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DOKUMENTATION Hans von M¸ller NIETZSCHES VORFAHREN Herausgegeben von Evelyn und Richard Krummel Herausgegeben nach der handschriftlichen Vorlage. Wir möchten Frau Dr. Jutta Weber und Herrn Dr. H. G. Klein für sachkundliches und freundliches Entgegenkommen bei der Suche nach der Handschrift danken und ganz besonders Frau Dr. Regina Mahlke für die langjährige Unterstützung bei unserer umfänglichen Nietzscheforschung sowohl in Haus 1 und Haus 2 der Staatsbibliothek Berlin. Hans von Müller (Kiel 1875-1944 beim Luftangriff auf Berlin), der zeitweilig auch in der Preußischen Staatsbibliothek gearbeitet hat, ist vor allem wegen seiner herausgeberischen Ver- dienste um E. T. A. Hoffmann bekannt. Fast vergessen sind die zeitlich bedeutend längeren Bemühungen um Nietzsche, die schon bei der Zusammenarbeit mit dessen Schwester und deren Herausgabe der ersten Gedichtsammlung sowie bei der Korrekturlesung der ersten Bände der von Fritz Koegel besorgten Werkausgabe angefangen haben, alles noch vor der Jahrhundert- wende. Er veröffentlichte zu der Zeit noch eine kleinere Arbeit zur Abstammung Nietzsches, von deren Wirkung er dann auch unten recht ausführlich und ansprechend erzählt. Wie aus dem Erzählten zunächst hervorgeht, hatte man allen Grund anzunehmen, er habe sich dann sowohl von der Schwester des Denkers als auch von diesem abgekehrt. Im heute im Preußischen Kulturbesitz liegenden Nachlaß findet man aber die hier wiedergegebene Arbeit, die recht deut- lich zeigt, daß ihm Nietzsche, höchstwahrscheinlich bis zu seinem Tode, garnicht gleichgültig geblieben ist und daß er für die Schwester, „meine alte mütterliche Freundin […] bis zuletzt kindliche Liebe und Dankbarkeit bewahrt“ habe, und zwar „bis über das Grab hinaus“. Die Schrift gewährt neben der Schilderung des Verhältnisses zur Schwester auch einige, wenige, nicht ganz unwesentliche Einblicke in das Leben in und um das Archiv vor und unmittelbar nach der Jahrhundertwende. Unberücksichtigt blieb die Arbeit, obwohl sie in einer Autobiblio- graphie von 1937 erwähnt worden war. Von früher oder später erschienen Arbeiten zu Nietz- sches Abstammung enthält einzig die Arbeit von Max Oehler (Friedrich Nietzsches Ahnentafel. (M. e. Einl. v. M. O. R. Wagner. Weimar). o. J. ( = 1939. Als Beigabe zu Bericht über die 13. ordentliche Mitgliederversammlung d. Ges. d. Freunde d. N-Archivs)) einiges Zusätzliche, näm- lich folgende Angaben, jedoch ohne jegliche Quellenangabe noch Verwandtschaftsverhältnis: Nietzsche, wohl zu Burkau um 1570 Elias Nietzsche, Einwohner in Burkau (Ob. Lausitz) um 1600, erwähnt 1649 Hans Nietzsche, Richter (Ortsvorsteher) in Burkau um 1620/30, erwähnt 1649.

Hans Von Müller -

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Nietzsches Vorfahren

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  • DOKUMENTATION

    Hans von Mller

    NIETZSCHES VORFAHREN

    Herausgegeben vonEvelyn und Richard Krummel

    Herausgegeben nach der handschriftlichen Vorlage. Wir mchten Frau Dr. Jutta Weber undHerrn Dr. H. G. Klein fr sachkundliches und freundliches Entgegenkommen bei der Suchenach der Handschrift danken und ganz besonders Frau Dr. Regina Mahlke fr die langjhrigeUntersttzung bei unserer umfnglichen Nietzscheforschung sowohl in Haus 1 und Haus 2 derStaatsbibliothek Berlin.

    Hans von Mller (Kiel 1875-1944 beim Luftangriff auf Berlin), der zeitweilig auch in derPreuischen Staatsbibliothek gearbeitet hat, ist vor allem wegen seiner herausgeberischen Ver-dienste um E. T. A. Hoffmann bekannt. Fast vergessen sind die zeitlich bedeutend lngerenBemhungen um Nietzsche, die schon bei der Zusammenarbeit mit dessen Schwester und derenHerausgabe der ersten Gedichtsammlung sowie bei der Korrekturlesung der ersten Bnde dervon Fritz Koegel besorgten Werkausgabe angefangen haben, alles noch vor der Jahrhundert-wende. Er verffentlichte zu der Zeit noch eine kleinere Arbeit zur Abstammung Nietzsches,von deren Wirkung er dann auch unten recht ausfhrlich und ansprechend erzhlt. Wie ausdem Erzhlten zunchst hervorgeht, hatte man allen Grund anzunehmen, er habe sich dannsowohl von der Schwester des Denkers als auch von diesem abgekehrt. Im heute im PreuischenKulturbesitz liegenden Nachla findet man aber die hier wiedergegebene Arbeit, die recht deut-lich zeigt, da ihm Nietzsche, hchstwahrscheinlich bis zu seinem Tode, garnicht gleichgltiggeblieben ist und da er fr die Schwester, meine alte mtterliche Freundin [] bis zuletztkindliche Liebe und Dankbarkeit bewahrt habe, und zwar bis ber das Grab hinaus. DieSchrift gewhrt neben der Schilderung des Verhltnisses zur Schwester auch einige, wenige,nicht ganz unwesentliche Einblicke in das Leben in und um das Archiv vor und unmittelbarnach der Jahrhundertwende. Unbercksichtigt blieb die Arbeit, obwohl sie in einer Autobiblio-graphie von 1937 erwhnt worden war. Von frher oder spter erschienen Arbeiten zu Nietz-sches Abstammung enthlt einzig die Arbeit von Max Oehler (Friedrich Nietzsches Ahnentafel.(M. e. Einl. v. M. O. R. Wagner. Weimar). o. J. (= 1939. Als Beigabe zu Bericht ber die 13.ordentliche Mitgliederversammlung d. Ges. d. Freunde d. N-Archivs)) einiges Zustzliche, nm-lich folgende Angaben, jedoch ohne jegliche Quellenangabe noch Verwandtschaftsverhltnis:

    Nietzsche, wohl zu Burkau um 1570Elias Nietzsche, Einwohner in Burkau (Ob. Lausitz) um 1600, erwhnt 1649Hans Nietzsche, Richter (Ortsvorsteher) in Burkau um 1620/30, erwhnt 1649.

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    Geschichte einer Familientradition:

    ihre verschiedenen historischen Elemente, ihre mndliche Fortbildung, ihrEinflu auf Nietzsches Denken, ihre schriftliche Verflschung durch einenSchwindler, endlich das Wechselspiel ihrer Bekmpfung und ihrer Verteidigung.

    Ein Schulbeispiel fr angehende Genealogen

    Amicus Nietzsche, amica soror ejus,sed magis amica veritas.

    a) Nietzsches eigene Meinung von seiner Abkunft

    Im Jahre 1883 schreibt Nietzsche1:

    Man hat mich gelehrt, die Herkunft meines Blutes und Namens auf polnische Edel-leute zurckzufhren, welche Nietzky hieen und vor mehr als hundert Jahren ihreHeimath und ihren Adel aufgaben, unertrglichen religisen Bedrckungen endlichweichend; es waren nmlich Protestanten.

    Diese in frher Kindheit eingesogenen Vorstellungen haben ihn sein ganzesLeben hindurch richtungsweisend begleitet. In der Regel ist es der polnischeEdelmann, als dessen krperlicher und geistiger Erbe er sich empfindet; gele-gentlich aber auch der Protestant, der lieber Adel und Besitz aufgiebt, als zudulden, da zwischen sein Gewissen und Gott sich ein Priester einschiebt.

    Fr das erstere seien zwei Beispiele aus der Zeit des Zarathustra und dreiaus dem letzten Jahre, 1888, angefhrt, und zwar

    1) die Fortsetzung der oben citierten Stelle, die grtenteils die Wirkungjener Vorstellung in Nietzsches Knabenzeit schildert:

    Ich will nicht leugnen, da ich als Knabe keinen geringen Stolz auf diese meinepolnische Abkunft hatte: was von deutschem Blute in mir ist, rhrt einzig von meinerMutter, aus der Familie Oehler, und von der Mutter meines Vaters, aus der Familie Krauseher, und es wollte mir scheinen, als sei ich in allem Wesentlichen trotzdem Polegeblieben Ein kleines Heft Mazurken, welche ich als Knabe componirte, trug dieAufschrift Unserer Altvordern eingedenk! - und ich war ihrer eingedenk, in man-chen Urtheilen und Vorurtheilen Es that mir wohl, an das Recht des polnischenEdelmannes zu denken, mit seinem einfachen Veto den Beschlu einer Versammlungumzuwerfen; und der [angebliche!] Pole Copernikus schien mir von diesem Rechtgegen den Beschlu und den Augenschein aller andern Menschen eben nur den gr-ten und wrdigsten Gebrauch gemacht zu haben. Die politische Unbndigkeit und

    1 Zuerst 1895 verffentlicht in: Das Leben Friedrich Nietzsches. Von Elisabeth Frster-Nietz-sche. (Leipzig, Naumann). Band I, S. 10. [siehe: KGW V 2, S. 579; Anm. d. Red.]

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    Schwche des Polen, ebenso wie ihre Ausschweifung, waren mir eher Zeugnisse frihre Begabung als gegen dieselbe. [siehe: KGW V 2, S. 579 f.; Anm. d. Red.]

    An derselben Stelle fhrt Nietzsche zahlreiche Flle aus seinem spteren Le-ben an, in denen Fremde ihn seines Aussehens [vor allem wohl der Barttrachtwegen!] fr einen Polen gehalten haben.

