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Staatliche Museen zu Berlin -- Preußischer Kulturbesitz Hans Wild und Hans Kamensetzer. Hypotheken der Ulmer und Strassburger Kunstgeschichte des Spätmittelalters Author(s): Hartmut Scholz Source: Jahrbuch der Berliner Museen, 36. Bd. (1994), pp. 93-140 Published by: Staatliche Museen zu Berlin -- Preußischer Kulturbesitz Stable URL: http://www.jstor.org/stable/4125924 . Accessed: 24/09/2013 10:45 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . Staatliche Museen zu Berlin -- Preußischer Kulturbesitz is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Jahrbuch der Berliner Museen. http://www.jstor.org This content downloaded from 142.51.1.212 on Tue, 24 Sep 2013 10:45:48 AM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Hans Wild und Hans Kamensetzer. Hypotheken der Ulmer und Strassburger Kunstgeschichte des Spätmittelalters

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Staatliche Museen zu Berlin -- Preußischer Kulturbesitz

Hans Wild und Hans Kamensetzer. Hypotheken der Ulmer und Strassburger Kunstgeschichtedes SpätmittelaltersAuthor(s): Hartmut ScholzSource: Jahrbuch der Berliner Museen, 36. Bd. (1994), pp. 93-140Published by: Staatliche Museen zu Berlin -- Preußischer KulturbesitzStable URL: http://www.jstor.org/stable/4125924 .

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HANS WILD UND HANS KAMENSETZER - HYPOTHEKEN DER ULMER UND STRASSBURGER KUNSTGESCHICHTE DES SPATMITTELALTERS

von HARTMUT SCHOLZ

Eine eng zusammengeh6rige Gruppe von Farbfenstern der beriihmten Werkstattgemeinschaft Strapl- burger Glasmaler von 1480 um Peter Hemmel von Andlau, allen voran das Fenster derKramerzunft im Chor des Ulmer Miinsters, verrit (neben technischen Neuerungen wie den kunstvoll geatzten Damastmustern) im Bereich derBildarchitekturen die Kenntnisgenuin ulmischer Vorbilder, die insbe- sondere dem Kreis derPlastik undZierarchitektur der seitEnde dersechzigerJahre laufenden Neuaus-

stattung des Ulmer Miinsterchores - vom Sakramentshaus bis zum Hochaltarrfl - angehoren und eine Vermittlung der in StraJiburgsonst nicht gelaufigen Formen durch UlmerKiinstlernahelegen. Der

mutmaf/liche Anteil des 1471 in Strafiburg eingebiirgerten Ulmer Bildhauers Hans Kamensetzer an den Entwiiufen und dessen Beziehung zu jenem 1469 in Ulm iiberlieferten Hans Wild Kamensetzer

wiirden sowohl die fraglichen Einwirkungen, als auch die ominose Signatur im Kramerfenster erka- ren, die lange Zeit als Firmenzeichen des Glasmalers gelesen worden war. Uberlegungen zuPerson und Werk des in Ulm, StraJfburg und Wien nachgewiesenen, bereits zu Lebzeiten hochgeschaitzten Bild- hauers sowie die aus den Quellen erschlossene Arbeitssituation von Malern, Glasmalern und Bild- hauern im Kiinstlerviertel der OberstraJfe in Strafjburg unterstreichen diese Vorstellung.

I.

Noch vor etwas mehr als fiinfzig Jahren gait in der Mit-

telalter-Kunstgeschichte der Ulmer Hans Wild als be- deutendster >>Glasmaler< der Spaitgotik. Bis dahin hatte man die SignaturHANS WL / T(Abb. 50)1 am Kragen- saum eines der Stammviiter der Wurzel Jesse im Kra-

merzunfffenster des Ulmer Miinsterchores wirtlich verstanden und dem Genannten alle die Farbfenster in

Walburg, StraBburg, Lautenbach, Urach, Tiibingen, Ulm, Augsburg, Niirnberg, Miinchen, Salzburg (um nur die wichtigsten Standorte zu nennen) zugeschrie- ben, die in ihrer brillanten Technik und Farbkraft alles

