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SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Hannes Adomeit Putins Militrpolitik S 16 April 2003 Berlin

Hannes Adomeit Putins Militärpolitik€¦ · Vystuplenie na otkrytii zasedanija Sovieta bezo-pasnosti RF [Die Strategie der militärischen Entwicklung ist ein gesamtnationales Problem

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SWP-StudieStiftung Wissenschaft und PolitikDeutsches Institut für InternationalePolitik und Sicherheit

Hannes Adomeit

Putins Militärpolitik

S 16April 2003Berlin

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Alle Rechte vorbehalten.Abdruck oder vergleichbareVerwendung von Arbeitender Stiftung Wissenschaftund Politik ist auch in Aus-zügen nur mit vorherigerschriftlicher Genehmigunggestattet.

© Stiftung Wissenschaft undPolitik, 2003

SWPStiftung Wissenschaft undPolitikDeutsches Institut fürInternationale Politik undSicherheit

Ludwigkirchplatz 3−410719 BerlinTelefon +49 30 880 07-0Fax +49 30 880 [email protected]

ISSN 1611-6372

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Inhalt

Problemstellung und Schlußfolgerungen 5

Der »kritische Zustand« derrussischen Streitkräfte 7Wehrpflichtige in der Armee:Eine negative Auslese 8Schwierigkeiten der Existenzsicherung 9Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte 10Das Spektrum der Kriminalität 11Strafverfolgung: Opfer und Täter 13Die Rolle der russischen Truppenin Tschetschenien 15Keine Alternative zur Militärreform 18

Reformbemühungen unter Putin 19Personalstärken im Zwielicht 21Aufbau einer Berufsarmee �eine »historische Entscheidung« 24Der Pskow-Modellversuch und diekünftige Streitkräftestruktur 26Im Wettstreit konkurrierender Reformkonzepte 27Eine Alternative zur alten Streitkräftestruktur? 29Das Gesetz über den zivilen Ersatzdienst 31

Reformstau: Militärbürokratie und Politik 34Kto winowat? � Wer ist schuld? 37Die Rolle des Westens 39

Fazit 41

Abkürzungsverzeichnis 42

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Problemstellung und Schlußfolgerungen

Putins Militärpolitik

Zu den innen- und außenpolitischen Herausforderun-gen, vor denen Präsident Putin steht, gehört auch dieMilitärpolitik: Die russischen Streitkräfte sind nochimmer auf einen großangelegten konventionellenKrieg mit der NATO ausgerichtet. Ihr Charakter alsMassenarmee mit über einer Million Soldaten hat sichnicht geändert. Die Einsatzpläne des Kalten Kriegesliegen immer noch griffbereit in den Schubladen desGeneralstabs, der weiterhin auf einem umfangreichenReservistenanteil und der Fähigkeit zu umfassenderMobilisierung beharrt.

Organisationsstruktur, Ausbildung und Ausrüstungder Streitkräfte gehen an den wirklichen strategischenErfordernissen vorbei. Gebraucht werden heuteschnell einsatzfähige, mobile und flexible Kräfte.Über derartige Kräfte verfügt Rußland nicht. Derrussischen Armee mangelt es auch an lasergesteuertenPräzisionswaffen, elektronischen Aufklärungs- undFührungssystemen sowie an Kommunikationseinrich-tungen.

Insgesamt befinden sich die russischen Streitkräftein einem kritischen Zustand. Dies betrifft die innereVerfassung, Moral und Ausbildung wie auch die Aus-rüstung und Kampfbereitschaft. Die Streitkräfte unddie »anderen Truppen« der insgesamt zwölf Ministe-rien und Ämter, die über bewaffnete Einheiten ver-fügen, sind von Kriminalität durchsetzt. Die unterAlkoholeinfluß und Einsatz von Waffen begangenenStraftaten nehmen zu. Gewalttätigkeit und Korrup-tion sind an der Tagesordnung.

Der nicht enden wollende Konflikt in Tschetsche-nien beleuchtet einerseits den desolaten Zustand derStreitkräfte und Sondertruppen, verschärft anderer-seits aber auch die kritische Situation. Jegliche Kritikan dem menschenverachtenden Vorgehen der Einsatz-kräfte wird unterdrückt, massive Gewaltanwendunggegen Zivilisten legitimiert, Dienstvergehen werdenverharmlost oder geleugnet.

Die Zustände in den Streitkräften und Sonder-truppen wie auch die Auswirkungen des Krieges inTschetschenien haben die Krise der Wehrpflichtin Rußland vertieft: Wehrpflichtige und ihre Familiensehen der halbjährlichen Einberufung mit Sorge undAngst entgegen. Die Wehrunwilligkeit steigt. Rundzwei Drittel der Wehrpflichtigen entziehen sich legaloder illegal dem Militärdienst. Die Fahnenflucht hat

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Problemstellung und Schlußfolgerungen

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groteske Ausmaße angenommen. Negative demogra-phische Trendlinien verringern den Anteil vonWehrpflichtigen, die gesellschaftlichen Entwicklun-gen deren Qualität.

Die Frage, wie Putin auf diese Herausforderungenreagiert, ist auch für die westliche und insbesonderedie deutsche Öffentlichkeit von großem Interesse. Dasist schon deswegen der Fall, weil Parlament und Regie-rung in Berlin sich mit ähnlichen Problemen ausein-andersetzen müssen: Verkleinerung von personal-intensiven und unterfinanzierten Streitkräften, Bei-behaltung oder Abschaffung der Wehrpflicht, even-tuelle Verkürzung der Wehrdienstzeit, Waffen-modernisierung und Verringerung des militärtech-nologischen Abstands zu den USA. Ein Austausch überderartige Probleme wäre im Interesse beider Seitensinnvoll.

Wichtiger noch ist es, die genauere Kenntnis derSituation in den russischen Streitkräften und PutinsReformansätze in der Militärpolitik zu nutzen, um diegegenwärtige strategische Westorientierung Rußlandsinnenpolitisch besser zu verankern und mitzuhelfen,das russische Militär in eine noch im Aufbau befind-liche Zivilgesellschaft zu integrieren, es in Demokrati-sierung und Marktwirtschaft einzubeziehen. Es giltauch, Rußlands Fähigkeit zu verbessern, mit westlichgeprägten � nationalen und internationalen � mili-tärischen und sicherheitspolitischen Institutionenwie NATO und ESVP in gemeinsamen Operationen(humanitäre Interventionen, Terrorismusbekämp-fung, Friedensmissionen) oder bei gemeinsamenmilitärischen Vorhaben (z.B. der Raketenabwehr)zusammenzuarbeiten.

Die Studie kommt allerdings zu dem Ergebnis, daßPutin diesem Interesse in seiner Militärpolitik bishernicht entsprochen hat. Er spricht zwar von der Not-wendigkeit einer »Demilitarisierung des gesellschaft-lichen Lebens«, in der Praxis stehen aber auch beiseiner Militärreform, wie vorher bei Jelzin, organisa-torische, technokratische und professionelle Aspekteim Vordergrund. Die angestrebten Veränderungenhaben wenig mit Demokratisierung, dem Aufbaueiner zivilen Gesellschaft und ziviler Kontrolle derStreitkräfte zu tun. Nach Putins Willen stehen dierussischen Streitkräfte und Sondertruppen wiedernach den Klängen der sowjetischen Nationalhymnestramm, und bald soll auch wieder der rote Stern derSowjetarmee auf ihren Uniformen prangen. Den Kriegin Tschetschenien läßt er von seinen Truppen nachdem Geiseldrama in Moskau mit neuer Härte führen.Aber auch an Putins eigenen Effizienzkriterien

gemessen ist die Militärreform nicht vorangekommen.Das betrifft die Kernbereiche einer umfangreichenReduzierung der Streitkräfte und Sondertruppensowie der ihnen zugeordneten Zivilbeschäftigten,die Einführung einer Berufsarmee, den Aufbau vonmobilen und flexiblen Einsatzkräften und die Aus-stattung der Streitkräfte mit technologisch hoch-entwickelten Waffen.

Die Möglichkeiten westlicher Regierungen undParlamente oder auch von Nichtregierungsorganisa-tionen, Einfluß auf die russische Militärpolitik zunehmen, sind zwar gering. Sie bestehen dennoch undsollten nicht ungenutzt bleiben. Dazu gehören Ge-spräche mit dem Präsidenten sowie mit anderenPolitikern und hochrangigen Beamten aus Präsidial-administration und Regierung. In diesen Gesprächensollte der westliche Standpunkt vertreten werden, daßeine umfassende Militärreform etwas anderes zumZiel haben müßte als die russischen Bemühungen imletzten Jahrzehnt; daß Demokratie und Zivilgesell-schaft ohne eine gesellschaftspolitisch orientierteMilitärreform nicht vorstellbar sind; und daß sicheine so verstandene Militärreform und die von Putinund der Militärführung geforderte Erhöhung derKampfbereitschaft der Streitkräfte nicht ausschließen,sondern einander gegenseitig bedingen.

Trotz aller Enttäuschungen über das Ausbleibensichtbarer Bewußtseinsveränderungen im russischenMilitär sollten auch die laufenden Austauschprogram-me wie Kurse, Lehrgänge und Seminare mit General-stabsoffizieren und Offizieren der mittleren Führungs-ebene nicht abgebrochen oder eingeschränkt, sondernbeibehalten und womöglich unter verbesserten Rah-menbedingungen ausgeweitet werden.

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Der »kritische Zustand« der russischen Streitkräfte

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Der »kritische Zustand« der russischen Streitkräfte

»Die russische Armee ist von Diebstahl und Plündereidurchsetzt«,1 ... »ist zu einer Gefahr für die Zivilbevölkerunggeworden.«2

»Die Abgeordneten wollten wissen, was das Verteidigungs-ministerium konkret zu tun beabsichtige, um die Situationin den Streitkräften zu normalisieren. Dazu sagte SergejIwanow kein Wort.«3

Frühere Generale und Admirale blicken nostalgischauf die Sowjetära zurück und sehen die russischeArmee und Flotte heute in einem Zustand der »Des-integration«.4 Auch die gegenwärtige Militärführungsieht die Dinge so. So meinte GeneralstabschefKwaschnin anläßlich einer Konferenz von Militärsund Militärwissenschaftlern Ende Mai 2002, die mili-tärischen Formationen Rußlands befänden sich ineinem »mehr als kritischen« Zustand. Falls nicht»außerordentliche Maßnahmen« ergriffen würden,

1 Generalstabschef Kwaschnin am 30. Mai 2002 in einemBeitrag vor einer »wissenschaftlich-praktischen Konferenz«;Rossijskaja armija nachoditsja v kritičeskom sostojanii[Die russische Armee befindet sich in einem kritischenZustand], in: Kommersant� (Integrum, online), 31.5.2002.2 Vadim Solov�ëv, Nado bojat�sja čeloveka s ru��ëm. Rossijskajaarmija stala opasnoj dlja gra�danskogo naselenija [HütetEuch vor dem Menschen mit der Waffe! Die russische Armeeist zu einer Gefahr für die Zivilbevölkerung geworden], in:Nezavisimaja gazeta (Internetausgabe), 15.2.2002. Die An-gaben betrafen den Monat Februar 2002.3 Laut einem Bericht über eine nichtöffentliche Anhörungder Duma Mitte September 2002 zur militärischen Entwick-lung Rußlands; Vadim Solov�ëv, Črezvyčajno zapu�čennyjsilovoj vopros. Legče sozdat� novuju armiju, čem reformiro-vat� su�čestvuju�čuju [Eine überaus vernachlässigte Armee:Es ist leichter, eine neue Armee aufzubauen, als die beste-hende zu reformieren], in: Nezavisimaja gazeta (Internet-ausgabe), 12.9.2002.4 Obra�čenie generalov i admiralov Sovetskich Vooru�ën-nych Sil i Rossijskoj armii k prezidentu Rossii, deputatamGosudarstvennoj dumy, členam pravitel�stva i gubernatoram(prezidentam) regionov Rossijskoj Federacii [Brief von Gene-ralen und Admiralen der Sowjetischen Streitkräfte und derrussischen Armee an den Präsidenten, die Abgeordnetender Duma, die Mitglieder der Regierung und Gouverneureder Regionen], in: Sovetskaja Rossija (Internetausgabe),10.11.2001.

könnte der »negative Zustand der Kampfbereitschaftder russischen Armee irreversibel werden«.5

Derartige Diagnosen sind in Anbetracht des Schei-terns der Reformbemühungen unter Jelzin nicht ver-wunderlich. Auch Putin hat lapidar festgestellt: »DiePläne der Militärreform der letzten zehn Jahre sindnicht verwirklicht worden«.6 Sein Generalstabschefdifferenziert zugunsten seines Chefs und spricht ledig-lich von acht Jahren »falscher« (unter Jelzin), aber zweiJahren »richtiger« Militärreform (unter Putin).7

General Andrej Nikolajew, der Vorsitzende desDuma-Komitees für Verteidigungsfragen, ist an der-artigen Differenzierungen nicht interessiert. Er meint:»Praktisch sind die Umgestaltungen, die sich mit dersogenannten Militärreform verbinden, zusammen-gebrochen. [...] Die Haupterrungenschaft der Umwand-lung der Streitkräfte hat in der Verringerung der Mög-lichkeiten bestanden, die Verteidigung Rußlands zugewährleisten«.8 Andrej Kokoschin, der von März bisSeptember 1998 in seiner Funktion als Sekretär desSicherheitsrats eine zentrale Rolle bei der Ausarbei-tung der Militärreform spielte, teilt diese Einschät-zung: Die Schaffung einer neuen Armee, die sich anden Erfordernissen möglicher künftiger Kriege undmilitärischer Konflikte ausrichte, habe noch nichteinmal begonnen.9

5 Kwaschnin äußerte sich einen Tag vor einer Sitzung desnationalen Sicherheitsrats, der sich mit Fragen der militäri-schen Entwicklung bis zum Jahre 2010 befassen sollte. Dervon Kwaschnin gebrauchte russische Begriff war »zakritičes-kij«, hier übersetzt mit »mehr als kritisch«, hätte aber auchmit »überaus kritisch« wiedergegeben werden können. Ros-sijskaja armija [wie Fn. 1].6 Strategija voennogo stroitel�stva � ob�čenacional�najaproblema. Vystuplenie na otkrytii zasedanija Sovieta bezo-pasnosti RF [Die Strategie der militärischen Entwicklungist ein gesamtnationales Problem. Rede zur Eröffnung derSitzung des Sicherheitsrats der Russischen Föderation],in: Krasnaja zvezda (Internetausgabe), 16.8.2000.7 Rossijskaja armija [wie Fn. 1].8 Zitiert bei Igor� Korotčenko (Interviewer)/Andrej Nikolaev(Interviewter), Dumskij plan voennoj reformy [Der Plan derDuma für die Militärreform], in: Nezavisimoe voennoe oboz-renie (online), 8.2.2002.9 Russian Security Council Must Discuss Concept of MilitaryReform Says Official, in: Military News Agency (Moscow),25.7.2000.

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Der »kritische Zustand« der russischen Streitkräfte

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Bevor die Vorstellungen, Maßnahmen und Ur-sachen der »fehlgeleiteten« Reform erörtert sowie dieZukunftsaussichten der »richtigen« bewertet werden,soll eine Bestandsaufnahme der jetzigen Situation vor-genommen werden. Der »mehr als kritische« Zustandder Streitkräfte (und Sondertruppen) ist zu beleuch-ten. Da die umfangreichen Landstreitkräfte und dieTruppen des Innenministeriums zumeist aus Wehr-pflichtigen bestehen, ist zunächst zu fragen, wer dennüberhaupt dient. Die Antwort auf diese Frage lieferteinen der wichtigsten Gründe für die Misere derArmee: Die eingezogenen Wehrpflichtigen stelleneine negative Auslese der Gesellschaft dar.

Wehrpflichtige in der Armee:Eine negative Auslese

Offiziellen Angaben zufolge nutzen 88% der jungenMänner im Einberufungsalter von 18 bis 27 Jahrenverschiedene Möglichkeiten der Befreiung oderZurückstellung vom Wehrdienst; nimmt man jedochdie Anzahl der 18jährigen als Basis, sind es »nur« ca.70%. Eine wichtige Frage ist, wie es zu diesem hohenProzentsatz an Befreiungen und Zurückstellungenkommt. Der russische Generalstab hat hierzu folgendeAngaben gemacht:

Tabelle 1

Gründe für Befreiung und Zurückstellung von

Wehrpflichtigen

(Prozentangaben bezogen auf männliche russische

Bürger im Alter zwischen 18 und 27 Jahren)

Studium oder Berufsausbildung ..........................................53

Wehruntauglichkeit aus

gesundheitlichen Gründen.................................................35

Familiäre Gründe ........................................................................ 6

Vorbestrafte oder Bürger, gegen die

ermittelt wird oder deren Verfahren

noch nicht abgeschlossen sind ............................................ 7

Quelle: Ob��javljaetsja pjatiletka perechoda [Ein Fünfjahreszeit-raum für den Übergang wird angekündigt], in: Nezavisimajagazeta, 28.1.2002, <http://www.ng.ru/printed/politics/2002-01-28/2_army.html>.

Diese Angaben des Generalstabs geben keinen Auf-schluß darüber, ob die Zurückstellungs- oder Untaug-lichkeitsbescheide rechtmäßig oder unrechtmäßigerteilt worden sind. Aber auch dazu gibt es Infor-mationen. Nach Schätzungen des Generalstabs ent-

ziehen sich ca. 60% (!) aller Wehrpflichtigen in Moskauund Sankt Petersburg dem Wehrdienst, indem sie sichZurückstellungen oder Untauglichkeitszeugnisseerkaufen oder ihre Akten auf den Kreiswehrersatz-ämtern gegen Bezahlung verschwinden lassen. Nachanderen � unabhängigen � Schätzungen halten sichauf diese Weise in Rußland insgesamt bis zu 30% derWehrpflichtigen vom Wehrdienst fern.10

»Gegen Bezahlung« heißt: Die Mehrzahl (bis zu 70%)der Klienten der Kreiswehrersatzämter in Moskau undSankt Petersburg müssen für die begehrten Zurück-stellungs- und Untauglichkeitszeugnisse oder das Ver-schwinden persönlicher Akten mehr als Tausend US-Dollar aufbringen. In der Provinz ist dieser »Service«teurer. Gängige Preise liegen im Bereich zwischen2000 und 5000 US-Dollar.11 Es genügt auch nicht unbe-dingt, ein einziges Mal zu zahlen. Um die Zurück-stellung zu verlängern, wird man oft mehrere Malezur Kasse gebeten. Die Nachfrage auf dem Markt fürdie begehrten Zeugnisse ist infolgedessen enorm, dieGewinne sollen zwischen 600 und 800 Mio. US-Dollarpro Jahr betragen; das Geld fließt in die Taschenziviler und militärischer Mitglieder der Einberufungs-kommissionen.12

Derartige Praktiken führen zu der Eingangsfragezurück, wie es denn um diejenigen jungen Männerbestellt ist, die tatsächlich dienen. Die Antwort lautet:Es handelt sich im wesentlichen um junge Männer,die erstens aus Provinzstädten und ländlichenGebieten kommen, zweitens kein Geld haben, um sichfreizukaufen, und drittens über keine hinreichendeBildung oder Ausbildung verfügen beziehungsweiseviertens keinen Beruf haben.13 Es ist auch keineswegsso, daß der Anteil der tatsächlich Dienenden aus

10 Die statistischen Angaben laut Zolotaja �ila [Goldader], in:Kommersant�-den�gi (Internetausgabe), 15.5.2002. Zur Kassegebeten werden oft aber auch Wehrpflichtige, die rechtmäßigeGründe für eine Zurückstellung haben, seien es familiäre,gesundheitliche oder berufliche.11 Zolotaja �ila, ebd.12 Ebd.13 Vermutlich kommen diejenigen jungen Männer, die sichentweder nicht freikaufen wollten oder konnten oder ausanderen Gründen nicht zurückgestellt oder vom Wehrdienstbefreit wurden und die dann den Wehrdienst verweigerten,ebenfalls aus der urbanen Schicht der Gebildeten und Begü-terten. In der Frühjahrseinberufung 2002 waren das insge-samt 30 000 Wehrpflichtige, ein Anteil von immerhin fast16%, bezogen auf die Gesamtzahl von 189 000 Einberufenen;Nikolaj Kamalov, Komandiry otdelenij bezgramotnoj armii[Kommandeure von Abteilungen einer ungebildeten Armee],in: Nezavisimoe voennoe obozrenie, 19.7.2002, <http://nvo.ng.ru/printed/forces/2002-07-19/3_school.html>.

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Wehrpflichtige in der Armee: Eine negative Auslese

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gesunden jungen Männern bestünde. Um die ihnenauferlegten Einberufungsquoten zu erfüllen, über-stellen die Kreiswehrersatzämter der Truppe immerwieder untaugliche oder nur bedingt taugliche Wehr-pflichtige. Infolgedessen scheiden während der erstenDienstmonate bereits wieder 15 bis 20% der Rekrutenaus gesundheitlichen oder anderen Gründen aus demWehrdienst aus.14

Der Generalstab gibt jährlich Zahlen heraus, die dietraurige Wirklichkeit deutlich widerspiegeln:

Tabelle 2

Zusammensetzung des Anteils der einberufenen

Wehrpflichtigen (Herbst 2001/Frühjahr 2002;

Angaben in Prozent)

Aus gesundheitlichen Gründen nur bedingt tauglich ....55

Keinen Grundschulabschlußa..................................................40

Aus unterprivilegierten oder zerbrochenen Familien.....40

Ohne vorherigen Beruf oder Studiuma.................................50

Mindestens einmal in Untersuchungshaft

oder vorbestraftb ......................................................................30

Mindestens einmal an Schlägereien beteiligt ....................50

Immer wieder an Schlägereien beteiligt..............................25

Haben mehr oder weniger Alkohol getrunken

oder tun dies heute noch......................................................90

Trinken regelmäßig Alkohol....................................................12

Haben vor ihrer Einberufung Drogen genommen ...........20

a Angaben aus dem Militärbezirk Sibirien � nur Grundschul-abschluß: 25%, Berufsschulabschluß: weniger als 2%.b Mindestens einmal in Untersuchungshaft 22%, vorbestraft 8%.

Quellen: Nikolaj Kamalov, Komandiry otdelenij bezgramotnojarmii [Kommandeure von Abteilungen einer ungebildetenArmee], in: Nezavisimoe voennoe obozrenie, 19.7.2002, <http://nvo.ng.ru/printed/forces/2002-07-19/3_school.html>; Draft toArmed Forces Begins in Russia, in: Russian Media MonitoringAgency (WPS), 113 (28.9.2001), <http://www.wps.ru/chitalka/en>;Sergej Safronov, Stanut li voennye c 1-ogo ijunja bogače? [Wirddas Militär nach dem 1. Juni reicher sein?], in: Wek (Internet-ausgabe), 5.7.2002; Vadim Solo�ev, Črezvyčajno zapu�čënnyjsilovoj vopros. Legče sozdat� novuju armiju, čem reformirovat�su�čestvuju�čuju [Eine überaus vernachlässigte Armee: Es istleichter, eine neue Armee aufzubauen, als die bestehende zureformieren], in: Nezavisimaja gazeta (Internetausgabe),12.9.2002.

Auch Teilstreitkräfte und Waffengattungen wieLuftwaffe, Marine oder Raketentruppen, die aufgrundihrer höheren Technisierung auch höhere Anforde-rungen an ihr Personal stellen, leiden unter dem

14 »Illegal Draftees« File Suit against Military Commissions,in: RFE/RL Newsline, 2 (23.8.1999) 163, Part I.

Qualitätsrückgang der Wehrpflichtigen. So hattenoffiziellen Angaben zufolge »in der Marine im Jahre1990 noch 87% der Wehrdienstleistenden höhere undmittlere Berufsausbildung, und es gab unter ihnenkeine Analphabeten. Heute haben nur 37% einerKohorte höhere und mittlere Berufsausbildung, undmanche Rekruten müssen erst lesen und schreibenlernen.«15

Um die Qualität der Wehrpflichtigen zu erhöhen,bemüht sich der Generalstab seit Jahren, die Anzahlder ungefähr 500 Hochschulen, deren Besuch Studen-ten dazu berechtigt, sich vom Wehrdienst zurück-stellen zu lassen, drastisch zu beschränken. Nachseinen Berechnungen würde sich dadurch der Prozent-satz von tatsächlich Wehrdienstleistenden von 11,5%(bezogen auf den Anteil junger Männer zwischen 18und 27 Jahren) auf 30 bis 40% erhöhen; seine Qualitätwürde sich verbessern.16 Der Gesetzgeber und dieRegierung haben aber bisher entsprechenden Forde-rungen der Militärführung nicht entsprochen.

Schwierigkeiten der Existenzsicherung

In den Kasernen sind vor allem Offiziere niedererDienstgrade und Unteroffiziere mehr mit demeigenen Überleben beschäftigt als mit der Ausbildungvon Soldaten oder der Vorbereitung militärischerÜbungen (Einzelheiten hierzu im nächsten Abschnitt).Der akute Mangel an Wohnraum ist bei dem Bemühenum Existenzsicherung eines der größten Probleme.Nach offiziellen Angaben hat jede fünfte Offiziers-familie keine Wohnung; 123 000 Soldaten und Offi-ziere sowie 158 000 Reservisten suchen eine Woh-nung, weil sie keine haben oder in Wohnverhältnissenleben, die sie ändern wollen oder müssen. Rechnetman die Familienmitglieder zum Militärpersonalhinzu, befinden sich mehr als eine Million finanziellvon den Streitkräften abhängiger Menschen aufWohnungssuche.

Außer Wohnraum gibt es noch andere Grund-bedürfnisse, Nahrung und Kleidung zum Beispiel, die

15 Pëtr Titov, Skoree isključenie, čem pravilo [Eher die Aus-nahme als die Regel], in: NVO, 29.11.2002.16 Vladimir Georgiev, Studentov budut prizyvat� v Armiju u�eetoj osen�ju. S takoj iniciativoj Gen�tab v tretij raz namerenvyjti v pravitel�stvo [Studenten werden schon in diesemHerbst in die Armee einberufen: Mit einer entsprechendenInitiative beabsichtigt der Generalstab, zum dritten Mal andie Regierung heranzutreten], in: Nezavisimaja gazeta (Inter-netausgabe), 31.5.2002.