    2) Vorher schon, Anfang December 1882, whrend der Arbeit am erstenTeil des Zarathustra, hatte Nietzsches an Heinrich von Stein geschrieben2:

    Wagner sagte einmal von mir, ich schriebe lateinisch und nicht deutsch: was einmalwahr ist und sodann - auch [[meinen Ohren]] wohlklingt. Ich kann nun einmal anallem deutschen Wesen nur einen Antheil haben und nicht mehr. Betrachten Sie mei-nen Namen: meine Vorfahren waren polnische Edelleute, noch die Mutter meines Grovaters warPolin. Nun, ich mache mir aus meinem Halbdeutschthum eine Tugend zurecht undnehme in Anspruch, mehr von der Kunst der Sprache zu verstehen als es Deutschenmglich ist.

    3) Am 10. April 1888 sandte Nietzsche an Georg Brandes als Beleg zu einemBrief eine kleine vita3; darin heit es:

    Meine Vorfahren waren polnische Edelleute (Niezky); es scheint, da der Typus guterhalten ist, trotz dreier deutschen Mtter [d. h. seine Mutter und seine beidenGromtter?] Im Ausland gelte ich gewhnlich als Pole

    4) Im Frhherbst desselben Jahres schreibt Nietzsche im Ecce homo4:

    Schon meiner Abkunft nach ist mir ein Blick erlaubt jenseits aller blo lokal, blonational bedingten Perspektiven; es kostet mich keine Mhe, ein guter Europer zusein. Andrerseits bin ich vielleicht mehr deutsch, als jetzige Deutsche, bloe Reichs-deutsche, es noch zu sein vermchten, - ich, der letzte antipolitische Deutsche. Unddoch waren meine Vorfahren polnische Edelleute: ich habe von daher viel Rassen-Instinkte im Leibe, wer wei? vielleicht gar noch das liberum veto. Denke ich daran,wie oft ich unterwegs als Pole angeredet werde und von Polen selbst, wie seltenman mich fr einen Deutschen nimmt, so knnte es scheinen, da ich nur zu denangesprenkelten Deutschen gehre. Aber meine Mutter ist jedenfalls etwas sehrDeutsches; insgleichen meine Gromutter vterlicher Seits

    5) Mitte November desselben Jahres schreibt er an Strindberg5:

    Ich wage zu sagen, da meine Vorfahren vterlicher Herkunft polnische Edelleutewaren; da meine Gromutter mtterlicherseits in die Goethesche Zeit Weimars ge-

    2 Zuerst 1904 verffentlicht in: Friedrich Nietzsches Gesammelte Briefe (Berlin und Leipzig,Schuster & Loeffler), Bd. 3. (1. Hlfte) S. 224 f. [siehe: Nietzsche an Heinrich von Stein, AnfangDezember 1882, KGB III 1, Nr. 342, S. 287; Anm. d. Red.]

    3 Zuerst 1894 verffentlicht in: Menschen und Werke. Essays von Georg Brandes. (Frankfurt amMain: Rtten & Loening.) S. 138. [siehe: Nietzsche an Georg Brandes, 10. April 1888, KGB III 5,Nr. 1014, S. 288; Anm. d. Red.]

    4 Zuerst in 1 verffentlicht ( [siehe: EH, Warum ich so weise bin 3, SA II, S. 1073; Anm. d. Red.]5 Zuerst 1921 verffentlicht in: Karl Strecker: Nietzsche und Strindberg. Mit ihrem Briefwechsel.

    (Mnchen, Georg Mller.) S. 31.

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    hrt6: Grund genug, um in einem kaum denkbaren Grade heute der einsamste Deutschezu sein.

    Sympathischer als dieser Stolz auf die polnische Nationalitt und den Adelseiner Vorfahren wird manchem Nietzsches Genugtuung ber deren unbedingte,opfermutige berzeugungstreue sein, wie der 264. Aphorismus der Sammlung ,Jen-seits von Gut und Bse (1885 oder 1886) ihn schn zeigt:

    Es ist aus der Seele eines Menschen nicht wegzuwischen, was seine Vorfahren amliebsten und bestndigsten gethan haben ob sie etwa emsige Sparer waren; oder obsie ans Befehlen gewhnt lebten ; oder ob sie endlich alle Vorrechte der Geburtund des Besitzes irgendwann einmal geopfert haben, um ganz ihrem Glauben - ihremGotte - zu leben, als die Menschen eines unerbittlichen und zarten Gewissens, wel-ches vor jeder Vermittlung [durch einen Priester] errthet. Es ist garnicht mglich,da ein Mensch nicht die Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvordernim Leibe habe: was auch der Augenschein dagegen sagen mag. Dies ist das Problem derRasse. [siehe: JGB 264; Anm. d. Red.]

    Es braucht nicht nher dargelegt zu werden, da Nietzsche hier Rasse nichtin dem zoologisch-ethnographischen Sinne meint, in dem man etwa Windhunde,Pudel und Mpse oder Neger, Malaien und Mongolen unterscheidet, sondernin dem psychologischen, in dem z. B. Friedrich der Groe den ostelbischen Adelfr eine race erklrte, die meritire, conserviret zu werden. Rasse dieser Art wirdnicht durch den animalischen Act der Zeugung vererbt, sondern erst durch dieTradition, die auf das empfngliche Gemt des Knaben und Jnglings einwirkt; Nietzscheselbst ist daher eins der grten Beispiele.

    Bezglich ihrer familiengeschichtlichen Voraussetzungen aber, die wir im folgen-den zu prfen haben, lassen die citierten sechs uerungen Nietzsches sichdahin zusammenfassen:

    da ein polnischer Edelmann mit dem dreisilbigen Namen Niecki (den Nietzsche inwesteuropischer Art bald Nietzky, bald Niezky schreibt, aber immer mit Trema)mehr als hundert Jahre vor 1883, also etwa in der Mitte des 18 Jahrhunderts, nachdem Vorbilde der Hugenotten und der lutherischen Salzburger Heimat und Standaufgegeben habe, weil er als Protestant unertrglichen Bedrckungen ausgesetzt war.

    6 Da Nietzsche auch in den beiden unter 3 und 4 citierten Niederschriften aus dem Jahre 1888diese Gromutter als Reprsentantin des Weimarischen Geistes erwhnt, so sei kurz bemerkt,da sie in der Tat um die Jahrhundertwende einige Jahre lang mit einem Hofadvokaten Krgerin Weimar verheiratet war, da aber weder sie noch ihr Gatte in Goethes Werken, Tagebchernund Briefen erwhnt werden. Als junge Witwe heiratete sie 1809 den gleich zu erwhnenden,ebenfalls verwitweten Superintendenten Nietzsche in Eilenburg. Ihr Bruder, Johann FriedrichKrause, [1770-1820], bei dem sie 1808/09 in Naumburg gelebt hatte, war zehn Jahre sptervom 4. Mai 1819 bis an seinen Tod am 31. Mrz 1820, also knappe elf Monate lang, alsschwerkranker Mann Generalsuperintendent in Weimar; Goethe, der ihn nur ein einziges Malgesehn hat, lehnt ihn in seinen ,Tages- und Jahresheften [Weimarer Ausgabe 36, 150/51] scharfab, und wenn Nietzsche ihn als den Nachfolger des [1803 verstorbenen] Herder bezeichnet, soist das genau so, wie wenn jemand Michaelis rhmend den Nachfolger Bismarcks nennen wrde.

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    Seine gleichfalls polnische Ehefrau habe ihm [1756] in der neuen Heimat einen Sohngeboren, den spteren Eilenburger Superintendenten D. Ludwig Nietzsche, der derGrovater des Philosophen wurde und ber dessen Lebensgang dieser gut unterrich-tet war7.

    b) Die Darstellung der Tanten

    Nietzsches Vater ist bekanntlich nach Nietzsches eigenen Angaben8 imHerbst 1848 also in der Zeit, als sein Sohn vier Jahr alt wurde, an Gehirnerwei-chung erkrankt, durch die er erst das Gedchtnis und dann das Sehvermgenverlor, und im Juli 1849 gestorben. Die Tradition, auf der Nietzsche fute, istihm mithin nicht von einer akademisch gebildeten Seite zugekommen, sonderndurch Damen, nmlich der Schwestern und Halbschwestern seines Vaters.Nietzsches Schwester und Biographin (Frau Dr. phil. h.c. Elisabeth Frster-Nietz-sche, die ich im folgenden - nicht aus Mangel an Piett, sondern der Krzewegen - nach alter Archiv-Gewohnheit Frau Frster nennen mchte) er-whnt zunchst9 allgemein unsere Tanten, die uns am meisten von alten Zeitenerzhlten. Dann10 folgen im speciellen die Angaben dieser Tanten ber dieHerkunft der Familie. In der That erzhlten unsere Tanten, heit es, daunsere Vorfahren religiser Bedrckung wegen geflchtet seien: diese wichtige Vor-stellung verdankt also Nietzsche ihnen, und jedenfalls auch die, da die Flcht-linge adlige Polen waren. Nicht von Nietzsche verwertet ist ein anderer Umstand,den die Tanten gleichfalls erzhlt haben sollen.

    Danach lge die Flucht aus Polen eine Generation weiter zurck. Whrend Nietzschedie Eltern seines mehrfach erwhnten Grovaters, des Eilenburger SuperintendentenD. Ludwig Nietzsche, fr die Einwanderer hielt, sind nach dem Bericht von Nietz-sches Tanten, wie Frau Frster ihn wiedergiebt, schon die Groeltern dieses Grovaterseingewandert, und zwar habe die Reise von Polen nach Sachsen drei volle Jahre inAnspruch genommen. Whrend dieser drei Jahre aber habe die junge Frau ihr einzi-ges, noch in Polen geborenes Kind, also den knftigen Urgrovater Nietzsches, selbstgenhrt; und dieser habe seine Rstigkeit - er sei 92 Jahre alt geworden und habenoch mit 90 Jahren nicht nur geritten, sondern sogar galopp geritten - dieser ausge-zeichneten Ernhrung zugeschrieben.

