440-461) untermauert die Lehre der sedesapostolica mit röm. Recht, Papst als vicarius Petri bzw. Christi.

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    Gräber festhielten und insbesondere keine Zerteilung der Apostelreliquien zulie-ßen, hätte eine solche Praxis doch der theologischen Begründung päpstlicherAnsprüche außerhalb Roms weitgehend den Boden entzogen.

    Sonst waren im Westen die Bischöfe, allen voran Ambrosius von Mailand,die Protagonisten des Reliquienkults. Mit der Translation der hll. Gervasius undProtasius anläßlich der Weihe der Basilica Martyrum oder Ambrosiana im Jahr386 hat Ambrosius die Heiligenverehrung im Westen im eigentlichen Sinn neulanciert. Ambrosius schreibt, bei der Erhebung der beiden Heiligen seien ossaomnia integra. sanguis plurimums'' gewesen. Auch Augustinus wiederholt inseinen ,Confessiones', "die Körper der hll. Gervasius und Protasius [...] seienüber so viele Jahre unverwest geblieben'

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    private Märtyrerreliquie küßte62, würde Schule machen. Es stellt sich damit nichtdie Frage nach dem Realitätsgehalt der Idee des corpus incorruptum, sondernvielmehr die Frage nach der Funktion dieses und anderer Topoi.

    62 Franz J. DOLGER,Das Kultvergehen der Donatistin Lucilla von Karthago, in: Antike undChristentum III (1932), 245-252; Peter BROWN,Heiligenverehrung (wie Anm. 60), 42.