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Der »kritische Zustand« der russischen Streitkräfte

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nur unzureichend befriedigt werden: Den offiziellenAngaben zufolge müssen 45% des Militärpersonals aufeinige Grundnahrungsmittel verzichten und 70% aufden Kauf von Kleidung und Schuhen.17

Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte

Die Kampfbereitschaft von Streitkräften und dasZusammenwirken verschiedener Waffengattungenlassen sich in Friedenszeiten am besten mit Hilfe vonManövern verbessern. Wie Putin aber festgestellt hat,»finden in vielen Truppenteilen keine Übungen statt,[...] keine Gefechtsausbildung«. Aber auch der normaleAusbildungsbetrieb sei, wie Putin beklagt, praktischzum Stillstand gekommen: »Die Piloten fliegen nicht,und die Matrosen fahren fast nie aufs Meer hinaus«.18

Die Zahlen, welche Generale der Luftwaffe oder derLuftverteidigung über die von den Piloten pro Jahrabsolvierten Flugstunden angeben, unterscheiden sichzwar für die russische Luftwaffe und die zum größtenTeil in sie integrierte Luftabwehr insgesamt ebensowie auf regionaler Ebene oder auch für bestimmte Ein-heiten. Sie stimmen aber darin überein, daß die geflo-genen Übungsstunden weit unter den Mindesterfor-dernissen liegen. So geht einer der Kommandeure derLuftwaffe und Luftabwehr davon aus, daß »ein Pilotetwa 100 bis 150 Flugstunden im Jahr braucht, um inÜbung zu bleiben, [...] unsere Piloten fliegen jedochnur 10 bis 12 Stunden im Jahr.«19 Im Moskauer

17 Bericht über die Tätigkeit des Menschenrechtsbeauftrag-ten der Russischen Föderation für das Jahr 2001, Auszüge ausdem Kapitel Menschenrechtsverletzungen in den Streitkräf-ten der Russischen Föderation und anderen militärischenFormationen, in: Nezavisimoe voennoe obozrenie (Internet-ausgabe), 17.5.2002; hiermit überein stimmen auch die An-gaben bei Vadim Solov�ëv, Črezvyčajno zapu�čënnyj silovojvopros [wie Fn. 3]. Die Angaben zu Nahrungsmitteln undKleidung stammen nur aus letztgenannter Quelle.18 Putin beklagt diese Zustände in seiner Rede zur Eröffnungder Sitzung des Sicherheitsrats der Russischen Föderation am11. August 2000 [wie Fn. 6].19 Generalleutnant Sergej Razygraew, Kommandeur der Ver-einten Luftabwehrkräfte auf der Kola-Halbinsel, zitiert beiIgor� �eveljuk, U sosedej nikogda ne vosnikalo �elanija vser�ëzproverit� na�i sily [Unsere Nachbarn hatten nie ernsthaft vor,unsere Luftwaffe zu testen], in: Poljarnaja pravda (Murmansk,Integrum, online), 1.2.2002. In anderen Quellen findet sichdie Zahl von 50 absolvierten Flugstunden pro Jahr, wiederumandere unterscheiden zwischen Übungsstunden bei denTransportfliegern (27 Stunden jährlich) und bei den Tak-tischen Luftstreitkräften (14 Stunden); GeneralleutnantNikolaj Danilow, Kommandeur der Luftwaffe und der Luft-

Militärbezirk seien 62% der Kampfflugzeuge und dieHälfte der Transportflugzeuge nicht funktionsfähig.Trainingsflüge gebe es wegen des Mangels anTreibstoff und Schmiermitteln nur einmal imMonat.20

Ein weiteres Beispiel für die abnehmende Übungs-tätigkeit sind Luftabwehrmanöver: Im Rahmen desTaschkenter »Vertrags über kollektive Sicherheit« undunter Berufung auf dessen angeblich »bisher einzigefunktionsfähige Komponente« wurden seit 1999 jedesJahr umfangreiche Manöver unter dem Namen»Kampfgemeinschaft« (bojewoe sodruschestwo) abgehal-ten, die nicht nur Stabsübungen und Simulation be-inhalteten, sondern auch Gefechtsübungen von Trup-penteilen. Die für das Jahr 2002 geplanten Übungenwurden aber aus Geldmangel abgesagt.21

Nicht sehr viel besser sieht es bei den Landstreit-kräften aus. So wurden im Jahr 2002 bei den Land-streitkräften auf Divisionsebene keine taktischenManöver abgehalten. Die Zahl der taktischen Manövermit Gefechtsschießen in den Regimentern wurde aufein Minimum reduziert. Gerade ein einziges Manöverdieser Art war für 2002 geplant.22

Einer der Gründe, warum der Ausbildungsbetriebleidet, liegt in der euphemistisch so umschriebenen»kommerziellen Betätigung« der Streitkräfte. Sie istunumgänglich, weil Garnisonen oft ihre Rechnungenfür dringend notwendige Lieferungen von Lebens-mitteln und Energie nicht begleichen können und esimmer wieder vorkommt, daß militärischen Einrich-tungen dann einfach der Strom abgeschaltet wird.23

abwehr des Militärbezirks Sibirien, zitiert bei Vadim Koval�,Nebo nad Sibir�ju čistoe [Der Himmel über Sibirien ist leer],in: Krasnaja zvezda (Internetausgabe), 10.7.2002.20 Darüber beklagte sich der Befehlshaber der Luftwaffe undLuftverteidigungskräfte des Moskauer Militärdistrikts, Gene-raloberst Gennadij Wassiljew, im Juli 2000 in einem Brief anden Verteidigungsminister; Moscow Air Force Not Capable ofFulfilling Tasks � Commander, in: Military News Agency(Moscow), 26.7.2000.21 Aleksandr Orlov, Sovmestnych učenij PVO s boevojstrel�boj v ėtom godu ne budet [Gemeinsame Luftabwehr-übungen mit Gefechtsschießen finden dieses Jahr nicht statt],Strana.ru am 20.2.2002, <http://www.strana.ru/stories/01/11/21/2065/114451.html>. Die Bewertung der Bedeutung derLuftabwehrmanöver stammt vom Militärkorrespondentender Nezavisimaja gazeta, Vladimir Muchin, Look to the Skies fora Rare CIS Success Story, in: The Russia Journal (Internet-ausgabe), 9.�15.9.2000.22 Interfax-AWN (russ.), 9.1.2002, zitiert bei Deutsche Welle,Monitor-Dienst Osteuropa, 9.1.2002.23 So schränkte der von Tschubais geleitete Elektrizitäts-gigant Vereinigte Energiesysteme (VES) beispielsweise im

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Das Spektrum der Kriminalität

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Die Beschäftigung von Soldaten in der Landwirtschaftund im Bauwesen war zwar schon in der Sowjetarmeeüblich. Nach Zusammenbruch des Zentralverwal-tungssystems und Einführung der Privatwirtschaftgibt es allerdings sowohl eine stärkeren Zwang alsauch mehr Möglichkeiten für kommerzielle Aktivitä-ten der Truppe. Infolgedessen stellen sich Garnisonenoder Verbände oft in den Dienst regionaler öffent-licher und privater Wirtschaftsinteressen, indem sieGütertransporte sichern. Gleichzeitig kassieren sieselbst ab, indem sie Waffen und Gerät verschieben.Derartige »zweckentfremdete« Aktivitäten werdennicht selten mit verschiedenen Sicherheitsdienstenoder der Mafia abgewickelt.24

Auch in der Ausrüstung der Streitkräfte bestehenerhebliche Mängel � eine Tatsache, die der Tschetsche-nienkrieg deutlich gemacht hat. Defizite liegen inÜberalterung und mangelnder Wartung der Waffen.Die Konsequenz ist, daß »über ein Drittel der wichtig-sten Waffensysteme und der Militärtechnik (bei denKampfflugzeugen weniger als die Hälfte, bei denKampfhubschraubern 80% und bei den Panzern 50%)nicht einsatzfähig sind«.25 Die mangelnde Moderni-sierung der Streitkräfte läßt sich aber auch aus derEntwicklung der Waffenproduktion ersehen (vgl.Tabelle 3).

Ende der neunziger Jahre betrug die Produktionwichtiger Waffensysteme nur noch ein Zehnteldessen, was zu Beginn des Jahrzehnts hergestelltworden war. So ist die Produktion von Panzern

September 2000 nicht zum ersten Mal die Stromversorgungfür die nuklearstrategische Basis in Iwanowo bei Moskauund auch für eine nahe Iwanowo gelegene Fallschirmjäger-division ein; Andrew Jack, Russian-N-Arms Base Will PayPower Bills, in: Financial Times, 14.9.2000, S. 2. Desgleichenhat der fernöstliche Energiekonzern Dalenergo schon oftder russischen Pazifikflotte den Strom gekappt, um dasVerteidigungsministerium zu zwingen, aufgelaufene Schul-den zu begleichen; Russia�s Pacific Fleet Facing Power CutsDue to Debts of USD7m, in: Military News Agency (Moskau),26.7.2000.24 Auf der Sitzung der Regierung vom 21.11.2002 über dieMilitärreform bezeichnete auch Premierminister Kasjanowden Fortbestand »artfremder« Beschäftigung von Armeeange-hörigen als eine Praxis, die ein Ende finden solle; MichailKas�janov: Glavnaja zadača voennoj reformy � perevod armiina kontraktnuju osnovu [Michail Kas�janov: Die Hauptauf-gabe der Militärreform ist die Überführung der Armee in einBerufsheer], in: Nacional�naja Informasionnaja Gruppa (Inte-grum, online), 21.11.2002.25 Michail Chodarenok, Spasti čast� armii ili poterjat� eë pol-nost�ju? [Einen Teil der Armee erhalten oder sie ganz verlie-ren?], in: NVO (Internetausgabe), 22.9.2000.

praktisch eingestellt worden. Auch Überwasser-Kampfschiffe werden kaum mehr hergestellt. Bei derLuftwaffe ist derzeit lediglich ein Prozent der Militär-flugzeuge des Gesamtbestands nach 1995 produziertworden, fast die Hälfte des Bestands hingegen vor1985. Weiterhin ist festzustellen, daß die wenigenWaffen, welche hergestellt werden, in der Regel nichtden russischen Streitkräften zugeführt, sondernexportiert werden.

Tabelle 3

Stückzahlen produzierter Waffen und Waffensysteme

1990�2000

1990 1992 1994 1996 1998 2000

Panzer 1600 500 40 5 10 30

Schützenpanzer 3400 700 400 300 250 50

Kampfflugzeuge 400 150 50 20 30 40

Bomber 40 20 2 1 0 0

Kampfschiffe 2 2 0 1 0 1

U-Boote 12 6 4 3 1 1

Quelle: Christopher J. Hill, Russian Defense Spending, in: Russia�sUncertain Economic Future, Congress of the United States, JointEconomic Committee, Compendium of Papers, December 2001,Washington: U.S. Government Printing Office, 2002, S. 173.

Wenn die offiziellen Angaben der letzten zwei Jahreauch einen Anstieg der Beschaffungsausgaben wider-spiegeln, so betrifft dieser nicht die größeren Waffen-systeme, sondern die Kategorie kleinerer Waffen (z.B.Handfeuerwaffen) und Ersatzteile. Letztere sind zwarbesonders wichtig, um die Funktionsfähigkeit derSysteme aufrechtzuerhalten, jedoch sind die Produk-tionsraten, die erforderlich wären, um dies zu bewerk-stelligen, immer noch unzureichend.26

Das Spektrum der Kriminalität

Eines der Kennzeichen des militärischen Alltags, dassich einst in der zaristischen Armee entwickelte, vonder Sowjetarmee übernommen wurde und auch inden heutigen russischen Streitkräften als verbreitetgilt, ist die Drangsalierung der neu eingezogenenWehrpflichtigen durch die dienstälteren Ränge, die

26 Die zitierten Angaben finden sich bei Christopher J. Hill,Russian Defense Spending, in: Russia�s Uncertain EconomicFuture, Congress of the United States, Joint Economic Com-mittee, Compendium of Papers, December 2001, Washington:U.S. Government Printing Office, 2002.

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Der »kritische Zustand« der russischen Streitkräfte

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Djedowschtschina.27 Die Rekruten werden dem Zivillebenentrissen und an die Verhältnisse beim Militär ge-wöhnt, das heißt, sie werden von dienstälteren Kame-raden und Vorgesetzten geschlagen, gefoltert, erpreßt,bedroht und erniedrigt. Das Militär erweist sich dabeials das, was es ist: Teil einer von der zivilen, demo-kratischen Gesellschaft abgekapselten Welt miteigenen Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten. Zu diesengehört die Tatsache, daß Beschwerden über Mißständeund Mißhandlungen meist nicht nur zwecklos sind,sondern das Risiko weiterer Drangsalierung in sichbergen. Zu den Konsequenzen dieser Verhältnissegehört, daß immer wieder Soldaten physisch und psy-chisch zusammenbrechen, Amok laufen, Kameradenoder Vorgesetzte erschießen und Selbstmord begehen.

Diese Zustände lassen sich zum Teil mit offiziellenZahlen belegen. Nach einem vom russischen General-staatsanwalt, General Wladimir Ustinow, vorgelegtenBericht über Verbrechen und Verbrechensbekämpfungim Jahre 2001 wurden der Staatsanwaltschaft (trotzder erwähnten Risiken für den Beschwerdeführer)mehr als 3000 Fälle »ungesetzlicher Beziehungen« inden Streitkräften gemeldet � ein Euphemismus fürKameradenschinderei und Mißhandlung von Unter-gebenen.28 Russische Militärexperten vermutenhingegen, daß die Djedowschtschina-Dunkelzifferzehnmal so hoch ist.29 Unter den insgesamt 23 000verfolgten Straftaten gab es nach der offiziellenStatistik lediglich 337 Fälle »vorsätzlicher Tötung«.Tödliche »Unfälle« und Selbstmorde sind allerdingsin diesen Zahlen nicht enthalten. Ein wirklich-

27 Westliche Berichte zur Djedowschtschina u.a. Elfie Siegl,»Ein Soldat, das ist Dreck unter den Stiefeln«, in: FrankfurterAllgemeine Zeitung, 14.3.2000, S. 13; Manfred Quiring, Derärgste Feind der russischen Armee: Die russische Armee, in:Die Welt, 21.4.1998, S. 4; Joachim Schmidt-Skipiol, Die Militär-reform in Rußland, Teil 1: Problemlage und Vorgeschichte,Köln 1998 (Berichte des Bundesinstituts für Ostwissenschaft-liche und Internationale Studien, Nr. 53), S. 13�17. Der russi-sche Begriff leitet sich von djed (Großvater) ab.28 Der Bericht trägt den Titel: O sostojanii zakonnosti,pravoporjadka v Rossijskoj Federacii i rabote organov proku-ratury za 2001 god [Über den Zustand der Gesetzlichkeit undder Rechtsordnung in der Russischen Föderation und dieArbeit der Organe der Staatsanwaltschaft im Jahre 2001];die hier zitierten Angaben aus dem Bericht stützen sich aufVadim Solov�ëv, Prestupnost� podtačivaet armejskie ustoi [Ver-brechen untergraben das Fundament der Armee], in: Neza-visimoe voennoe obozrenie, 17.5.2002, S. 1, 4. Die Zahlen-angaben beziehen sich nur auf die Streitkräfte, nicht auf die»anderen« Truppen.29 Solov�ëv, Črezvyčajno zapu�čennyj silovoj vopros[wie Fn. 3].

keitsgetreueres Bild zeichnet wohl das Komitee derSoldatenmütter, demzufolge jährlich mehr als 5000Soldaten an den Folgen unmenschlicher Bedingungenin den Streitkräften ums Leben kommen. Das Komiteegeht davon aus, daß jährlich etwa 1000 Wehrpflich-tige Selbstmord begehen.30

Die Verbindung steigender Zuwachsraten für Alko-holismus und Waffengebrauch führt immer wieder zukritischen Situationen, insbesondere zu Totschlag undMord. So wurde von den oben erwähnten 23 000 Straf-taten in den Streitkräften jede zweite als schwer odersehr schwer eingestuft. Straftaten, die unter dem Ein-fluß von Alkohol begangen wurden, seien um 26%gegenüber dem Vorjahr gestiegen, die mit Waffenverübten um 25%.31 Der Anstieg steht in direktem Zu-sammenhang mit dem Zuwachs an Diebstählen vonWaffen und Munition: 3000 derartige Fälle wurden imJahre 2001 registriert. Darüber hinaus wird in denStatistiken auch die Veruntreuung von Waffen undMunition aufgeführt. 2500 Strafverfahren wurdendiesbezüglich eingeleitet und 20 000 Disziplinar-strafen ausgesprochen. Zu Beginn des Jahres 2002fehlten insgesamt 54 000 Waffen.32

Oft sind es bewaffnete Deserteure, die der Fest-nahme entgehen wollen oder durchgedreht sind undauf jeden schießen, der ihnen im Weg steht � nichtnur Militärs und Polizisten, sondern auch Zivilperso-nen. Auch die Zahl der Fahnenflüchtigen nimmt zu.Zum ersten Mal überhaupt hat das Verteidigungs-ministerium entsprechende Daten vorgelegt. Danachhaben in der ersten Jahreshälfte 2002 insgesamt 2265Wehrpflichtige unerlaubt ihre Einheiten verlassen;auf das ganze Jahr hochgerechnet wären es also über

30 Walentina Melnikowa/Walentina Wonti/Ida Kuklina, Aufga-ben und politische Perspektiven der Soldatenmütter, Vortragam 12.4.2000 in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Den An-gaben der Referentinnen zufolge räumt der Generalstaats-anwalt der Streitkräfte offiziell 2000 Todesfälle ein. Unklar istsowohl im einen wie im anderen Fall, wie sich diese Zahlenzusammensetzen. Ein anderes Komitee, das sich um die Be-lange der Wehrpflichtigen in den Streitkräften kümmert,»Die Rechte der Mütter«, nennt 2000 bis 3000 Todesfälle proJahr; Maksim Romanov, Tema dnja [Thema des Tages], in:Izvestija.ru (Integrum, online), 24.9.2002. Die Zahl von jähr-lich 1000 Selbstmorden von Wehrpflichtigen findet sich beiAmelia Gentleman, Russian Draft Dodgers Prefer Suicide toChechnya, in: The Guardian (Internetausgabe), 21.5.2000.31 Die mit Waffen begangenen Straftaten in Rußland gene-rell seien dagegen um 3,4% gefallen; O sostojanii zakonnosti[wie Fn. 28].32 O sostojanii zakonnosti [wie Fn. 28]. Auch in der russi-schen Presse wird die Waffenkategorie nicht immer deutlich:Es handelt sich hier wohl um Handfeuerwaffen.

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Das Spektrum der Kriminalität

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4500 Fälle. Dem Komitee der Soldatenmütter zufolgesind es aber erheblich mehr. Derzeit sind nach dessenAngaben mindestens 40 000 Armeeangehörige fahnen-flüchtig.33 Das Komitee bemüht sich zwar, den Deser-teuren die Rückkehr zum Wehrdienst zu ermöglichen,wenn auch meist in anderen Einheiten als denen, diesie verlassen haben. Aber nicht alle Fahnenflüchtigemelden sich beim Komitee, und der überwiegende Teilkehrt überhaupt nicht mehr zum Militär zurück.

Der Zuwachs der unter Alkoholeinfluß begangenenStraftaten spiegelt die Zunahme von Alkoholismusauch in der russischen Gesellschaft wider. Nach inoffi-ziellen russischen Schätzungen (offizielle Angabengibt es nicht) beträgt der jährliche Konsum reinenAlkohols pro Kopf der Bevölkerung 14,6 Liter, was 70Halbliterflaschen Wodka entspricht. Allein in denersten fünf Monaten des Jahres 2002 seien 18 224Menschen »im alkoholisierten Zustand« ums Lebengekommen (im Vorjahr waren es 16 858); auf dasganze Jahr bezogen wären das über 43 000 Personen.34

Im Vergleich: Im ersten Tschetschenienkrieg kamen35 700 Menschen ums Leben.35

Das Militär hält zivilen Kritikern denn auch ent-gegen, die katastrophalen Zustände in den Streitkräf-ten seien lediglich das Spiegelbild der gesamtgesell-schaftlichen Verhältnisse; die Kriminalität in denStreitkräften pro 1000 Personen sei sogar geringer alsin der Gesellschaft.36 Derartige Argumente lassen aberaußer acht, daß sich Soldaten und Offiziere in einer

33 Zehntausende Militärangehörige begehen jährlichFahnenflucht: Der Grund sind die sozialen Probleme derStreitkräfte, Interfax (russ.), 18.6.2002, in: Deutsche Welle,Monitor-Dienst Osteuropa, (19.6.2002) 14; desgleichen FredWeir, An Army of Deserters, in: Christian Science Monitor(Internetausgabe), 30.9.2002. Ein westlicher Korrespondentzitiert Walentina Dmitriewnja vom Komitee der Soldaten-mütter in Moskau sogar mit der Zahl von 50 000 fahnen-flüchtigen Wehrpflichtigen pro Jahr. Im Jahre 2002 sollen ihrzufolge allein in Moskau 2000 Wehrpflichtige die Armeeverlassen haben; Andrew Jack, Russia�s Conscript Army StillFrozen in Its Communist Past, in: Financial Times,13.12.2002, S. 20. Die Zahlen von 40 000 oder sogar 50 000geben wohl als kumulierte Gesamtzahl der Fahnenflüchtigenpro Jahr die richtige Größenordnung wieder, so Romanov,Tema dnja [wie Fn. 30].34 Die Zahlenangaben zur Verbreitung von Trunksuchtstammen von der Nationalen Alkohol-Assoziation (NAA)Rußlands und von Alexander Nemtsow, einem leitendenMitarbeiter im Gesundheitsministerium; P�janstvo na uboj[Trunkenheit bis zum Gehtnichtmehr], in: Nezavisimajagazeta, 16.8.2002, S. 1, 3.35 Es handelt sich um die Gesamtzahl ziviler und militäri-scher Opfer; ebd.36 Russische Generalstabsoffiziere im Gespräch mit d. Autor.

strikt nach Dienstvorschriften geregelten und regle-mentierten Sphäre bewegen, die es eigentlich ermög-lichen sollte, Alkohol- und Drogenmißbrauch, Gewalt-anwendung und Gesetzesbrüche zu kontrollieren unddrastisch einzuschränken. Die Äußerungen verdeut-lichen aber auch, daß der noch in der Sowjetära gel-tende Anspruch, die Armee sei Vorbild und gesell-schaftlicher Integrationsfaktor, gewissermaßen»Schule der Nation« wie im Deutschland des 19. Jahr-hunderts, heute praktisch nicht mehr erhoben wird.

Strafverfolgung: Opfer und Täter

Für eine Militärreform, die tatsächlich zum Ziel hätte,das Wehrwesen mit dem Aufbau einer Zivilgesell-schaft in Einklang zu bringen, müßten mindestensdrei miteinander verbundene Voraussetzungen erfülltsein. Dazu würden erstens Soldaten gehören, die sichohne Angst vor Schikanen beschweren und die sichauch gegenüber der Presse und dem Fernsehen freiäußern können, zweitens Medien, die regierungs-unabhängig sind und über Mißstände frei berichtenkönnen, und drittens eine Militärgerichtsbarkeit, dieenergisch gegen Rechtsbrüche vorgeht. Keine dieserBedingungen wird gegenwärtig in Rußland erfüllt.1. Auf die Risiken, die Militärangehörige eingehen,

wenn sie Beschwerde gegen Mißstände und Rechts-verletzungen führen wollen, ist bereits hingewiesenworden. In jedem Falle bergen Beschwerden dasRisiko verschärfter Repressionen in sich.

2. Die regierungsunabhängige Berichterstattung imFernsehen auf nationaler Ebene ist unter Putinsystematisch beseitigt worden, eine freie Presseist nur noch in Rudimenten erhalten. Nach demMoskauer Geiseldrama Ende Oktober 2002 hat derGesetzgeber die Medienfreiheit weiter einge-schränkt. Den russischen Medien ist es nunmehrverboten, über »technische Mittel oder die Taktikder Durchführung antiterroristischer Operationen«zu berichten. Auch jegliche »Propaganda von Terro-rismus« wird bei Strafe untersagt.37 Was darunterzu verstehen ist, bestimmt die Staatsanwaltschaft.

3. Von einem konsequenten Durchgreifen der Militär-staatsanwaltschaft und der Gerichte gegen Dienst-pflichtverletzungen kann keine Rede sein: Die Auf-klärung von Tatbeständen wird durch die Militärsbehindert. Sie wollen keine Flecken auf die »reine

37 Florian Hassel, Rußland schränkt die Pressefreiheit weiterein, in: Frankfurter Rundschau, 2.11.2002, S. 1.

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Der »kritische Zustand« der russischen Streitkräfte

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Weste« der Armee kommen lassen. Für sie scheintes bequemer, Mißstände und Rechtsbrüche zu leug-nen oder zu vertuschen, als sich der eigenen Verant-wortung zu stellen. Typisch für diese Haltung sinddie Anprangerung und sogar Strafverfolgung vonBeschwerdeführern, sei es wegen Falschaussage,Meuterei oder Geheimnisverrats.Drei Fälle sind geeignet, die Reaktionen von Militär

und Militärgerichtsbarkeit auf bekannt gewordeneVerbrechen und Mißstände zu veranschaulichen. Diessind die drei Fälle Pasko, der »Protestmarsch der 54«und Budanow.

Der Fall Pasko. Grigorij Pasko, Journalist mit demDienstgrad eines Kapitäns 2. Ranges, arbeitete bis zuseiner Verhaftung für die Zeitung der PazifikflotteBoewaja wachta (Kampfwacht).38 Er verfaßte aber auchArtikel für die japanische Zeitung Asahi Shimbun. DieThemen, mit denen er sich hauptsächlich beschäf-tigte, betrafen den Betrieb der Atom-U-Boote der Pazi-fikflotte und ihren Umgang mit flüssigem und festemradioaktivem Abfall. Im Jahre 1993 deckte er die schonin der Sowjetära existierende völkerrechtswidrigePraxis der Flotte auf, den gefährlichen Atommüll ein-fach auf hoher See über Bord zu kippen. Ein entspre-chender Filmbericht wurde unter anderem von derjapanischen Fernsehgesellschaft NHK und einer regio-nalen russischen in Fernost (Primorje) ausgestrahlt.Der Film und nachfolgende Artikel wiesen auf dieUmweltbedrohung hin, die nicht nur von der Praxisdes »nuclear dumping« für die Küstenregionen derFernost-Region Rußlands sowie für Japan und Koreaausgeht, sondern auch von Unfällen auf noch betrie-benen Atom-U-Booten und der mangelnden Entsor-gung stillgelegter Atom-U-Boote der Pazifikflotte.Korruption in der Marineführung war ebenfallsGegenstand der Berichte. Im November 1997 wurdePasko in Wladiwostok bei seiner Rückkehr von einerReise nach Japan von Agenten des Inlandsgeheim-dienstes FSB verhaftet und unter Anklage gestellt.Pasko wurde in ein Militärgefängnis verbracht undwartete 20 Monate auf seinen Prozeß.