    Anscheinend ist Nietzschen dieser Bericht, namentlich die Zigeunerromantikdes dreijhrigen Aufenthalts auf der Landstrae mit der sugenden Mutter weder

    7 Vgl. den Brief vom an Overbeck, verffentlicht 1916 in: [Vgl. Nietzsche an Franz Overbeck, 6.Juli 1887, KGB III 5, Nr. 873; Anm. d. Red.]

    8 In der von Nietzsches Schwester unterdrckten, aber zum Glck wenigstens nicht vernichtetenersten Autobiographie, die dankenswerterweise als Jahresgabe fr den GdFrJ NA 1936 in Facsi-mile vervielfltigt ist.

    9 S. 9 der in Note 1 genannten Biographie.10 S. 12 Abs. 2.

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    ruhmvoll noch glaubwrdig erschienen; und Frau Frster htte besser getan,wenn sie auch ihrerseits diesen Mythus, wie sie die Erzhlung ihrer Tantenzutreffend nennt, auf sich htte beruhen lassen.

    c) Nietzsches polnischer Sachverstndiger

    Unmittelbar vorher berichtet Frau Frster, im Winter von 1883 auf 1884habe Nietzsche an der Riviera einen Polen kennen gelernt, der sich erbotenhabe, Nachforschungen ber den Ursprung von dessen Familie anzustellen.ber das Ergebnis berichtet sie11:

    Im Herbst 1884, als ich mit Fritz in Zrich zusammentraf, prsentirte er mir einumfangreiches Schriftstck in polnischer Sprache mit der franzsischen Ueberschrift:,LOrigine de la famille seigneuriale de Nietzky. Einige Abschnitte des polnischen Textesbesa mein Bruder in franzsischer Uebersetzung; daraus ging hervor, da ein schsi-scher Kurfrst oder Knig die Familie in den Grafenstand erhoben und da jeder der Familie,der Handel oder Gewerbe trieb, fr sich und seine Nachkommen des Adels verlustigging. Weiter hie es, da im Jahre 1716 ein Mitglied der Familie (also unser Ururgro-vater) wegen religis-politischer Verschwrung zum Tode verurteilt gewesen sei, mit Frauund Kind aber geflohen wre.

    Das Schriftstck habe, berichtet die Biographin, viele Stempel und Siegelgetragen, sei ihr aber nicht durchaus glaubwrdig erschienen. Nach NietzschesErkrankung habe es sich nicht wiedergefunden.

    Das hatte wohl seinen guten Grund: aller Wahrscheinlichkeit nach hat Nietz-sche selbst sich berzeugt, da das Manuskript mitsamt seinen Stempeln undSiegeln eine freche Flschung war, und hat es demgem vernichtet. Niemals,weder vorher noch nachher, hat Nietzsche behauptet oder auch nur angedeutet,da seine Familie grflichen Standes und in eine politische Verschwrung verwickeltgewesen sei. Stets, auch bei der abnormen Steigerung seines Selbstgefhls imJahre 1888, handelt es sich bei ihm um einfache Edelleute, die auswandern, umreligiser Bedrckung zu entfliehen - ganz, wie er in der Jugend von seinen Tantengehrt hatte. Es ist also zu bedauern, da Nietzsches Biographin diese plumpeFlschung berhaupt erwhnt und damit als Quelle zur Familiengeschichte zurDiscussion gestellt hat.

    d) Beginn der Kirchenbuchforschung; ,Nietzsches Vorfahren

    Da ich die Zweifel der Biographin an diesem Document und berhaupt andem Mythus von der Herkunft des Urgrovaters teilte, wandte ich mich un-term 1. Februar 1898 an den gelehrten Pastor von Bibra, Herrn Dr. phil. Fried-

    11 S. 11/12.

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    rich Wilhelm Hermann Schulze. Nach mhevoller Durchsicht der registerlosenKirchenbcher teilte dieser mir unterm 12. des selben Monats die Daten von18 Taufen, 7 Trauungen und 6 Todesfllen innerhalb der Familie Nietzsche mit;darunter befand sich alles Wnschenswerte ber den in der Biographie genann-ten rstigen Urgrovater, dessen Vater, Geschwister, Gatten und Kinder. Esergab sich, da dieser Urgrovater, der nach Nietzsches eigener Meinung imMannesalter mit seiner polnischen Frau aus Polen eingewandert, nach der An-gabe von Nietzsches Tanten aber als dreijhriger Sugling nach Deutschlandgebracht worden war, in Wirklichkeit am 26. Februar 1714 morgens 8 Uhr zuBibra geboren und am 2. Mrz auf die durchaus deutschen Namen GotthelfEngelbert getauft ist; daher das zweite von zehn Kindern des Accise-InspectorsChristoph Nietzsche war (der seit 1709 in Bibra nachweisbar ist und dem 1710 alserstes Kind eine Tochter geboren war); da er am 19. Juli 1740 demgem keinePolin, sondern Johanne Amalie, des Pastors Herold in Reinsdorf hinterlasseneTochter, geheiratet; da er aber in der Tat das 90. Lebensjahr berschritten hat,denn er ist erst am 21. September 1804 gestorben im Alter von 90 Jahren, 6Monaten und 26 Tagen.

    Auf Grund dieser Nachrichten entwarf ich am 14. Februar einen kleinenAufsatz; in den einleitenden Worten wurde nicht eine Berichtigung, sonderneine an sich unwichtige Ergnzung der Biographie angehngt und im brigendieser wrmstes Lob gespendet. Bevor ich die Arbeit aber ins reine brachte,richtete ich noch am selben Tage an meinen liebenswrdigen Gewhrsmannnoch zwei Fragen, deren Beantwortung dann die endgltige Fassung meines Auf-satzes bestimmt hat und ber die ich hier einzeln berichten mchte.

    Die erste Frage ging dahin, ob Christoph Nietzsches Gattin nirgend im Kirchen-buch mit Namen genannt sei, als Mutter eigener oder Patin fremder Kinder. Dr.Schulze erwiderte darauf unterm 16., da die Gattin des Christoph Nietzschein den Geburtsnachrichten nur als Eheliebste ohne Vornamen bezeichnet werde[wie es ja leider in vielen lteren Kirchenbchern geschieht], da er, Dr.Schulze, aber unter den Paten eine Tochter des Past[ors] Bege gefundenhabe: ,Herrn Christoph Nietzschens, Anis-Duste. allh[ier], Eheliebste Fr. Marga-rethe Elisabethe. Daraufhin nderte ich im Concept meines Aufsatzes die WorteIhm sind in Bibra folgende zehn Kinder geboren um in: Von seiner FrauMargarethe Elisabeth - der Familienname ist leider im Kirchenbuch nirgendsangegeben - wurden ihm in Bibra folgende zehn Kinder geboren. Das war,wie ich hier zu Nutz und Frommen junger Genealogen reumtig erklre, erstenseine grobe bereilung: denn wenn Christoph Nietzsche 1720 oder 1730 mit einerMargarethe Elisabeth verheiratet war, dann folgt daraus keineswegs, da er esauch 1710 oder 1714 schon war und da diese Margarethe Elisabeth die Mutterdes 1714 geborenen Gotthelf Engelbert war; zweitens habe ich durch die Fas-sung meiner Angabe, wie der Erfolg lehrt, bei Frau Frster und den von ihr

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    Unterrichteten die falsche Vorstellung erweckt, da in den Eintrgen ber dieTaufe der Kinder des Christoph Nietzsche zwar die Vornamen der Mutter stetsgenannt, der Mdchenname aber in aufflliger Weise verschwiegen werde.

    Meine zweite Frage bezog sich auf die Paten der Kinder des Christoph Nietz-sche: ich bat um Auskunft, ob einige von diesen als Verwandte der Eheleuteerkennbar seien, sei es durch den Familiennamen Nietzsche oder durch Bezeich-nungen wie des Kindes Grovater. Dr. Schulze verneinte das. Ich schlo also(am 21. Februar) meinen Aufsatz mit den Worten:

    Fr die Zeit vor 1709 sind keine Angaben im Kirchenbuch zu finden; auch unter denPathen der ersten Geschwisterehe sind Mitglieder der Familie [Nietzsche] nicht ge-nannt. Christoph Nietzsche wird also erst 1709 sein Amt in Bibra angetreten undvorher anderswo gelebt haben; fr eine Abstammung der Familie aus Polen, wie sienach des Philosophen Vorgang Peter Gast, Leo Berg, Georg Brandes und unter Vorbe-halt auch Frau Frster-Nietzsche annehmen, ergiebt jedoch das Kirchenbuch keineAnhaltspunkte.

    Von dem vermeintlichen Adel (oder gar Grafenstand) der Familie sagte ichkein Wort, da ich jede Polemik und jede Herabsetzung Nietzsches und seinerBiographin vermeiden wollte. Andrerseits hob ich die von Frau Frster geuer-ten Zweifel an der Glaubwrdigkeit der Tradition ausdrcklich hervor, um ihrden Entschlu zu erleichtern, die Annahme der Herkunft aus Polen fallen zulassen.

    Der Aufsatz erschien in der ,Zukunft vom 28. Mai12.

    e) Der offene Brief der Frau Frster an Harden

    Vielleicht htte Frau Frster die goldene Brcke zum Rckzug benutzt, wennnicht Dritte sie dazu verleitet htten, die hoffnungslose Position um jeden Preiszu verteidigen. Eine Woche nach dem Erscheinen meines Artikels fand in Wei-mar die Generalversammlung der Goethe-Gesellschaft statt. Wilamowitz, Nietz-sches Urfeind, sprach ber Goethes ,Pandora: er fuhr, was Kurt Hildebrandtinteressieren wird, an Frau Frster und mir vorber, ohne jener den von ihrerwarteten Gru zuteil werden zu lassen. Als ich die Rede auf meinen Artikelbrachte, berichtete Frau Frster in bekmmertem Ton, sie habe mehrere Briefeerhalten, die Emprung ber meine Verffentlichung ausdrckten; als besondersentrstet nannte sie mir den Grafen Keler13.

