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Hans-Ulrich Wehler

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Hans-Ulrich Wehler

NAT IONAL I SMUSGeschichte – Formen – Folgen

Verlag C.H.Beck

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Zum Buch

Nationalismus ist zu einem wenig begriffsscharfen Modewort geworden, mit dem alle möglichen Spielarten politischen, soz-ialen, kulturellen, ethnischen und religiösen Verhaltens beschrie-ben werden. Hans-Ulrich Wehler definiert den Nationalismus als Ideensystem, das der Schaffung, Mobilisierung und Integration eines größeren Solidarverbandes, der Nation, dient; zugleich ist der Nationalismus ein wichtiges Instrument zur Legitimation politischer Herrschaft in der Neuzeit. In diesem Band werden Geschichte, Formen und Folgen des Nationalismus kurz und prägnant dargestellt. Dabei stehen Europa und Nordamerika im Vordergrund, der Blick fällt aber auch auf die Welt außerhalb des transatlantischen Raums.

Über den Autor

Hans-Ulrich Wehler (1931–2014) war bis zu seinem Tod emeri-tierter Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld. Bei C.H.Beck ist von ihm u.a. erschienen: Deutsche Gesellschaftsgeschichte (5 Bde., 1987–2008); Eine lebhafte Kampfsituation. Ein Gespräch mit Manfred Hettling und Cor-nelius Torp (2006); Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland (42013).

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1. Auflage. 20012., durchgesehene Auflage. 2004

3. Auflage. 2007

eBook 2015Diese Ausgabe entspricht der gedruckten 4. Auflage von 2011

© Verlag C.H.Beck oHG, München 2001Umschlagentwurf: Uwe Göbel, München

ISBN Buch 978 3 406 44769 3ISBN eBook 978 3 406 69271 0

Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website

www.chbeck.de.Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere

Informationen.

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Inhalt

Vorwort: Probleme mit dem Nationalismus. . . . . . 7

I. Der Nationalismus: Unikat des Okzidents. . . . . . . 15

II. Entstehung und erste Entwicklungdes Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

III. Der Ideenfundus des Nationalismus –Die Steigerung zur „Politischen Religion“ . . . . . . . 27

IV. Die neue Zielutopie: Die „Erfindung der Nation“und die historischen Traditionen der Ethnien . . . . 36

V. Soziale Trägerschichten des Nationalismus . . . . . . 41

VI. Wie und warum gelang die Ausbreitungdes Nationalismus?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

VII. Typologien des Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . . 51

VIII. Verlaufsgeschichten des Nationalismus . . . . . . . . . 551. Der amerikanische Nationalismus . . . . . . . . . . 552. Der deutsche Nationalismus . . . . . . . . . . . . . . 623. Transfernationalismus

in der nicht-westlichen Welt . . . . . . . . . . . . . . . 90

IX. Erfolge des Nationalismus –Unverdienter Ruhm des Nationalstaats. . . . . . . . . 99

X. Das Ende des Nationalismus? . . . . . . . . . . . . . . . 104

Kommentierte Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . 116

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

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„Die ,Weltbilder‘, welche durch ,Ideen‘ geschaffenwerden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnenbestimmt, in denen die Dynamik der Interessen dasHandeln fortbewegt.“

(Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssozio-logie, I, Tübingen 19885, 252).

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Vorwort:Probleme mit dem Nationalismus