Gleichzeitige: innerhalb der Gattung in den Schatten stellen und selbst auf dem Gebiet der Tafelmalerei we-

nig Gleichrangiges neben sich dulden. Die schulmdiBi- ge Zusammengeh6rigkeit der iiber den gesamten siid-

deutschen Raum verstreuten Werke war bereits im Laufe des 19. Jh. hier und da erkannt, doch erstmals von Paul Frankl im Rahmen seiner Dissertation zur schwdibischen und bayrischen Glasmalerei des 15. Jh. in toto mit dem Namen Hans Wild verkniipft worden.2 Obwohl Frankls grundlegender CEuvre-Katalog bis heute weitgehend Bestand hatte und nur durch verein- zelte zwischenzeitlich bekanntgewordene Werke er- weitert worden ist, blieb die vermeintliche schwiibi- sche Herkunft der Fenster nicht lange unangetastet. Bereits Hermann Schmitz hat in seinem immer noch le- senswerten Uberblick zur Geschichte der Glasmalerei auf die ndihere Verwandtschaft mit der oberrheinischen Kunst hingewiesen und eine Schulung Wilds in StraB-

burg vorgeschlagen.3 Bestiitigt wurde diese Einbin-

dung durch einen Quellenfund von Hans Rott, der die erhaltene Fensterstiftung des Augustin Klaner in Salz-

Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Bestandsauf- nahme der Ulmer Chorfenster fiir das Corpus Vitrearum im Herbst 1990/Friihjahr 1991, die zum damaligen Zeitpunkt durch ein Stipendium der Thyssen-Stiftung gef6rdert wurde. Soweit es miglich war, sind spaiter erschienene Beitrage mit relevanter Thematik beriicksichtigt worden.

1 Die Inschrift endet am rechten Rand des Saums mit W9L, das T

erscheint erst auf dem kleinen Saumstiick zwischen den Hain- den. 2 Paul Frankl, Die Glasmalerei des fiinfzehnten Jahrhunderts in

Bayern und Schwaben (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 152), StraBburg 1912; bzw.in einem wortlichen Auszug ders., Der Ulmer Glasmaler Hans Wild, in: Jb. der Kaniglich preuBischen Kunstsammlungen 33, 1912, S. 31-78. 3 Hermann Schmitz, Die Glasgemailde des K6niglichen Kunst-

gewerbe-Museums in Berlin, Berlin 1913, I, S. 97.

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94 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 1. Stuttgart, Wiirttembergisches Landesmuseum. RiB ftir das Hochaltarretabel des Ulmer Miinsters (Schreinbekrbnung), vor 1474

burg (Stift Nonnberg, bestellt 1473, geliefert und datiert

1480) fiir den StraBburger Glasmaler Peter Hemmel von Andlau sicherte und ebenso plotzlich wie >>folge- richtig< die gesamte von Frankl zusammengestellte Fenstergruppe nun mit diesem Meister verband.4 Am Ende war es die beriihmte Urkunde iiber den im Jahr 1477 zunachst aufvier Jahre abgeschlossenen Gemein-

schaftsvertrag der fiinfglasere zu StraJ3burg - Peter von Andlau, Lienhard Spitznagel, Hans von Maursmiin- ster, Theobald von Lixheim und Werner Stbre5 -, der die lingstens gehegte Vorstellung von dem >leistungs- starken GroBbetrieb<< zur GewiBheit machte, dem die zahreichen, zumeist um 1480 entstandenen Fenster nun auch mit gutem Gewissen zugetraut werden konnten. Der ominose Glasmaler Hans Wild von Ulm dagegen verschwand in der Versenkung als nichtswiirdiger Ge- selle Hemmels, der sich durch die anmaBende Signatur

den Ruhm des wahren Meisters erschlichen und die

Forschung lange Zeit an der Nase herumgefiihrt hatte. Da er weder in dem fraglichen Gemeinschaftsvertrag der StraBburger Glaser genannt, noch in den Ulmer Ur- kunden zu finden war, schloB Rott aufeinen voriiberge- henden Mitarbeiter der Werkstatt, >>vielleicht den Sohn des im Jahr 1457 eingebuiirgerten Malers Ludwig Wild<<.6 Wie aber ein Geselle sich die Freiheit nehmen