    12 Band 23, Seite 403 f. - Auerdem in privatem Sonderdruck.13 Der eigene, 1881 von Reu j. L. verliehene Grafenstand des anderthalb Jahre vorher in Preuen

    geadelten Harry Keler wurde bekanntlich in Preuen nicht anerkannt (s. Janeckis Handbuchdes Preuischen Adels I 261; nheres in einer der amsantesten Stellen der Jugenderinnerungendes Frsten von Blow, Denkwrdigkeiten IV 497 f.) und so empfand er den Schmerz derehrgeizigen Biographin wie einen eigenen.

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    Auer ein paar Intimen des Archivs hatte wahrscheinlich kaum Ein Lesermeinen absichtlich trocken-sachlich gehaltenen Artikel fr mehr als einebelanglose Zusammenstellung familiengeschichtlicher Daten gehalten; die Brief-schreiber frchteten jedoch, da Nietzsches Ansehn dadurch geschdigt werdenknne, und Frau Frster fhlte nunmehr als die literarische Vormnderin deskranken Bruders die heilige Verpflichtung, dessen gefhrdete Autoritt zu scht-zen. Die von mir nur zart angedeuteten negativen Schlufolgerungen aus denBibraer Kirchenbuch-Auszgen lieen sich auf wissenschaftlichem Wege nichtentkrften. Wollte man sie noch auf ein Menschenalter zum Schweigen bringen,so mute das hinten herum geschehen. Darin soll durchaus kein moralischer Vor-wurf liegen. Das Bedingungslose Eintreten fr Nietzsche galt Frau Frster als derSchwester und Peter Gast als dem Erzapostel fr die heiligste Pflicht, der allesandere unterzuordnen war. So hielt es bekanntlich Peter Gast, der nach ber-windung der durch Koegels undiplomatisches Dreinschlagen14 herbeigefhrtenEntfremdung der treueste, willfhrigste und zweifellos auch geeignetste Mitar-beiter der Frau Frster wurde, fr durch aus erlaubt, ja von einem hherenStandpunkt aus gesehen fr geboten, da, wo er sich bewut war, in NietzschesGeist zu reden, eine Aufzeichnung Nietzsches zu fingieren: ein Verfahren, das imAltertum und im Orient (bei heiligen Bchern auch sonst allzeit und berall)gang und gbe gewesen ist. In dieser Auffassung begegnete er sich durchausmit Frau Frster, nach deren nicht durch die asketischen Ideale des Gelehrtengehemmten Gefhl eine fruchtbare Fiction sittlich wertvoller war als eine sterile,ja vielleicht schdliche Wahrheit. Mit einem gewissen Recht, zum mindesten miteinem starken Schein des Rechtes konnte sie sich dabei auf Aussprche ihresBruders berufen, zum Beispiel auf einige der 23 Stellen, die beiden Neffe Ri-chard Oehler oder vielmehr dessen Gattin unter der Marke Irrtum zum Lebennotwendig im Sachregister zur Musarion-Ausgabe verzeichnet hat, und aufmanche der 58 Stellen, die ebenda ber die Lge zusammengestellt sind (darun-ter aus der zeit der ,Morgenrte, 1880/81: Das, was gegen die Lge gesagtwird, sind Naivitten eines Schulmeisters, und zumal das Gebot ,Du sollst nichtlgen! [siehe: KGW V 1, 6[332], S. 611; Anm. d. Red.]) - Doch nun zurck zuunserm Bericht.

    Auf die mir gemachten sanften Vorhaltungen erwiderte ich, da sich diebehauptete Flucht des jungen Paares aus Polen nach Sachsen whrend der Jahre1716-1719 doch leider durchaus nicht mit der urkundlich nachgewiesenen Tat-sache vereinigen lasse, da das Ehepaar seit 1709 in Bibra seinen Wohnsitz hatte.Nicht ohne einen Anflug von Schadenfreude, den man vielleicht angesichts deran mich weitergegebenen Vorwrfe begreift, setzte ich hinzu, die Tradition htte

    14 Er hat mir ein Loch in den Bauch gestoen constatierte Peter Gast mir gegenber mit seinemtrockenen Galgenhumor.

  • Hans von Mller262

    sich eher bis auf weiteres aufrecht erhalten lassen, wenn die dreijhrige Fluchtgenau zehn Jahre frher, in die Jahre 1706-1709 verlegt worden wre: denneinerseits tauche das junge Paar erst 1709 in Bibra auf, und es sei bisher nichtnachzuweisen, wo es vorher gelebt habe; andrerseits wre die Flucht eines vor-nehmen Polen gerade nach Sachsen fr das Jahr 1706 an sich garnicht unwahr-scheinlich, da der Sachse August der Starke in diesem Jahre zu Gunsten desgeborenen Polen Stanislaw Leszczynski aus Polen hatte verzichten mssen. Ichwarf diese uerung hin, ohne die Umstnde nher zu prfen: denn tatschlichist ja August der Starke schon 1709 von den Russen wieder eingesetzt worden,und er htte natrlich damals seinen treuen Parteignger, den Grafen Niecki, imTriumph wieder nach Polen gefhrt und ihm dort ein hohes Amt gegeben, stattihn in einer Lage zu lassen, in der er Name und Stand abzulegen und in einerthringischen Kleinstadt als ein gewisser Nietzsche aus Nirgendheim, der Ein-gnge aus der Mahl- und Schlachtsteuer zu beaufsichtigen hatte.

    Aber Frau Frster ergriff den ihr im Scherz hingehaltenen Strohhalm inErmangelung einer besseren Sttze fr den Familienmythus. Als Fundament frden quasi-historischen Teil ihrer Entgegnung fingierte sie zwei Stellen der - leiderverlorenen - Origine de la famille seigneuriale de Nietzky. Erstens sei darin, wie sieeben aus einem alten Taschenbuch ersehe, als Jahr der Flucht nicht, wie sie in derBiographie irrtmlich angegeben habe, 1716, sondern 1706 genannt, und daswrde auch viel wahrscheinlicher sein, da gerade in den Jahren von 1705 bis1709 in Folge der Wiederwahl des Stanislaus Leszcynski zum polnischen Knigin Polen viel Unruhe herrschte und reichlich Anla zu Verschwrungen gegebenwaren; zweitens trage darin ihre Ur-Urgromutter Margarethe Elisabeth [die inWirklichkeit, wie ich bereits angedeutet habe und nachher positiv zeigen werde,ganz anders hie] einen uerst zungenbrecherischen vornehmen polnischenFamilien-Namen, den ein deutsches Ohr schlecht verstehen und eine deutscheHand nicht gut nachschreiben kann. Ich konnte mir deshalb auch vorstellen,da bei den Eintragungen in das Kirchenbuch der Geistliche auf die Wiedergabedieses Namens verzichtete. So erklre es sich, da der Vatersname der Frauso beharrlich verschwiegen bleibt.

    Mit diesem glcklichen Kunstgriff, sich auf ein verlorenes Document zu be-rufen, verband die geschickte kleine Frau noch einen anderen, der ihr in jedemFalle den Rckzug sichern sollte. Sie hielt ihre Behauptungen durch kleine Ein-schaltungen und Beiworte vorsichtig etwas im Zwielicht, wie etwa der alte Stormden (leider dadurch schwer geschdigten) herrlichen Mythus vom Schimmelrei-ter. Sie beruft sich zwar, wie wir eben sahen, in den wichtigsten Einzelheitenmit Entschiedenheit auf das nicht mehr nachprfbare Elaborat des polnischenSchwindlers, nennt es aber im selben Atem etwas zweifelhaft; sie malt dasuere und vor allem das innere Leben des geflchteten Grafen Nietzky aus-fhrlich in ganz neuen, berraschenden Farben aus, setzt aber ein vielleicht

  • Nietzsches Vorfahren 263

    dazu und erklrt seine Erlebnisse fr etwas mythisch; sie unterbricht ihreFolgerungen (man mchte sagen: unter Augenzwinkern) mit den Parenthesenfalls die Tradition auf Wahrheit beruht, immer vorausgesetzt, da die Fami-lientradition auf Wahrheit beruht. So war sie immer gedeckt fr den uner-wnschten Fall, da ein anderes Kirchenbuch die deutsche und nichtadlige Her-kunft des Christoph Nietzsche und seiner Ehefrau enthllen sollte.

    In der Sache lie sie zwar Gotthelf Engelberts Suglingsreife notgedrungenfallen (in Bezug darauf sagt sie resigniert mit einer hbsch personificierendenWendung: es scheint, als ob die Tradition sich etwas geirrt hat); sie blieb aberdabei, da die Szlachzizenfamilie Nietzky Ende des 17. Jahrhunderts in denGrafenstand erhoben und da dann eins ihrer Mitglieder wegen religis-politi-scher Verschwrung zum Tode verurtheilt worden, mit Frau und Kindern abergeflohen sei. In ihrem bereifer kmpft sie also gerade fr die offenbar vonNietzsche selbst verworfenen Thesen vom Grafenstand und von der Verschw-rung. Sie erklrt dann nicht nur im eigenen Namen, sondern auch in dem deskranken Bruders: Dieses Mitglied der Familie, das bei seiner Flucht den NamenNietzky in Nietzsche umwandelte, reklamiren wir als den vorhin erwhnten Chri-stoph Nietzsche, unseren Urgrovater. brigens seien - und diese Behauptungist wohl die unvorsichtigste - die Angaben des Bibraer Kirchenbuchs ihremBruder seit 1866 genau bekannt gewesen, und sie htten ihn lebhaft interessiert [solebhaft, da er 1882 und 1883 erklrte, sein Grovater Ludwig Nietzsche inEilenburg habe eine Polin zur Mutter gehabt!]; leider [!] bewiesen sie aber gar-nichts fr seine deutsche Abkunft, denn der Wechsel des Landes und Namensliegt vor dem Jahre 1709, wo jener Christoph Nietzsche zuerst in Bibra auftauch-te.