38 Der Fall Pasko ist von westlichen Menschenrechtsorgani-sationen und umfassend von der norwegischen Umweltorga-nisation Bellona dokumentiert worden; siehe <http://www.bellona.no/en/international/russia/envirorights/pasko/27746.html>. Aus Platzgründen wird hier darauf verzichtet,den ähnlich gelagerten Fall Nikitin (Aufdeckung von Gefah-ren nuklearer Umweltverschmutzung bei der Nordmeer-flotte) zu behandeln.

Der Prozeß begann im Juli 1999 vor dem Militär-gericht der Pazifikflotte in Wladiwostok. Die Anklagelautete auf Verrat von Staatsgeheimnissen an eine aus-ländische Macht (Japan). Von dieser Anklage wurde erfreigesprochen. Das Gericht befand ihn aber für schul-dig, seine Vollmachten als Offizier überschritten zuhaben � ein Tatbestand, dessen er nicht angeklagtwar �, und verurteilte ihn zu drei Jahren Gefängnis;gleichzeitig wurde er amnestiert. Pasko focht dasUrteil mit dem Argument an, ein Unschuldiger könnenicht amnestiert werden. Auch die Militäranwalt-schaft ging in Revision; sie wollte nach wie vorerreichen, daß Pasko wegen Geheimnisverrats ver-urteilt würde. Pasko blieb im Gefängnis. Im November2000 hob der Oberste Militärgerichtshof das Urteil aufund ordnete eine Neuverhandlung vor dem Militär-gericht der Pazifikflotte an. Der neue Prozeß begannim Juli 2001 und endete im Dezember. Pasko wurdewiederum verurteilt, nun doch wegen Verrats vonStaatsgeheimnissen. Das Strafmaß betrug vier JahreHaft. Die Begründung: Er habe Notizen besessen, dieer auf einer Sitzung im Stab der Pazifikflotte ange-fertigt habe und die er an den japanischen Journa-listen Tadashi Okano weiterleiten wollte.

Pasko focht auch dieses Urteil an. Mit dem Revi-sionsantrag hatte sich nun das Militärkollegium desObersten Gerichtshofs der Russischen Föderation inMoskau zu befassen. Im Juni 2002 fällte es sein Urteil:Die Verurteilung Paskos sei rechtens. In der Urteils-begründung wich das Militärkollegium jedoch in zweiPunkten vom Militärgericht der Pazifikflotte ab:Erstens strich es die vorherige Begründung, PaskosTeilnahme an der Stabsbesprechung sei illegalgewesen, und zweitens sah es die Tatsache nicht alszutreffend an, daß er als Offizier Kontakte mit Aus-ländern unterhalten habe.39 Seine Anwälte fochtenauch dieses Urteil an, jedoch ohne Erfolg. Paskomußte seine vierjährige Haftstrafe antreten. Im Januar2003 wurde er wegen guter Führung vorzeitig ent-lassen. Die Staatsanwaltschaft ficht jedoch derzeit dieEntlassung mit der Begründung an, Bedingung dafürsei Reue, die Pasko keineswegs zeige, der weiterhinseine Unschuld beteuere.

39 Dies geschah vermutlich deswegen, weil die beidenBegründungen auf den Dekreten 10 und 55 des Verteidi-gungsministeriums fußten. Dekret 10 enthielt eine umfang-reiche Liste von Tatbeständen des Geheimnisverrats, Dekret55 stellte Kontakte mit Ausländern unter Strafe. Das ObersteGericht hatte aber beide Dekrete vor dem Urteil des Militär-kollegiums für null und nichtig erklärt.

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Die Rolle der russischen Truppen in Tschetschenien

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Der »Protestmarsch der 54«. Am 8. September 2002wurden fünf Soldaten einer in Kamyschin naheWolgograd stationierten Einheit der 20. Artillerie-division des 242. MotSchützenregiments im Militär-bezirk Nordkaukasus von ihren Vorgesetzten miß-handelt.40 Am Vorabend hatten Wehrpflichtige ihrebevorstehende Entlassung gefeiert. In angetrunkenemZustand kaperten sie dann ein gepanzertes Aufklä-rungsfahrzeug und fuhren damit in der Gegendherum. Vermutlich um die genaueren Umstände auf-zuklären, wurden am darauffolgenden Morgen fünfSoldaten von Offizieren stundenlang mit Spaten-stielen geprügelt und mit Fußtritten in Magen undRippen malträtiert. An der Mißhandlung beteiligtensich ein Oberstleutnant, zwei Majore, zwei Oberleut-nante und ein Leutnant. Die fünf Soldaten wurdenzum Mittagessen entlassen, ihnen wurde aber an-gedroht, danach werde es mit der »Befragung« weiter-gehen.

Die Soldaten nahmen die Ankündigung ernst.Zusammen mit 49 Kameraden verließen die Fünf ihreGarnison und begaben sich in ein Büro der Menschen-rechtsorganisation »Recht der Mütter« in Wolgograd.Dort legten sie in einer Erklärung die Gründe fürihren Auszug aus der Kaserne dar. Weiterhin plantensie, mit Mitarbeitern der Organisation zur zuständi-gen Militärstaatsanwaltschaft zu gehen, um ein Straf-verfahren gegen die Offiziere anzustrengen. Dazu kames allerdings nicht. Sie wurden vor der Ausführungihrer Absicht von der Militärstaatsanwalt und demstellvertretenden Kommandeur der 20. Division ausdem Büro der Menschenrechtsorganisation geholt undabgeführt. Zum Vorfall werden derzeit in der DivisionNachforschungen angestellt. Eine Kommission derMilitärstaatsanwaltschaft beschäftigt sich mit derSchuld eines Offiziers, der bei den Mißhandlungenbesonders brutal vorgegangen sein soll. Hingegen istbisher über das Schicksal der 54 Soldaten, die ihreEinheit aus Protest gegen die Mißhandlungen ver-lassen hatten, nichts bekannt geworden. Sie könntenwegen unerlaubten Fernbleibens vom Dienst oder

40 Zu den hier benutzten Quellen gehören Andrej Serenko,Soldatskij mar� protesta. Organizatorov pochoda za spraved-livost�ju General Tro�ev nazval podstrekatel�jami i p�janicami[Protestmarsch der Soldaten: General Troschew nannte dieOrganisatoren des Marsches zur Gerechtigkeit Aufwieglerund Trunkenbolde], in: Nezavisimaja gazeta (Internet-ausgabe), 12.9.2002, und: Desertiry ustroili p�janku i katalis�na brontechnike [Deserteure organisierten ein Trinkgelageund fuhren in einem gepanzerten Fahrzeug], in: Strana.ru(Integrum, online), 10.9.2002.

sogar wegen Meuterei bestraft werden. Dies ist aller-dings wegen des großen Aufsehens, den der Fall erregthat, und des Grundes für ihren Auszug aus derKaserne unwahrscheinlich. Dagegen ist offensichtlich,wie der damalige Oberkommandierende des Militär-bezirks Nordkaukasus, General Troschew, das Problemsieht. Er hat öffentlich nicht die Gewalttäter, sonderndie Organisatoren des Protestmarsches verurteilt, dieer als »Aufwiegler« und »Trunkenbolde« bezeichnete.41

Ein drittes Beispiel für das Bemühen der Militär-führung und der Militärstaatsanwaltschaft, Vergehenund Verbrechen in den Streitkräften und Sonder-truppen entweder zu vertuschen oder, wo dies nichtgelingt, zu verharmlosen, ist der von Oberst JurijBudanow begangene Mord an einer jungen Tsche-tschenin. Dieser Fall wird im Zusammenhang mit demVorgehen der föderalen Truppen in Tschetschenienerörtert (siehe unten, S. 16).

Die Rolle der russischen Truppen inTschetschenien

Wenn es zutrifft, daß Kameradenschinderei und Miß-handlungen Untergebener, Diebstahl sowie Alkohol-und Drogenkonsum zum Alltag des Militärdienstesin Friedenszeiten gehören und sich Gewalttaten oftgegen Angehörige ethnischer und religiöser Minder-heiten richten, werden die von den russischenTruppen in Tschetschenien in Kriegszeiten � im Zugeder »antiterroristischen Operation« � begangenenGreueltaten zumindest verständlicher.

Um Greuel handelt es sich in der Tat. Berichteninternationaler und russischer Menschenrechtsorga-nisationen sowie unabhängiger Journalisten zufolgeist die »Antiterroraktion« der russischen regulärenTruppen, Sondertruppen und Geheimdiensttruppenin Tschetschenien in Terror gegen die Zivilbevölke-rung ausgeartet. Mord, Vergewaltigung, Folter, Geisel-nahme, Raub und Plünderungen sind die Haupt-erscheinungsformen eines seit dreieinhalb Jahren ein-gespielten und verfestigten Systems der Unterdrük-kung.42

41 Serenko, Soldatskij mar� protesta [wie Fn. 40].42 Die umfassendste und zugleich verläßlichste Darstellungdes staatlich ungezügelten Terrorregimes in Tschetschenienbietet Anna Politkovskaja, Tschetschenien: Die Wahrheit überden Krieg. Aus dem Russischen von Hannelore Umbreit undUlrike Zemme, Köln 2003. Die Autorin hat von Beginn desKrieges im August 1999 an für eine der wenigen nicht gleich-

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Ein typisches Beispiel ist der Fall Budanow, des bis-her einzigen hohen Offiziers, gegen den wegenschwerer Verbrechen in Tschetschenien ein Prozeß ab-gehalten wurde. Wie oben erwähnt, ist der Prozeßgleichzeitig ein Paradebeispiel dafür, wie Militär-gerichte, wenn sie überhaupt tätig werden, mit Men-schenrechtsverletzungen in Tschetschenien umgehen.

Der Fall Budanow. Oberst Jurij Budanow, Komman-deur des in Tschetschenien eingesetzten 160. Garde-regiments, erwürgte im März 2000 ein tschetsche-nisches Mädchen. Er ließ die damals 18jährige HedaKungajewa in ihrem Elternhaus festnehmen, in einenTeppich wickeln und in seinen fahrbaren Befehlsstandbringen. Untergebene auf der Straße hörten Musikund Schreie. Nach zwei Stunden war die junge Frautot. Nach einem gerichtsmedizinischen Gutachtenwurde sie vergewaltigt. Soldaten seiner Einheitmußten die nackte Leiche am Rande des Dorfes ver-scharren. Obwohl Budanow warnte, wer die Ge-schichte ausplaudere, werde von ihm erschossen,brachten Soldaten sie ans Licht. Vermutlich wäre aberauch dieser Fall vertuscht worden, wenn nicht Buda-nows unmittelbarer Vorgesetzter, General Schama-now, Befehlshaber der Truppengruppierung West,gerade außerhalb Tschetscheniens gewesen wäre. SeinStellvertreter, General Valerij Gerassimow, ließ denOberst verhaften und in das Militärgefängnis des nord-kaukasischen Militärbezirks in Rostow verbringen.43

Zwei Jahre und acht Monate nach der Tat entschieddas Militärgericht in Rostow unter Berufung auf Gut-achten des für die »Behandlung« von Dissidenten inder Sowjetära berüchtigten Serbskij-Instituts fürPsychiatrie in Moskau, Budanow sei im strafrecht-lichen Sinne nicht schuldig. Er sei psychisch krankund zur Tatzeit unzurechnungsfähig gewesen.44

geschalteten Zeitungen in Rußland, die Nowaja gazeta,berichtet.43 Der Tatbestand der Vergewaltigung wurde zwar vonW. Janenko vom 124. Zentrallabor für medizinisch-krimino-logische Gutachten bestätigt. Nach einem russischen Berichtwurde dann aber »das Sperma des Obristen zum Spermajenes Vertragssoldaten degradiert, dem Budanow befahl,die Leiche zu vergraben (und der dann amnestiert wurde),und dann verschwand das Sperma selbst« (Viktor Sokirko,Vmenjaemaja nevmenjaemost� [Verantwortliche Unver-antwortlichkeit], in: Moskovskij komsomolec, 21.5.2002).44 Wie brisant der Fall ist, zeigt die Tatsache, daß der Militär-ausschuß des Obersten Gerichtshofs Rußlands im Februar2003 die Rechtmäßigkeit des Urteils vom 31.12.2002 ange-zweifelt und den Fall zur nochmaligen Verhandlung an dasMilitärgericht in Rostow zurückverwiesen hat.

Umfassend dokumentiert sind mittlerweile nichtnur Verbrechen einzelner Militärangehöriger, sonderngewissermaßen »Serienverbrechen«, die im Rahmenvon immer wieder stattfindenden »Säuberungen«(satschistki) und »Sonderoperationen« (spezoperazija)begangen worden sind. Dabei durchkämmen russischeTruppen tschetschenische Dörfer auf der Suche nachvermeintlich dort untergetauchten Terroristen. Per-sonen vor allem männlichen Geschlechts und Jugend-liche werden festgenommen, manche erschossen,andere zusammengeschlagen und gefoltert, in irgend-ein Gefängnis oder in Erdlöcher gesteckt. Eine neueRegelung bestimmt, daß Militärstaatsanwälte beiSäuberungsaktionen anwesend sein sollen. Die Anzahlder militärischen Sondereinsätze scheint sich ver-ringert zu haben. Die Zahl der Opfer ist aber trotzdemnicht zurückgegangen, nur werden sie jetzt gezieltervon Todesschwadronen vor allem des FSB, MWD undvon Sonderabteilungen der Polizei ausgeführt.

Der neueste Tschetschenien-Bericht des Europaratsstellt sogar fest: »Die Menschenrechtssituation hat sichseit Jahresanfang 2003 erheblich verschlechtert. DieZahl der Verschwundenen steigt.«45 Männliche Jugend-liche werden weiterhin willkürlich an Kontrollpostenauf offener Straße festgenommen und verschleppt.Menschenrechtsorganisationen schätzen, daß jedenMonat zwischen 50 und 80 Männer von russischenSoldaten und Polizisten ermordet werden.46 Insgesamt18 000 Menschen gelten seit ihrer Festnahme alsvermißt.47

Mit den Festgenommen und Verschleppten wirdHandel getrieben. Ihren Angehörigen wird gesagt, wie-viel Lösegeld sie in welcher Frist aufzubringen haben,um die Geiseln freizukaufen. Nicht alle schaffen esinnerhalb der Frist, die ihnen gesetzt ist. In solchen

45 Florian Hassel, Der andere Krieg. Während die Weltauf Irak blickt, morden in Tschetschenien russische Todes-schwadronen weiter, in: Frankfurter Rundschau, 19.3.2003,S. 1; siehe auch die von Hassel und Tomas Avenarius (Süd-deutsche Zeitung) gemeinsam recherchierten Berichte überMenschenrechtsverletzungen in Tschetschenien in der Süd-deutschen und der Frankfurter Rundschau vom selben Tag.46 Internationale Helsinki-Föderation für Menschenrechte(IHF), die zum Teil wiederum auf Recherchen russischer Men-schenrechtsorganisationen (wie »Memorial«) beruhen; sieheauch »Immer mehr Morde in Tschetschenien«, in: FrankfurterAllgemeine Zeitung, 25.7.2002, S. 5, und Jörg R. Mettke, Aus-zeit für die Justiz, in: Der Spiegel, 29.7.2002, S. 107.47 Nach Angaben des damaligen russischen Nationalitäten-ministers, Alexander Blochin, zitiert im Jahresbericht 2002der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM),Menschenrechte in Tschetschenien 2001, <http://www.igfm.de/tschetschen/Ch020328.htm>.

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Die Rolle der russischen Truppen in Tschetschenien

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Fällen verlieren sich die Spuren der Verschleppten.Oder den Angehörigen wird erklärt, nun ginge es umden Freikauf einer Leiche. Besonders makaber istdabei, daß eine Leiche mehr als ein Lebender kostet,denn die Militärs wissen sehr wohl, daß es für einenTschetschenen nichts Schlimmeres gibt als die Ver-letzung des Begräbnisrituals.

Im September 2002 kündigte der von Moskau inTschetschenien eingesetzte Verwaltungschef AchmadKadyrow an, es werde keine großen Säuberungsaktio-nen mehr geben, nur noch gezielte Nachprüfungenbei begründetem Verdacht. Dies sei auf einem Treffenzwischen Putin, Kwaschnin und ihm selbst in Moskaubeschlossen worden.48 Falls tatsächlich auf diese neueTaktik umgeschwenkt worden sein sollte, hat sienichts an der Tatsache von Entführungen und Mordengeändert. Gegenwärtig häufen sich die Berichte überMänner, die nachts mit Masken und Tarnuniformenjunge Tschetschenen verschleppen, deren Körperspäter von Granaten zerfetzt aufgefunden werden(vermutlich um eine Identifizierung zu erschweren).49

Und weiterhin wird am Krieg auf allen zivilen undmilitärischen Ebenen verdient: Die Truppe bekommtSonderzulagen für Kampfeinsätze. Zeitsoldaten undWehrpflichtige kassieren Schmiergeld an den Posten-ketten. Offiziere mittleren Ranges streichen erpreßteLösegelder ein. Höhere Offiziere lassen Finanzmittelaus dem Militärbudget und Sonderzuweisungen fürden Krieg in die eigenen Taschen fließen. Mitarbeiterder Zivilverwaltung veruntreuen die für den »Wieder-aufbau« der Republik bereitgestellten Mittel. Und allezusammen � russische Militärs, Verwaltungsbeamteund ein Teil der Rebellen � machen Geschäfte mit ille-galem Ölhandel und dem Verkauf von Waffen.

Das eigentliche Ziel der militärischen Operationen,die Vernichtung der Rebellen, ist ungeachtet dessennicht erreicht worden. Zwar gelang es den russischenTruppen, größere militärische Einheiten der Rebellenbis zum Frühjahr 2001 zu vernichten, so daß General-stabschef Kwaschnin und der Chef der Interventions-truppen, General Troschew, den »militärischen Teil«der »antiterroristischen Operation« für beendet er-klären konnten, nachdem schon vorher, im Januar,die Leitung des Kampfes dem FSB übertragen wordenwar.50 Im April 2002 stellte aber Kadyrow fest, durch

48 No More Mass Sweep Operations in Chechnya � Admin-istration Chief, in: Interfax-Military News Agency (AVN),Weekly Newsletter, 40 (30.9.2002) 55.49 Markus Wehner, Entführt von Maskierten im Tarnanzug,in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.2.2003, S. 3.50 Putin Shifts Chechen Command to FSB, in: RFE/RL

das Verhalten der föderalen Truppen nehme »die Zahlder Rebellen nicht ab: Früher war von 1500 die Rede,heute sprechen wir immer noch von 1500«.51 Aller-dings sind im Verlauf des Krieges ganz unterschied-liche Zahlen genannt worden, die von den 1500Kämpfern Kadyrows bis zu von der russischen Militär-führung angegebenen 26 000 Mann »illegaler bewaff-neter Formationen« reichen.52 Der Eindruck entsteht,als würden derartige Zahlen ganz willkürlich, ohnejeglichen Bezug zur Wirklichkeit gehandelt.

Wie groß auch immer die Anzahl bewaffneterRebellen sein mag, auch heute erleiden die russischenTruppen nahezu täglich Verluste. Manchmal sind siespektakulär. So wurde im August 2002 ein Armeehub-schrauber über der russischen Militärbasis Chankala,der Kommandozentrale der russischen Truppen inTschetschenien nahe Grosnyj, abgeschossen; 118 russi-sche Militärs kamen dabei ums Leben. Insgesamt sindbisher nach offiziellen russischen Angaben 14 429Tote und 12 285 Verwundete zu beklagen. Zum Ver-gleich: In Afghanistan kamen in den elf Jahren dersowjetischen Militärintervention zwischen 13 000und 15 000 sowjetische Soldaten ums Leben.53

Das Verhalten der Streitkräfte und Sondertruppenin Tschetschenien, so steht zu befürchten, ist einer-seits eine logische Konsequenz des allgemeinen Zu-stands der Armee; andererseits stellt es ein ernstesHindernis für eine wirkliche »Normalisierung« und»Befriedung« der politischen und wirtschaftlichen Ver-hältnisse in der Kaukasusrepublik dar. Der Krieg hatauch katastrophale Rückwirkungen auf den allgemei-nen Zustand der Armee und die Gesellschaft, machteine richtig verstandene Militärreform noch schwieri-ger, als sie ohnehin schon ist. »Die Männer«, um eine

Features, 22.1.2001, <http://www.rferl.org/nca/features/2001/01/22012001121603.asp>; Simon Saradzhyan, Troop With-drawal May Allow Rebels to Take Over, in: Moscow Times(Internetausgabe), 23.6.2000.51 Politkovskaja, Tschetschenien [wie Fn. 42], S. 196.52 Ebd., S. 151, 168.53 Diese Berechnungen hat der bekannte Moskauer PublizistOtto Lazis angestellt; zitiert bei Elfie Siegel, Absturz in Tsche-tschenien, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.8.2002,S. 4. Die regelmäßig veröffentlichten Opferzahlen liegen umetwa 10 000 niedriger als diejenigen, auf die man (wie Lazis)durch die Addition offizieller Angaben kommt � ein Wider-spruch, der sich dadurch erklärt, daß vom Kreml meistensnur die Zahlen eines der drei Bestandteile der föderalen Trup-pen angegeben werden. Manchmal werden fälschlich die Ver-lustzahlen für einen dieser drei Bestandteile als Gesamtzahlangesehen oder ausgegeben, so beispielsweise von JurijGavrilov, Čečnja. Trudnyj put� k miru [Tschetschenien: Schwie-riger Weg zum Frieden], in: Krasnaja zvezda, 6.2.2001, S. 1.

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Der »kritische Zustand« der russischen Streitkräfte

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besorgte russische Stimme zu zitieren, »die sich Offi-ziere nennen und diesen Sumpf aus allgegenwärtigerLüge und moralischer Verkommenheit etablierthaben, nehmen die Erfahrung völliger Straflosigkeitihres verwerflichen Tuns mit zurück in alle Regionendes Landes. �Tschetschenien� als Denk-, Empfindungs-und Handlungsmuster breitet sich aus wie ein Krebs-geschwür, infiziert alle Schichten der Gesellschaft undverursacht eine Tragödie von gesamtnationalem Aus-maß.«54

Keine Alternative zur Militärreform

Das düstere Bild des Zustands und der inneren Ver-fassung der russischen Streitkräfte und Sondertrup-pen setzt sich aus vielen Mosaiksteinen zusammen.Nicht zuletzt um dem derzeit oft von offiziellen russi-schen Stellen erhobenen Vorwurf westlicher »Ein-seitigkeit« und »Voreingenommenheit« zu begegnen,stützt sich diese Studie nahezu ausschließlich aufoffizielle russische Angaben und auf die freie Bericht-erstattung in Rußland. Einige Korrekturen solltenaber vorgenommen werden, weil sie geeignet sind,das düstere Bild etwas zu aufzuhellen.

Neben den drei Hauptträgern der Kampfhandlun-gen und »Säuberungen« in der abtrünnigen Republik �den Truppen des Verteidigungsministeriums, desInnenministeriums (MWD) und des Inlandsgeheim-dienstes (FSB) � sind auch Grenztruppen und Spezial-einheiten (Speznas) des FSB, der militärischen Auf-klärung (GRU), des Innenministeriums gegen orga-nisierte Kriminalität (RUBOP) sowie zur Befreiung vonGeiseln (SOBR) und der Polizei (OMON) aktiv. Ähnlichwie gezeigt wurde, daß zwischen dem Verhalten derWehrmacht und jenem der Einsatzgruppen der SS imZweiten Weltkrieg zu differenzieren ist, würde eineeingehende Untersuchung der Akteure im Tschetsche-nienkrieg vermutlich zeigen, daß die regulären Ein-heiten der Streitkräfte vergleichsweise seltener anGewalttaten gegen Zivilisten beteiligt sind als Sonder-einheiten wie die OMON. Die Betonung muß aller-dings auf vergleichsweise liegen.55

54 Politkovskaja, Tschetschenien [wie Fn. 42], S. 185.55 Probleme der Beweisführung bei der Aufklärung von Ver-brechen sind: (1) Die bei den »Säuberungsaktionen« beteilig-ten Truppen verschmieren oft die Kennzeichen und Markie-rungen der Kraftfahrzeuge, Schützenpanzer und Panzer,um eine Identifizierung der Einheit unmöglich zu machen.(2) Gewalttäter weisen sich nicht aus und tragen meistschwarze Wollmützen, die nur Augen und Nase freilassen.

Lichtblicke lassen sich aus der Bewertung SergejIwanows ableiten, der Zustand militärischer Einheitenhinge »ganz entscheidend davon ab, wer ihr Komman-deur ist«.56 In der Tat, es gibt professionelle undreformfreudige Kommandeure, die gegen Versuchun-gen von Korruption gefeit sind. Insbesondere die Luft-landetruppen bilden eine Ausnahme vom allgemeindesolaten Zustand der Streitkräfte (siehe nächstesKapitel).57 Vermutlich trifft das auch für Großeinhei-ten mit besonderen Aufgaben wie die 4. Panzer-(Kante-mirow) und die 2. MotSchützen-(Taman)Division zusowie für hochtechnisierte Einheiten wie die Raketen-truppen.58

Insgesamt bleibt das Bild aber besorgniserregend,eine umfassende Militärreform erscheint unabding-bar. Nachfolgend soll untersucht werden, was unterMilitärreform in Rußland verstanden wird, welcheMaßnahmen getroffen und zum Teil wieder zurück-genommen worden sind, und welche Erfolgsaussich-ten die gegenwärtigen Reformpläne überhaupt haben.

56 Sergej Ivanov: eksperiment po perechodu na kontrakt-nuju osnovu proizojdët vo vsech silovych strukturach [SergejIwanow: Das Experiment zum Übergang zu einer Kontrakt-basis soll auf alle Machtstrukturen übertragen werden], in:Strana.ru, 19.4.2002, <http://strana.ru/print/130955.html>.57 Dies ist auch der Eindruck, den deutsche Offiziere derLuftlandebrigade 26 während ihrer Besuche bei drei Regi-mentern der 98. Luftlandedivision (Iwanowo, Kostroma) imRahmen des bilateralen Jahresprogramms 2002 gewannen;Quelle: Gespräche mit deutschen Offizieren.58 Die Taman- und die Kantemirow-Division sind beide inder Nähe Moskaus disloziert. Traditionell werden sie nichtnur zu Paraden herangezogen, sondern sollen offenbar auchdie Sicherheit der in der russischen Hauptstadt angesiedeltenVerfassungsorgane und insbesondere des Präsidenten garan-tieren.