konnte, unter den Augen des Meisters und an dessen Stelle zu signieren, diese Frage ist bis heute eine Hypo- thek der Hemmel-Forschung geblieben. Die Vorstel-

lung, daB Wild den Transport des Fensters nach Ulm

geleitet, sowie den Einbau vor Ort vorgenommen habe und erst bei dieser Gelegenheit seinen Namen hinter- lassen haben kiinnte, ist schon von Frankl mit dem noti-

gen Nachdruck zuriickgewiesen worden, denn das

Stiick ist selbstverstTndlich gebrannt und einen Brenn-

4 Hans Rott, Quellen und Forschungen zur siidwestdeutschen und schweizerischen Kunstgeschichte im XV. und XVI. Jahrhun- dert II. Altschwaben und die Reichstdidte, Stuttgart 1934, S. XI; bzw. III. Der Oberrhein, Stuttgart 19356, Quellen 1., S. 244; und Hans Haug, Archives Alsaciennes d'Histoire de l'Art 16, 1936, S. 79-122. 5 Rott 1936 (wie Anm. 4), S. 244 f.

6 Rott 1934 (wie Anm. 4), S. XI. Ein zweiter Vorschlag zur m6gli- chen Verkniipfung der Signatur mit dem von 1444-1448 in StraB- burg genannten Glaser Hans Wilhelm (ders., Quellen und For-

schungen III. Der Oberrhein, Stuttgart 1938, Text, S. 72) war von vornherein gegenstandslos, da der Namenszug WIL im Kramer- fenster in dem umlaufenden Saumstiick tatsichlich mit einem T abschlieBt.

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 95

ofen hatte man unterwegs gewiB nicht zur Verfiigung. 7 Seither hat man vesucht, die Anteile der fiinf ge-

nannten StraBburger Glaser in den erhaltenen Farbfen- stern der Werkstattgemeinschaft zu trennen, wobei

fraglos von zwei Voraussetzungen ausgegangen wurde: 1. Hemmel sei (als nahezu Sechzigjiihriger!) die innova-

tive, kiinstlerisch fiihrende Persdnlichkeit innerhalb dieser zunaichst auf vier Jahre befristeten Kooperative gewesen, mit anderen Worten, alle wesentlichen Fen- sterentwiirfe (einschlieBlich der Ausfiihrung in ihren besten Teilen, etwa das Katharinenfenster in StraBburg oder das Tiibinger Achsenfenster) wiren sein Eigen- tum. Nicht das Salzburger Klaner-Fenster, die einzige tatsdichlich fiir Hemmel gesicherte Arbeit war hierfiir die Grundlage. 2. Neben den Fiinfen wurde mit keinem weiteren ,Meister< ernsthaft gerechnet, obwohl wir we- der iiber die personelle Zusammensetzung noch iiber die Zustindigkeiten innerhalb der einzelnen Werkstiit- ten unterrichtet sind. 8Dabei wurde insbesondere nie in

Frage gestellt, daB die Entwiirfe in allen Teilen inner- halb der Glasmalergemeinschaft entstanden sein miiB- ten.9

Soweit in aller Kiirze die Geschichte. Den anschlie- Benden Versuch, gerade diesen letzten Punkt von neuem anzugehen, wird, so hoffe ich, das Ergebnis rechtfertigen. Vorausschickend sei angemerkt, daB das Ulmer Kramerfenster in mehr als einer Hinsicht eine

Sonderstellung besitzt, denn zum einen traigt kein wei- teres Fenster im umfangreichen (Euvre der StraBbur-

ger Glasmaler eine Signatur, und das muB Griinde ha- ben. Zum andern sind formale und technische Beson- derheiten gegeniiber einem GroBteil der StraBburger Produktion gerade hier am deutlichsten zu fassen und

auf ihre offenbar maBgeblichen Wurzeln zuriickzufiih- ren: Obwohl naimlich die beiden >StraBburger Fenster<< des Ulmer Miinsters - neben dem der Kramerzunft steht das 1480 datierte, im Auftrag der Stadt ausgefiihrte Ratsfenster in der Chorachse (I) - in Technik, Farbig- keit, Komposition und Stilbild auf den ersten Blick die- selbe Herkunft verraten, sind doch bei naiherem Zuse- hen in allen diesen Punkten auch handfeste Unterschie- de festzustellen.

