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Hans-Jürgen Krahl - Zur Dialektik des antiautoritären Bewusstseins

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Page 1: Hans-Jürgen Krahl - Zur Dialektik des antiautoritären Bewusstseins

27. Zur Dialektik des antiautoritären Bewusstseins1

Die studentische Protestbewegung in Westdeutschland hat sich inden vergangenen drei Jahren als fähig erwiesen, eine politischeSensibilität zu erzeugen, welche die neuen Formen verschleiernderAusbeutung sowie verdeckter und sublimierter Herrschaft imSpätkapitalismus aufzuzeigen vermochte, und eine revolutionärePhantasie heranzubilden, die die Keimformen eines Befreiungs­kampfes unter den Bedingungen hochzivilisierter Bedürfnisbe­friedigung entfaltet hat. Im Medium der Kategorie des antiautori­tären Bewusstseins setzte sie das neue, noch unentfaltete Vernunft­prinzip der Emanzipation von integrativer Bewusstseinsvernich­tung und krisensteuernder Spekulationskunst zu einem ersten unddeshalb abstrakten, gleichwohl praktischen Dasein und restitu­ierte ebenfalls auf der Ebene des ersten noch unentwickelten An­fangs im Widerstand gegen die Zerfaserung der alltäglichen Er­fahrungswelt zur herrschaftsblinden Mannigfaltigkeit von gesteu­erten Informationen einen abstrakt richtigen Totalitätsbegriff desfalschen gesellschaftlichen Ganzen. Das antiautoritäre Bewusst­sein, das der Klassenlage von vor allem kultur- und sozialwissen­schaftlicher Intelligenz empirisch und genetisch zuzurechnen ist,motiviert sich aus dem Widerspruch der von allen inhaltlichen Sub­stanzen der bürgerlichen Emanzipationsphase gelösten techno­logischen Demokratie zur vergangenen ideologischen Liberalitätgleichen Tauschverkehrs, parlamentarischer Kommunikation undautonomer Individualität. Wenn das antiautoritäre Bewusstseinauch eine Zerfallsform technologisch zerschlissener bürgerlicherVernunftbegriffe ist, so enthielt es im Wissen um deren unwider­ruflichen Zerfall im organisierten Kapitalismus gleichwohl alleMomente eines antizipierten und stellvertretenden Klassenbe..wusstseins, eines Klassenbewusstseins, weil es Emanzipations- undTotalitätsbewusstsein ist, antizipiert und stellvertretend deshalb,weil es noch nicht im Stande sein konnte, sich parteilich in einerSpontaneität des Proletariats zu verankern. Dem widersprechendie Reflexionsformen, in denen das antiautoritäre Bewusstsein sichselbst zu befreien suchte. Es vermochte keineswegs konkret einzu­sehen, dass seine provokative Aktionspraxis überhaupt erst diegeschichtlichen Bedingungen der Bildung von Klassenbewusstseintheoretisch-wissenschaftlich und erfahrungspraktisch zu schaffenhat. Vielmehr missverstand es auf der Höhe seiner spekulativüberschwenglichen Selbstbestimmung als geschichtlich konkretentwickelt, was noch unentfaltetes blosses Prinzip war. Seine not.wendige Ahistorizität verkleidete die systemsprengenden Vor­stellungen von gesamtgesellschaftlicher Herrschaft und revolu-

1 Dieser Beitrag ist der Anfang eines für die »neue Kritik« geplanten Artikels vom Herbst 1969. Wieinsbesondere der Anhang zeigt, sind wesentliche Teile hiervon in die »Thesen zum allgemeinen Ver­hältnis von wissenschaftlicher Intelligenz und proletarischem Klassenbewusstsein« eingegangen. DerTitel stammt von uns. (Anm. d. Hg.)