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Reformbemühungen unter Putin

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Reformbemühungen unter Putin

»Zum ersten Mal haben wir Ende der achtziger Jahre begon-nen, über die Militärreform zu reden. Damals schien das einerevolutionäre Idee zu sein. Seitdem hat sich aber nichts Revolu-tionäres getan.«59

»Wir reden und reden und halten Sitzungen ab, aber dasRäderwerk der Reform befindet sich im Leerlauf.«60

»Die Haupterrungenschaft der Umstrukturierungen der Streit-kräfte besteht in der geringeren Zahl von Möglichkeiten, dieVerteidigung Rußlands zu gewährleisten.«61

Alle Entscheidungen über die Reform des Militär-wesens wurden zunächst auf den Sommer 2000vertagt. Anfang Dezember 1999 hatte der Ausschußfür Militärreform des Sicherheitsrats zwar einenArbeitsplan verabschiedet. Ein mit diesem Dokumentvertrauter russischer Militärexperte kam jedoch zufolgendem Ergebnis: Die Kommandeure der »Macht-ministerien« seien einerseits mit dem Krieg in Tsche-tschenien beschäftigt, andererseits damit, wie sie ihrePrivilegien bewahren oder auch Wohnungssituation,Gehälter und Pensionszahlungen verbessern könnten.Der Arbeitsplan »sieht überhaupt keine Bewegung aufdem �Bauplatz� der militärischen Reformbemühungenvor � im Gegenteil, er programmiert eine tote Saisonfür die Reform der militärischen Organisation bis zumAbschluß der Präsidentschaftswahlen«.62

Auch nach Putins Wahl zum Präsidenten im März2000 gab es anfangs keine Impulse für eine Neu-auflage der Reformbemühungen. Im Zuge seines Auf-stiegs zum höchsten politischen Amt und damit zumOberbefehlshaber der Streitkräfte schien es auch so,

59 Generalmajor a.D. Vladimir Dudnik, Naëmniki ili dobro-vol�cy? [Söldner oder Freiwillige?], in: Večernaja Moskva (Inte-grum, online), 4.4.2002.60 Putin auf einer Sitzung des nationalen Sicherheitsrats am11. August 2000; Strategija voennogo stroitel�stva [wie Fn. 6].61 Zitiert bei Igor� Korotčenko (Interviewer)/Andrej Nikolaev(Interviewter), Dumskij plan voennoj reformy [Der Plan derDuma für die Militärreform], in: Nezavisimoe voennoe oboz-renie (online), 8.2.2002. General Andrej Nikolajew ist Vor-sitzender des Duma-Komitees für Verteidigungsfragen.62 Vladimir Ermolin, Mërtvyj sezon voennogo stroitel�stva[Tote Saison für die militärische Entwicklung], in: Izvestija,7.12.1999, S. 2.

als wolle er dem Militär und den Sicherheitsdienstenwie in der Sowjetära eine privilegierte Rolle in Politik,Wirtschaft und Gesellschaft einräumen. Schließlichwar Putins Aufstieg eng mit seiner Entscheidung ver-bunden, in Tschetschenien militärisch zu intervenie-ren, den Krieg dieses Mal »bis zum Ende« (do konza) zuführen und dem Militär dabei praktisch freie Hand zulassen. Der Eindruck, er habe eine Schwäche für dasMilitär, wurde in den ersten Monaten seiner Amtszeitnoch verstärkt. Im April stattete er der Nordmeerflottein Murmansk und der Baltischen Flotte in Baltijskeinen Besuch ab, und im August nahm er an den Feier-lichkeiten zum Jahrestag der Gründung der Luftlande-truppen sowie am Tag der Luftstreitkräfte teil. Putinunterzeichnete auch verschiedene Dokumente zurSicherheits- und Verteidigungspolitik: im Januarein neues Sicherheitskonzept, im März eine Marine-doktrin und im April eine neue Militärdoktrin. Allediese Dokumente verkündeten im wesentlichen hehreGrundsätze, enthielten jedoch keine Konkretisierun-gen zur Militärpolitik.63

Die Phase zwischen Putins Aufstieg zum höchstenAmt und der Konsolidierung seiner Macht war aberdurch scharfe Auseinandersetzungen innerhalb derMilitärführung gekennzeichnet. Verteidigungs-minister Sergejew ging dabei so weit, die von General-stabschef Kwaschnin entwickelten Vorstellungen etwaüber den Vorrang der konventionellen Rüstung als»Schädigung der nationalen Sicherheit Rußlands« undals »verbrecherische Dummheit« zu bezeichnen.64 EinMachtwort des Präsidenten war dringend geboten.

63 Einzelheiten bei Hannes Adomeit, Sicherheits- und Vertei-digungspolitik unter Putin: Neue Akzente oder gewohnteGroßmachtnostalgie?, Ebenhausen: Stiftung Wissenschaftund Politik, September 2000 (S 434).64 Russische Berichte zur Kontroverse über Organisations-struktur und Finanzierung der Raketenstreitkräfte: NikolaijPetrov, Koncepcija voennogo perevorota. Načal�nik Gen�tabapredlo�il reformirovat� ministra oborony [Konzept eines mili-tärischen Umsturzes: Der Generalstabschef schlug vor, denVerteidigungsminister zu reformieren], in: Kommersant�,15.7.2000; weitere Berichte im NTV (russisches Fernsehen),11.7. und 14.7.2000, sowie in: Itogi, 14.7.2000. Westliche Be-richte: David McHugh, Sergeyev Slams Kvashnin Missile Planas »Criminal«, in: Moscow Times (Internetausgabe), 15.7.2000;

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Reformbemühungen unter Putin

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Die Sitzung des Sicherheitsrats am 11. August 2000über die militärische Entwicklung Rußlands bis zumJahre 2015 markierte einen Wendepunkt. Sie läuteteeine neue Runde in den Bemühungen um eine Militär-reform ein und markierte einen Wandel in der öffent-lichen Haltung Putins zum Militär. So überraschtePutin in seiner Eröffnungsrede die Öffentlichkeit undvermutlich auch die Militärführung mit herber Kritik:Er habe die Auseinandersetzungen im militärischenEstablishment (woennoje wedomstwo) »ziemlich gedul-dig« verfolgt. In der Gesellschaft insgesamt, fügte ermit deutlicher Spitze gegen die Militärführung hinzu,sei der Streit »natürlich richtig gewesen«. Jetzt aber seies an der Zeit, einen »Schlußstrich unter diese Dis-kussion zu ziehen [...], eine ausgewogene Entschei-dung herbeizuführen und einen Plan für ihre Verwirk-lichung festzulegen.«65

Die Kernpunkte der von Putin im Sommer undHerbst 2000 getroffenen Richtungsentscheidungenlassen sich wie folgt zusammenfassen:66

Struggle in Russian Defense Ministry Bursts into Open, in:Jamestown Monitor, 13.7.2000.65 Putin in seiner Rede zur Eröffnung der Sitzung des natio-nalen Sicherheitsrats am 11.8.2000 [wie Fn. 6].66 Quellen: Beschlüsse des Sicherheitsrats vom 11.8.2000:Strategija voennogo stroitel�stva, in: Krasnaja zvezda (Inter-netausgabe), 16.8.2000; Andrej Korbut, Sovbez soglasil�sja spredlo�enijami gen�taba [Der Sicherheitsrat stimmte denVorschlägen des Generalstabes zu], in: Nezavisimaja gazeta(Internetausgabe), 15.8.2000. Meldung von Interfax am7.9.2000: RFE/RL Newsline, 8.9.2000; Marschall Sergejew am8.9.2000: Re�enija prinjaty [Die Entscheidungen sind getrof-fen worden], in: Krasnaja zvezda (Internetausgabe), 9.9.2000.� Putins Forderung, die Streitkräfte müßten »kompakt,modern und gut bezahlt« sein: Interv�ju prezidenta RF V.V.Putina [Interview des Präsidenten der Russischen Föderation,Wladimir Putin], in: Monitoring SMI, RTR, CRPI (Integrum,online), 24.8.2002. � Sitzung des Sicherheitsrats vom27.9.2000: Jurij Gavrilov, Mechaničeskogo sokra�čenija voen-nych struktur ne budet [Eine mechanistische Kürzung dermilitärischen Strukturen wird es nicht geben], in: MonitoringSMI, RTR, CRPI (Integrum, online), 29.9.2000; Kvoennoj orga-nizacii XXI veka [In Richtung auf eine Militärorganisation des21. Jahrhunderts], in Krasnaja zvezda (Internetausgabe),29.9.2000. � Beschlüsse des Sicherheitsrats vom 9.11.2000:Andrej Korbut, Gen�tab berjët upravlenie na sebja [Der Gene-ralstab übernimmt die Regie], in: Nezavisimaja gazeta (Inter-netausgabe), 17.11.2000; Andrej Rumjancev/Evgenij Poloiko, in:Vesti, CRPI (Integrum, online), 9.11.2000. � Zur Umstrukturie-rung der RWSN: Chodarenok, Spasti čast� armii [wie Fn. 25];Sergej Ptičkin, Vperëd, kosmičeskie sily! [Vorwärts, Raketen-truppen!], in: Rossijskaja gazeta (Internetausgabe), 26.1.2001;V Rossii budjet sozdan novy rod vojsk [In Rußland wird eineneue Truppengattung geschaffen], in: Monitoring SMI, RTR,CRPI (Integrum, online), 25.1.2001. � Westliche Analysen:

! Die Frage, ob der nuklearstrategischen oder derkonventionellen Rüstung organisatorisch undfinanziell Vorrang eingeräumt werden sollte,wurde im Prinzip zugunsten der konventionellenKräfte entschieden. In der Militärführung bedeutetedies eine Schwächung der Machtposition Sergejews,der folgerichtig im März 2001 abgelöst wurde, undeine Stärkung des Einflusses Kwaschnins. Welchekonkreten Konsequenzen die Entscheidung aberhaben wird, bleibt unklar.

! Im Einklang mit Putins kurz nach der Sitzung desSicherheitsrats vom 11. August 2000 erhobener For-derung, die Streitkräfte müßten »kompakt, modernund gut bezahlt« sein, wurden weitere drastischePersonalkürzungen festgelegt. Diese sollten sowohlStreitkräfte und »andere Truppen« als auch Zivil-angestellte in allen bewaffneten Kräften betreffen.

! Die »anderen« Truppen sollten in ihren militärischenAufgaben und ihrer Ausrüstung eingeschränktwerden. Das Innenministerium (MWD) sollte zwarweiter militärische Formationen und eigene Ver-bände mit Schützenpanzern besitzen, die abernumerisch begrenzt werden und nicht mehr überschwere Waffen verfügen sollten. Das administra-tive System des MWD sollte aufgelöst, die Grenz-truppen in einen im wesentlichen nichtmilitärischstrukturierten Grenzschutz umgewandelt werden.

! Die unter Jelzin begonnene Verringerung der An-zahl der Militärbezirke von acht auf sechs und ihreZuordnung zu »operativen Kommandos in strategi-scher Richtung« sollte fortgesetzt werden. Den Kom-mandos sollten auch die vielfältigen »anderenTruppen« im jeweiligen Bezirk operativ unterstelltwerden.

! Die chronische Unausgewogenheit der Verteidigungs-ausgaben sollte beseitigt werden: Statt bisher rundzwei Dritteln für den Unterhalt der Streitkräfte undeinem Drittel für Forschung, Entwicklung undBeschaffung neuer Waffen sollten künftig die Aus-gabenanteile aus zwei gleichen Hälften bestehen.

Was ist nun aus diesen Reformabsichten geworden?Die von Sergejew 1997 herbeigeführte Eingliederungder Weltraumraketenabwehr und der Militärkosmi-schen Kräfte in die Strategischen Raketentruppenwurde rückgängig gemacht. Die beiden Komponentensollten nun in der Truppengattung (rod) »Militärkos-

Franz Walter, Putin und das Militär: Rußlands Militärorgani-sation vor einer neuen Reformrunde, in: Osteuropa, 50 (De-zember 2000) 123, S. 1316�1328.

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Personalstärken im Zwielicht

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mische Kräfte« zusammengefaßt und zentral vomGeneralstab geführt werden. Die Strategischen Rake-tentruppen ihrerseits sollten ihren Status als Teil-streitkraft (vid) verlieren und nur noch eine selb-ständige, ebenfalls zentral geführte Truppengattungsein. Diese organisatorischen Änderungen erfolgtenim Januar 2001. Darüber hinaus sollen die strate-gischen Raketentruppen (RWSN) bis 2006 in die Teil-streitkraft Luftstreitkräfte eingegliedert werden. ImZuge einer umfangreichen Beseitigung von Inter-kontinentalraketen ist geplant, zehn Divisions-kommandos aufzulösen.

Die Landstreitkräfte sowie die nichtnuklearen Kom-ponenten der Luftwaffe und der Marine sollen mittelszusätzlicher Finanzmittel modernisiert werden. Die1997 vollzogenen Veränderungen bei den Landstreit-kräften wurden im April 2001 zurückgenommen.Entsprechend wurde das Oberkommando der Land-streitkräfte wiederhergestellt. Im Rahmen der neuenPriorität zugunsten der konventionellen Streitkräfteund insbesondere der Landstreitkräfte erhielt derneue Kommandeur (Kormilzew) wieder größeren Ein-fluß sowohl im Generalstab als auch im Verteidi-gungsministerium, was sich unter anderem in derTatsache niederschlägt, daß er als einziger Chef einerTeilstreitkraft gleichzeitig stellvertretender Verteidi-gungsminister ist (für Ausbildungsfragen zuständig).

Sieht man von der nunmehr erfolgten Kürzung derAnzahl der Teilstreitkräfte auf drei ab, dann stelltedie Reform lediglich den Status quo ante in Organisa-tionsfragen wieder her. Die Anzahl der Militärbezirkewurde zwar auf sechs verringert, und die Zusammen-fassung aller sicherheitsrelevanten Aktivitäten kamvoran, die Errichtung von Kommandos für »strategi-sche Richtungen« aber nicht. Die Kompetenzen derKommandeure der Militärbezirke scheinen sich alsonicht wesentlich geändert zu haben.

Im März 2003 wurden weitere organisatorischeVeränderungen vorgenommen. Der Grenzschutz mitseinen rund 200 000 Mann, Flugzeugen, Artillerie,Panzerfahrzeugen und Patrouillenbooten wurde demInlandsgeheimdienst FSB unterstellt. Ein ähnlichesSchicksal erlitt der KommunikationsgeheimdienstFAPSI mit seinen knapp 39 000 militärischen und15 000 zivilen Mitarbeitern: Seine Funktionen wurdenzwischen dem Verteidigungsministerium und demFSB aufgeteilt. Die militärischen Fähigkeiten desInlandsgeheimdienstes werden durch diese Verände-rungen erheblich verstärkt, seine Aufgaben ausgewei-tet � eine Tatsache, die sich bereits im Januar 2001 mitder Übertragung auch der militärischen Operationen

in Tschetschenien an den FSB angekündigt hatte(siehe oben, S. 17).67

Mit einer Streitkräftereform haben diese Umstruk-turierungen im Militär- und Sicherheitswesen aller-dings wenig zu tun. Auch die ineffiziente und kost-spielige Überlappung und Vervielfältigung militäri-scher und sicherheitsrelevanter Aufgaben wird da-durch nicht eingeschränkt. Und die organisatorischenVeränderungen betreffen auch nicht das eigentlicheKernstück der Reformansätze vom Sommer undHerbst 2000, das nach wie vor in der beabsichtigtendrastischen Reduzierung aller bewaffneten Kräftebesteht.

Personalstärken im Zwielicht

Die Beschlüsse vom Sommer und Herbst 2000 sahenvor, insgesamt 600 000 Dienstposten für Militärange-hörige und Zivilbeschäftigte zu streichen. Dabei ist zubeachten, daß es sich um Soll-Stärken, das heißt umDienstposten in den bewaffneten Kräften handelt,nicht um tatsächlich dienende Militärangehörige oderbeschäftigte Zivilpersonen.

Die Personalstärke der Streitkräfte sollte im Zeit-raum von 2001 bis 2003 um 350 000 beziehungsweisebis zum Jahre 2005 um 365 000 Mann verringert,240 000 Offiziere sollten entlassen werden, davon 30%mit höheren Dienstgraden (Oberst, Oberstleutnant,Major), und 380 von ungefähr 1400 Generalen.68

Die Kürzungen bei den »anderen Truppen« sollten105 000 Mann betragen. Die Anzahl der Zivilbeschäf-tigten in den bewaffneten Kräften sollte um 130 000reduziert werden. Die vorgesehenen Kürzungen fürdie den Teilstreitkräften und Waffengattungen sowiedem Generalstab unterstellten Kräfte, Einrichtungenund Dienststellen sind in Tabelle 4 (S. 22) zusammen-gefaßt.

Die bei den Streitkräften beabsichtigten Kürzungenwerfen die Frage auf, welche Ausgangsgrößen an-gesetzt worden sind. Darüber wurden keine Angaben

67 Zur Reorganisation föderaler Militär- und Sicherheits-organe vom März 2003 siehe Pavel Felgengauer, �eleznyj Feliks[Der eiserne Felix], in: Novaja gazeta (Integrum, online),13.3.2003; Natalja Kala�nikova, Silovoj priëm [Kraftakt], in:Itogi (Integrum, online), 18.3.2003; Markus Wehner, Putinstärkt den Geheimdienst, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,15.3.2003, S. 6.68 Die Beschlüsse beziehen sich durchweg auf die Soll-Stärke(�tatnaja čislennost�), nicht auf die Ist-Stärke (spisočnaja čislen-nost�).

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Reformbemühungen unter Putin

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Tabelle 4

Geplante Kürzungen sowie Soll- und Ist-Stärken der Streitkräfte

Teilstreitkräfte

Soll 2001 Ist 2001

Reduzierungsumfang bis 2005

Soll Ist Soll 2005

Landstreitkräfte inkl. Luftlandetruppen und

Anteil in Ausbildungs-/Logistikeinrichtun-

gen und zentralen militärischen Dienst-

stellen

580 000 ~410 000 �180 000 ~ �10 000 400 000

Luftstreitkräfte / Luftverteidigung 190 000 ~165 000 �40 000 ~ �15 000 150 000

Seestreitkräfte 180 000 ~136 000 �50 000 ~ �6 000 130 000

Strategische Raketentruppen 170 000 ~170 000 �70 000 ~ �70 000 100 000

Zentral unterstellte Kräfte, Einrichtungen,

Dienststellen

80 000 ~80 000 �25 000 ~ �25 000 55 000

Gesamt 1 200 000 ~961 000 �365 000 ~ �126 000 835 000

Quellen: Military Balance 1999�2000, S. 104�118; Military Balance 2000�2001, S. 109�126; Military Balance 2002�2003, S. 85�94;Franz Walter, Putin und das Militär: Rußlands Militärorganisation vor einer neuen Reformrunde, in: Osteuropa, 50 (Dezember 2000)123, S. 1325; Christopher J. Hill, Russian Defense Spending, in: Russia�s Uncertain Economic Future, Congress of the United States,Joint Economic Committee, Compendium of Papers, December 2001, Washington: U.S. Government Printing Office, 2002, S. 178;Russische Quellen finden sich in Anm. 66.

gemacht. Da aber sowohl die Zielgrößen bis 2005 alsauch die Kürzungen angegeben wurden, lassen sichauch die Ausgangswerte berechnen.

Bei den »anderen Truppen« waren im September2000 Reduzierungen in Höhe von lediglich 60 000Mann vorgesehen (MWD 20 000, Eisenbahntruppen10 000, Grenztruppen 5000, weitere Truppen 25 000).Das krasse Mißverhältnis der Einschnitte bei denStreitkräften im Vergleich zu den Kürzungen bei denSondertruppen sprang sofort ins Auge: Während diedem Verteidigungsministerium unterstellten Truppenum 30,4% beschnitten werden sollten, waren Kürzun-gen bei den »anderen Truppen« (bei einer Ausgangs-größe von 1 Mio. Mann) nur in Höhe von 6% vor-gesehen. Das Mißverhältnis zeigt, daß der Reduzie-rungsprozeß eine wichtige innenpolitische Dimensionhat. Denn eine rationale Struktur verringerter bewaff-neter Kräfte würde eine mehr oder weniger aus-gewogene Kürzung bei allen bewaffneten Kräftenerfordern. Offensichtlich hatten die Sondertruppenaber im Geflecht der Machtstrukturen eine so starkeStellung, daß sie nicht nur ihre zweifelhafte Existenzsichern, sondern auch drastische Einschnitte verhin-dern konnten. Im November 2000 wurde dann zwarvom Sicherheitsrat beschlossen, die »anderen Trup-pen« um 105 000 Mann zu verringern, der Kürzungs-anteil bei diesen Truppen erhöhte sich dadurch aller-dings lediglich auf 10,5%.

Das Mißverhältnis der geplanten Kürzungen beiden Zivilbeschäftigten war sogar noch krasser. ImAugust 2000 war davon die Rede, die Anzahl derzivilen Dienstposten bei den Streitkräften um 120 000zu reduzieren, und im November hieß es, 130 000Zivilbeschäftigte sollten bei allen bewaffneten Kräftengestrichen werden. Die Sondertruppen würden dem-nach nur 10 000 zivile Dienstposten verlieren.

Die Kürzungsvorhaben werfen drei zentrale Fragenauf: Erstens, wie zuverlässig sind die russischenZahlenangaben? Zweitens, sind seit dem Sommer undHerbst 2000 tatsächlich Kürzungen erfolgt? Drittens,wie groß sind die Chancen, daß die Reduzierungszielebis 2005 erreicht werden?

Zur Zuverlässigkeit der Zahlenangaben. Bei Betrach-tung der russischen Angaben kann man sich schwer-lich des Eindrucks erwehren, daß sie im wirtschaft-lichen und politischen Interesse manipuliert undfrisiert werden. Nicht deutlich genug kann unter-strichen werden, daß es bei den Angaben zur Trup-penstärke um Soll-Zahlen geht, also um Dienstposten,die nur zu einem gewissen Prozentsatz tatsächlichbesetzt sind. Die Gründe für die Zahlenmanipula-tionen sind offensichtlich: Die Zuweisungen desFinanzministeriums werden durch die Anzahl derautorisierten Dienstposten bestimmt, nicht durch dieAnzahl der aktiv dienenden Soldaten, Unteroffiziere,Offiziere und Zivilbeschäftigten. Infolgedessen wäre

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Personalstärken im Zwielicht

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auch ein Teil der geplanten Kürzungen relativschmerzlos zu vollziehen: Unbesetzte Posten könntengestrichen werden. Dadurch würde die Wirklichkeitmit dem »Soll« in Einklang gebracht. Den offiziellenAngaben über die Zielgrößen für das Jahr 2005 oderdarüber hinaus ist aber nicht zu entnehmen, ob dieverringerten Soll-Truppenstärken mehr oder wenigermit den Ist-Stärken identisch wären.

Ebenfalls unbestimmt bleibt, ob es sich bei man-chen offiziellen Daten um irrtümlich falsche Angaben,Verschleierungsversuche oder Berichtigungenhandelt.69 Allerdings läßt sich aus den offiziellen undinoffiziellen Zahlenangaben deutlich die Tendenzherauslesen, die Anzahl der Dienstposten nach obenzu »berichtigen«, um Kürzungserfolge präsentieren zukönnen.! So wurde im August 2001 im russischen Verteidi-

gungsministerium das Soll der regulären Streit-kräfte, wenn auch inoffiziell, auf 1,365 Mio. Mannbeziffert. Bis dahin war aber immer nur von 1,2Mio. Mann die Rede gewesen.70

! Im Januar 2002 teilte VerteidigungsministerIwanow mit, im Vorjahr habe der Personalbestandder Streitkräfte 1,274 Mio. Mann betragen.71 DieserBestand sei im Laufe des Jahres 2001 um 91 000

69 So sagte beispielsweise Sergej Iwanow im Zusammenhangmit der Sitzung des nationalen Sicherheitsrats vom Novem-ber 2000 (zu diesem Zeitpunkt war er noch Sekretär desSicherheitsrats), in den Machtstrukturen täten »heute runddrei Millionen Leute in Uniform [ljudi w pogonach] Dienst«.Diese Zahl bezog sich offensichtlich auf Militärbediensteteund Zivilbeschäftigte, denn er sagte auch, die »Machtstruk-turen« umfaßten 2,36 Mio. Militärangehörige (woennye) und960 000 Zivilbedienstete. Stellt man jedoch die damals offi-ziell gehandelten Angaben zur Anzahl der Truppen des Ver-teidigungsministeriums mit 1,2 Mio. in Rechnung, würdeIwanows Aussage bedeuten, daß es im Jahre 2000 1,16 Mio.Planstellen bei den »anderen« militärischen Formationen gab� eine (wiederum viel zu hohe) Zahl, die zu vorherigen offi-ziellen Angaben in eklatantem Widerspruch steht; Natal�jaArchangel�skaja, Oborona bezopasnosti. Monologi o voennojreforme [Verteidigung der Sicherheit: Monologe über die Mili-tärreform], in: Ekspert (Internetausgabe), 20.11.2000; zuweiteren Einzelheiten der Sitzung vom 9.11.2000 sieheČislennost� rossijskich silovikov sokratja na 20% [Die Anzahlder (Diensttuenden) in den russischen Machtstrukturen wirdum 20% gekürzt], in: www.lenta.ru (eingesehen am9.11.2000); Vitalij Denisov, Voennaja reforma: limit vremeniisčerpan [Militärreform: Die Frist ist verstrichen], in: Krasnajazvezda (Internetausgabe), 11.11.2000.70 Pavel Felgenhauer, Defense Dossier: Military Cuts Illusory,in: Moscow Times, 30.8.2001, S. 8.71 Pressekonferenz Sergej Iwanows, Interfax (russ.),31.1.2002.