Der Nationalismus begann erst nach der Mitte des 19. Jahr-hunderts als ein neuartiges Phänomen zeitgenössische Kom-mentatoren intensiver zu beschäftigen. Nation, Nationalität,Nationalgefühl – sie galten auch in der frühen Geschichts- undSozialwissenschaft als so selbstverständlich, dass sie bis dahinkaum einer kritischen Reflexion unterworfen wurden. Dannfreilich setzte ein Interesse ein, welches die Forschung allmäh-lich in Gang brachte – bis hinüber in die „Völkerpsychologie“,die frühzeitig mit dem Konstrukt des „Nationalcharakters“ ar-beitete. Größere Resonanz fand die wissenschaftliche Nationa-lismusforschung aber erst nach dem Ersten Weltkrieg, als zahl-reiche neue Nationalstaaten entstanden und das von WoodrowWilson wie Lenin beschworene Selbstbestimmungsrecht derVölker zur Geltung kam. Mit einer rasch zunehmenden Diffe-renzierung der Ergebnisse hielt diese ältere Forschung auchnach dem Zweiten Weltkrieg an, entfaltete sich aber erst seit den1960er Jahren in der internationalen „Community of Scholars“auf breiterer Front. Nach mehr als hundert Jahren gelangte sieam Anfang der 1980er Jahre an einen Wendepunkt.

Diese ältere Nationalismusforschung teilte bis dahin, wie ausder Vogelperspektive deutlich wird, einige gemeinsame, weit-hin für verbindlich gehaltene Prämissen.

1. Die Nation galt ihr als eine quasi-natürliche Einheit inder europäischen Geschichte. Sie hatte dieses Entwicklungs-potential seit der Völkerwanderung, spätestens seit dem Mittel-alter aufgebaut, so dass die ersten Nationen – wie das oft inbiologistischen Metaphern ausgedrückt wurde – nach einemorganischen Wachstumsprozess zur Blüte kamen und sichvoll entfalten konnten. Häufig gab es auch ein „Dornröschen-kuss“-Argument, demzufolge schlummernde Nationen „ge-weckt“ wurden oder irgendwie zu neuem Leben „erwachten“.Die Genese dieser Nationen wurde meist als ein divinatorischerSchöpfungsakt vorausgesetzt, aber nie präzise untersucht.

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2. Die Nation besitze, lautete eine weitere grundlegende An-nahme, das Recht auf ihren eigenen Staat. Neue Nationen dürf-ten ihn sich erkämpfen, alte Nationen, die zeitweilig ohne Staatexistierten, müssten ihn wiedergewinnen. So haben namentlichauch deutsche Historiker im Hinblick auf den deutschen Na-tionalstaat sowohl vor als auch nach 1871 argumentiert.

3. Die Nation bringe allmählich, zumal wenn sie ihre staatli-che Hülle besitze, die Ideen- und Wertsysteme hervor, welchedie Existenz der Nation rechtfertigten, ihre Vergangenheitdeuteten, ihre Zukunft entwürfen. Diese Ideen wurden alsNationalbewusstsein, Patriotismus, Nationalgefühl bezeichnet.Der Begriff „Nationalismus“ galt überwiegend als ein pejorati-ver Ausdruck, der einen exzessiv übersteigerten, bedauerlicheigensüchtigen Patriotismus meinte.

4. Im Grunde herrschte eine Denkfigur Marxscher Prove-nienz vor: Die vorgegebene politische und sprachliche „Basis“der Nation generiert einen ideellen „Überbau“ in Gestalt desNationalismus. Diese Charakterisierung hätte Experten wieFriedrich Meinecke, Carlton Hayes und Hans Kohn nicht ge-fallen, geschweige denn Historikern der nächsten Generationwie Hans Rothfels, Theodor Schieder oder Werner Conze. Sietrifft aber den Kern der Argumentation über dieses Abhängig-keitsverhältnis.

Die neuere Nationalismusforschung hat sich seit dem An-fang der 1980er Jahre unter deutlicher Distanzierung von denleitenden Grundannahmen ihrer Vorgänger entwickelt. Das„annus mirabilis“ ist 1983, als drei der anregendsten Bücher zuihrer Problematik, verfasst von Ernest Gellner, Benedict Ander-son und Eric Hobsbawm, gleichzeitig erschienen. Seither habensie in der internationalen Geschichts- und Sozialwissenschafteine erstaunliche Wirkung entfaltet. Was sind die Eigenartender neuen Diskussion, die es rechtfertigen, von einer Zäsur zusprechen?