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tionärem Befreiungskampf in die diffuse Begriffswelt von umwäl­zender Randgruppentätigkeit und allgemeiner Gattungsrevolution.Diese Antinomien des antiaütoritären Bewusstseins musstenzwangsläufig noch die des bürgerlichen Denkens sein, die aus denanalytischen Trennungsbedingungen der entwickelten abstraktenArbeit entfalteten Widersprüche des partikularisierten Besonderenund abstrakt Allgemeinen, wie es sich niederschlägt in der hyposta­sierten Beziehung von besonderer Randgruppe und universalerGattung. In der Aktionsgeschichte der neuen Linken haben sich diebürgerlichen Antinomien des antiautoritären Bewusstseins zurkleinbürgerlichen Klassenschranke ihres politischen Erkenntnis­vermögens verfestigt. Zwei geschichtliche Bezugsmomente lieferndie Erklärungskategorien für den kleinbürgerlichen Stagnations­prozess der Protestbewegung: die Emanzipation von der funktiona­listisch zerschlissenen bildungsbürgerlichen Liberalität einer­seits und der fehlende Hintergrund einer existierenden proleta­rischen Organisation.Demnach sind die kleinbürgerlichen Erscheinungsformen d~s

antiautoritären Bewusstseins ein notwendiges Zerfallsprodukt derLösung von den ideologischen Illusionen bürgerlicher Tausch­freiheit und liberaler Toleranz, sowie der noch individuell moti­vierten Befreiung von den repressiven Sozialisationsbedingungentechnologisierter Surplusnormen. Da der Orientierungsrahmeneiner proletarischen Organisationsform fehlt, musste dieserEmanzipationsprozess eine politische Intellektuellenbewegungnotwendig in den Naturzustand ,der klassenschwankenden Aso­zialität des Kleinbürgertums zurückwerfen.Das Kleinbürgertum repräsentiert neben dem Lumpenproletariatder Theorie des Historischen Materialismus zufolge den Zustandder Asozialität und in seiner warenproduzierenden und -vertreiben­den Tätigkeit den offen kriegerischen Naturzustand des Kapitals,die ursprüngliche Akkumulation und damit die Präsenz der Kriseim kapitalistischen Verwertung~prozess. Von Enteignungsangstgejagt und ohnmächtigem Profitbedürfnis getrieben, ist seineVerkehrsform die destruierte des bellum omnium contra omnes.Seine Organisationsunfätligkeit ist derart chaotisierend und demo­ralisierend, dass Lenin, um das Proletariat vor seinem zersetzendenEinbruch zu bewahren, strengste Disziplinierungsimperative undZentralisationskategorien dagegen setzte und es einer permanentenrevolutionär sozialisierenden Erziehungsarbeit für nötig erachtete.Eine politische Intellektuellenbewegung muss Momente klein­bürgerlicher Asozialität entfalten, wenn sie aus bürgerlichen Ver­kehrsformen sich löst, nicht in eine proletarische Organisationsich integrieren und sich gleichwohl als eigenständige Klasse nichtsetzen kann.Aus dieser objektiven Unmöglichkeit einer klassenspezifischenSelbstbestimmung studentischer Protestbewegung und der Lang-