Militärangehörige reduziert worden (das Zivil-personal um 14 500 Personen). Seine Schlußfolge-rung: »Wir nähern uns der Zahl, die vom Sicher-heitsrat festgelegt worden ist, etwa eine MillionMilitärangehörige.« Ein kursorischer Blick auf dieseDaten zeigt: Nach der angeblich erfolgten Kürzungauf 1,183 Mio. Mann liegt der Bestand näher an derseit Jahren offiziell verbreiteten Zahl von 1,2 Mio.als bei der »Zielgröße« von 1 Mio. Mann.72

Zu Kürzungen und Reduzierungszielen. Was immerauch die Zielgröße im Januar 2002 gewesen sein mag,im Juni 2002 wurde sie verändert: Der Sicherheitsrat»bestätigte Dokumente«, denen zufolge nicht nur derZeitpunkt für die Reduzierung der Streitkräfte auf850 000 (eigentlich 835 000) Mann von 2005 auf 2010verschoben, sondern auch die Zielgröße für die Trup-penstärke aufgestockt wurde. Im Jahre 2010 könntesie »zwischen 850 000 und 1 Million« betragen, hieß esaus dem Sicherheitsrat.73 Mit anderen Worten: DerSicherheitsrat hat die Reduzierungspläne de facto auf-gehoben, im Prinzip ein Millionenheer auch noch fürdas Jahr 2010 abgesegnet (!). Putin begründete dieseWende wie folgt: Sie sei aufgrund einer »realistischenEinschätzung der militärpolitischen Situation undeiner klaren Erkenntnis potentieller Bedrohungen dernationalen Sicherheit« erforderlich geworden.74

72 Stellt man die bis dahin verbindliche Ausgangsgröße von1,2 Mio. Mann in Rechnung, betrugen die Kürzungen dermilitärischen Dienstposten im Jahre 2001 lediglich 17 000Mann. Nicht herauszufinden war, ob beziehungsweise wannund wo der Sicherheitsrat die von Iwanow zitierte Zielgrößevon 1 Mio. Mann genannt hat.73 Viktor Barancev, Sovbez re�il sokra�čat� armiju. No ne takbystro [Der Sicherheitsrat beschloß, die Armee zu reduzieren� aber nicht so schnell], in: Komsomol�skaja pravda (Inte-grum, online), 3.6.2002. Der Autor des Berichts über dieSicherheitsratssitzung stellte weiterhin fest: »Heute beträgtdie Soll-Stärke der Streitkräfte Rußlands 1,2 Mio. Militär-angehörige.« Unklar ist, ob er seine eigene Auffassung oderAngaben des Sicherheitsrats wiedergibt.74 Zitiert bei Barancev, Sovbez re�il sokra�čat� armiju[wie Fn. 73]. Ende November 2002 nahm Iwanow die Kür-zungsrhetorik wieder auf. Bis zum 1. Januar 2003, kündigteer an, würde die Personalstärke der Streitkräfte auf eine Zahlvon 1,126 Mio. Militärangehörigen verringert; Ivanov: dokonca goda armija budet sokra�čena do 1126 tysjač čelovek[Iwanow: Bis zum Ende des Jahres wird die Armee auf1 126 000 Mann reduziert], in: Gazeta.ru (Integrum, online),26.11.2002. Nimmt man wiederum 1,2 Mio. Mann (Januar2000) als Ausgangsbasis, nicht also die 1,274 Mio. Iwanows,hieße das: Innerhalb von drei Jahren (2000�2002) wurden nur74 000 Posten gestrichen. Bei dieser Kürzungsrate (24 666Mann pro Jahr) würde man eine Truppenstärke von 850 000

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Um die Zahlendiskussion abzuschließen: Mit anSicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sind inAusführung der Reduzierungspläne seit 2000 nurwenige, möglicherweise sogar überhaupt keinebesetzten Dienstposten gestrichen worden. Ent-sprechend hat sich die Ist-Stärke der Streitkräfte undSondertruppen seit 1998 nicht oder kaum verändert.Soweit Kürzungen vorgenommen worden sind,betreffen sie Gogolsche »tote Seelen«. Die Reduzierun-gen sind also »virtuell« und beziehen sich auf eine vor-her künstlich erhöhte Ausgangsbasis.

Was die Soll-Stärke, das heißt die Anzahl der Plan-stellen bei den bewaffneten Kräften anbetrifft, so liegtsie wohl auch heute noch bei fast zwei Millionen. Beiden zivilen Dienstposten liegt diese Zahl bei einerMillion, wobei die meisten Posten beim Verteidigungs-ministerium angesiedelt sind und ihre Inhaber oftmilitärische Aufgaben wahrnehmen. Rechnet man zudiesen Zahlen mehr als eine Million Mann der demInnenministerium unterstellten Polizeieinheiten unddie paramilitärischen Sondereinheiten der Polizei(OMON) hinzu, existieren beim »Heer« der Streitkräfte,Sondertruppen und Sicherheitskräfte sowie der indiesen militärischen, paramilitärischen und polizei-lichen Formationen tätigen »Zivil«-Beschäftigtenmindestens vier Millionen Dienstposten. Die Belastungder russischen Wirtschaft mit militärischen undsicherheitsrelevanten Ausgaben ist also immer nochsehr hoch.75 Drastische reale sind anstelle virtuellerKürzungen unerläßlich � vor allem dann, wenn maneine Berufsarmee aufbauen will.

Aufbau einer Berufsarmee �eine »historische Entscheidung«

Präsident Jelzin hatte bereits im Mai 1996 in einemErlaß festgelegt, daß bis zum Jahr 2000 eine Berufs-armee geschaffen werden solle.76 Dem damaligen

Mann nicht 2005 oder 2010, sondern erst 2014 erreichen.75 An dieser Stelle wird auf eine Darstellung und Analyse derHöhe und Struktur der russischen Verteidigungsausgabenverzichtet. Angaben dazu (bis zum Herbst 2000) finden sichbei Adomeit, Sicherheits- und Verteidigungspolitik [wie Fn. 63].76 Ukas Nr. 722 vom 16.5.1996, »O perechode k komplekto-vaniju dol�nostej rjadovogo i ser�antskogo sostava Vooru�ën-nych Sil i drugich vojsk Rossijskoj Federacii na professio-nal�noj osnove« [Betreffend den Übergang zur Ergänzung desPersonalbestands an gemeinen Soldaten und Unteroffizierender Streitkräfte und anderer Truppen der Russischen Födera-tion auf Vertragsgrundlage], in: Sobranie zakonodatel�stvaRossijskoj Federacii, (20.5.1996) 21, S. 5217.

russischen Präsidenten schien es dabei weniger auf dieUmsetzung eines wichtigen Bestandteils der Militär-reform anzukommen als auf Wählerstimmen.77

Darauf deutete ein zweiter Ukas vom Mai 1996 hin,demzufolge künftig in bewaffneten Konflikten nurnoch Zeit- und Berufssoldaten (kontraktniki), nicht aberRekruten eingesetzt werden dürften.78 Kurz vor Be-ginn des zweiten Tschetschenienkriegs zog Jelzin denErlaß aber zurück und bestimmte: »Wehrpflichtigekönnen für die Aufgabenerfüllung in bewaffnetenKonflikten zur Teilnahme an Kampfhandlungen ent-sandt werden, wenn sie nicht weniger als sechsMonate Wehrdienst abgeleistet haben.«79 Und wasden Termin für die Einführung eines Berufsheeres an-betraf, hatte Verteidigungsminister Sergejew schon imAugust 1998 bei der Erläuterung der »Grundlagenfür die Entwicklung des Militärwesens bis zum Jahr2005« auf die Notwendigkeit einer Verschiebung hin-gewiesen.80

Im November 2001 gab VerteidigungsministerIwanow bekannt, sein Ministerium werde einen kon-kreten Plan für den allmählichen Übergang von einerWehrpflichtigen- zu einer Berufsarmee ab 2004 vor-legen. Der Übergang sei »eine historische Entschei-dung, eine andere Möglichkeit haben wir nicht«.81

Allerdings wollte er noch keinen Zeitpunkt nennen,bis zu dem die Umstellung verwirklicht werden sollte.Er merkte lediglich an, die Einführung eines Freiwilli-genheeres sei »ein recht langwieriger Prozeß, der

77 Präsidentschaftswahlen waren für Juni 1996 anberaumt.Es war damals keineswegs sicher, ob sich Jelzin gegen seinenKontrahenten von der Kommunistischen Partei, GennadijSjuganow, durchsetzen würde.78 Ukas Nr. 723 vom 16.5.1996, »O porjadke napravlenijavoennoslu�a�čich sročnoj slu�by po prizyvu dlja vypolnenijazadač v uslovijach vooru�ënnych konfliktach i dlja učastija vboevych dejstvijach« [Betreffend die Bedingungen für die Ent-sendung von Wehrpflichtigen für den befristeten Dienst lautEinberufung für die Erfüllung von Aufgaben in bewaffnetenKonflikten und für die Teilnahme an Kampfhandlungen], in:Sobranie zakonodatel�stva Rossijskoj Federacii, (20.5.1996) 21,S. 5218.79 Ukas Nr. 1366 vom 15.10.1999, »Voprosy procho�denijavoennoj slu�by po prizyvu« [Fragen der Ableistung des Mili-tärdienstes bei Einberufung], in: Sobranie zakonodatel�stvaRossijskoj Federacii, (18.10.1999) 42, S. 9439�9440.80 More on Russian Defense Concept and Military Reform, in:Jamestown Foundation Monitor: A Daily Briefing on the Post-Soviet States, 4 (14.8.1998) 157. Die genaue Bezeichnung desErlasses ist »Grundlagen (Konzept) der staatlichen Politik derRussischen Föderation für die Militärentwicklung bis zumJahr 2005«. Das Dokument wurde aber nie veröffentlicht. Esgibt dazu nur offizielle Kommentare.81 Interfax (russ.), 21.11.2001.

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Aufbau einer Berufsarmee � eine »historische Entscheidung«

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mehrere Jahre und beachtliche Mittel« erfordere, nachSchätzungen des Verteidigungsministeriums »Hun-derte Milliarden von Rubeln«. Wenn einige Politikerglaubten, »man könne beispielsweise mit 20 Milliar-den Rubeln zurechtkommen, dann stimmt das absolutnicht.« Kurz darauf verfügte Putin aber, der Übergangzur Berufsarmee (in dem vom Verteidigungsministe-rium zu entwickelnden Plan) solle bis zum Jahre 2010abgeschlossen werden.82

Mit diesem Ziel verbinden sich Fragen nach Anzahlund Struktur der Streitkräfte und Sondertruppensowie ihrer Finanzierung. Das Thema »Berufsarmee«ist zu einem zentralen Punkt der scharfen Auseinan-dersetzungen über Inhalt und Richtung der Militär-reform geworden.

Die Kontroversen zeigen: Wenn die russische Mili-tärführung tatsächlich an einer Massenarmee fest-halten und Millionen von Reservisten für den Mobili-sierungsfall bereithalten will, dann braucht sie weiter-hin die Wehrpflicht. Derzeit dienen rund 410 000Wehrpflichtige in den Streitkräften (52%), weitere100 000 in den »anderen« Truppen. Lediglich 150 000(16%) Soldaten und Unteroffiziere der Streitkräfte sindZeit- oder Berufssoldaten, und ihr Anteil ist in denletzten Jahren zurückgegangen. In der Phase umfang-reicher militärischer Operationen während deszweiten Tschetschenienkriegs soll der Anteil derWehrpflichtigen an der Gesamtstärke der föderalenTruppen sogar zwei Drittel betragen haben.83

Wie verhält es sich mit dem von der Militärführungverwendeten Argument, die Möglichkeiten der Wehr-pflicht könnten noch besser genutzt werden? Sehr vielist von ihm nicht zu halten. Das ergibt sich aus folgen-den Überlegungen: In seinen Berechnungen des Pro-zentsatzes der Einberufenen geht der Generalstabjedes Jahr von der Gesamtzahl aller zum Wehrdienstverpflichteten Männer im Alter zwischen 18 und 27Jahren (3 Mio. im Jahre 2002) aus, bezieht darauf dieAnzahl der Einberufenen (in jenem Jahr etwas wenigerals 380 000) und kommt so auf die hier mehrmals zi-tierte Quote einberufener Wehrpflichtiger von 12%.84

82 »Raspisivat� sroki � ne rabota prezidenta« [»Fristen fest-zulegen � das ist keine Arbeit des Präsidenten«], in: Presse-zentrum der Regierung, Übersicht der Medienberichterstattungvom 8.12.2001, <http://government.ru:8080/news>.83 Il�ja Bulavinov, Sto let do prikaza [Hundert Jahre bis zurVerordnung], in: Kommersant vlast�, 28.3.2000, S. 7. Nacheiner anderen Quelle seien von den 1,2 Mio. Angehörigender Streitkräfte lediglich 150 000 Berufssoldaten.84 Zolotaja �ila [wie Fn. 10].

Derartige Werte sind allerdings irreführend.Addiert man die in den Jahren 1995 bis 2001 tat-sächlich eingezogenen Wehrpflichtigen, kommt manauf eine Zahl von 2,74 Mio. Mann. Nach den Statisti-schen Jahrbüchern der Russischen Föderation standenin diesem Zeitraum insgesamt 7,9 Mio. junge Männerzur Einberufung an. Das ergibt einen Einberufungs-prozentsatz von 34,6%. Ein ähnliches Ergebnis erhältman, wenn man die Anzahl der männlichen 18jäh-rigen als Basis nimmt (1,26 Mio. im Jahre 2002) undihre Zahl auf 380 000 Einberufene bezieht, nämlich30,2%.85 Der Spielraum, den Anteil von einberufbarenWehrpflichtigen zu vergrößern, ist also gering.

Negative demographische Entwicklungen werdendie Möglichkeiten der Militärführung, Wehrpflichtigeeinzuberufen, weiter beschneiden. Schon bei der Früh-jahrseinberufung 2001 beklagte sich der für Ein-berufungsfragen zuständige Offizier im Generalstab:»[Bereits] heute können wir nicht so viele Leute ein-berufen, wie sie von den Streitkräften benötigtwerden. Bald wird niemand mehr da sein, den wir ein-berufen können.«86 »Niemand« ist natürlich über-trieben. Nach ernst zu nehmenden russischenSchätzungen wird sich aber ab 2006 der Anteil derWehrpflichtigen drastisch verringern, so daß in denJahren 2010 bis 2012 nur 50 bis 55% des gegenwärti-gen Mannschafts- und Unteroffiziersbestands aufrecht-erhalten werden könnten.87

Auch der Anteil von Wehrdienstwilligen kannkaum vergrößert werden. In Anbetracht der negativenErwartungen an den Militärdienst ist der Prozentsatzder russischen Teenager hoch, welche die Wehrpflichtablehnen und der Einführung einer Berufsarmee dasWort reden, und er wächst noch an � nicht zuletztangesichts der Möglichkeit, zum Dienst in Tschet-schenien einberufen zu werden.

Um die Probe aufs Exempel zu machen und dieBedingungen des Aufbaus einer Berufsarmee zutesten, entschloß sich das Verteidigungsministerium,einen Modellversuch zu starten. Das Bemühen, diesesProjekt zu verwirklichen, hat die bestehenden Pro-bleme der Militärreform noch einmal deutlich werdenlassen und zu erheblichen Auseinandersetzungenüber die künftige Struktur der Streitkräfte geführt.

85 Ebd.86 Zitiert bei Margaret Coker, Military Luster Fades in Russia,in: The Atlanta-Journal Constitution (Internetausgabe),9.5.2001.87 Anatolij Dokučaev, Obespečit� oboronosposobnosti Rossii[Die Verteidigungsfähigkeit Rußlands aufrechterhalten], in:Krasnaja zvezda (Internetausgabe), 6.10.2001.

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Der Pskow-Modellversuch und diekünftige Streitkräftestruktur

Ende Juni 2002 verfügte die russische Regierung, daßdie 76. Garde-Luftlandedivision in Pskow im Zeitraumvom 1. September 2002 bis zum 31. August 2003 ineine Modelldivision der zukünftigen Berufsarmeeumgewandelt werden sollte.88 Die gesamte Divisionwürde dann aus Vertragssoldaten bestehen. ZurDurchführung des Pilotprojekts stellte die Duma übereinen Nachtragshaushalt 2,67 Mrd. Rubel (86 Mio.Euro) zur Verfügung. Die Bedeutung des Modell-versuchs wurde von Verteidigungsminister Iwanowdurch seine Ankündigung unterstrichen, daß ähn-liche Versuche auch in den anderen bewaffnetenOrganen durchgeführt werden sollten.89

Schnell wurde aber das Pilotprojekt zu einemKristallisationspunkt radikal unterschiedlicher Vor-stellungen zur Wehrreform und künftigen Strukturder Streitkräfte sowie zum Spielball unterschiedlicherInteressen zwischen Verteidigungsministerium undGeneralstab sowie innerhalb der Streitkräfte. Undwährend schon die ursprünglichen Parameter kaumerwarten ließen, daß der Modellversuch erfolgreichverlaufen würde, sind diese seit seinem Beginn ineinem Maße verändert worden, daß die Aussichtenseiner Verwirklichung wie auch seine Aussagekraft fürStrukturveränderungen des Wehrwesens noch frag-licher geworden sind.

Zu den Problemen des Modellversuchs gehört vorallem die Rekrutierung. Von Anfang an herrschteSkepsis, ob die Rekrutierungsziele tatsächlich erreichtwerden könnten.90 Die Ziele wurden denn auchschnell revidiert: Statt die gesamte Division mitBerufssoldaten aufzufüllen, ist nun geplant, nur einRegiment mit Freiwilligen auszustatten; bis Ende 2002sollen lediglich 1100 (bis Ende 2003 insgesamt 3100)

88 Zu den Einzelheiten des Regierungsbeschlusses und zuden entsprechenden Ausführungsbestimmungen des Vertei-digungsministeriums siehe Gennadij Rjavkin, V Pskovenačalsja perechod divisii VDV na kontrakty [In Pskow beganndie Umstellung einer Luftlandedivision auf Berufssoldaten],in: Izvestija.ru: Novostnaja lenta (Integrum, online), 2.9.2002.89 Sergej Ivanov: eksperiment po perechodu na kontrakt-nuju osnovu proizojdët vo vsech silovych strukturach [SergejIwanow: Das Experiment zum Übergang auf eine Kontrakt-basis soll auf alle Machtstrukturen übertragen werden], in:Strana.ru, 19.4.2002, <http://strana.ru/print/130955.html>.90 So lautet die Schlußfolgerung eines Berichts von VladimirGeorgiev, Generaly ne znajut, gde nabrat� kontraktnikov [DieGenerale wissen nicht, woher sie die Berufssoldaten nehmensollen], in: Nezavisimaja gazeta (Internetausgabe), 30.8.2002.

Berufssoldaten neu verpflichtet werden.91 Wie steht esmit der entsprechenden Anwerbung?

Ähnlich wie in anderen Bereichen des Wehrwesensherrscht bei den Zahlenangaben ein heilloses Durch-einander. Das zeigte sich im Zusammenhang mit demBesuch einer Duma-Delegation bei der »Modell-division« Anfang Oktober 2002, an dem auch BorisNemzow, Vorsitzender der Union der Rechtskräfte(SPS), und Eduard Worobjow, stellvertretender Vor-sitzender des Verteidigungsausschusses der Duma,teilnahmen. Der Militärfachmann der Nesavisimajagazeta berichtete: Ursprünglich sei geplant gewesen,bis zu diesem Zeitpunkt 3000 Vertragssoldaten neu zuverpflichten, diese Zahl sei jedoch auf 1000 reduziertworden. Den Abgeordneten der Duma wurde vomKommandostab der Division gesagt, es seien 300 Mannangeworben worden. Soldaten meinten dagegen, dieZahl sei nicht richtig, nur 150 hätten sich neu ver-pflichtet.92 Dabei stellte sich heraus, daß der Begriff»neu verpflichtet« mißverständlich ist. Denn bei denmeisten der »neuen« Vertragssoldaten handelte es sichentweder um Soldaten, die ihren gerade abgelaufenenVertrag lediglich verlängerten, oder um Absolventendes Ausbildungszentrums der Luftlandetruppen inOmsk, die ihren ersten Vertrag abschlossen. Auch dieQualität der angeworbenen Berufssoldaten ließ zuwünschen übrig. Wie die russische Presse mit unver-hohlener Schadenfreude berichtete, schaffte der42jährige Nemzow bei einem körperlichen Leistungs-test 20 Klimmzüge, die »künftigen russischen Rambos«dagegen nur sechs bis acht.93 Scheinbar ungerührt

91 Laut Angaben von Generalleutnant Wasilij Smirnow, derim Generalstab für Organisations- und Mobilisierungsfragenzuständig ist, sollen in der Division insgesamt 1600 Berufs-soldaten bis Ende 2002 und 4600 bis Ende 2003 dienen; Bolee500 voennoslu�a�čich zaklučili kontrakty v 76-j Pskovskojvozdu�no-desantnoj divizii [Mehr als 500 Militärdienst-leistende haben Verträge für den Dienst in der 76. Luftlande-division in Pskow abgeschlossen], in: RIA »Nowosti« (russ.),29.10.2002.92 Salavat Sulejmanov, Zalo�niki pro�ektorstva. V 76-ju voz-du�no-desantnuju diviziju udalos� nabrat� tol�ko 150 kon-traktnikov [Geiseln der Projektemacherei: Für die 76. Luft-landedivision konnten nur 150 Vertragssoldaten angeworbenwerden], in: NVO (Internetausgabe), 4.10.2002. Nemzow warvorher Gouverneur von Nischnij-Nowgorod und Erster Stell-vertretender Ministerpräsident, Worobjow war vorher ErsterStellvertretender Kommandeur der Landstreitkräfte.93 Sulejmanov, Zalo�niki pro�ektorstva [wie Fn. 92]; V elitnojPskovskoj divisii VDV skandal [Skandal in der PskowschenElite-Division], in: Komsomol�skaja pravda (Internetausgabe),5.10.2002.

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Der Pskow-Modellversuch und die künftige Streitkräftestruktur

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erweckt der Generalstab jedoch den Eindruck, als gehealles nach Plan.94

Die Gründe für die Rekrutierungsprobleme sindvielfältig: Seit Juli 2002 wurde den Armeeangehörigeneine Reihe von Vergünstigungen gestrichen, worauf-hin auch in den Luftlandetruppen die Zahl der Berufs-soldaten stieg, die den Dienst quittieren wollten. NachAngaben des Leiters des Organisations- und Mobilisie-rungskomitees der Luftlandetruppen, Oberst ViktorSajzew, lösen bei seiner Truppe bis zu 2% der Berufs-soldaten monatlich ihre Verträge auf. Wenn das soweiterginge, meint er, würde es in den russischenLuftlandetruppen bald keine Berufssoldaten mehrgeben. Woher solle man also neue Kader für dieDivision in Pskow nehmen?95

Der geringe Sold, der den Berufssoldaten gezahltwird, ist ein weiterer Faktor, der die Rekrutierungerschwert. Der Löwenanteil der für den Modellversuchzugeteilten Summe von 2 Mrd. Rubel war für Infra-strukturmaßnahmen bestimmt (Bau von 29 Häusernmit 2214 Wohnungen, Truppenunterkünften, Aus-bildungseinrichtungen, einer Schule und zwei Kinder-gärten), lediglich 67 Mio. hingegen für die Besoldung.Jeder Berufssoldat erhält durchschnittlich 2000 Rubel(60 Euro) im Monat. Der Durchschnittslohn in Pskowbeträgt aber 3500 Rubel, wobei das Existenzminimumbei 1400 bis 1600 Rubeln liegt. Zieht man die durch-schnittliche Miete für eine Einzimmerwohnung ab, sostehen einem Berufssoldaten in Pskow lediglich 1500Rubel pro Monat zur Verfügung.96 Da die Regierung esablehnt, zusätzliche Mittel freizugeben, um den Soldaufzustocken, sind die finanziellen Anreize alsokeineswegs groß.97

Statt dessen werden die Vertragssoldaten mit derZuteilung von Wohnungen geworben. Aber auchdieser Anreiz hat sich schnell verflüchtigt. Schon in

94 So berichtete General Wasilij Smirnow Ende Oktober, inden zwei Monaten seit Beginn des Modellversuchs seien 519Soldaten neu verpflichtet worden. Falls diese Zahl zuträfe,würde bei der Neuverpflichtungsrate das revidierte Ziel von1100 bis Ende des Jahres erfüllt; Bolee 500 voennoslu�a�čich[wie Fn. 91]. Allerdings trug der General dadurch zu dem heil-losen Durcheinander bei, daß er nun behauptete, die gesamteDivision würde bis zum 1. März 2003 (!) mit Kontraktsoldatenaufgefüllt; Gen�tab izmenil parametry pskovskogo eksperi-menta [Der Generalstab hat die Parameter des PskowschenExperiments verändert], in: Kommersant� (Integrum, online),17.7.2002.95 Georgiev, Generaly ne znajut [wie Fn. 90].96 Ivan Safronov, in: Kommersant vlast� (Integrum, online),17.7.2002.97 Georgiev, Generaly ne znajut [wie Fn. 90].

der Anfangsphase des Versuchs kürzte der Regierungdie vorgesehenen Finanzmittel um 500 Mio. Rubel(18% der ursprünglich angesetzten Gesamtzuweisung)mit der Folge, daß sich die Anzahl der zu bauendenWohnungen verringerte.98 Dann wurde bekannt, daßdie Wohnungen ganz oder teilweise für ausscheidendeOffiziere aus Moskau verwandt werden sollten. Undals der für den Modellversuch verantwortliche Gene-ralstabschef Ende September 2002 die Division be-suchte, erklärte er, daß die fertiggestellten Wohnun-gen nur den Familien von Offizieren und Feldwebelnzugeteilt würden; alle Armeeangehörigen ohneFamilie würden in Wohnheimen leben, die Soldatenin den Kasernen. Angesichts dessen kündigten 40 neuangeworbene Berufssoldaten ihren Vertrag. Schließ-lich wurde erklärt, als Kompensation würde nun dochder Sold derjenigen Kontraktniki erhöht (auf 4000Rubel monatlich), die keine Wohnung erhielten.99

Aufgrund all dieser Probleme wurden die Zielrich-tung des Modellversuchs und damit auch die Schwer-punkte einer Militärreform erneut verändert.

Im Wettstreit konkurrierender Reformkonzepte

Bei einer Sitzung der Regierung am 21. November2002 wurden Konzepte des Verteidigungsministe-riums, des Generalstabs und auch der Union derRechtskräfte (SPS) diskutiert; Nemzow, SPS-Vorsitzen-der, nahm an der Sitzung teil. Trotz wesentlicherUnterschiede zwischen den drei Konzepten (wobeidie Entwürfe des Verteidigungsministeriums unddes Generalstabs nur unwesentlich voneinanderabwichen) läßt sich in dreierlei Hinsicht ein Konsensfeststellen: Die Armee soll erstens weiter drastischreduziert, zweitens der Anteil der Berufssoldatenerheblich erhöht und drittens die Wehrpflicht nundoch � wenn auch mit kürzeren Dienstzeiten � bis aufweiteres beibehalten werden.