    Soviel von dem historischen Teil des Aufsatzes. Die zweite, psychologischeHlfte versucht zu begrnden, warum Nietzsche stets einen solchen Accentauf die polnische Abkunft gelegt hat. Ganz correct ist diese Fragestellung nicht.Nietzsche bezeichnet seine Vorfahren nie schlechthin als Polen, sondern stets alspolnische Edelleute. Aber das Geltungsbedrfnis, die Wurzel aller Familientraditionen,kommt natrlich fr die Schwester nicht von fern in Frage. Sie ist vielmehrzu folgender Vermutung gekommen. Ihrem Bruder seien zwar - es ist dasbekanntlich ihr ceterum censeo - die hchsten Anforderungen der christlichen Mo-ral zur zweiten Natur geworden, und er habe infolge dessen keine Kmpfemit dem schwachen Fleisch zu bestehen gehabt; praktisch habe er also - wie zumberflu mit einem Zeugnis aus dem Jahre 1868 belegt wird - vollkommenden drei Pastoren geglichen, deren Sohn und Enkel er war. Aber theoretischstand es bekanntlich anders; da kamen ihm Zweifel an so manchen Idealen, diesein ehrfrchtiges Herz so dringend zu lieben und zu verehren wnschte. Nunhabe er eifrig geforscht, ob einer seiner Vorfahren auch so in sich mit Gedankengegen Gedanken zu kmpfen gehabt habe. Und hier kam ihm die Familientra-

  • Hans von Mller264

    dition zu Hilfe. Dieser polnischer Graf Nietzky: vielleicht hatte auch er gezweifeltund schlielich in der Leidenschaft sich zu einer schlimmen That hinreien lassen.Also eine Renaissancegestalt, ein Skeptiker und Gewaltmensch, ein kleiner Ce-sare Borgia. Dieser Vorfahr schien ihm die Erklrung fr seine innerenKmpfe zu geben, und deshalb liebte er ihn und glaubte an ihn. Wer den vonuns citierten Aphorismus 264 aus ,Jenseits von Gut und Bse vor Augen hat,wird zugeben, da Nietzsches Bild von diesem Vorfahren als einem glaubens-starken und opferfreudigem Manne nicht vollkommener auf den Kopf gestelltwerden kann.

    Nicht die Taktik der Frau Frster soll hier beanstandet werden - a` la guerre,cest a` la guerre -, sondern ihre Strategie; nicht ihre Art der Beweisfhrung, son-dern das Ziel ihrer Ausfhrungen, offenkundige Albernheiten alter Tantenaufrechtzuerhalten, statt sie stillschweigend fallen zu lassen, wie ihr das am Schlumeines Aufsatzes auf das schonendste nahegelegt worden war.

    Die Darlegungen, die sprunghaft von einem Punkt auf einen anderen ber-gehn und, wie schon gezeigt, zwischen bestimmten detaillierten Einzelbehaup-tungen und vagen Vorbehalten abwechseln, wurden in die dafr in der Tat alleinmgliche Form eines plaudernden Briefes an den Herausgeber der ,Zukunft gebracht;sie waren fr das ,Notizbuch am Ende des Heftes bestimmt, in dem derartigeErwiderungen zu erscheinen pflegten. Der Text beginnt demgem: Sehr ge-ehrter Herr Harden, und schliet: Mit vorzglicher Hochachtung Ihre Elisa-beth Frster-Nietzsche.

    Harden war zweifellos zu klug, um an die corrigierte Tradition zu glauben;er war aber gentigt den Brief zu verffentlichen, wenn er den Wunsch hatte,weiterhin von Zeit zu Zeit fr seine Zeitschrift mit Fetzen aus Nietzsches Nach-la versehen zu werden. Er brachte die Entgegnung vier Wochen nach meinemArtikel, am 25. Juni 1898, und zwar nicht in der anspruchslosen Notizbuch-Ecke,sondern als Gegenstck zu meinem Artikel, unmittelbar vor einem solchen desGrafen Nicolaus Bethlen gegen den Grafen Agenor Goluchowski, die sich somitmit dem Grafen Christoph Nietzky ein Stelldichein gaben15. In pikantem Ge-gensatz zu dem schlichten Titel ,Nietzsches Vorfahren gab er [[,]] der witzigeHerausgeber, der feudalen Entgegnung die berschrift ,Nietzsches Ahnen.

    f) Mein polnischer Sachverstndiger

    Als ich aus der ,Zukunft von der erstaunlichen Verwertung meiner scherz-haften Berichtigung von Christoph Nietzkys Wanderjahren Kenntnis erhielt,dachte ich bei mir: Wahrlich, denen, die Nietzsche lieben, mssen alle Dinge

    15 Band 23, Seite 576/78.

  • Nietzsches Vorfahren 265

    zum besten dienen: auch den Essig einer kleinen Bosheit, den man ihnen reicht,wissen sie in sen Wein zu verwandeln. Aber ich gnnte der charmanten Frau,vor der ich trotz einigen Einwnden doch heimlich auf den Knieen lag, diesenPyrrhussieg; ich glaube mich sogar zu erinnern, da ich sie (ich war 23 Jahrealt und bisweilen sentimental), wegen der rauhen Strung ihrer neunzackigenIllusionen hchst zerknirscht um Verzeihung gebeten und ihr versprochen habe,ihr nicht noch einmal einen solchen Kummer zuzufgen. In der Tat habe ichdann bis zum Tode der liebenswrdigen Frau nichts ber die Nietzky-Frage mehrverffentlicht.

    Ein wenig hoffte ich zunchst noch mit meiner nunmehr wieder ausgeshn-ten mtterlichen Freundin, da sich doch einmal in irgend einem polnischenDocument ein Graf Nietzky oder vielmehr Niecki werde auftreiben lassen, denman dann allenfalls mit den Nietzsches in Bibra in Verbindung bringen knne.

    Nach zwei Jahren ergab sich unerwartet eine ausgezeichnete Gelegenheit,darber endgltig ins reine zu kommen. Im Mai 1900 erhielt ich von einerHamburger Verlagsfirma einen Prospect, aus dem hervorging, da Herr Emilianvon Zernicki-Szeliga in Pankow bei Berlin, gleich mir Mitglied des Vereins ,He-rold, im Laufe von vielen Jahren ein auf zehn bis zwlf starke Bnde geschtztesWerk ber den polnischen Adel zusammengetragen habe, das bei dem Verlegerdes ,Jahrbuches des deutschen Adels, W. T. Bruer in Berlin, auf Subscriptionerscheinen sollte. Da sich nicht gengend zahlungsfhige Liebhaber gemeldethtten, habe der Verfasser beschlossen, den Stoff auf den Umfang von zweistarken Bnden zusammenzudrngen, die nunmehr, da der Verleger Bruer inzwi-schen gestorben sei, in Krze in dem unterzeichneten Verlage erscheinen wr-den.

    In der Tat erschien das Werk16, verzeichnete aber weder einfache Edelleutenoch gar Grafen namen Niecki.

    Anfang August fragte ich in der Sache brieflich bei dem Verfasser an underhielt umgehend einen Bescheid vom 6., der den verwegensten Ansprchen anEntschiedenheit gengt. Es hie darin wrtlich:

    1. Eine Familie Niecki, oder hnlich lautend, ist mir bei meinen Forschungen, dieziemlich umfangreich waren, nicht vorgekommen.

    2. In Polen gab es keinen Grafentitel. Wohl verliehen die Monarchen von Polen mitun-ter den Grafentitel, aber nur an Auslnder, niemals an Inlnder, weil dies letztereverboten und ungesetzlich war, auch die Grafentitelverleihungen fr Polen keine Gltigkeithatten. Wenn also einem Niecki der Grafentitel verliehen worden ist, so mu dieserNiecki ein Auslnder gewesen sein, was ein umgekehrtes Bild der Tradition ergebenwrde.

    16 Der polnische Adel und die demselben hinzugetretenen anderslndischen Adelsfamilien. Ham-burg, Grand.

  • Hans von Mller266

    g) Neue Formen des Mythus im zwanzigsten Jahrhundert

    a) Der polnische Sachverstndige der Frau Frster

    Um das Jahr 1905 begann ein nationalpolnischer Schriftsteller namens Ber-nard Scharlitt sich mit der Frage von Nietzsches Herkunft zu beschftigen. Erwandte sich an Frau Frster und erfuhr von ihr, wie er berichtet17, da Nietz-sches Ur-Urgrovater Christoph Nietzsche im Jahre 1706 [!] pltzlich in Bibraaufgetaucht sei, da jedoch kein Lied, kein Wanderbuch [!] meldet, woher erkam der Fahrt, und da sein geheimnisvolles pltzliches Auftauchen in Bibraein durch die auffallende Tatsache in ein noch greres Dunkel gehllt werde,da von den seine zahlreichen Kinder betreffenden Eintragungen im Kirchen-buche zu Bibra der Familienname der Mutter Namens Margarethe Elisa-bethe konstant verschwiegen bleibt. Man sieht, wie die einfachsten Vorgngeknstlich immer mehr in eine mythische Beleuchtung a` la Lohengrin gercktwerden, um den Leser in eine Stimmung zu versetzen, die ihm das Unwahr-scheinlichste glaubhaft macht.

    Scharlitt machte sich nun auf die Suche in den zahlreichen genealogischenWerken der polnischen Literatur, mute aber in Zernicki erkennen, da inkeinem derselben eine Familie mit dem dreisilbigen Namen Niecki verzeichnetsei, ebenso wie er mit Zernicki ehrlich erklrt, da es im ehemaligen Polenberhaupt keine Grafen gegeben habe. Nun lag ihm persnlich natrlich gar-nichts daran, irgend etwas von der dramatischen Nietzscheschen Tradition, ins-besondere an Flucht nach Sachsen aus religisen oder aus politischen Grnden,aufrecht zu erhalten; ihm lag nur daran, Nietzsche fr die polnische Nation zureclamieren. Zu seiner Freude fand er in dem polnischen Wappenbuch, das JohannNepomuk Bobrowicz aus dem Nachla des Jesuiten Kaspar Niesiecki in polni-scher Sprache herausgegeben hat18 eine kurze Notiz ber eine adlige Familiemit dem zweisilbigen Namen Nicki aus der Wappengemeinschaft ,Radwan, diein der 1793-1806 preuisch[?] gewesenen Wojewodschaft Plock gesessen hatte;in einem Manuscript ber preuische Familien (d. h. Familien in ehemals preui-schen Teilen Polens), auf das Niesiecki sich beruft, wird unter dem Jahr 1632ein Gotard Nicki genannt. Daraus machte nun Scharlitt, da dieser Gotard Nicki1632 aus Polen nach Preuen ausgewandert, da Christoph Nietzsche ein Nach-komme von ihm und 1706 aus Preuen nach Sachsen gekommen sei.