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fristigkeit, die strategischen Entwicklungsbedingungen emanzipa­tiver Bildungsprozesse eines proletarischen Klassenbewusstseinsin den spätkapitalistischen Industriemetropolen auch nur theore­tisch und im Ansatz zu formulieren, erklären sich die Verselbstän­digung der Aktionspraxis, die zum Teil sektiererische und unmittel­barkeitsideologische Verdinglichung der Organisationsform undder Schwund an Totalitätsbewusstsein. Mit der Zerfaserung der ob­jektiven Einheit politischer Praxis, wie sie durch den Protest gegenden Krieg in Vietnam, die Aktionen gegen Springer und den Wider­stand gegen die Notstandsgesetze bestimmt war, in eine unorgani­sierte Vielheit vereinzelter Aktionen konvergiert ein zeitweiligerTheoriezerfall. Dieser Prozess folgt aus den erläuterten Bestim­mungen des kleinbürgerlichen Bewusstseins; dieses ist aktioni­stisch, sektiererisch und blind egoistisch. Der Kleinbürger ist nurimstande, sich selbst und seine vermeintlich unmittelbaren, bornier­ten Interessen wahrzunehmen und ausserstande, eine langfristigeKlassensolidarität von sich aus organisationspraktisch zu stabili­sieren, sowie die Gesellschaft als Zwangszusammenhang über denunmittelbar begrenzten Umkreis seiner atomisierten Interessenin­dividualität hinaus wahrzunehmen. Wenn es also stimmt, dass dasantiautoritäre Bewusstsein aus den innersten Konsequenzen seinesBefreiungsprozesses von den kapitalistischen Kategorien antiquiertliberaler und modern technblogisierter Verkehrsformen heraus inden Naturzustand kleinbürgerlicher Sozialisationsfeindschaftübergehen musste, dann gibt es so etwas wie eine im MarxschenSinne dieses Begriffs naturgesetzliche Tendenz zur Selbstzerstö­rung der antiautoritären Emanzipationsvernunft.Das Asozialitätssyndrom des antiautoritären Bewusstseins undseiner autoritativen Reaktionen auf die unbewältigten politischenFrustrationserfahrungen bestimmt sich aus dem kategorialen Be­zugsrahmen von Emanzipation und Disziplin, Abstraktion und Kon­kretion. Weder ist es bereit, sich den repressiven, leistungszwin­genden und disziplinierenden Sozialisationserfordernissen despolitischen Kampfes zu unterwerfen, noch sich den wissenschafts­theoretischen Leistungskriterien der Reflexion zu beugen. Wedervermag es die notwendigen Abstraktionsstrecken bildungsge­schichtlicher Reflexionsprozesse und deren naturwüchsige Wider­sprüchetheoretisch wie praktisch auszuhalten, noch vermag es ein­zusehen, dass der unmittelbare Zusammenhang von vereinzeltenhandlungsanleitenden Reflexionen und empirisch manifesten Prak­tiken eine schlechte Abstraktion und falsche Unmittelbarkeits­ideologie ist. Wenn kleinbürgerliche Bewusstseins- und Hand­lungspositionen den feindseligen Naturzustand in der verge­sellschaftenden Konkurrenz repräsentieren, dann enthält das der­artig entwickelte antiautoritäre Bewusstsein verfestigte Schrankengegenüber der Möglichkeit eines politischen Geschichtsbewusst­seins und geschichtsfeindliche Mechanismen, die es ihm anschei-

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nend nicht erlauben, aus der aktionshektischen Diskussion kurzfri­stiger Taktiken zugunsten einer bildungsgeschichtlich orientiertenDiskussion langfristiger Strategien herauszutreten.Verabsolutierte Emanzipationsegoismen sind ebenso Voraus­setzung wie Resultat des kleinbürgerlichen Zerstreuungsprozessesder antiautoritären Protestbewegung. Dass jeder einzelne seinebeschränkten Emanzipationsbedürfnisse auf Kosten jedes anderenbefriedigen wollte, setzte einen neuen naturwüchsigen Unter­drückungszusammenhang eines Kleinkriegs aller gegen alle in derOrganisation des politischen Kampfes und zerstörte darüber hinausdie Möglichkeit politischer Kommunikation nach Maassgabe so­zialistischer Solidaritätserfordernisse. Der losgelassene Emanzi­pationsegoismus will auf die Mühsal und Qual des politischenKampfes, auf die geschichtliche Langfristigkeit in der Entwicklungeinersozialrevolutionären Massenbasis und auf die Vermittlungs­dauer der zunächst notwendig abstrakten Theorie der materiellenGewalt im Bewusstsein der Massen verzichten und gleichwohl daskünftige Reich der Freiheit hic et nunc für sich empirisch ursurpie­ren. Die kleinbürgerlichen Dispositionen des antiautoritären Be­wusstseins behandeln das Reich der Freiheit als privates Kleineigen­tum (dem entsprach die Ideologie der Freiräume), gleichsam orien­tiert an der Vorstellung vom Besitzrecht der ersten Landnahme. Dasemanzipationsfeindliche Moment des Kleinbürgers ist das legitima­tionslose Rechtsbewusstsein, er steht, in Kantischen Begriffenformuliert, nicht einmal auf dem tauschwertentwickelten Stand­punkt des bürgerlichen Rechts als intelligiblen Besitzes, sondernauf dem nachfeudalen und vorbürgerlichen Standpunkt des empi­rischen Besitzes, demzufolge der Umfang des Rechts auf Eigentumsich mit der physischen Machtpotenz des einzelnen deckt. Klein­bürgerliche Bewusstseinseinstellungen lassen die Freiheit zu einerdezisionistischen Eigentumskategorie verkommen. Der Zerfall desemanzipatorischen Vernunftinteresses in der neuen Linken ist orga­nisationszersetzend gewesen, weil er solidaritätsaufkündigendwar.Unter den Bedingungen des politischen Kampfes und den Zwängender kapitalistischen Herrschaft und ihrer lristitutionalisierung istdie reine Antizipation des Reichs der Freiheit eine praktische Un­möglichkeit. Sie würde in ihr Gegenteil umschlagend zu einer re­pressiven Selbstvernichtung revolutionärer Bewegungen führen.Die Antizipation der befreiten Gesellschaft in den Organisations­formen des politischen Kampfes ist immereine historisch bestimmteVermittlung von Freiheit und Zwang. Diese Vermittlung erfolgt nichtin transzendentalisierten Kategorien des Leninschen Parteitypuswie bei Georg Lukäcs, sondern aus den geschichtlichen Form- undRealisierungsbestimmungen der wertsubstantiellen arbeitsteiligenVerkehrsbasis. Wenn die Organisation des politischen Kampfesdie bestimmte Negation der kapitalistischen Gesellschaftsformation