Die von Iwanow vorgestellte Konzeption des Vertei-digungsministeriums sieht folgende Schritte vor:

98 Smirnow, Gen�tab izmenil parametry [wie Fn. 94]. Nachanderen Quellen waren es 305 Mio. Rubel oder 11% derGesamtsumme; Pskovskim kontraktnikam yrezajut bjud�et[Den Pskowschen Vertragssoldaten wird das Budget beschnit-ten], in: Izvestija (Internetausgabe), 14.9.2002.99 Pskovskij eksperiment okazalsja neudačnym [Das Experi-ment von Pskow erweist sich als erfolglos], in: Kommersant�(Integrum, online), 4.10.2002; V elitnoj Pskovskoj divisii VDVskandal [wie Fn. 93].

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Reformbemühungen unter Putin

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1. Bis zum Jahre 2004 eine Vorbereitungsetappe,in der das Experiment bei der Luftlandedivision inPskow fortgeführt und ein detailliertes Programmfür den Übergang zur Berufsarmee ausgearbeitetwerden soll.

2. Ab 2004 eine stufenweise Rekrutierung von Sol-daten auf Vertragsbasis mit dem Ziel, daß bis zumJahre 2011 insgesamt 50 bis 60% der Soldaten undUnteroffiziere auf Vertragsbasis dienen.

3. Ab 2011 eine Verkürzung der allgemeinen Wehr-pflicht auf sechs, acht oder zehn Monate.100

Weiterhin sieht das Programm vor, den Kern derkünftigen Armee aus 92 Großeinheiten (10 Divisionen,7 Brigaden und 13 Regimenter) mit insgesamt 166 000Mann zu bilden. Die in diesen Einheiten derzeitdienenden 126 000 Wehrpflichtigen sollen durchBerufssoldaten ersetzt werden. Was aus dem »Rest« desderzeitigen Millionenheeres (und den Sondertruppen)werden soll, blieb ungeklärt. Ob Präsident und Regie-rung sich mit Iwanows oben erwähnter Zielgröße von850 000 bis 1 Mio. für die Streitkräfte im Jahre 2010identifizieren, ist nicht bekannt.

Nach den Vorstellungen der Union der RechtskräfteNemzows sähe die Lösung des ProblemkomplexesTruppenstärke, Berufsarmee und Wehrpflicht wiefolgt aus:! Der Personalabbau bei den Streitkräften soll be-

schleunigt werden.! Der Umfang der Streitkräfte soll auf 400 000 Mann

beschränkt werden, wobei es sich ausschließlichum Berufssoldaten handeln soll.

! Um die Chancen der Rekrutierung dieser Berufs-soldaten zu verbessern, soll ihr Sold mindestens10 bis 20% über dem russischen Durchschnittslohnliegen.

! Zusätzlich zu den 400 000 Mann soll ein Pool von142 000 ehemals wehrpflichtigen Reservisten ge-schaffen werden.

! Der Wehrdienst soll auf sechs Monate verkürztwerden. Er wird ausschließlich in Zentren zur Aus-bildung von Reservisten abgeleistet und im Gegen-satz zur alten Regelung vorwiegend nach dem Terri-torialprinzip organisiert.

100 Das Konzept trägt den Titel »Föderales Programm zurÜberführung der Streitkräfte in ein Berufsheer«. Die Ziel-vorstellungen des Generalstabs richten sich ebenfalls darauf,die Wehrpflicht auch nach dem Jahr 2011 beizubehalten, siejedoch auf nur 1,5 Jahre zu verkürzen. Der Regierungschefunterstützte im wesentlichen das Programm des Verteidi-gungsministers, allerdings plädierte er für kürzere Über-gangsfristen.

! Zurückstellungen vom Wehrdienst aus anderenals gesundheitlichen Gründen soll es nicht mehrgeben, auch nicht für Studenten.

! Mit der Einführung des Misch- oder Ergänzungs-systems soll ab 1. Januar 2004 begonnen, die neueStruktur soll bis 31. Dezember 2005 verwirklichtwerden.Die politische Taktik der SPS besteht vermutlich

darin, mit Hilfe des Finanzministeriums und regie-rungsunabhängiger Fachleute Widerstände im Gene-ralstab zu überwinden und die Konzeption des Vertei-digungsministeriums zu »kippen«. FinanzministerAlexej Kudrin und sein Stellvertreter Alexej Ulykajewhaben bereits die Berechnungen des Instituts für dieErforschung der Wirtschaft der Übergangsperiode(IEPP) und seines Direktors Jegor Gajdar als realistischbezeichnet. Jedenfalls wird das Finanzministeriumnoch eine wichtige Rolle spielen, wenn es um dieFrage geht, welche Konzeptionen und Programmefinanzierbar sind.101

Die reformorientierten Kräfte außerhalb der Macht-strukturen haben aber ihren Einfluß auf den politi-schen Entscheidungsprozeß geschwächt, weil sie sichuneins sind. Das ist aus den Ausführungen AlexejArbatows zum Plan der SPS ersichtlich. Er und seinePartei Jabloko bedauern die Abkehr der SPS vom Zielder Aufhebung der Wehrpflicht, auch wenn dies nurfür eine Übergangsfrist gelte. Die Wehrpflicht solltenicht auf sechs Monate begrenzt, sondern ganz ab-geschafft werden. Man brauche sie nicht, weil derheutige Bestand an Reservisten so groß sei, daß ernoch fünfzehn Jahre reiche.102

Ob sich Jabloko mit ihren Vorstellungen durch-setzen wird, ist zweifelhaft. Richtig ist aber, daß dieSPS mit ihren Vorschlägen die Front der Befürwortereiner schnellen oder sofortigen Abschaffung der Wehr-pflicht aufweicht. Das Mischsystem aus Wehrpflichti-gen und Berufssoldaten wird deswegen wohl noch aufJahre hinaus beibehalten werden, die Umsetzung der»historischen Entscheidung« für den Aufbau einerBerufsarmee auf unbestimmte Zeit verschoben. Nochist der Modellversuch nicht abgebrochen worden. Erbleibt höchst brisant, auch weil ihn der Befehlshaber

101 Letzten Endes wird dann Putin entscheiden müssen;siehe Evgenij Natarov, Pozisionnye boi s primeneniem prezi-denta [Stellungskämpfe unter Einsatz des Präsidenten], in:Konservator (Integrum, online), 22.11.2002.102 Vladimir Muchin/Maksim Glikin, Georgij �pak kak zerkaloperestrojki armii [Georgij Schpak als Spiegel der Umgestal-tung der Armee], in: Nezavisimaja gazeta (Internetausgabe),22.11.2002.

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Der Pskow-Modellversuch und die künftige Streitkräftestruktur

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der Luftlandetruppen, Generaloberst Schpak, zum An-laß genommen hat, Vorstellungen über die künftigeStruktur der Streitkräfte zu entwickeln, die in der rus-sischen Öffentlichkeit großes Aufsehen erregt haben.

Eine Alternative zur alten Streitkräftestruktur?

Schpak schlägt vor, als Alternative zur gegenwärtigen,auf der Wehrpflicht beruhenden Massenarmee200 000 Mann starke mobile Einsatzkräfte zu schaffen,die auf der Basis der Luftlandetruppen entwickeltwerden und ausschließlich aus Zeit- und Berufs-soldaten bestehen sollen. Dieses Vorhaben könneinnerhalb von fünf Jahren realisiert werden. Zusätz-lich zu den Luftlandetruppen sollen die mobilen Ein-satzkräfte Teile der Landstreitkräfte, der Luftwaffe,der Marine und der Flugabwehr sowie logistischeund medizinische Einheiten umfassen. Die Einsatz-kräfte müßten fähig sein, innerhalb kurzer Frist aufBedrohungen entlang den russischen Grenzen zureagieren.103

Derzeit bestehen die Luftlandetruppen als poten-tielle Basis der mobilen Einsatzkräfte aus vier Divi-sionen mit ungefähr 40 000 Mann. Zu ihnen gehörenneun Fallschirmjägerregimenter, eine Brigade, vierArtillerieregimenter und ein Ausbildungszentrumin Brigade-Stärke. In der Sowjetära verfügte die Luft-landetruppe über acht Divisionen mit 77 000 Mann.104

In ihrer Begründung gehen Schpak und der Stabder Luftlandetruppen davon aus, daß Rußland imGegensatz zur Sowjetunion nicht mehr in der Lage ist,in jeder der vier möglichen Gefahrenrichtungen um-fangreiche Kräftegruppierungen zu unterhalten. DieZeit der großen Panzerschlachten wie bei Kursk imSommer 1943 sei unwiderruflich vorbei. Infolgedessen

103 Oleg Odnokolenko, Desant generala �paka. V Rossii mo�etpojavitsja mobil�naja 200-tysjačnaja professional�naja armija,sposobnaja stat� al�ternativnoj nyne�noj polutora-millionnoj[Die Landung General Schpaks: In Rußland könnte einemobile, 200 000 Mann umfassende professionelle Armee alsAlternative zu den gegenwärtigen eineinhalb Millionen(Mann umfassenden Streitkräften; H.A.) entstehen], in: Itogi(Integrum, online), 2.7.2002. � Russische Militärs kritisierenes oft, wenn der Begriff »professionelle Armee« statt »Berufs-armee« verwendet wird. Er erwecke den Eindruck, als seiendie gegenwärtigen Streitkräfte nicht professionell. Das um-strittene Adjektiv ist aber wohl im Bericht über SchpaksVorstellungen ganz bewußt gewählt worden. Zur Gesamt-stärke der Streitkräfte und Sondertruppen scheint sichSchpak in diesem Zusammenhang nicht geäußert zu haben.104 Angaben laut Military Balance verschiedener Jahre.

sei es unumgänglich, kompakte, gut ausgerüstete undgut ausgebildete Kräfte aufzubauen, die in ständigerBereitschaft stünden und schnell verlegt werdenkönnten. Nur die Luftlandetruppen seien in der Lage,den Kern dieser Kräfte zu bilden. Wollte man beispiels-weise heute eine Panzer- oder MotSchützendivisionaus der Gegend um Moskau in den Fernen Osten trans-portieren, bräuchte man nach konservativen Schät-zungen 500 Eisenbahnzüge und einen Zeitaufwandvon zwei Monaten. Wollte man dagegen eine dervier Luftlandedivisionen verlegen, betrüge der Zeit-aufwand nur wenige Tage.105

Für die Idee, die Fallschirmjägerdivisionen als Basisfür schnelle Eingreiftruppen heranzuziehen, sprechenauch die bisherigen Erfahrungen mit ihrem Einsatz.Sie stellten bis 2002 die Kontingente für SFOR undKFOR. Während des militärischen Teils des Konfliktsin Tschetschenien wurden sie fast immer an vorder-ster Front eingesetzt. Jeder dritte Fallschirmjäger solldirekt an den Kämpfen beteiligt gewesen sein. Einer-seits hätten sie 42% des Territoriums befreit, aufgrundihrer guten Ausbildung und Disziplin aber nur 8% derVerluste erlitten.106

Pläne für den Aufbau mobiler Einsatzkräfte sindkeineswegs neu in Rußland. Bereits Mitte der neun-ziger Jahre galten derartige Kräfte als beschlosseneSache. Festgelegt war ihre Schaffung durch ein ent-sprechendes Dekret Jelzins und dazugehörige Direk-tiven des Verteidigungsministeriums. Innerhalb derdarin vorgeschriebenen Zeit wurden die vorgesehenen200 000 Mann als einsatzbereit gemeldet. Wie sichschnell herausstellte, existierten die mobilen Einsatz-kräfte aber nicht wirklich. Der zweite Tschetschenien-krieg förderte diese Tatsache zutage. Im Zuge desKrieges wurden zwar Einsatzgruppen verschiedenerbewaffneter Kräfte ad hoc zusammengestellt. Die Ein-satzkräfte erwiesen sich auch als wirksam, wurdenaber nicht Teil einer fest verankerten neuen Struk-tur.107

105 Odnokolenko, Desant generala �paka [wie Fn. 103].106 Aleksandr Olejnik, »Ka�dyj tretij desantnik � v boju«[»Jeder dritte Fallschirmjäger befindet sich im Kampf«],Interview mit dem Oberkommandierenden der Fallschirm-jägertruppen, Generaloberst Georgij Schpak, in: NVO,(10.�16.12.2000) 48, S. 1�2; Odnokolenko, Desant generala�paka [wie Fn. 103].107 Hierauf hat Andrej Kokoschin hingewiesen, der vonMärz bis September 1998 in seiner Funktion als Sekretär desSicherheitsrats eine zentrale Rolle bei der Ausarbeitung vonKonzepten für die Militärreform spielte; Russian SecurityCouncil Must Discuss Concept of Military Reform SaysOfficial, in: Military News Agency (Moscow), 25.7.2000.

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Reformbemühungen unter Putin

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Das Scheitern der Pläne war eine der vielen Pannen,die noch einmal die Stagnation der Reformbemühun-gen unterstrich. Als besonders peinlich wurde dieserFehlschlag empfunden, weil wirtschaftlich wenigerentwickelte Staaten wie die Ukraine und Rumänien inder Lage waren, derartige Kräfte aufzustellen � vonwestlichen Staaten wie den USA oder verschiedenenNATO-Ländern gar nicht zu reden.108

Auch die Aufstellung gemeinsamer schneller Ein-satzkräfte (KSBR) in drei strategische Richtungen imRahmen des Vertrags über kollektive Sicherheit (Tasch-kenter Vertrag) erwies sich als Fehlschlag. Im An-schluß an das Gipfeltreffen der Gemeinschaft Unab-hängiger Staaten (GUS) Ende Mai 2001 in Jerewanwurde zwar ein gemeinsamer Stab für Zentralasieneingerichtet und angeblich wurden auch schnelleEingreiftruppen in einer Kampfstärke von bis zu 1600Mann mit einem Brigadekommando in Bischkekbereitgestellt. Dabei handelt es sich allerdings nichtum Kräfte in permanenter Bereitschaft, sondern umEinheiten, die in den jeweiligen Teilnehmerstaatenbereitgehalten und erst im Krisenfall verfügbargemacht werden sollen. Nach dem 11. Septemberwurden jedoch Afghanistan und der strategischeRaum Zentralasien den USA und anderen NATO-Staaten als militärisches Operationsfeld überlassen.Von den mobilen Einsatzkräften der TaschkenterVertragsstaaten war nichts zu sehen und nun auchnichts mehr zu hören.109

Demgegenüber betrachtet der Stab der Luftlande-truppen die Verlegung und den Einsatz mobiler strate-gischer Luft- und Seestreitkräfte der USA in Afgha-nistan und vorher schon im Golfkrieg 1990/91 alsschlagenden Beweis für Machbarkeit und Notwendig-keit des Aufbaus entsprechender Kräfte in Rußland.110

Die Geiselnahme in Moskau hat offensichtlichPutins Unzufriedenheit mit der Struktur der Streit-kräfte geschürt. Am 28. Oktober 2002 kündigte er an,daß »im Zusammenhang mit der ständig wachsendenBedrohung durch den internationalen Terrorismusder Generalstab angewiesen wird, Änderungen in

108 Odnokolenko, Desant generala �paka [wie Fn. 103].109 Interfax, zitiert bei Newsline Izvestia.ru, 17.9.2001,<http://www.izvestija.ru>. KSBR: Kollektivnye sily bystrogorazvërtyvanija. Einzelheiten zu den geplanten gemeinsamenschnellen Einsatzkräften des Vertrags über kollektive Sicher-heit finden sich bei Hannes Adomeit/Heidi Reisinger, Militäri-sche Macht und politischer Einfluß, in: Olga Alexandrova/Roland Götz/Uwe Halbach (Hg.), Rußland und der postsowjeti-sche Raum, Baden-Baden 2003, S. 149�174.110 Odnokolenko, Desant generala �paka [wie Fn. 103].

den Plänen für den Einsatz der Streitkräfte vorzuneh-men«.111

Der Vorstoß des Präsidenten ist zunächst nichtals Zustimmung zu den Vorstellungen Schpaks zuwerten, denn die Einsatzkräfte sollen äußere Gefahrenabwenden. Sie könnten aber auch im Inneren ein-gesetzt werden. Jedenfalls scheint der Präsident nachneuen Möglichkeiten zu suchen, die Streitkräfteverstärkt zur Zerschlagung jedweden bewaffnetenWiderstands gegen die Staatsgewalt heranzuziehen.Darauf deuten auch Bemühungen hin, Kampfein-sätzen der russischen Streitkräfte im Inneren einegesetzliche Grundlage zu geben.112 Dadurch könntensich sowohl die Bedeutung der Streitkräfte für dierussische Innenpolitik als auch die Konzeption derMilitärreform grundlegend ändern.

Im Generalstab trifft Schpaks Initiative auf erbitter-ten Widerstand. Dort hat man ganz andere Auffassun-gen darüber, wie die Armee zu reformieren sei. Ersteinmal sollten die Ergebnisse des Modellversuchs vonPskow abgewartet, und dann, falls sie positiv aus-fielen, sollte die Umstellung der Streitkräfte insgesamtin Angriff genommen werden. Von der Idee, die Luft-landetruppen als Basis für mobile Einsatzkräfte heran-zuziehen, hält man im Generalstab nichts. Bereitseinige Male ist dort die Rede davon gewesen, die Luft-landetruppen, wenn nicht ganz abzuschaffen, so dochnoch weiter zu beschneiden. Dabei sei das Argumentzu hören gewesen, die Transportkapazitäten der Luft-waffe reichten ohnehin nur dazu aus, ein Regimentvon Fallschirmjägern zu transportieren. Insofernkönne man die Truppe gleich ganz abschaffen.113

Zu folgern ist, daß der Generalstab den Modell-versuch von Pskow und damit den Gesamtkomplexaus Abschaffung von Wehrpflicht, Einführung einer

111 Sergej Sokut/Mikhail Chodarjonok, Po boevikam � jadernojbomboj [Gegen die Rebellen � mit der Atombombe], in: Neza-visimaja gazeta (Internetausgabe), 29.10.2002 [Hervorhebungnicht im Original].112 Eine derartige Grundlage gibt es derzeit nicht. Im erstenTschetschenienkrieg vertrat Präsident Jelzin die Auffassung,daß er von der Verfassung ermächtigt sei, Maßnahmen zumSchutz der staatlichen Integrität der Russischen Föderation zuergreifen (Art. 80 Abs. 2). Daher seien die entsprechendenDekrete über den Einsatz der Streitkräfte durchaus verfas-sungsgemäß gewesen. Dieser Interpretation schloß sich dasVerfassungsgericht in seinem Urteil vom 30. Juli 1995 an,allerdings nicht unter Berufung auf konkrete Verfassungs-bestimmungen oder Gesetze, sondern unter Hinweis auf dieStaatsräson. Für diesen Hinweis bin ich meinem KollegenEberhard Schneider dankbar.113 Odnokolenko, Desant generala �paka [wie Fn. 103].

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Das Gesetz über den zivilen Ersatzdienst

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Berufsarmee und Schaffung mobiler Einsatzkräfte zuFall bringen will. So sieht es jedenfalls Nemzow, dersich mit seiner Partei für eine umfassende Militär-reform stark gemacht hat. »Der Generalstab bautPotemkinsche Dörfer«, meint er. »Dies gefährdet dasganze Programm der Armeereform. Ich neige zu derBehauptung: Alles, was in Pskow vor sich ging undgeht, ist Sabotage des Generalstabs an der Armee-reform und direkter Betrug des Präsidenten. Wenn dasExperiment dann danebengegangen ist, wirdKwaschnin erklären, daß eine Berufsarmee nicht ein-geführt werden könne und man alles beim altenlassen müsse.«114

In diesem Zusammenhang ist auch das neue Gesetzüber den zivilen Ersatzdienst von Bedeutung. Denn eskann durchaus als Stärkung des gegenwärtigen Misch-systems betrachtet werden. Auch hier haben sich alsoVerteidigungsministerium und Generalstab mit ihrenVorstellungen durchgesetzt.

Das Gesetz über den zivilen Ersatzdienst

Ein Recht auf Wehrdienstverweigerung aus Gewissens-gründen ist zwar in der russischen Verfassung ver-brieft, es gab aber kein Gesetz, das es Wehrpflichtigenermöglicht hätte, dieses Recht auch in Anspruch zunehmen. Auch wenn ihnen in einigen Fällen vonreformfreudigen Bürgermeistern die Möglichkeiteingeräumt wurde, zivilen Ersatzdienst zu leisten,betrachteten Militär, Militärstaatsanwaltschaft undKreiswehrersatzämter diese Praxis doch als illegal.Wer den Wehrdienst aus Gewissensgründen verwei-gern wollte, hatte die Wahl, entweder ins Gefängniszu gehen oder unterzutauchen. Um letzteres zuverhindern, haben sich die Behörden in den letztenJahren verstärkt bemüht, potentielle Wehrdienst-verweigerer aufzuspüren und zwangsweise ein-zuberufen.

In Moskau � und vermutlich nicht nur dort �erstellten das Verteidigungsministerium und dasInnenministerium Listen potentieller Wehrdienst-verweigerer, die an die Polizei weitergeleitet wurden,damit diese Fahndungen einleiten konnte. Bei denroutinemäßigen Personenkontrollen auf U- undFernbahnhöfen wurden dann die Namen mit denenauf den Listen verglichen. Ergab der Vergleich Über-

114 Gen�tab otkazyvaetsja reformirovat� armiju [Der General-stab weigert sich, die Armee zu reformieren], in: Izvestija.ru(Internetausgabe), 27.9.2002.

einstimmung, wurden die Verdächtigen festgenom-men und binnen 24 Stunden der zuständigen Einberu-fungskommission zur medizinischen Untersuchungvorgeführt. Falls die Untersuchten für »tauglich«befunden wurden, wurden sie gleich an die Truppeüberstellt. Diese Praxis wurde auch von der Militär-staatsanwaltschaft als illegal bezeichnet.115

Am 28. Juni 2002 hat die Duma in dritter Lesungein »Gesetz über den zivilen Ersatzdienst« verab-schiedet, das vom Föderationsrat am 10. Juli bestätigtwurde.116 Damit es am 1. Januar 2004 in Kraft tretenkann, muß es noch vom Präsidenten unterzeichnetwerden, was allerdings nur als Formalität zu betrach-ten ist. Nachfolgend wird daher nicht mehr von einemGesetzentwurf gesprochen. Die wichtigsten Bestim-mungen des Gesetzes sind:! Wer aus Gewissens- oder anderen Gründen den

Wehrdienst verweigern will, muß dies vor der Ein-berufungskommission seines Kreiswehrersatzamts(woenkomaty) begründen.

! Wird über den Antrag positiv entschieden, müssendie Wehrdienstverweigerer 42 Monate zivilenErsatzdienst leisten, das heißt anderthalb Jahrelänger als die anderen Wehrpflichtigen dienen.

! Sie können zum Zivildienst bei Organisationen undUnternehmen der Streitkräfte und Sondertruppeneinberufen werden; in diesem Fall beträgt derDienst 36 Monate. Über die Zuweisung entscheidenwiederum die Einberufungskommissionen.

! Für Hochschulabsolventen (Wehrdienstzeit:12 Monate) beträgt der »normale« Ersatzdienst21 Monate; wenn sie bei den Streitkräften undSondertruppen Zivildienst leisten, 18 Monate.

! Zivildienstleistende können auch außerhalb ihresWohngebiets eingesetzt werden.

! Nach Abschluß ihres Dienstes erhalten Zivildienst-

115 Nach dem »Gesetz über die Wehrpflicht und den Wehr-dienst« ist einzig und allein die Einberufungskommissionbefugt zu entscheiden, ob jemand vom Wehrdienst zubefreien oder zurückzustellen beziehungsweise als »Wehr-dienstverweigerer« anzuerkennen ist, niemand sonst. Dieillegale Praxis wurde auf einer erweiterten Sitzung desMoskauer Kreiswehrersatzamts unter Vorsitz der Vizebürger-meisterin Ludmilla Schwezowa Ende Januar 2002 behandelt;Oleg Vladykin, Ne pojman � ne voin. Gosudarstvo osvaivaetnovye metody prizyva v armiju [Fängt man sie nicht, gibt�skeine Kriege: Der Staat entwickelt neue Methoden der Ein-berufung zur Armee], in: Ob�čaja gazeta (Integrum, online),31.1.2002.116 Federal�nyj zakon ob al�ternativnoj gra�danskoj slu�be[Bundesgesetz über den alternativen Zivildienst], <http://www.government.ru:8080/government/mp43.html>.

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leistende den Status von Reservisten. (Sie könnenzwar nicht zu Wehrübungen eingezogen werden,aber für den Fall einer Mobilisierung bleibt ihrStatus unklar.)Für die Bewertung von Stand und Aussichten einer

Militärreform ist es aufschlußreich, die Entstehungdieses Gesetzes zu beleuchten.

Bedingungen des Entscheidungsprozesses. Im Ver-lauf der Beratungen zwischen Mitte April und EndeJuni 2002 verschärfte die Regierung den von ihr vor-gelegten Gesetzentwurf. Ausgenommen war lediglichdie Dauer des Zivildienstes, die von 48 auf 42 Monateverkürzt wurde. Hingegen setzte sich der Vertreter derRegierung in der Sitzung vom 19. Juni 2002 mit seinerForderung durch, mehr als die Hälfte der Änderungs-anträge des Parlaments zu streichen, obwohl sie mitder Regierung vereinbart und vom Ausschuß fürGesetzgebung zur Annahme empfohlen wordenwaren. Unter den gestrichenen Anträgen befandensich alle, die eine Verkürzung der Zivildienstzeit, dieAbleistung des Dienstes außerhalb des Wohngebietesnur auf eigenen Wunsch, den Modus der Zuweisungzum Zivildienst, den Verlauf des Zivildienstes, dieBesoldungsordnung sowie den Verzicht auf den Zivil-dienst bei Organisationen und Unternehmen derStreitkräfte und Sondertruppen betrafen.