    Diese Neuigkeit teilte der Entdecker der Frau Frster mit und legte eineCopie des Wappens Radwan bei. Frau Frster sah nunmehr fast alles schwinden,was sie 1898 in der ,Zukunft noch verteidigt hatte: dem Dauersugling GotthelfEngelbert folgte dessen Vater, der Graf Nietzky, nach, und es war von keiner

    17 Politisch-Anthropologische Revue, Jg. 5 (Nr. 1 = April 1906), S. 39.18 Herbarz polski Kaspra Nisieckiego S. J., i wydany przez Jana Nep. Bobrowicza (w Lipsku: nahl.

    i. dr. Breitkopfa i Haertela), Tom. VI. (1841), S. 532

  • Nietzsches Vorfahren 267

    Flucht aus Polen, von keinen religisen und politischen Kmpfen mehr dieRede, sondern lediglich von der Vertauschung des preuischen Landesherrn mitdem schsischen. Aber mit der jugendfrischen Elasticitt, die ihre Freunde, auchwenn sie selbst wissenschaftlichen Hemmungen unterlagen, immer wieder anihr bewundern muten, pate sie sich sofort der vllig vernderten Lage an.Wie sie 1898 bezglich der Zeit der Einwanderung selbstlos die Schuld aufsich genommen hatte, so schrieb sie Scharlitt jetzt (wrtlich nach dessen Be-richt19):

    da sie alle die polnische Herkunft der Nietzsches betreffenden Aufzeichnungen ihresBruders, der Jahre hindurch mit der diese Abstammung besagenden Familientraditionsich beschftigt hatte und alle nheren Details genau kannte, noch einmal grndlich durchforschtund zu ihrem nicht geringen Erstaunen konstatiert habe, da Friedrich Nietzscheimmer ausdrcklich von einem polnischen Adelsgeschlechte Namens Nicki spricht,wodurch die in der Biographie angewandte Schreibweise Nietzky sich einzig undallein als ihr (der Schwester Nietzsches) Verschulden darstelle.

    (Mit Recht rechnete Frau Frster bei dieser Erklrung damit, da kaum EinLeser sich noch der von Brandes 1894 verffentlichten Vita erinnern wrde, in derNietzsche den Namen seiner Ahnen Niezky schreibt, also ebenfalls mit einemTrema ber dem e.) Damit nicht genug, machte sie dem neuen Freunde auchnoch die freudige Mitteilung, im Nachla ihres Vaters habe sich ein Petschaftgefunden, das genau dem ihr in Copie bersandten Wappen ,Radwan entspre-che. (Man erinnert sich, da 1898 in Nietzsches Papieren ebenso umgehend eineAufzeichnung mit dem von mir im Scherz genannten Wanderjahr 1706 gefundenwurde.)

    Kein Wunder, da Scharlitt jubelnd erklrte, Nietzsches polnische Abkunftin einer jeden Zweifel ausschlieenden Weise festgestellt zu haben (wovonselbst dann der bis dahin skeptische Brandes ihm beistimmte), und auf Grunddieser Entdeckung in einer Abhandlung dartat, da sowohl die PersnlichkeitFriedrich Nietzsches, als auch seine Weltanschauung im letzten Grunde unver-kennbar polnisches Geprge zeigen und daher erst unter Bezugnahme auf diese Tatsa-che richtig erfat werden knnen.

    b) Resignation der Frau Frster im ,Jungen Nietzsche

    Einige Leser dieses hurrapatriotischen Aufsatzes scheinen der selbstlosenHilfsstellerin Zweifel daran geuert zu haben, ob es Nietzsches Beliebtheit inDeutschland - und deren Frderung war doch Lebensbedingung und Zweckihres Unternehmens - erhhe, wenn er mit solchem Nachdruck als Pole anLeib und Seele proclamiert werde. Wir sahen schon oben, wie solche Vorstellun-gen Dritter auf Frau Frster wirkten. Sie wurde zum ersten Male unsicher. Als

    19 a. a. O. S. 40.

  • Hans von Mller268

    sie nun um 1911 daran ging, von neuem das Leben ihres Bruders zu schreibenund zunchst den Jungen Nietzsche darzustellen, drckte sie sich weit wenigerbestimmt aus20. Von Scharlitts gesamten Errungenschaften bernahm sie nurdie Namensform Nicki, dementierte sie aber sogleich durch den Zusatz, derName sei Nietzky [also dreisilbig!] auszusprechen. Das Petschaft aus dem Nach-la des Vaters verschwindet; das Taschenbuch mit dem Wanderjahre 1706 ver-schwindet; die vielen genealogischen Aufzeichnungen des Bruders, die sie 1906durchgesehen haben wollten, verschwinden: sie erklrt im Gegenteil, von dessenForschungsergebnissen nichts Bestimmtes zu wissen, weil Papiere verlorengegan-gen seien. (Vielleicht hatten Neugierige das Petschaft, das Taschenbuch und dasgenealogische Convolut sehen wollen, und die Verwalterin des Archivs wolltesich solchen Unbequemlichkeiten nicht weiter aussetzen.) Sie begngt sich da-mit, den Mythus von 1895 zu wiederholen, mit dem einzigen neuen Detail,da der Grafenstand von August dem Starken stamme [wodurch es nun vollendsunbegreiflich wird, da der neugebackene Graf unter demselben Herrscher inSachsen seinen Stand nicht aufrecht erhalten konnte!] Sie schliet ihren Berichtaber in zugegebener Ratlosigkeit mit den Worten: Leider scheinen die Datennicht ganz zu stimmen; jedenfalls ist nichts Bestimmtes zu sagen, da das erstesichere Datum ber den Urgrovater [gemeint ist: Ur-Urgrovater] Nietzscheund seine Familie erst aus dem Jahre 1709 stammt.

    Von den beiden in diesem Abschnitt erwhnten Gestalten, die der Mythusim zwanzigsten Jahrhundert angenommen hat, also der vllig neuen 1906 vonScharlitt geschaffenen und der stark verblaten im Jungen Nietzsche von 1911,habe ich erst jetzt Kenntnis erhalten. Die Weiterentwicklung des Mythus hattemich bisher nicht interessiert. Seit dem Bescheide des Herrn von Zernicki ausdem Jahre 1900 war mir klar, da sachlich neu noch festzustellen war,

    1) wer Christoph Nietzsches deutsche Eltern und Schwiegereltern waren,2) wie jener Mythus entstehen konnte.

    ber beides kann ich jetzt offen reden, ohne meine alte mtterliche Freundinin Weimar zu betrben, der ich trotz einigen Miverstndnissen und Einwndenauf beiden Seiten bis zuletzt kindliche Liebe und Dankbarkeit bewahrt habe undber das Grab hinaus bewahre.

    h) Kirchenbuchforschungen im zwanzigsten Jahrhundert

    a) nach Christoph Nietzsches Ehefrauen und Schwiegereltern in Thringen

    Obgleich Herr Dr. Schulze mir unterm 16. Februar 1898 mitgeteilt hatte,da von den Paten der Kinder des Christoph Nietzsche keiner als Verwandter

    20 Stuttgart, Krner, 1912 (Vorwort vom Januar 1912).

  • Nietzsches Vorfahren 269

    bezeichnet sei, so lag mir doch daran, zu wissen, ob eine Familie wiederholt unterden Paten erscheine, da als dann zu vermuten war, da es sich um die Familieder Frau handle. Ich bat Herrn Dr. Schulze also am 8. Dezember 1900, mirsmtliche Paten der zehn Kinder zu nennen.

    Der Brief blieb in Bibra whrend der Advents- und Festzeit liegen. Am 15.Jan. 1901 sandte mir jedoch Dr. Schulze die vollstndige Liste der Paten; beideren Aussuchung hatte sich ein 1898 bersehenes elftes Kind, dem Alter nachdas fnfte, gefunden. Im brigen bemerkt Dr. Schulze jedoch: Die Patennamengewhren, wie Sie sehen werden, nicht den von Ihnen gewnschten Anhalt.

    Ich war anderer Meinung: es ergab sich, da bei den beiden ltesten KindernTchter des Amtsschssers Bttner in Eckartsberga Pate gestanden haben, wh-rend bei drei jngeren Kindern der Hofbuchdrucker Schnermark in Sondershausenund die Seinigen als Paten auftraten. Zu einer der beiden Familien gehrte alsovermutlich Christoph Nietzsches Frau Margarete Elisabeth.

    Da Bttners Tchter gleich bei den beiden ersten Kindern als Paten auftreten,so war ich geneigt, in ihm den Schwiegervater Christoph Nietzsches zu sehen;ich bat also Herrn Dr. Schulze, mir die Adresse des Pfarrers zu Eckartsbergazu nennen, um diesen um den Traueintrag Nietzsche-Bttner zu bitten. Dr.Schulze nannte mir den Pfarrer unterm 17. Januar 1901, aber mit dem verhng-nisvollen Zusatz: Ich glaube indes, da der p. Bttner nur in freundschaftlichenBeziehungen zu Nietzsche gestanden hat. Eher fhren die Spuren nach Sonders-hausen. Einen Grund fr diese Vermutung gab er nicht. Ein Mitrauischer knnteannehmen, da das Nietzsche-Archiv sich nach dem Erscheinen meines Artikels,in dem Dr. Schulze als Gewhrsmann genannt war, an ihn gewendet und ihnbeschworen habe, mich von der richtigen Spur abzulenken; doch traue ich demberaus liebenswrdigen und dienstbereiten Manne eine beabsichtigte Irrefh-rung nicht zu.