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in ihrem eigenen solidarischen Verkehr material ausdrücken will,dann muss sie das ideologische Versprechen des bürgerlichenTauschverkehrs überhaupt erst einlösen. Die an der Zirkulations­sphäre orientierte revolutionäre Emanzipationstheorie des Bürger­tums, deren Rigorismus in den Kritiken Kants systematisch zusam­mengefasst und reflektiert wurde, fordert den individuellen Sub­jekten eine rigide, bis an die Grenzen der physischen Selbstaufgabetreibende Abstraktion von ihrer empirisch bedürftigen Subjektivitätzugunsten der Konstitution des intelligiblen Subjekts, der bedürf­nislosen Rechtsperson und des citoyen ab, damit Kant zufolgedie Freiheit eines jeden mit der Freiheit eines jeden anderen nacheinem allgemeinen Gesetz soll zusammenstimmen können. Marxhat demgegenüber zwingend nachgewiesen, dass sich die repressi­ve Abstraktion von der empirischen Subjektivität, also das allgemei­ne Interesse der Gesellschaft als partikulares des Kapitals hinterdem Rücken und über den Köpfen der Individuen, nicht unter Ver­zicht auf, sondern unter Verfolgung der verabsolutierten EinzeI­egoismen durchsetzt. Die bestimmte Negation des bürgerlichenTauschverkehrs, zugleich solidaritätsbildend für proletarischeOrganisationsformen, würde bedeuten, dass ein jeder um der Eman­zipation des anderen willen sich so viel Unterdrückung aufzuerlegenimstande ist, dass er seine Emanzipationsbedürfnisse nach denGesetzen des politischen Kampfes einschränkt. Die politische Moraldes revolutionären Kommunisten diszipliniert sich zum Kampf undantizipiert zugleich die solidarische Praxis des herrschaftsfreienVerkehrs durch die bestimmte Negation der tauschwertbedingtenVerkehrsformen. (Organisation als antizipierte Aufhebung ent­fremdeter, i.e. abstrakter Arbeit.)Die kleinbürgerliche Konkurrenz isolierter Emanzipationsbedürf­nisse musste notwendig zu gravierenden Frustrationserfahrungenführen und autoritative Reaklionen hervorrufen. Der praxisauflösen­den Wirkung verabsolutiertef Emanzipationsansprüche entsprachin der Folge eine Verabsolutierung vereinzelter, gegeneinanderverselbständigter und deshalb sektiererisch verdinglichter Organi­sationsformen und ihrer unmittelbaren empirischen Praktiken. DerZerfall des emanzipativen Vernunftinteresses war also notwendigbegleitet von einem Zerfall des Theoriebewusstseins und der Fähig­keit zur Abstraktion.