Der Regierungsentwurf wurde mit Hilfe der demPräsidenten und der Regierung loyal ergebenen Frak-tionen »Einheit«, »Vaterland � Ganz Rußland«, »Volks-deputierte« und »Russische Regionen« akzeptiert undmit allen vom Regierungsvertreter geforderten Ände-rungen angenommen. Nach Meinung von Mitarbei-tern des Verteidigungskomitees der Duma hatten »dasVerteidigungsministerium und die anderen Gewalt-strukturen just vor der Erörterung des Gesetzes Druckauf die Regierung ausgeübt und mit Sanktionengedroht, damit diese ihre Position zugunsten einermassiven Verhärtung des Zivildienstgesetzes verän-dert«.117 Dieser Druck war offensichtlich erfolgreich.

117 Bei den Mitarbeitern handelt es sich um WladimirJewsejew und Pawel Romaschkin. Zitat und ausführliche Dar-stellung der Beratungen in der Duma sowie des Abstim-mungsverhaltens der Parteien finden sich bei Jewsejew/Romaschkin, Die lange Geschichte des Gesetzes über denZivildienst in Rußland, in: Wostok, 4 (2002). Diese Bewertungstimmt mit dem Urteil von Sergej Kriwenko von der NGO-Koalition »Für ein demokratisches Zivildienstgesetz« (Moskau)und von Irina Kisilowa vom Zentrum zur Unterstützungdemokratischer Jugendinitiativen (Perm) überein; vgl. ihreAusführungen auf der Diskussionsveranstaltung der Hein-rich-Böll-Stiftung »Ziviler Ersatzdienst in Rußland: Wie weiter

Bewertung des Gesetzesvorhabens. Das Recht aufVerweigerung des Militärdienstes aus religiösen,moralischen oder anderen Gründen gilt als Attributvon entwickelten Demokratien. EntsprechendeGesetze gibt es in allen europäischen Staaten, indenen die Wehrpflicht noch besteht, nicht aber bei-spielsweise in der Türkei.118 Daß ein Ersatzdienst-gesetz in Rußland verabschiedet wird, darf allerdingsnicht als Ausdruck eines Bestrebens des Präsidentenund der von ihm eingesetzten Regierung gewertetwerden, demokratische Strukturen zu entwickeln undden Aufbau einer Zivilgesellschaft zu fördern.

Das geht auch aus der Kritik ziviler wie auch mili-tärischer Sachverständiger in Rußland hervor. Someint beispielsweise General Eduard Worobjow, einerder stellvertretenden Vorsitzenden des Verteidigungs-komitees der Duma, »das Gesetz wird nicht funktio-nieren«.119 Als besonders problematisch und als nahe-zu zynisches »Angebot« wird dabei die möglicheZwangszuweisung von Wehrdienstverweigerern zumZivildienst in Kasernen gesehen. So klagte AlexejArbatow, einer der stellvertretenden Vorsitzenden desVerteidigungskomitees der Duma, das Gesetz rufeanstelle des Wehrersatzdienstes eine »Gratis-Arbeits-armee« ins Leben.120

Andere Beobachter sind davon überzeugt, dasGesetz werde die Zahl derjenigen in die Höhe treiben,die sich einer Einberufung widersetzen. Zudem drohees die Korruption bei der Einberufungspraxis noch zuvergrößern. Das neue Gesetz werde auch »die Bemü-hungen um die seit langem angekündigte Militär-reform deutlich schwächen, da es das am Bodenliegende und völlig in Mißkredit geratene Systemder Zwangsergänzung der Streitkräfte und andererTruppen nach der Einberufung beibehält.«121

Insgesamt beweist des Gesetz dreierlei: Das Militärin Rußland will erstens weiterhin an der Wehrpflichtfesthalten, ist zweitens entschlossen, keine Aufwei-

nach der Verabschiedung des Gesetzes?«, Berlin, 19.11.2002.118 Hierauf wurde auch in der russischen Diskussionhingewiesen; so z.B. von Oleg Belosludcev, Al�ternativnajaslu�ba z rube�om [Ersatzdienst im Ausland], in: NVO (Inter-netausgabe), 28.6.2002.119 Zitiert bei Salavat Sulejmanov, Minoborony odolelopacifistov. Zakon ob al�ternativnoj gra�danskoj slu�be stalbolee �ëstkim [Das Verteidigungsministerium hat die Pazi-fisten besiegt: Das Gesetz über den zivilen Ersatzdienst istverschärft worden], in: NVO (Internetausgabe), 28.6.2002.120 »Gratisarmee statt Zivildienst«, in: Deutsche Welle, Moni-tor-Dienst Osteuropa, (20.6.2002) 115, Originalquelle: Interfax(russ.), 19.6.2002.121 Jewsejew/Romaschkin, Die lange Geschichte [wie Fn. 117].

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Das Gesetz über den zivilen Ersatzdienst

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chung der Dienstpflicht mit der Waffe zuzulassen,und verfügt drittens weiterhin über bestimmendenEinfluß auf Entscheidungsprozesse in Militär- undSicherheitsfragen. Der starke Einfluß der Militär-führung und der Kommandeure der »anderen« Trup-pen sowie der sogenannten Machtministerien undÄmter auf die Militärpolitik erklärt auch, warum dieReform des Militärwesens nicht vorangekommen ist.

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Reformstau: Militärbürokratie und Politik

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Reformstau: Militärbürokratie und Politik

»Das neueste Bemühen ist nichts anderes als ein Spiel der Büro-kraten, den Zeitplan auf die Zeit nach 2011 zu verschieben,wenn Putin und Iwanow nicht mehr an der Macht sind.«Walentina Dmitriewna, Vorsitzende des Komitees derSoldatenmütter122

»Diese Mütter wären besser beraten, sich darauf zu konzen-trieren, ihre Söhne zu füttern, damit sie stark genug sind, ihreverfassungsmäßigen Pflichten zu erfüllen.«Generalleutnant Wasilij Smirnow, Chef für Mobilisie-rungsfragen beim Generalstab123

»Ihre Außenpolitik ist ihrem Wesen nach eine Fortsetzung derverbrecherischen Politik des �Neuen Denkens� Gorbatschows.«Aus einem Offenen Brief früherer Generale undAdmirale an Putin124

Der politische Einfluß der Militärs ist vermutlich des-halb so groß, weil ihre Anschauungen im außen- undsicherheitspolitischen Establishment weitgehendgeteilt werden. Dem Establishment paßt die Entwick-lung der letzten Jahrzehnts nicht ins Weltbild. Es hatden Zusammenbruch der Sowjetunion noch immernicht überwunden und träumt davon, daß Rußlandwieder zur Großmacht aufsteigt. Die politische Klassebetreibt keine unvoreingenommene Vergangenheits-bewältigung, und sie tut sich schwer, die Gründe zubegreifen, die zum Zusammenbruch der sowjetischenWeltmachtposition geführt haben. Nicht langfristigwirksame, strukturelle Mißstände des Sowjetsystemsund eine sich immer weiter öffnende Schere zwischenimperialen Ambitionen und ökonomischen Ressour-cen werden für die Auflösung des Sowjetimperiumsverantwortlich gemacht, sondern eine fehlgeleitetePolitik. Diese habe mit dem »Neuen Denken« Gorba-tschows begonnen, sich mit Jelzins Machtübergabe andie Oligarchen fortgesetzt und habe in Putins schnö-

122 Zitiert bei Andrew Jack, Russia�s Conscript Army StillFrozen in Its Communist Past, in: Financial Times,13.12.2002, S. 20.123 Ebd.124 Brief vom 21.2.2002: Tekst obra�čenija, opublikovannyj vgazete »Sovetskaja Rossija« [Der in der Sowjetskaja Rossija veröf-fentlichte Text des Briefes], in: Lenta.ru (Integrum, online),22.2.2002.

dem »Verrat« der strategischen Interessen Rußlands andie USA ihren Gipfel gefunden.

Diese Sicht findet sich unter anderem in offenen,scharf und häufig beleidigend formulierten Briefenpensionierter Generale und Admirale an den Präsi-denten. In den im November 2001 und Februar 2002verfaßten Briefen heißt es unter anderem:! Zur Innenpolitik: »Für uns ist der Zusammenbruch

des Landes und seiner Streitkräfte eine persönlicheTragödie. Jeder von uns hat ja der Stärkung der Ver-teidigung des Staates praktisch sein ganzes Lebengewidmet. Offensichtlich fällt es Ihnen schwer, dastrotz der Tatsache zu verstehen, daß sie in derSowjetära Mitarbeiter des KGB waren. Weiterhinhaben Sie nicht verstanden oder wollen nichtverstehen, daß in den letzten Präsidentschafts-wahlen das Volk nicht Sie gewählt hat, sonderndie an Ihre Person geknüpfte Hoffnung, daß dasLand wiederhergestellt und wieder Ordnung inihm eingeführt wird. Leider haben Sie das Volkgetäuscht und seine Interessen verraten.«

! Zur Militärpolitik: »Besondere Sorge bereitet unsdie Auflösung der Streitkräfte, der Rückgang imNiveau ihrer Ausrüstung mit neuer Technologie, [...]die beispiellose Verringerung der Kampffähigkeitund Kampfbereitschaft. Es ist unerträglich, wennStäbe und Einheiten der Landstreitkräfte beginnen,sich im wesentlichen mit der Erledigung vonPolizeiaufgaben im Inneren des Landes zu beschäf-tigen statt mit der ihnen zukommenden Aufgabeder Landesverteidigung.«

! Zur Außenpolitik: »Ihre Außenpolitik ist ihremWesen nach eine Fortsetzung der verbrecherischenPolitik des �Neuen Denkens� Gorbatschows, dembesten Deutschen [im Kreml], der kriecherischenPolitik gegenüber dem Westen, [...] der Auflösungdes Landes und der Verschleuderung seiner Reich-tümer. So würde es uns nicht wundern, wenn manSie morgen den besten Amerikaner, Europäer oderNATO-Anhänger nennen würde, haben doch dieUSA mit Ihrer Unterstützung Militärbasen in Usbe-kistan, Tadschikistan, Kirgistan und womöglichauch in Kasachstan erhalten. [...] Die kürzlich getrof-fene Entscheidung, unsere Basen in Kuba, Vietnam

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und Abchasien zu schließen, ist [...] ein verräteri-scher politischer Akt.«125

Sicher wäre es übertrieben, derartige verbale Fron-talangriffe auf Putin, seine Militärpolitik und seineWestorientierung als Zeugnis nahtloser Übereinstim-mung der aufmüpfigen pensionierten Generale undAdmirale mit ihren heute amtierenden Kollegen zuwerten. Dennoch besteht Übereinstimmung in erheb-lichem Maße. Auf diesem Hintergrund kommt es auchzu Akten der Ignoranz gegenüber der politischenFührung. Um ein Beispiel herauszugreifen: Im Dezem-ber 2002 weigerte sich General Troschew, Oberkom-mandierender des nordkaukasischen Militärbezirks,seiner Versetzung in den Militärbezirk Sibirien Folgezu leisten. Die Begründung? »Wenn ich ginge, [...]würde ich die Militärangehörigen des [Militär-] Bezirksund das tschetschenische Volk verraten, welcheglauben, daß eine antiterroristische Operation geführtwird, die sich wirklich ihrem Ende nähert.«126

(Welchen Ausgang diese Insubordination genommenhat, wird im nächsten Abschnitt behandelt.)

Putin hat aller Wahrscheinlichkeit nach erkannt,daß es notwendig ist, das Alte Denken der Generalegrundlegend zu ändern, wenn es zu einer umfassen-den Zusammenarbeit zwischen Rußland und demWesten auch in Sicherheitsfragen kommen und dieMilitärreform eine Chance erhalten soll, in die Tatumgesetzt zu werden. Ein sicheres Indiz für diese Auf-fassung sind Putins Personalentscheidungen vomMärz 2001, die von den russischen Medien als »sensa-tionell« empfunden wurden und die der Präsident als»Schritt zur �Demilitarisierung des gesellschaftlichenLebens�« bezeichnet hat.! Die aufsehenerregendste Entscheidung war die Ab-

lösung des Verteidigungsministers: Putin enthobMarschall Sergejew seines Postens und gab diesesAmt dem bisherigen Sekretär des Sicherheitsrates,Sergej Iwanow, einem Zivilisten. Iwanow stand zwar

125 Brief vom 9.11.2001: Obra�čenie generalov i admiralov[wie Fn. 4]. Brief vom 21.2.2002: Tekst obra�čenija [wieFn. 124]. Der erste Brief war sowohl an den Präsidenten alsauch an die Abgeordneten der Duma, Mitglieder der Regie-rung und Gouverneure der Regionen adressiert, der zweitenur an den Präsidenten. Die Bezeichnung Gorbatschows als»bestem Deutschen« und die sich daran anschließende Ver-mutung, der Westen könnte Putin morgen als »besten Ameri-kaner« betrachten, beziehen sich offensichtlich auf das Buchvon Alexander Rahr, Wladimir Putin: Der Deutsche im Kreml,das ab 2000 in verschiedenen Auflagen erschienen ist.126 Zitiert in: Nick Paton Walsh, Campaign Chief Sacked asMoscow Seeks Chechen Talks, in: The Guardian, 19.12.2002,S. 1.

vorher im Rang eines Generalleutnants des Inlands-geheimdienstes FSB, einer der Nachfolgeorganisa-tionen des KGB. Wie Putin stieg Iwanow aber inhöhere Geheimdienstposten mit militärischemRang nicht über den KGB/FSB-Truppendienst auf,sondern über die Auslandsarbeit. Soweit bekannt,hat er sich vor seiner Ernennung nicht mit militä-rischen Fragen befaßt. Es gibt weitere Parallelenzwischen den beiden Politikern: Sie sind gleich-altrig, stammen aus Sankt Petersburg und habenähnliche Anschauungen von Politik und Gesell-schaft. Eine enge Freundschaft verbindet sie.

! Putins Gedanke bei der Ernennung Iwanows waroffensichtlich: Da die Militärs in Ministerium undGeneralstab nicht bereit oder in der Lage sind, vonsich aus eine grundlegende Reform des Militär-wesens durchzuführen, sollte man ihnen einendurch jahrzehntelangen Dienst in den Streitkräftenund durch Seilschaften nicht vorbelasteten, ihmpersönlichen Vertrauten voranstellen. WeitereArgumente für Iwanows Ernennung waren seineErfahrungen im KGB und vermutlich auch seinZugang zu Informationen aus dem Geheimdienst.Schließlich schien er sich für die Konzipierung undDurchsetzung grundlegender Veränderungen imMilitärwesen zu eignen, weil er in seinen Funktio-nen als Sekretär des Sicherheitsrats und als Leiterder Kommission für die Militärreform das Pro-gramm für die militärische Entwicklung bis 2005ausgearbeitet hatte, das Putin dann am 16. Januar2001 in Kraft setzte.127

! Zu den im März 2001 vollzogenen Neubesetzungenim Rahmen der »Demilitarisierung des gesellschaft-lichen Lebens« gehört auch die von Ljubow Kudelina.Sie wurde zu einem der Stellvertretenden Verteidi-

127 Weitere Einzelheiten zur Biographie Iwanows:am 31.1.1953 in Leningrad geboren, Philosophiestudium inLeningrad, 1976 Beginn der Karriere im KGB;ab 1997 Arbeit in der 1. Hauptabteilung (Auslandsaufklärung)des zentralen Apparats in Moskau, 1981�1983 KGB-Chef inLondon (»2. Sekretär der Botschaft«), danach in Finnland undKenia;ab August 1998 Direktor der Abteilung für Information undAnalyse im FSB sowie Stellvertreter des FSB-Direktors (Chef:Putin);ab November 1999 Sekretär des nationalen Sicherheitsrats;Rukovoditeli federal�nych organov vlasti i upravlenija [Leiterföderaler Machtorgane und Verwaltungen], in: Lica Rossii(Integrum, online), 1.3.2002. � Zu Putins Personalrevirementvom März 2001 siehe Eberhard Schneider, Neue »Macht-minister« in Moskau: Erste wichtige PersonalveränderungenPutins, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, April 2001(SWP-Aktuell 8/01).

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gungsminister mit Zuständigkeit für den Militär-haushalt ernannt. Bemerkenswert an dieser Stellen-besetzung ist nicht nur die Tatsache, daß ein weite-rer Zivilist in eine hohe Führungsposition im Ver-teidigungsministerium beordert wurde, sondernauch daß Kudelina Wirtschaftswissenschaftlerin istund als erste Frau ein derartig hohes Amt bekleidet.Auch ihre frühere Position gibt über Putins Ziel-setzungen Aufschluß: In den Jahren 1996 bis 1999leitete sie die Abteilung für Rüstungsfragen imFinanzministerium, war also mit den militärischenFinanzierungsfragen bereits vertraut.

! Generaloberst Alexej Moskowskij, von Iwanow ausdem Sicherheitsrat ins neu geschaffene Amt einesStellvertretenden Ministers für Bewaffnung beru-fen, kann langjährige Erfahrungen im Managementdes militärisch-industriellen Komplexes vorweisen.Die Rationalisierung des Forschungs-, Entwick-lungs- und Beschaffungswesens und seiner Finan-zierung sollte offensichtlich mit diesen Personal-umstellungen und Reorganisationen vorangetrie-ben werden.128

! Vermutlich der wichtigste Mitarbeiter Iwanows imVerteidigungsministerium ist sein persönlicherBerater, General Andrej Tschobotow. Beide hatten sichim Geheimdienst kennengelernt, als Iwanow Leiterder Abteilung für Information und Analyse des FSBwurde. Als Iwanow zum Sekretär des Sicherheits-rats avancierte, war Tschobotow der einzige»Tschekist«, den er mitnahm. Dies hat sich mitIwanows Wechsel ins Verteidigungsministeriumwiederholt. Einer der ersten Schritte, die Tschobo-tow unternahm, um die politische Kontrolle derStreitkräfte zu verbessern, war die Ablösung desChefs der Hauptabteilung für internationale militä-rische Zusammenarbeit, General Leonid Iwaschows,durch Generalleutnant Anatolij Masurkewitsch imJuli 2001. Tschobotow unterstellte sich denPressedienst des Verteidigungsministeriums direkt.Außerdem machte er Pläne Kwaschnins zunichte,einen eigenen Pressedienst beim Generalstab ein-zurichten.129

128 Vladimir Georgiev, Novye ljudi v ministerstve oborony[Neue Leute im Verteidigungsministerium], in: Nezavisimajagazeta (Internetausgabe), 17.5.2001; Vadim Solov�ëv, Slavo-slovie na slu�be edinonačalija [Glorifizierung im Dienstder einheitlichen Führung], in: NVO (Internetausgabe),30.11.2001.129 Iwaschow war im Westen als »Hardliner« bekannt. Anden »reformerischen« Qualitäten seines Nachfolgers sindallerdings Zweifel angebracht. � Zur herausragenden Stellung

Was ist nun aus Putins Vorstellungen geworden, diepolitische Kontrolle über die Streitkräfte zu verbessernund mit Hilfe von Zivilisten an der Spitze des Verteidi-gungsministeriums die steckengebliebene Militär-reform voranzubringen? Im wesentlichen hatten dieseMaßnahmen Putins nicht den gewünschten Erfolg. Eswurde schnell deutlich, daß die Zivilisten isoliert sind.

Iwanow hat sich gegenüber dem Generalstab unddem umfangreichen bürokratischen Apparat imVerteidigungsministerium nicht durchsetzen können.Von den Uniformträgern wird den »Neuankömm-lingen« aus dem FSB und dem Finanzministerium»mangelnde Professionalität« unterstellt. Darüberhinaus werfen zivile Kritiker Iwanow vor, er habe garnicht erst versucht, sich durchzusetzen. Er sei ohneEnthusiasmus ins Verteidigungsministerium über-gewechselt, weil er eigentlich Premierminister hättewerden wollen. Entscheidungen, die für die Generali-tät von Nachteil hätten sein können, seien nichtgetroffen worden. Bei Fragen der militärischen Ent-wicklung gebe es erneut Gegensätze zwischen demGeneralstab und dem Sicherheitsrat, personifiziertdurch Generalstabschef Kwaschnin und Sicherheits-ratssekretär Ruschajlo. Verteidigungsminister Iwanowbefasse sich mit diesen Gegensätzen lediglich aus derWarte eines Außenbeobachters. Er habe »nicht aneiner einzigen Sitzung des Sicherheitsrats teilgenom-men, auf der die Struktur der bewaffneten Forma-tionen des Landes erörtert wurde«, und er sei »immerabwesend, wenn Angelegenheiten diskutiert werden,bei denen die politische Führung des Landes andererMeinung ist als das Militär«.130

Kudelina, so wird berichtet, werde regelrecht untereinem Berg von Papieren begraben, der sich tagtäglichin ihrem Büro auftürme. Sie sei von Fachleuten ausdem Militär umgeben, die über »bessere« Informatio-nen verfügten und es verstünden, auf politische Ent-

Tschobotows siehe Solov�ëv, Slavoslovie na slu�be edinonača-lija [wie Fnm. 128], und Vadim Solov�ëv, V Minoborony grjadëtčistka [Im Verteidigungsministerium naht eine Säuberung],in: NVO (Internetausgabe), 1.3.2002.130 Salvat Sulejmanov, Sovbez vnov� korrektiruet planvoennoj reformy. Oppozicija v Gen�tabe razygrivaet kartu»zakriticheskogo« sostojanija armii [Der Generalstab korri-giert erneut den Plan der Militärreform: Die Opposition imGeneralstab spielt die Karte der »kritischen« Situation in derArmee aus], in: Nezavisimaja gazeta (Internetausgabe),4.6.2002; Vadim Solov�ëv, Generaly protiv ministra oborony[Die Generale gegen den Verteidigungsminister], in: Nezavi-simaja gazeta (Internetausgabe), 2.3.2002.

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Kto winowat? � Wer ist schuld?

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scheidungen und die Zuteilung von Finanzmitteln ein-zuwirken.131

Vor allem Iwanow schwebt gewissermaßen im luft-leeren Raum. Im Establishment wird sporadischspekuliert, Putin habe vor, ihn zu ersetzen. Die Fragewäre nur: durch wen? Kwaschnin wird in diesemZusammenhang genannt. Nach Meinung ziviler Mili-tärfachleute wäre er aber definitiv nicht der richtigeMann. Er sei es gewesen, der ab 1999 die für die Bezie-hungen zwischen Generalstabschef und Verteidi-gungsminister charakteristische »Doppelherrschaft«im Ministerium errichtet habe, die erst mit der Ab-lösung Sergejews ein vorläufiges Ende fand. Kwasch-nin habe »voluntaristische« und »bonapartistische«Neigungen. Mit neuen Machtbefugnissen ausgestattet,würde er mit seinen Widersachern in Verteidigungs-ministerium und Generalstab abrechnen. Die Maß-nahmen, welche er ergreifen werde, könnten den»völligen Zusammenbruch der Streitkräfte herbei-führen«.132

Die Frage aber, wer es besser machen könnte, bleibtunbeantwortet. Darüber hinaus stellt sich die Frage,wer für das Scheitern der Militärreform verantwort-lich ist.

Kto winowat? � Wer ist schuld?

Vertreter der politischen und der militärischen Füh-rung des Landes schieben sich gegenseitig die Schuldzu. Andere sehen in der politischen Führung und demGeneralstab die Hauptverantwortlichen. So meintbeispielsweise der in Pension geschickte GeneralIwaschow: »In den letzten zwei Jahren ist alles getanworden, um aus dem Verteidigungsministerium hoheMilitärs zu verdrängen, die in Sachen Reformierungder Armee einen eigenen Standpunkt vertraten. DieserStandpunkt unterschied sich vom Standpunkt desGeneralstabs. Diese Personen konnten ihre Meinungjedoch vertreten und haben sich in keinerlei Intrigenhineinziehen lassen. Heute wird ihre Position durchdie Wirklichkeit bestätigt, sie selbst sind jedoch nichtmehr im Amt.«133

131 Solov�ëv, V Minoborony grjadët čistka [wie Fn. 129].132 Igor� Korotčenko, �trichi k portretu načal�nika Gen�taba[Konturen für ein Porträt des Chefs des Generalstabs], in: NVO(Internetausgabe), 1.3.2002.133 Vladimir Georgiev, Leonid Iva�ov, »Likvidacija baz zarube�om � strategičeskaja o�ibka« [Leonid Iwaschow: »DieAuflösung der Basen im Ausland ist ein strategischer Fehler«],in: Nezavisimaja gazeta (Internetausgabe), 18.12.2001.

Es ist offensichtlich, daß Iwaschow sich zu denjeni-gen hohen Militärs rechnet, die einen eigenen Stand-punkt vertreten haben. Aber auch seine Vorstellun-gen, wären sie in die Tat umgesetzt worden, hättenmit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeitnichts an der Misere des russischen Militärwesensgeändert.

Wie in anderen Situationen, in denen Akteure zwardie Notwendigkeit grundlegender Veränderungenerkennen, diese aber nicht vollziehen können(»Reformstau«), ist dafür meist nicht ein einzigerFaktor, sondern eine Kombination von Faktoren ur-sächlich. Dazu gehören in diesem Falle Politik undPersönlichkeit des Präsidenten.

Im Gegensatz zu Jelzin hat sich Putin intensiv mitmilitärischen Fragen befaßt. Ihm blieb auch keineandere Wahl. Seinen Aufstieg verdankt er dem Kriegin Tschetschenien, der wie alle Kriege Moral, Füh-rungsqualitäten, Ausbildung, Ausrüstung und Organi-sationsstruktur der Streitkräfte auf den Prüfstandgestellt hat. Auch der Untergang der »Kursk« rückteMilitärfragen grell ins Rampenlicht der russischenund internationalen Öffentlichkeit. Putin mußte aufdie amerikanische NMD/BMD-Herausforderung, dieNATO-Osterweiterung und den 11. September nichtnur international, sondern auch im Inneren, mitAnpassungen in der russischen Sicherheits- undVerteidigungspolitik reagieren. Und schließlichkonnte nicht länger hingenommen werden, daß diemilitärischen Führungsspitzen in aller ÖffentlichkeitJahr für Jahr den Zustand der Streitkräfte als »katastro-phal« beklagten und sowohl pensionierte als auchaktive Generale und Admirale sich gegenseitig oderdie politische Führung »verbrecherischer« und »verrä-terischer« Umtriebe bezichtigten, ohne daß der Präsi-dent je ein Machtwort gesprochen und politischeLösungen aufgezeigt hätte.

Putin hat in der Tat starke Worte gefunden. Mittelsstrafferer Kontrollen über die Informationspolitik hater die Kakophonie à la russe im Militärwesen einge-dämmt. Aber im Gegensatz zu internationalen militä-rischen und sicherheitspolitischen Fragen wie NMD/BMD, NATO, NATO-Osterweiterung, Schließung russi-scher Militärbasen oder US-Militärpräsenz in Zentral-asien und im Kaukasus hat er sich bei den internenrussischen Militärfragen nicht durchsetzen können,es auch letzten Endes nicht energisch genug versucht.Zumindest ist seine Haltung ambivalent.