    Wie dem nun sei, ich lie mich ins Bockshorn jagen, verzichtete auf dieAnfrage in Eckartsberga und lie in dem registerlosen Sondershuser Traubuchvon 1692-1709 die Verbindung Nietzsche-Schnermark suchen: die Antwort,vom 4. Februar, war negativ. (Ich beichte das hier wiederum, um angehendeGenealogen vor den Fehlern zu warnen, die ich begangen habe.)

    Etwa im folgenden Jahre (1902) erhielt ich von dem ausgezeichneten Genea-logen Dr. Walther Grbner, einem persnlichen Schler von Ottokar Lorenz,den ich im Winterhalbjahr 1899/1900 im Verein ,Herold kennen gelernt hatteund mit dem ich seitdem eng befreundet war, einen Auszug aus dem selbenTrauregister von Eckartsberga, von dem Dr. Schulze mich ferngehalten hatte.Grbners Auszug betraf die Doppelhochzeit, die der Amtsschsser Bttner am22. November 1707 seinen beiden lteren Tchtern ausgerichtet hat. Der Eintragber die zweite Trauung lautet:

  • Hans von Mller270

    1707 am 20. u. 21. u. 22. [Sonntage] p[ost] Trin[itatis, d.i. am 6., 13. und 20. Novem-ber] sind proclamiret u. am Dienstag nach [dem] 22. [Sonntage] p[ost] Trin[itatis, alsoam 22. November] getraut:

    Tit. Herr Christoph Nitzsche, N. P. C. und Jur. Practicus, Christoph Nietzschens,Brger u. Fleischhauer in Burckau in der Oberlausitz, eh[eleiblicher] Sohn, juvenis [d.i.Junggesell],

    u. J[ungfer] Johanna Christiana, abgedachten Herrn Johann Dietrich Bttnereh[eleibliche] lteste Tochter.

    (Nitzsche wird der Name auch noch 1739 in den Acten der Acciseverwal-tung geschrieben.) Ich wute damals die Notiz nicht gengend zu wrdigen, daich in dem Vorurteil befangen war, da Gotthelf Engelbert Nietzsches MutterMargarete Elisabeth geheien habe. Da ich auerdem entschlossen war, in abseh-barer Zeit nichts mehr in der Sache zu verffentlichen, sah ich von weiterenSchritten ab.

    Ein Menschenalter spter ist der Eintrag, unabhngig von Grbner, nocheinmal von Herrn Erich Wasmansdorff gefunden worden; doch hat dieser resp.sein Gewhrsmann die abgekrzten Standesbezeichnungen fr Christoph Nietz-sche falsch gelesen (P. C. u. d. M. Practicus) und daher ganz abwegig vermu-tungsweise ergnzt in Publicus Chirurgus und den Medizin Practicus. Als ich vonseiner Verffentlichung21 Kenntnis erhielt, berichtigte ich am 2. April 1934brieflich seine Angabe dahin, da im Kirchenbuch von Eckartsberga nicht d.M. Practicus, sondern Jur. Practicus zu lesen sei, was ja fr einen Accisebeamtenvortrefflich passen wrde; mit Unrecht setzte ich aber hinzu, da Gotthelf En-gelberts Mutter Margarethe Elisabeth heie, da also der in Eckartsberga miteiner Johanna Christiana getraute Christoph Nietzsche aus Burkau nicht mitChristoph Nietzsche in Bibra identisch sein knne.

    Das wunderliche Zusammentreffen zweier Juristen Christoph Nietzsche imBannkreis der Familie Bttner zu Eckartsberga lie mir aber auf die Dauer keineRuhe; und ehe zwlf Monate vergangen waren, wute ich, da Grbner undWasmansdorff doch Recht hatten. Ich sah mir die elf Bibraer Taufeintrge ausden Jahren 1710-1734 noch einmal genauer an, und dabei ergab sich einescharfe Teilung dieser 25 Jahre in drei Perioden:

    I. In den ersten fnf Bibraer Jahren sind dem Christoph Nietzsche nur zweiKinder geboren. Damals stand ihm und seiner Gattin die Familie des AmtsschssersJohann Dietrich Bttner zu Eckartsberga am nchsten; denn beim ersten Kind (1710)erscheint dessen dritte Tochter, beim zweiten Kinde, Nietzsches UrgrovaterGotthelf Engelbert, (1714) die jngste Tochter als Patin.

    II. In den fnf Jahren zwischen Februar 1714 und Februar 1719 ist dem Chri-stoph Nietzsche kein Kind geboren.

    21 in einer Ahnentafel Nietzsches, die er seiner kleinen Schrift ,Die Ahnentafel. Wege zu ihrerAufstellung (Grlitz, Starke, 1933) auf S. 8/9 einverleibt hat.

  • Nietzsches Vorfahren 271

    III. Vom Februar 1719 bis zum Mai 1734 entfaltet dagegen das Haus Nietzscheeine erstaunliche Fruchtbarkeit: in diesen 1514 Jahren werden neun Kinder gebo-ren, durchschnittlich alle zwanzig Monate eines. Und diesem radicalen Um-schwung im Tempo der Fortpflanzung entspricht ein ebenso radicaler Wechselim Personal der Paten. An die Stelle der Familie des Amtsschssers Bttner inEckartsberga tritt die des Hofbuchdruckers Ludwig Heinrich Schnermark zu Sonders-hausen: gleich bei Christophs drittem Kind (1719) steht Schnermark selbst,beim vierten Kinde (1721) dessen Gattin Paten beim siebenten (1726) der Buch-drucker Wolf Heinrich Schnermark in Leipzig.

    Daraus war mit hchster Wahrscheinlichkeit Folgendes zu schlieen:

    1) Christoph Nietzsches Kinder stammen aus zwei Ehen;2) die Mutter der beiden ltesten Kinder war eine Tochter (und zwar eine der

    beiden lteren Tchter) des Amtsschssers Bttner in Eckartsberga;3) die Mutter der neun jngeren Kinder war eine Tochter des Hofbuchdruckers

    Schnermark in Sondershausen.Am 29. Mrz 1935 fragte ich also in Sondershausen an, ob im Trauregister

    (nicht der vor 34 Jahren vergeblich durchgesehenen Jahre 1692-1709, sondern)der Jahre 1714-1718 die Trauung einer Margarete Elisabeth Schnermark mitChristoph Nietzsche in Bibra verzeichnet sei. Schon am folgenden Tage copierteder Pfarrer Zahn in Sondershausen buchstabengetreu den folgenden Eintrag ausdem Jahre 1717, der zugleich die im Trauregister in Eckartsberga abgekrztenStandesbezeichnungen ergnzt:

    16. Novemb. zu Biebra copuliret:[Herr Christoph Nietzsch [/e], ein Wittber, Juris Practicus und Notarius Publicus Caesa-

    reus, wie auch Knigl. Pohlnischer und Chur- auch Hochfrstl. Schs. Weienfelsischerwohlbestallter Accis-Inspector zu Biebra,

    und Jungfer Margretha Elisabetha Schnermarckin, Herrn Ludwig Heinrich Schner-marcks, Hochfrstl. Schwartzburg, wohlbestallten Hofbuchdruckers alhier Eheleib-liche Tochter.

    Christoph Nietzsche ist eine zweite Ehe also fast auf den Tag genau zehnJahre nach der ersten eingegangen.

    Der Pfarrer Zahn teilte mir bei dieser Gelegenheit freundlichst unaufgefor-dert mit, da die lebenskrftige zweite Frau des Christoph Nietzsche am 3. Mai1693 in Sondershausen getauft ist. Lange vor diesen Ermittlungen, im April1901, hatte ich bei einem Aufenthalt in Bibra aus dem dortigen Trauregisterpersnlich festgestellt, da sie vier Jahre nach dem Tode ihres Gatten, am 3.Febr. 1743, zu einer zweiten Ehe geschritten ist, indem sie einen anderen Chri-stoph in Bibra, den Rector Zimmermann, heiratete; sie stand damals also im fnf-zigsten, ihr jngstes Kind erst im neunten Lebensjahre. Ihr neuer Mann war jaaber berufsmig an den Umgang mit Kindern gewhnt.

  • Hans von Mller272

    b) nach Christoph Nietzsches Eltern und Grovtern in der Lausitz

    Der Sondershuser Auszug beseitigt allerdings die letzten etwaigen leisenZweifel an der Identitt des Accise-Inspectors zu Bibra mit dem Sohne desBurkauer Fleischhauers. brigens griff man wohl immer noch etwas zu hoch,als man dem Pfarrer zu Eckartsberga die Personalien des abwesenden VatersNietzsche angab. Da dieser Fleischhauer war, ist nicht zu bezweifeln - umso weniger, als eine ganze Reihe seiner Bibraer Nachkommen genau das selbeHandwerk betrieb, whrend andere, mehr kaufmnnische veranlagte, sich wiedie Eltern von Goethes Vater dem Gasthofsgewerbe zuwandten. (Ich stellte dasbei dem eben erwhnten Aufenthalt in Bibra im April 1901 fest; natrlichwohnte ich damals im Gasthof zum weien Ro, der ein halbes Jahrhundert hin-durch im Besitz der Familie Nietzsche gewesen war.) Ob Christoph I aber auchMeister und gar Brger war, mu auf das strkste bezweifelt werden: Denn Bur-kau ist ein Dorf. (Seine drei Teile, Ober-, Mittel- und Nieder-Burkau, ziehensich von Westen nach Osten lang hin zu beiden Seiten der Schwarzen Elster,die in unmittelbarer Nhe am Sibyllenstein entspringt. Der Ort gehrt zur Amts-hauptmannschaft Bautzen, hat jetzt gut zweitausend Einwohner und ist auf derKarte leicht zu finden an der Eisenbahnlinie Kamenz-Bischofswerda.)