1. Diese Diskussion beruht erkenntnistheoretisch auf denIdeen des neuen Konstruktivismus, der den vermeintlichen Es-sentialismus historischer Phänomene auflöst und sie zunächsteinmal als Konstrukte des menschlichen Geistes und seiner Ka-

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tegorien konzeptualisiert. Das gilt zur Zeit als grundlegendeInnovation. Tatsächlich aber handelt es sich um eine Renais-sance, da dieser Konstruktivismus eine Rückkehr zur neukan-tianischen Erkenntnistheorie bedeutet, wie sie bereits bis zurvorletzten Jahrhundertwende entfaltet worden war. Max We-bers berühmter Aufsatz über die „Objektivität sozialwissen-schaftlicher Erkenntnis“ (1904) steht mit seiner unübertreff-lichen Klarheit paradigmatisch für das Leistungsvermögendieser Denkschule.

2. Die neue Forschung insistiert als Erbin der „linguistischenWende“ in den Kulturwissenschaften auf dem Primat der Spra-che und der Ideen. Daher geht sie vom Vorsprung des utopi-schen Entwurfs der Nation als einer zunächst nur „gedachtenOrdnung“ (E. Francis) aus. Es handelt sich schon deshalb umeine „imaginierte“ Nationsgemeinschaft, weil die meisten ihrerMitglieder selbst in der kleinsten Nation die meisten anderenniemals kennen lernen, obwohl im Kopf eines jeden einzelneneine Vorstellung von seiner Nation besteht. Diese Zielvisionwird dann mit der zunehmenden soziopolitischen Verankerungihrer Leitideen allmählich verwirklicht. Die klassische For-mulierung dieses Denkansatzes stammt von Ernest Gellner:„Nicht die Bestrebungen von Nationen schaffen den Nationa-lismus, vielmehr schafft sich der Nationalismus seine Natio-nen.“

3. Die ältere Nationalismusforschung ist, aufs Ganze gese-hen, noch immer überlegen, was die Analyse der förderndenund restriktiven Bedingungen, nicht zuletzt auch der sozialenBasis angeht, unter denen sich der Nationalismus durchgesetzthat. Aber die neue Nationalismusforschung besitzt, wie eineKosten-Nutzen-Abwägung zeigt, ebenfalls deutliche Vorzüge.Sie löst vor allem den Anschein der Natürlichkeit des Nationa-lismus und der Nation, damit aber die essentialistische Sozial-ontologie der älteren Schule auf, sie stellt die Priorität desNationalismus im Gedankenhaushalt und in den Identitäts-bildungsprozessen infrage. Sie folgt einem genuin historischenDenkstil, daher insistiert sie folgerichtig auf der anhaltendenHistorizität des Nationalismus und der Nation. Sie löst den

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Anspruch des Nationalismus auf die ewige Dauer der Nationeffektiv auf und betont dagegen den Konstruktcharakter, damitauch die verblüffende Flexibilität, die innere Vielfalt des Na-tionalismus, der immer wieder neu definiert und mit neuemInhalt aufgeladen werden kann.

Insgesamt kommt die neue Forschung vielerorts an vergan-gene Wirklichkeit, aber auch an Nationalismusphänomene un-serer unmittelbaren Gegenwart näher heran, als das der älterenessentialistischen Deutung gelungen ist. Sie analysiert die je-weils neuen Utopien des Nationalismus, ihr Durchsetzungs-vermögen, ihre Veränderbarkeit, ja ihren Chamäleoncharakter,ungleich weniger jedoch die womöglich wichtigeren und klarerkennbaren Langzeitelemente. Überhaupt tut sie sich auf-grund ihrer eigentümlichen Scheuklappen noch schwer mit derEinbeziehung, erst recht der gerechten Würdigung und dergenauen Analyse „realhistorischer“, soll hier heißen: nicht-sprachlicher Bedingungen, wie etwa der Erfahrung von Kriegund Revolution.