AnhangZwei entscheidende Probleme haben sich für die sozialistischeProtestbewegung aus ihrem eigenen Geschichtsverlaufergeben:1. Wie sind die historisch neuen, aber noch unentfalteten Vernunft­prinzipien mit der alten Verkehrssubstanz des proletarischen Klas-

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senkampfes zu vermitteln,ohne in einen undurchschauten Tradi-tionalismus zurückzufallen?2.. Wie ist die Unmittelbarkeitsideologie empirischerPraktiken mit­tels des Totalitätsbegriffs von Praxis richtig zu kritisieren, ohne einemetaphysische Objektivitätder apriorischen Existenz eines von allerempirischen Erscheinungsform gelösten Klassenbewusstseins zuunterstellen?Das spekulative Totallitätsbewusstsein, das sich die Bew~ung inihre.n~rsten Anfängen erarbeitete, war richtig ,in einem rationali-

stischen und analytischen Sinn, aber fal~ch,weil es dem erscheinen­den Geschichtsverlauf gegenüber bli~d war. Die Unmittelbarkeits­ideologie der vielen »praktisch arbeitenden« Gruppen ist, ihremB~wusstseinnach in einer unverbundenen Flucht der historischenErscheinungsformen angesiedelt und ausserstande, dieVie~lheit derempirischenPraktiken.z~rklassenbewussten Einheit,~inerpolit.i,..

schenPraxis zu denken. Wenn das früheTotalitätsbewusstsein derBewegung noch vom methodologischen Rationalitätstypus derbürg,erli·ch~nÖkonomie wa,r,so·repr~s.entiertstellv~rtretendfür dieUnmittelbarkeitsideologien die vom Genossen.~ RabehI proklamiertehi$torisch~genetischeAnalyse~Hehi!Jtori$che IIrrationalität der ro­m~ntisier~nd~,nVulgärökonomie. Das geiche gilt von der ad-hoc­Analyse der wilden Streiks durch den Genossen Lefevre, der dieEinheit'dieserBewegu"ng.~phänorn;enologischi.neine unverbundeneVielh~it'betri~ebsspez,ifischer'Konflikttypenauflöst. Von a l l diesentheoretischen und praktischen Manifestationen gilt, was Lukacsder Bürgerliche Geschichtswissenschaft vorwirft: ~)Ihr Irrtum .' be-steht darin,dass sie im empirischen historischen Individuum(gleichviel ob es sich um einen Menschen eine KIasse oder einVolkhandelt) und in seinem empirisch gegebenen(also psychologischenoder massenpsychologischen) Bewusstsein jenes Konkrete zu fi,n~

den meint. Wo sie jed~och das Allerkonkreteste gefunden zu habenglaubt, hat sie es gerade am weitesten verfehlt: die Gesellschaftals konkrete Totalität ... Indem sie daran vorbeigeht, fasst sie etwasvöllig Abstraktes als Konkretes an.<<2

Doch diese »Beziehung auf die Gesellschaft als Ganzes«,- die Lukacszufolge konstitutiv ist für die»Kategorie der objektiven Möglichkeit<<,aus der die wissenschaftlichen Erkenntnischancen der historischenBildungsbedingungen des Klassenbewusstseins folgen sollen, wirdbei ihm wie in seiner Diskussion der Organisationsfrage auf eine vonden konkreten geschichtlichen ,Formbestimmungen abstrahierendemethodologische Ebene reduziert. Die Kategorie der Totalität wirdgelöst von ihren Momenten, das Klassenbewusstsein getrennt vonseinen empirischen Entäusserungen und bestimmte Negation damitauf abstrakte Negation zurückgenommen. Die Kategorie der Totali­tät reduziert sich zur Transzendentalität. Die empirischen Er-