    Grbner hat sich brigens seinerzeit nicht mit dem Trau-Eintrag aus Eckarts-berga begngt, sondern auch in Burkau angefragt. Er erhielt den Bescheid, dadas dortige Taufbuch sehr unregelmig gefhrt ist und da es unter den Ge-tauften mit vielen anderen auch Christoph II. Nietzsche nicht verzeichnet. Da-gegen finden sich die Taufen seines Vaters, Christophs I., und zweier Schwestern;die Eintrge lauten (unter Weglassung der Paten):

    Den 15. May 1662 ist Matthe Niezschen ein Sohn getaufft und Christoph genennetworden

    Den 14. July 1686 ist Christoph [I.] Niezschen eine Tochter getaufft und Annagenennet worden; die Mutter ist Anna, Han Grners eheleibliche Tochter

    Den 17. February 1692 ist Christoph [I.] Nietzschen, Hulern, eine Tochter ge-taufft und Regina genennet worden; die Mutter ist Anna, Han Grners, gewes(enen)Leinwebers, ehl. Tochter

    Als Husler (Ktner, Bdner, Kosst), wird zum Unterschied vom Hufner,Doppelhufner usw. ein Dorfbewohner bezeichnet, der ein Haus, aber keinenAcker besitzt und somit darauf angewiesen ist, fr seinen Lebensunterhalt einGewerbe zu betreiben oder gegen Tagelohn zu arbeiten.

    Mit Matthe Nietzsche zu Burkau und dem Leinweber Hans Grner ebendasind die beiden Grovter Christophs II. Nietzsche ermittelt, also zwei Urgrov-ter von Friedrich Nietzsches Urgrovater Gotthelf Engelbert, beide whrend desDreiigjhrigen Krieges geboren: damit drfte billigen Anforderungen an dieGenealogie gengt sein. Friedrich Nietzsches Familie stammt wie die des ihmgeistesverwandten Lessing von Lausitzer Wenden (Sorben) ab: Nyc (gesprochen

  • Nietzsches Vorfahren 273

    Nitsch) ist die wendische Kurzform des Namens Nicolaus, im Genitiv undAccusativ lautet sie Nyca (gesprochen Nitscha)22: daher der Wechsel zwischenNitzsch (Nietzsche, Niez(ch) und Nitzsche (Nietzsche, Niezsche). Die Familiehat sich aber frh germanisiert und dauernd mit deutschen Familien versippt:zu den Oehler und Krause, die dem Philosophen 1882 und 1883 nach dessenbestimmter Versicherung allein als deutsche Ahnen bekannt waren, kommen,wie wir sahen, mindestens noch die Herold, Bttner und Grner. Tatsache istNietzsche also so gut wie rein deutschen Blutes.

    i) Die Entstehung des Mythus

    An der Nietzscheschen Familientradition ist, wie wir gesehen haben, dasrichtig, da Christoph Nietzsche weit von Osten her aus halbslavischen LandesteilenAugusts des Starken als Fremdling ins Thringische gekommen ist. Die Verhltnisse derengeren und der weiteren Familie Nietzsche in Burkau waren, wie hier nurangedeutet werden mag, von der Art, da es dem jungen Manne nur zur Ehregereicht, wenn er so frh wie mglich die Heimat verlie; ebenso wie es ihmnicht zu verdenken ist, wenn er sich ber seine Verwandten anderen Leuten alsdem Pfarrer gegenber in Stillschweigen hllte. Das hat mglicherweise schonzu seinen Lebzeiten zu schmeichelhaften Vermutungen a` la Lohengrin Anlagegeben, die dann nach seinem Tode und namentlich nach dem seines langlebi-gen Sohnes Gotthelf Engelbert (1894) ppig fortwucherten. Offenbar hat mandiesen confundiert mit zwei bekannten Altersgenossen. Der eine ist der nicht allzu-weit von Bibra, nmlich in Halle, wirkende ordentliche Professor der Medicin,Adam Nietzki (1714-1780) aus einer noch heute in Ostpreuen blhenden undangesehenen, ursprnglich polnischen Familie, der andere der Oberste Landesrich-ter des Knigreichs Ungarn, Christoph Niczky, dessen dem magyarischen Uradelangehrende Familie nach dem Gute Niczk im Comitat Eisenberg heit und1765 von der Kaiserin Maria Theresia in den Grafenstand erhoben wurde. Jenergab den Namen Nietzki, dieser den Adel an die allmhlich verdmmernde Ge-stalt des uralten Gotthelf Engelbert ab. Dagegen drfte die wilde Geschichte vondem dreijhrigen Herumzigeuneren von dessen Eltern und der ditetischen Ur-sache seines langen Lebens erst von den Schwestern oder Halbschwestern vonNietzsches Vater ausgeheckt sein: nach mndlicher Mitteilung von Peter Gast,der sich bekanntlich privatim gern von seinem Apostelpathos erholte, warendiese bejahrten Jungfrauen in dem Mae wunderlich, da schon daraus auf einegewisse erbliche Belastung bei Nietzsche zu schlieen sei.

    22 S. Ernst Muckes Wrterbuch der nieder-wendischen Sprache und ihrer Dialekte (Prag), III(Namen; 1928), S. 79.

  • Hans von Mller274

    Wunderlicher als die Entstehung dieser Tantenphantasien und ihre bertra-gung auf die kindlichen Gemter des Neffen und der Nichte mag es erscheinen,da ein so erbarmungslos kritischer Geist wie Nietzsche bis zuletzt mit Begeiste-rung an ihnen festgehalten hat. Jedem Genealogen ist es jedoch bekannt, da dieSkepsis auch des kritischsten deutschen Philosophen halt zu machen pflegt voreiner Familientradition, die ihm eine Abkunft aus romantischer Ferne (und dieFerne ist immer romantisch) vorgaukelt: Kant wollte von Schotten, Schopen-hauer von Hollndern und Dhring von Schweden abstammen. Warum solltees da Nietzsche nicht mit der bisher nicht in Anspruch genommenen tapferenund begabten polnischen Nation versuchen?

    Das Ergebnis Hans von Mllers

    MATTHESZ NIEZSCHE

    CHRISTOPH NITZSCHE [I.] (Taufe am 15. 5. 1662), Huler, Brger u. Fleisch-hauer in Bur(c)kau in der Oberlausitz + ANNA GRNER Tochter Han Grners,Leinweber zu Burkau.

    CHRISTOPH NITZSCHE [II.] (seit 30. 10. 1709 in Bibra nachweisbar, gest. am5. 1. 1739 zu Bibra), Juris Practicus und Notarius Publicus Caesareus, wie auchKnigl. Pohlnischer und Chur- auch Hochfrstl. Schs. Weienfelsischer wohl-bestallter Accis-Inspector zu Biebra.

    Anna (Taufe am 14. 7. 1686)Regina (Taufe am 17. 2. 1692)

    in erster Ehe + Johanna Christiana Bttner, Tochter des Amtsschssers JohannDietrich Bttner zu Eckartsberga (Trauung am 22. 11. 1707 zu Eckartsberga).

    Christiane Friederike (26. 1. 1710-17. 4. 1782), Trauung mit Michael Hein-rich Fressel, dem Rektor der Thomasschule in Erfurt 1740.

    GOTTHELF ENGELBERT (Bibra 26. 2. 1714 - ebd. 21. 9. 1804), 1739 Nachfolgerseines Vaters als Accise-Inspector.

    in zweiter Ehe + Margretha Elisabetha Schnermarckin (Taufe am 3. 5.1693 zu Sondershausen, gest. am 3. 2. 1743), Herrn Ludwig Heinrich Schner-marcks, Hochfrstl. Schwartzburg, wohlbestallten Hofbuchdruckers

    Dorothea Maria Katharina geb. 22. 2. 1719Sabina Juliana geb. 5. 1. 1721Johann Christoph geb. 24. 11. 1724Christoph Friedrich geb. 7. 4. 1726

  • Nietzsches Vorfahren 275

    Johann August geb. 23. 10. 1728Charlotte Wilhelmine geb. 8. 6. 1730Sabine Luise geb. 1. 8. 1732Johann Friedrich geb. 24. 5. 1734

    in erster Ehe + Johanne Amalie Herold, Tochter des verstorbenen Pa-stors Herold zu Reinsdorf b. Artern (Reinsdorf 10. 11. 1717-Bibra17. 9. 1770, Trauung am 19. 7. 1740)

    Johanne Christiane Karoline geb. 22. 6. 1741August Konstantin geb. 14. 10. 1743, frh gestorbenLuise Juliane Augustine geb. 27. 3. 1746Christoph Gotthelf Lebrecht geb. 6. 1. 1748Luise Ernestine Wilhelmine geb. 6. 12. 1750Karl Christian Sigismund geb. 20. 8. 1753

    FRIEDRICH AUGUST LUDWIG (Bibra 29. 1. 1756-Eilenburg 16. 3. 1826), Super-intendent zu Eilenburg.

    Konstans Gotthold Engelbert geb. 15. 1. 1759, frh gestorben

    in erster Ehe + Johanne Friederike Richter, Trauung am 6. 7. 1784 zu Bibra, diejngste Tochter des verstorbenen Gerichts-Aktuars Gottfried Salomon Richterzu Gosak.

    in zweiter Ehe + ERDMUTHE DOROTHEE KRAUSE (Reichenbach 11. 12.1778-Naumburg a. d. Saale 3. 4. 1865, Trauung 9. 10. 1809 zu Naumburg),Tochter des Archdiakonus zu Reichenbach Christian Friedrich Krau(/se)

    KARL AUGUST NIETZSCHE (Eilenburg 10. 10. 1813-Rcken b. Ltzen 28. 7.1849), Prinzessinerzieher zu Altenburg, Pfarrer in Rcken. + FRANZISKA ERNE-STINE ROSAURA OEHLER (Pobles 2. 2. 1826-Naumburg 20. 4. 1897, Trauung zuPobles am 10. 10. 1843), Tochter des Pfarrers zu Pobles b. Weienfels DavidErnst Oehler.

    FRIEDRICH WILHELM NIETZSCHE (Rcken b. Ltzen 15. 10. 1844-Weimar25. 8. 1900)THERESE ELISABETH ALEXANDRA (Rcken b. Ltzen 10. 7. 1846-Weimar 8. 11.1935)JOSEPH NIETZSCHE (Rcken 27. 2. 1848-4. 1. 1850).