Die neue Forschungsströmung kann mithin Legitimations-probleme gut erfassen, da das in den Kategorien der „gedach-ten Ordnung“ der nationalen Zielutopie einleuchtend geht. Sieist aber methodisch relativ schwach, wenn es um den Zerfallälterer Legitimitätsmuster und um die fördernden außersprach-lichen Bedingungen für den Aufstieg neuer Legitimations-muster geht.

4. Der Nationalismus lässt sich mithin als ein umfassendes„Weltbild“ (Max Weber) verstehen – als eine „gedankliche Vi-sion“ (Pierre Bourdieu), die moderne Welt zu begreifen undeinzuteilen. Die von ihm geschaffene Nation ist ein erstaun-licher Konstruktionserfolg, nach dessen vornationalen Grund-lagen aber genau zu fragen ist. Auch der hochentwickelte Na-tionalismus in ausgebildeten Nationalstaaten bleibt in einemplastischen, veränderbaren Aggregatzustand. Nie weist er denEndzustand einer irgendwie „vollendeten“ Nation auf. DieserAggregatzustand verbindet stabile Langzeitelemente, die wiedas Sendungsbewusstsein, die Zukunftsgewissheit, das stützen-de Geschichtsbild im Ideenhaushalt des Nationalismus tief ver-

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wurzelt sind und – trotz typischer Schwankungen – dauerhafteinflussreich bleiben, mit epochenspezifischen neuen Zuschrei-bungen. Im Grenzfall können diese sogar die überkommenenLangzeitelemente neu definieren, von Grund auf verändernoder sogar ganz abstoßen.

Der Nationalismus geht oft mit anderen Loyalitätsbeständeneine feste oder vorübergehende Fusion ein, z. B. mit den Kon-fessionen oder historischen Regionen, den städtischen Tra-ditionen oder Ideensystemen wie dem Neuhumanismus. ZumTeil bezieht er auch aus eben diesen Allianzen seine Dynamikund erstaunliche Langlebigkeit.

Seit jeher geht es dem Nationalismus auch immer um eine„legitime Ordnung“ des Gemeinwesens, mithin um die Legiti-mierung seiner nationalen Ordnung. Dabei wird die Nationselber als Legitimationsspender unter Berufung auf historischeTraditionen, naturrechtliche Ideen, die „Vorsehung“ einesgöttlichen Weltplans überhöht – sie wird zum „obersten Legi-timitätsprinzip“ (Rainer Lepsius). Diese Legitimationsfiktionist der Kern des Arguments, dass der Nationalismus ein politi-sches Phänomen der Neuzeit sei.

Obwohl sich der Nationalismus in den letzten beiden Jahr-hunderten als ein weltveränderndes Phänomen erwiesen hat,gibt es noch keinen Theoretiker des Nationalismus, der sichmit der analytischen Kapazität eines Machiavelli, Hobbes,Hegel, Marx oder Weber vergleichen ließe. Immerhin hat MaxWeber, als Zeitgenosse des Kaiserreichs selber ein leidenschaft-licher Nationalist, in einem imponierenden Akt intellektuellerSelbstdisziplinierung die Selbstverständlichkeit des Nationa-lismus und der Nation radikal infrage gestellt und damit wich-tige Perspektiven für die moderne Forschung eröffnet. Die Na-tion lasse sich, argumentierte er in seinem Monumentaltorso„Wirtschaft und Gesellschaft“, weder als eine „empirisch ge-wonnene Qualität“ erklären, noch sei sie mit „Staatsvolk“oder „Sprachgemeinschaft“ identisch; zwar knüpfe der Na-tionalismus an „Massenkulturgüter“ wie Sprache und Kon-fession, an sozialstrukturelle und ethnische Elemente, an die„Erinnerungsgemeinschaft“ nach „gemeinsamen Kämpfen auf