2 Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin 1923, S. 61

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scheinungsformen des Klassenbewusstseins sind jedoch aus demTotalitätsbegriff von Klasse, Klassenbewusstsein und Praxis nichtzu lösen. Lukacs' Begriff der Empirie ist selbst schon szientistischgereinigt. Klassenbewusstsein ist parteiliches Totalitätsbewusst­sein. Der analytisch auflösbare Zusammenhang von kollektiverInteressenorganisation, also Parteilichkeit, und richtiger gesamt­gesellschaftlicher Erkenntnis, auch aller übrigen Klassen, alsoTotalitätsbewusstsein, mag gerade am Begriff der Empirie deutlichwerden.Wenn Marx und Engels in der Deutschen Ideologie darauf insistie­ren, dass die historischen Voraussetzungen der materialistischenGeschichtsauffassung, also »die wirklichen Individuen, ihre Aktionund ihre materiellen Lebensbedingungen, sowohl die vorgefunde­nen wie die durch ihre eigene Aktion erzeugten ... auf rein empi­rischem Wege konstatierbar« seien3, so intendieren sie einen sehrviel qualitativeren Empiriebegriff als den durch die positivistischeDistraktipn der Einzelwissenschaften quantifizierten und szientis­tisch g~reinigten. Die Wahrheit des materialistischen Empiriebe­griffs ist wie die seiner Theorienkategorien praktisch verankert undobjektiv parteilich. Sie hebt die ideologische Quasi-Neutralität desEmpirismus auf, insofern sie die Empirie materialistisch im Bezugs­rahmen von Produktion, also von Arbeit und Arbeitsteilung veran­kert. Materialistische Empirie ist gebunden an die drei Produktions­momente von Gebrauchswert, Bedürfnis und Interesse (Triebstruk­tur). Der Begriff der Theorie ist ökonomiekritisch gebunden an dieProduktionskategorien von Ware, Mehrwert und Akkumulation,oder, ex negativo, Verdinglichung, Ausbeutung und Krise. SowohlTheorie- wie Empiriebegriff des wissenschaftlichen Sozialismussind demzufolge parteilich, wie auch jene Kategorien, in denen sichdiese Parteilichkeit artikuliert, zugleich jene sind, in denen sichdie gesamtgesellschaftliche Totalitätserkenntnis artikuliert. DieKonstitution des Klassenbewusstseins als eines parteilichen Tota­Iitätsbewusstseins ist also auf der einen Seite gebunden an dieWissenschaftlichkeit der revolutionären Theorie, das, in welchenVerwandlungen auch immer, als Moment eingehen muss in die Kon­stitution eines richtigen alltäglichen Klassenbewusstseins des Pro­letariats. Während Marx im 19. Jahrhundert den wissenschaftlichenSozialismus »nur im Gegensatz zum utopischen Sozialismus« aus­gebildet hat, »der neue Hirngespinste dem Volk aufheften will, stattseine Wissenschaft auf der Erkenntnis der vom Volk selbst gemach­ten sozialen Bewegung zu beschränken«4, und also innergeschicht­liche Realisierungsbedingungen fürdie vom französischen Sozialis­mus und deutschen Idealismus formulierten utopischen Trans­zendenzkategorien darstellen musste, sieht sich heute der Rekqn­struktionsversuch revolutionärer Theorie, die neue Entfaltungs-

3 MEWBd.3,S.20• MEWB~d.18,S.636

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notwendigkeit eines wissenschaftlichen Sozialismus, vor einenahezu umgekehrte Aufgabe gestellt. Denn inzwischen hat sichdurch die szientistische Arbeitsteilung der positivistisch zerstreutenEinzelwissenschaften ein Verfallsprozess der an die Produktionvon Gebrauchswerten, die Reproduktion von Bedürfnissen und dieErzeugung von Interessen materialistisch gebundenen, innerge­schichtlichen Transzendenzkategorien vollzogen. Wissenschaft­licher Sozialismus, will er sozialrevolutionäre Phantasie erzeugenund potentielles Klassenbewusstsein aktualisieren helfen, mussgerade die Formulierung der konkreten Utopie leisten.