So kommt es zwar einerseits immer wieder vor, daßer Generale und Admirale ablöst, die sich entwederauf ihrem Posten als unfähig erwiesen haben (die Füh-

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rungsriege der Nordmeerflotte nach der »Kursk«-Kata-strophe), die politisch nicht mehr in die Landschaftpassen (General Iwaschow) oder sich Befehlen wider-setzten (General Troschew). Andererseits zeigt geradedie Troschew-Affäre die Widersprüchlichkeit in PutinsHaltung zum Militär: Statt den General kommentarloszu entlassen, ernannte er ihn zum »Koordinator derAktivitäten aller Machtstrukturen in Tschetschenien«.Der Posten ist neu. Wenn die mit ihm verbundenenFunktionen möglicherweise auch nur beratenderNatur sind, hat Putin letzten Endes mit diesem Schrittin gewisser Weise Troschews Weigerung akzeptiert,sich versetzen zu lassen, und demonstrativ die Rolledes Generals in Tschetschenien honoriert.134

Putins ambivalente Haltung zeigt sich auch darin,daß er dem Widerstand des Militärs gegen einenBruch mit der sowjetischen Vergangenheit Vorschubleistet. So marschieren nach dem Willen von Präsidentund Militärführung die russischen Streitkräfte undSondertruppen erneut nach den Klängen der sowjeti-schen Nationalhymne, und bald soll auch wieder derrote Stern der Sowjetarmee auf ihren Uniformenprangen. Von Putin unwidersprochen blieb ebenfallsdie im September 2002 von Kwaschnin unterzeichneteDirektive des Generalstabs über die Wiedereinführungdes »Stellvertretenden Kommandeurs der Armee undFlotte für Erziehungsarbeit«. Die Direktive ist aus vierGründen problematisch:! Die Offiziere für Erziehungsarbeit (ofizjery-wospitatel),

soweit sie zivilen und politisch liberalen Grund-sätzen anhängen, werden aller Voraussicht nachdurch der Militärführung ideologisch genehmereOffiziere ersetzt. Damit ginge eine Anfang derneunziger Jahre eingeleitete Entwicklung ihremEnde entgegen: Damals wurden die PolitischeHauptverwaltung der Armee und Flotte (GPU) beimVerteidigungsministerium und die ihr nachgeord-neten, kommunistisch-linientreuen Politorgane inder Truppe aufgelöst. Die GPU wurde durch eineHauptverwaltung für Erziehungsarbeit ersetzt. Diekommunistischen Politoffiziere (politruky) wurdenvon Absolventen ziviler Hochschulen abgelöst, dieihren zweijährigen Wehrdienst abgeleistet hattenund sich weiter verpflichteten. Noch im Jahre 2002machten die neuen Offiziere für Erziehungsarbeitrund 80% der Politoffiziere aus, der Rest wurde ausder Sowjetära übernommen. Allerdings waren die

134 Natalja Melnikova, General Tro�ev � superkomanduju�čijČečnej [General Troschew �Superkommandeur Tschetsche-niens], in: Nezavisimaja gazeta (Internetausgabe), 20.2.2003.

Vollmachten der neuen Offiziere rechtlich erheb-lich eingeschränkt, und ihr Einfluß war auch des-wegen gering, weil sie in der Truppe isoliert waren.

! Jetzt erhält der Status neu zu ernennender Polit-offiziere eine völlig neue Qualität: Sie werden mitDienstvollmachten ausgestattet und »regieren« inder Truppe gemeinsam mit dem Kommandeur. DasPrinzip der Ein-Mann-Führung (edinonatschalje) wirdsomit wieder durch das Prinzip der Doppelführung(dwojenatschalje) ersetzt; auch in dieser Beziehungwerden die russischen Streitkräfte wieder sowjeti-schen Vorbildern angepaßt.

! Die Direktive läßt sich schwerlich mit den vonPutin geforderten Kürzungen der Personalstärkeund der Beseitigung der »Kopflastigkeit« im Offi-zierskorps vereinbaren, denn ihr zufolge soll dieZahl der Generals- und Admiralsposten um weitere55 Stellen wachsen.

! Der »zivile« Verteidigungsminister ist wiederumdurch den Generalstabschef übergangen oder aus-manövriert worden, denn die Erziehungsarbeit inden Streitkräften gehört eindeutig zum Verant-wortungsbereich Iwanows, nicht Kwaschnins.135

Putins Ambivalenz und seine mangelnde Bereit-schaft, sich energisch gegen die Militärführung durch-zusetzen, lassen sich aller Wahrscheinlichkeit nichtdamit erklären, daß er eine Militärrevolte oder einenUmsturz befürchten müßte. Für »Bonapartismus« gibtes in der zaristischen, sowjetischen und neurussischenGeschichte keine Tradition; Putins Verfassungs-kompetenzen sind ebenso groß wie seine Popularitätim Lande, und die Generale sind untereinander zer-stritten. Er braucht trotz alledem den guten Willender Streitkräfte und Sondertruppen sowohl für dieFortsetzung des Krieges in Tschetschenien als auchfür die Umsetzung einer Reform des Militärwesens.Vielleicht will er deswegen die Militärs nicht mitgrundsätzlichen Neuorientierungen »überfordern«,welche die Außenpolitik und die interne Militärpoli-tik betreffen.

Ein weiterer Grund für Putins mangelnde Durch-setzungsbereitschaft ist seine Haltung zu Politik,Gesellschaft und Militär. Er versteht sich nicht alsradikaler Reformer. Sein Ansatz entspricht nicht derZielvorstellung Gaidars, Kosyrews, Nemzows,

135 Zur neuen Direktive über die Politruks siehe VladimirLevin, »Politruk« general Kwa�nin gotovit armiju k vyboram[Der »Politruk« General Kwaschnin bereitet die Armee auf dieWahlen vor], in: Press-centr.ru (Integrum, online), 11.9.2002;Viktor Litovkin, Generaly, strojsja! [Generale, angetreten!], in:Vremja-MN (Integrum, online), 11.9.2002.

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Die Rolle des Westens

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Kokoschins oder Jawlinskijs, die Anlehnung an denWesten in der Außenpolitik gezielt mit Liberalismus,Pluralismus und Demokratie im Innern sowie mitTransparenz und ziviler Kontrolle in der Militärpolitikzu verbinden. Putin will Recht und Ordnung im wahr-sten Sinne des Wortes nach eigener Lesart mit Hilfevon Druck bis hin zur Anwendung von Gewalt (Tsche-tschenien) durchsetzen, und dazu braucht er dieMachtministerien und Ämter, insbesondere die Mini-sterien für Verteidigung und Inneres sowie den FSB.Insofern ist es nicht verwunderlich, daß seine immerwieder geäußerte Kritik an den Generalen praktischkeine Konsequenzen nach sich zieht.

Die Rolle des Westens

Westliche Institutionen bemühen sich seit einem Jahr-zehnt, einen Beitrag zur Integration des russischenMilitärs in eine noch im Aufbau befindliche Zivil-gesellschaft zu leisten. Mit Hilfe von Programmen,Lehrgängen und Seminaren für Generalstabsoffiziereund Offiziere der mittleren Führungsebene sollenBewußtseinsveränderungen im russischen Offiziers-korps bewirkt werden, um so auch eine breitere Basisfür militärische und militärpolitische Zusammen-arbeit zu schaffen.

Derartige Programme werden sowohl von derNATO, den Verteidigungsministerien westlicherLänder als auch von nationalen und internationalenInstituten für Politik und Sicherheit durchgeführt �beispielsweise von der Stiftung Wissenschaft undPolitik (SWP) in Berlin, dem Marshall Center inGarmisch, der John F. Kenndy School of Governmentin Cambridge, Massachusetts und dem InternationalInstitute for Strategic Studies (IISS) in London.

Die Erfahrungen westlicher Organisatoren und Teil-nehmer an derartigen »Austauschbeziehungen« sindgemischt, im wesentlichen ernüchternd und entmuti-gend. Einige der wichtigsten Gründe dafür sind:! Westliche Angebote werden im russischen Verteidi-

gungsministerium oft lebhaft begrüßt, Einzel-heiten von Programmen werden ausgearbeitet undvereinbart, dann aber nicht voll eingelöst. Es gibtalso ein Mißverhältnis zwischen Angebot und Nach-frage.

! Das Mißverhältnis ist nicht auf einen Mangel anInteresse im Offizierskorps zurückzuführen, son-dern auf mangelnde Bereitschaft der russischenMilitärführung, über die Symbolik der Kooperationhinaus eine Verbreiterung der Kontakte zuzulassen.

Zu vermuten ist, daß der Führung Sinn und Zweckder Austauschprogramme gerade aufgrund ihrerwestlichen Ausrichtung ein Dorn im Auge sind. Siewill verhindern, daß russische Generale und höhe-re Offiziere mit Prinzipien der Inneren Führungund des Verhältnisses von Armee und Gesellschaftvertraut gemacht und in die NATO oder anderewestliche Verteidigungsstrukturen »integriert«werden.

! Für diese Interpretation spricht, daß die Generaleund höheren Offiziere, deren Teilnahme vom Gene-ralstabschef genehmigt wird, oft nicht aus demaktiven Truppendienst kommen, sondern aus derHauptverwaltung für internationale militärischeZusammenarbeit, dem diplomatischen Arm desVerteidigungsministeriums. Sie sind darauf geeicht,Standpunkte des Verteidigungsministeriums undinsbesondere des Generalstabs international zuvertreten. Der Gedanke, mit offenen Augen undOhren in den Westen zu reisen, um etwas überseine Reformvorstellungen zu lernen und sie dannin Rußland einzuführen, würde ihnen absurd vor-kommen.

! Ähnliches läßt sich für die Programme, Seminareund Lehrgänge an nationalen oder internationalenVerteidigungsakademien und in der Truppe sagen,an denen russische Offiziere der mittleren Ebenefür einige Monate oder ein ganzes Jahr teilnehmen.Derartige Lehrgänge scheinen die Karriereaussich-ten ihrer russischen Absolventen eher zu bremsenals zu fördern. Es sieht so aus, als herrsche im Gene-ralstab die Ansicht vor, daß die Lehrgangsteilneh-mer nach ihrer Rückkehr an Abläufe und Aus-rüstungen in der russischen Armee unrealistische»westliche« Maßstäbe und Erwartungen anlegten,sie also für den Dienst in den russischen Streitkräf-ten »verdorben« seien.Nach einem derartigen Fazit wäre es konsequent,

die Austauschprogramme zu beenden. Das wäre im-merhin ein ernsthafter symbolischer Akt. Im Wehr-wesen würde er allerdings nichts bewirken. Politischhätte er dagegen negative Auswirkungen: Der Militär-führung würde das Argument in die Hand gegeben,der Westen sei zu ernsthafter Zusammenarbeit nichtbereit. Noch folgenschwerer aber wäre, daß durchdiesen Schritt Putin bloßgestellt, das Scheitern seinerMilitärpolitik noch deutlicher und seine Anlehnungan den Westen in Frage gestellt würde.

Der Präsident stellt ja in seiner Außen- und Sicher-heitspolitik unter Beweis, daß er lernfähig und lern-willig ist. In der Militärpolitik ist er sich, wie oben dar-

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Reformstau: Militärbürokratie und Politik

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gestellt, durchaus der Notwendigkeit umfassenderVeränderungen bewußt. In dieser Überzeugung sollteer durch westliche Politiker, auf die er ja in anderenFragen oft hört, bestärkt werden.1. Konkret sollte, soweit das noch nicht geschehen ist,

in Gesprächen mit Putin, mit anderen Politikern,hochrangigen Beamten der Präsidialadministrationund der Regierung die Frage aufgeworfen werden,warum auch eine eng an »professionellen«, techno-kratischen Kriterien orientierte Reform des Mili-tärwesens gescheitert ist. Diese Frage ist ebensolegitim und sollte genauso westliche Besorgnissewiedergeben wie andere »sensible« Themen, dierussische Gesprächspartner gerne schönfärben oderganz ausklammern möchten: Einschränkungen derPressefreiheit, Gefahren von Umweltverschmut-zung durch stillgelegte Atom-U-Boote, Fragen derLagerhaltung nuklearer Materialien und chemi-scher Waffen, Risiken der Weiterverbreitung vonMassenvernichtungswaffen und Trägersystemendurch Transfer russischer Technologie sowie Pro-bleme massiver Menschenrechtsverletzungen inTschetschenien.

2. Bei der Kritik am russischen Vorgehen in Tsche-tschenien sollte tunlichst der Eindruck vermiedenwerden, als handle es sich dabei um bloße Pflicht-appelle, eine Verunglimpfung des russischen An-sehens oder um humanitäre Streitfragen. Vielmehrsollte auch auf die verheerende Wirkungen hinge-wiesen werden, welche die mangelnde Verfolgungvon Gewaltakten gegen die Zivilbevölkerung aufMoral und Disziplin der Truppe, auf die Verwirk-lichung einer umfassenden Militärreform undnicht zuletzt auch auf die Chancen einer politi-schen Lösung des Konflikts ausübt.

3. Auch in diesem Zusammenhang könnte der west-liche Standpunkt deutlich gemacht werden, daßsich eine umfassende Militärreform substantiellvon den russischen Bemühungen im letzten Jahr-zehnt unterscheiden muß; daß Demokratie undZivilgesellschaft ohne eine gesellschaftspolitischorientierte Militärreform nicht vorstellbar sind;und daß sich eine so verstandene Militärreformund die von Putin und der Militärführung geforder-te Erhöhung der Kampfbereitschaft der Streitkräftenicht ausschließen, sondern einander gegenseitigbedingen.

4. Von politischem Gewicht ist außerdem das Argu-ment, daß eine Ausweitung der Militärkooperationder NATO oder von NATO-Staaten mit Rußlandkaum vorstellbar ist, solange die russische Armee

unreformiert bleibt. Die Verbreiterung der Kontak-te mit der NATO ist ja Teil der strategischen West-orientierung Putins, und für diesen Zweck gibt esauch ein Gremium, den neuen NATO�Rußland-Rat.Warum sollte Rußland nicht recht sein, was für dieneuen Mitglieder der NATO billig ist: Anpassung anNATO-Standards nicht nur bei Rüstung und Ausrü-stung, sondern auch bei der zivilen Kontrolle desMilitärs sowie bei Struktur, Ausbildung und innererVerfassung der Streitkräfte. Dies müßte vor allembereits im Bewußtsein der politischen FührungRußlands verankert sein, wenn die Voraussetzun-gen für eine künftige NATO-Mitgliedschaft Ruß-lands angesprochen werden sollen.

5. Mit den Offizieren sollten dagegen weniger all-gemeine außen- und sicherheitspolitische Themen,sondern konkrete Fragen behandelt werden. Dazugehört nicht nur ein Austausch darüber, wie mandie Streitkräftestruktur an neue Herausforderun-gen anpassen könnte, sondern auch ein Gesprächüber Probleme der Menschenführung, der Aus-bildung, des inneren Dienstes, der Wehrpflicht unddes zivilen Ersatzdienstes. Dabei sollte einerseitsnach den Defiziten gefragt werden, auf die in derrussischen Diskussion � auch in der Militärpresse �hingewiesen wird, andererseits sollten Informa-tionsangebote mit Blick auf bewährte westlicheKonzepte wie Innere Führung und Staatsbürger inUniform bereitgehalten werden.Vielleicht sollte die Hoffnung doch nicht ganz auf-

gegeben werden. Möglicherweise gibt es noch einegewisse Aussicht auf Bewußtseins- und Verhaltens-änderungen im russischen Militär. Diese Möglichkeitbestünde beispielsweise dann, wenn Putin an seinerstrategischen Westorientierung festhielte und wennmit Hilfe eines neuen Generalstabschefs und einergezielten Personalpolitik die derzeit schwachen refor-merischen Kräfte im Offizierskorps gestärkt würden.Auch mit Blick auf diese Option sollten die Austausch-beziehungen nicht abgebrochen werden.

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Fazit

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Fazit

Im wesentlichen lassen sich bei einer Militärreformzwei Zielrichtungen unterscheiden: eine innen- odergesellschaftspolitisch orientierte, die darauf gerichtetist, das Militärwesen eines Staates mit seiner Politik,Wirtschaft und Gesellschaft in Einklang zu bringen,und eine technokratische, die vorwiegend militärischeLeistungskriterien als Maßstab nimmt und auf Verbes-serung der Einsatzfähigkeit, effizientere Nutzung vor-handener Finanzmittel, Modernisierung von Waffenund Ausrüstung sowie Steigerung der Moral derTruppe zielt.

In der Endphase der Amtszeit Präsident Gorba-tschows und der Anfangsphase der Ära Jelzin standdie erste Zielrichtung im Vordergrund der Bemühun-gen; beide Phasen waren vom »Neuen Denken« auchin der Außen- und Sicherheitspolitik geprägt. AbHerbst 1992 begannen sich jedoch konservative, natio-nalistische und »nationalpatriotische«, mit der Kom-munistischen Partei zusammenwirkende Kräfte zuformieren und in breiter Front gegen den demokra-tisch, marktwirtschaftlich und westlich orientiertenKurs vorzugehen. Seitdem stehen technokratische undprofessionelle Aspekte im Vordergrund der Bemühun-gen des Präsidenten und der Generalität um eine Mili-tärreform.

Hauptziel dieser Anstrengungen ist die Schaffungvon Streitkräften, die � so Putin wörtlich � »kompakt,modern und gut bezahlt« sowie gut ausgebildet undausgerüstet sind. Keine Massenarmee also, sondernTruppen mit erheblich verringertem Umfang. Dra-stische Personalkürzungen sollten entsprechendsowohl die Streitkräfte und »anderen Truppen« alsauch Zivilangestellte in allen bewaffneten Kräftenbetreffen. Der verringerte Streitkräfteumfangwiederum sollte es ermöglichen, bis zum Jahre 2010die Wehrpflicht abzuschaffen und eine Berufsarmeeeinzuführen.

Diesem Hauptziel sind folgende Zielsetzungenuntergeordnet:! Beseitigung der chronischen Unausgewogenheit

der Verteidigungsausgaben zugunsten von For-schung und Entwicklung und zugunsten der Be-schaffung neuer Waffensysteme.

! Erhalt und Teilmodernisierung des nuklearstrategi-schen Potentials bei Verschiebung der Prioritätenzugunsten der konventionellen Rüstung.

! Ausstattung der Streitkräfte mit hochentwickelterTechnologie.

! Beseitigung überflüssiger und überholter Prakti-ken.

! Auflösung ineffizienter Organe und Ämter.! Verbesserung von Qualität und Wirksamkeit der

Infrastruktur sowie von Personalpolitik und Aus-bildung.

! Gewährleistung der sozialen Sicherheit der Militär-angehörigen.Diese Zielsetzungen haben aber zunächst eher den

Charakter von Wunschvorstellungen. In der Praxis istmit ihrer Umsetzung � von ganz wenigen Ausnahmenabgesehen � nicht einmal begonnen worden. Zu denAusnahmen scheint zu gehören, daß der Anteil derPersonalkosten im Verhältnis zur Finanzierung vonForschung, Entwicklung und Beschaffung neuerWaffen verringert worden ist. Und im militärisch-industriellen Komplex, der hier nicht behandeltworden ist, läßt sich ein Konzentrationsprozeß fest-stellen, der eine gewisse Effizienzsteigerung mit sichgebracht hat. Ansonsten überwiegen die Defizite derImplementierung.

Kompakte, moderne und gut bezahlte sowie gutausgebildete und ausgerüstete Streitkräfte sind weiter-hin nicht in Sicht. Es gibt auch keine eigenständigenKrisenreaktionskräfte, die im Sinne der GrundsätzeFlexibilität, Mobilität und Nachhaltigkeit schnell ein-gesetzt werden könnten. Das Programm der Truppen-reduzierung ist ins Stocken geraten, so daß die derzeitrund 1 Mio. Mann umfassende Massenarmee noch2010 existieren könnte. Vorliegenden Entwürfen desVerteidigungsministeriums, des Generalstabs undsogar der Union der Rechtskräfte (SPS) vom November2002 zufolge soll nun doch die Wehrpflicht (wennauch mit verkürzten Dienstzeiten) und somit dasMischsystem von Wehrpflichtigen und Berufssoldatenbeibehalten werden. Auch unter Putin ist die Militär-reform also nicht vorangekommen. Einige in derJelzin-Ära vollzogenen Veränderungen der Organi-sationsstruktur sind sogar wieder rückgängig gemachtworden.

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Die Studie hat herausgearbeitet, warum die Reform-bemühungen gescheitert sind. Ausschlaggebend dafürsind folgende vier Faktoren:! Der auch im Generalstab als »desolat«, »katastro-

phal« und »kritisch« bewertete Zustand der Streit-kräfte (und Sondertruppen), der schnelle Verände-rungen zum Besseren auch bei richtig konzipierterund konsequent durchgeführter Reformpolitiknicht erwarten läßt.

! Mangelnde Reformbereitschaft und -fähigkeit derMilitärführung, ein weiterhin »sowjetisch« gepräg-tes Weltbild des Offizierskorps, das Beharrungs-vermögen der aufgeblähten Militärbürokratie undscharfe Auseinandersetzungen zwischen den Chefsder Teilstreitkräfte und Waffengattungen sowiezwischen Militärführung und politischer Führung(Verteidigungsminister und Präsident).

! Die schwache Führungsrolle eines Präsidenten, derzwar die Notwendigkeit weitreichender Verände-rungen erkennt, aber nicht gewillt ist, das Notwen-dige durchzusetzen. Putin verhält sich vermutlichdeshalb so, weil er selbst aus der Sowjetära über-kommene Vorstellungen nicht überwunden hat,seine Haltung zum Militär und den Truppen desInnenministeriums und des FSB ambivalent ist undweil er negative Rückwirkungen auf seine Macht-position befürchtet, sobald er einen konfrontativenKurs gegenüber dem Militär einschlägt.

! Der Krieg in Tschetschenien, der einerseits die»Machtstrukturen« politisch aufwertet und ihnenzusätzliche Finanzmittel beschert, sich andererseitsaber � in der Weise, wie Putin die Truppen gewäh-ren läßt � verheerend auf den Zustand der Streit-kräfte und die Reformbemühungen auswirkt.

Das wirft noch einmal die Frage auf: WelchenBeitrag könnte die westliche Seite leisten, um denReformstau zu überwinden? Über die am Ende desletzten Kapitels angegebenen Schritte hinaus derzeitwenig. Wenn es aber richtig ist, daß enge Verbindun-gen zwischen der fehlgeleiteten TschetschenienpolitikPutins und dem Scheitern der Militärreform bestehen,könnte ein Hebel für neue Anstöße eine stärkere Mit-sprache bei einer Normalisierung und Befriedung inTschetschenien sein.

Die Lösung dieses europäischen Problems sollte alsgenauso dringlich angesehen werden wie die poli-tische Neuordnung und Befriedung Afghanistans.Westliche Regierungen sollten überlegen, in welcherForm und unter welchen Bedingungen eine Mit-sprache angemeldet werden könnte. Womöglich wäre

eine Beteiligung an einer internationalen Friedens-truppe vorstellbar. Entsprechende Initiativen könnten,sogar noch vor den Parlamentswahlen im Dezember2003 und den Präsidentschaftswahlen im März 2004,sogar auf offene Ohren Putins treffen. Untergräbtdoch das Scheitern der Befriedung Tschetscheniensseine innenpolitische Stellung.

Abkürzungsverzeichnis

BMD Ballistic Missile DefenceCRPI Centr regional�nych prikladnych issledovanij

[Zentrum für angewandte Forschung]ESVP Europäische Sicherheits- und VerteidigungspolitikFAPSI Federal�noe agenstvo pravitel�stvennoj svjasi i

informacii pri prezidente Rossiiskoj Federacii[Föderale Agentur für Regierungskommunikationund Information beim Präsidenten der RussischenFöderation], zuständig für den Schutz und dieÜberwachung öffentlicher und privaterKommunikationseinrichtungen

FSB Federal�naja slu�ba bezopasnosti ]FöderalerGemheimdienst]

GPU Gosudarstvennoe političeskoe upravlenie[Staatssicherheitsdienst]

GRU Glavnoe političeskoe upravlenie [PolitischeHauptverwaltung (der Armee und Flotte beimVerteidigungsministerium der RussischenFöderation)]

GUS Gemeinschaft Unabhängiger StaatenGUVR Glavnoe upravlenie po vospitatel�noj rabote

[Hauptverwaltung für Erziehungsarbeit]IEPP Institut ėkonomiki perehodnogo perioda

[Institut für die Erforschung der Wirtschaft derÜbergangsperiode]

IGFM Internationale Gesellschaft für MenschenrechteIHF Internationale Helsinki-Föderation für Menschen-

rechteIISS International Institute for Strategic StudiesKFOR Kosovo ForceKGB Komitet gosudarstvennoj bezopasnosti

[Komitee für Staatssicherheit]KSBR Kollektivnye sily bystrogo razvërtyvanija

[Gemeinsame schnelle Einsatzkräfte der GUS]MWD Ministerstvo Vnutrennych Del [Innenministerium]NMD National Missile DefenseNVO Nesavisimoe voennoe obozrenie [Unabhängige

Übersicht für Militärfragen], Wochenausgabe derTageszeitung Nezavisimaja gazeta

OMON Otdel milicii osobogo naznačenija[Abteilung der Miliz für besondere Aufgaben]

RFE Radio Free EuropeRL Radio LibertyRTR Russkoe televidenie i radiove�čanie

[Russisches Fernsehen und Rundfunk]

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Abkürzungsverzeichnis

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RUBOP Regional�noe upravlenie po bor�be s organisovannojprestupnost�ju [Regionalverwaltung für den Kampfgegen die organisierte Kriminalität], Sonderabteilungdes Innenministeriums für die Ermittlungen beiGeiselnahme und die Suche nach Geiseln; dieAbteilung hat Kontakte zu tschetschenischen Feld-kommandeuren

RWSN Raketnye vojska strategičeskogo nasnačenija[Strategische Raketentruppen]

SFOR Stabilization ForceSMI Sredstva massovoj informacii [Massenmedien]SOBR Special�nyj otrjad bystrogo reagirovanija

[Sonderabteilung für schnelle Reaktion], Spezialkräftedes Innenministeriums u.a. für Geiselbefreiung

SPS Sojuz pravych sil [Union der Rechtskräfte], russischeliberaldemokratische Partei mit Boris Nemzow alsVorsitzendem