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Leben und Tod“ häufig an. Im Grunde beruhe er aber auf demaus der „Wertsphäre“ stammenden utopischen Entwurf einesHerrschaftsverbandes, der – getragen von spezifischen „Solida-ritätsempfindungen“ und „Prestige-Interessen“ – dem Mythosgemeinsamer Herkunft und der Vision eines gemeinsamen poli-tischen Projekts: des Nationalstaats, verpflichtet sei. Der neu-erdings gängige Begriff der „gedachten Ordnung“ führt daherunmittelbar auf Webers konstruktivistischen Denkansatz, derdie kritische Distanz fördert, zurück. In den beiden letztenJahrzehnten hat mit der wissenschaftlichen Durchdringungdiese kritische Distanz zugenommen. Vielleicht gilt daher dieantike Weisheit, dass die Eule der Minerva erst in der Dämme-rung ihren Flug antritt, auch für die Nationalismusforschung.Die überzeugenden Gründe, die für ein Ende des Nationalis-mus sprechen, werden am Schluss erörtert (Kap. X).

Vorerst steht hier die Geschichte des Nationalismus in Euro-pa und Nordamerika im Vordergrund, da dort die Entstehungam klarsten zu erkennen, die Entwicklung am folgenreichstengewesen ist. Erst danach fällt der Blick auf die außereuropä-ische Welt. Wegen des knappen Raums ist die Vogelperspektivegewählt worden. Denn nur mit einem gewissen Abstand lassensich systematische und historische Analyse verbinden, wie dashier das Ziel ist, um die Grundlinien möglichst trennscharfherauszuarbeiten.

Klarheit und ein pointiertes Urteil sind schon deshalb ge-boten, weil es sich beim Nationalismus um ein Modewort miteinem völlig amorphen Bedeutungsfeld handelt. Als Phäno-mene des Nationalismus gelten etwa weithin Faschismus undNationalsozialismus, Sprachentwicklung und politische Reli-gion, ethnische Konflikte und Protektionismus, Minderheiten-fragen und Migrationen, Genozid und Krieg. Darüber hinauswird zur Zeit eine kaleidoskopartige Vielfalt von Formen desNationalismus gehandelt: religiöse, konservative, liberale, fa-schistische, kommunistische, kulturelle, politische, protektio-nistische, integrationistische, separatistische, irredentistische,regionalistische …

Stets aber wird in diesem Band Nationalismus nicht im an-

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klagenden, pejorativen Sinn, sondern – wie das in der interna-tionalen Diskussion der Experten längst üblich ist – als einenach Möglichkeit neutrale Abkürzung für ein extrem einfluss-reiches Ideensystem gebraucht.

Vorab sollen zwei Kurzdefinitionen das Verständnis des Tex-tes erleichtern:

Nationalismus soll heißen: das Ideensystem, die Doktrin, dasWeltbild, das der Schaffung, Mobilisierung und Integrationeines größeren Solidarverbandes (Nation genannt), vor allemaber der Legitimation neuzeitlicher politischer Herrschaftdient. Daher wird der Nationalstaat mit einer möglichst homo-genen Nation zum Kardinalproblem des Nationalismus.

Nation soll heißen: jene zuerst „gedachte Ordnung“, die un-ter Rückgriff auf die Traditionen eines ethnischen Herrschafts-verbandes entwickelt und allmählich durch den Nationalismusund seine Anhänger als souveräne Handlungseinheit geschaf-fen wird. Daher führt die Auffassung, dass die Nation den Na-tionalismus hervorbringe, in die Irre. Umgekehrt ist vielmehrder Nationalismus der Demiurg der neuen Wirklichkeit.1

1 Wie sehr dieser Abriss den Studien bedeutender Nationalismuskennerverpflichtet ist – von Hans Kohn und Theodor Schieder über Eric Hobs-bawm und Miroslav Hroch, Ernest Gellner und Benedict Anderson, RainerLepsius und John Breuilly bis hin zu Anthony D.Smith und RogersBrubaker –, wird jeder sachkundige Leser leicht erkennen. Überdies ste-hen wir immer als Zwerge auf den Schultern von Riesen. Hier ist es erneutMax Weber mit seiner Herrschaftssoziologie, seiner Legitimationslehreund seiner Modernisierungstheorie des Westens.