Die merkwiirdigste Diskrepanz betrifft zunichst die an den >StraBburger Fenstern<< stets besonders

geriihmte Technik aufwendiger, d.h. sowohl groBfli- chiger wie komplizierter dekorativer sogenannter ,Aus- schliffe<: Damastmuster, die in den vorliegenden

Faillen aus dem meist roten Oberfangglas gedtzt (nicht

geschliffen), gegebenfalls durch den zusiitzlichen Ein- satz von Silbergelb noch verfeinert werden und so die Textur kostbarer Stoffe auf hachst effektvolle Weise und ohne storende Bleiruten simulieren, gelangten im Kramerfenster in beinahe exzessiver Verbreitung zur

Anwendung: Wenigstens in fiinf verschiedenen Uber-

fangglisern - Zinnoberrot, Violett, briiunlichem Kar-

min, Hellblau und Kobaltblau - tritt >Ausschliff< in

Erscheinung (vgl. Abb.2); allein dreimal davon ausge- dehnter, flichendeckend geitzter Rotiiberfang im Kleid des Jesse (lb-c), im Mantel Marias im Stamm- baum Christi (3b) und beim knienden Konig der Anbe-

tung (11b); von den ungezaihlten kleineren Kostbarkei- ten an Hutkronen und Armeln der Stammviiter, Vasen, Biichern, der Stadtansicht im Hintergrund der Heim-

suchung oder dem exquisiten Zepter Gabriels in der

Verkiindigung ganz zu schweigen. Im Ratsfenster dage- gen fehlt all dies vollstdndig.10

7 Paul Frankl, Peter Hemmel - Glasmaler von Andlau, Berlin 1956, S. 86, Anm. 165. 8 Allein im Fall Hemmels gibt es Hinweise aufzeitweilige Mitar- beiter: 1463 erscheint der Maler Mattern von Frankfurtals Hem- mels Schwiegersohn. 1475 erhalten mehrere (also wenigstens zwei) gesellen Hemmels Trinkgeld. 1483 wird Jakob Hemmel (der Sohn Peters) in den StraBburger Urkunden genannt; er war u.U. schon wesentlich friiher in der vaiterlichen Werkstatt be-

schiftigt. Ein zweiter Schwiegersohn, der Glaser Jakob Ger3alk aus Miinster bei Colmar, erwarb erst 1486 (durch die Heirat mit Hemmels Tochter Agnes) das Biirgerrecht; er konnte ebenfalls schon einige Zeit zuvor bei Hemmel gearbeitet haben; vgl. Rott 1936 (wie Anm. 4), Quellen 1., S. 206, 244, 282, bzw. Haug (wie Anm. 4), S. 83. SchlieBlich belegen die exakten Obernahmen von fiinf Damastmustern und wenigstens drei Baldachinformen im Repertoire der Niirnberger Hirsvogel-Werkstatt, daB Veit Hirs- vogel d. A. recht genau zwischen 1478 und 1485 in der StraBbur- ger Werkstattgemeinschaft mitgearbeitet haben muB, bevor er sich 1486 endgiiltig in Niirnberg niederlieB3 (vgl. Karl-Adolf Knappe, Albrecht Diirer und das Bamberger Fenster in St. Se- bald in Niirnberg, Niirnberg 1961, S. 25 f. und passim; Hartmut Scholz, Entwurfund Ausfiihrung - Werkstattpraxis in der Niirn- berger Glasmalerei der Diirerzeit, Berlin 1991, S. 268-278, 281- 288, 296-299). 9 Vgl. Hans Wentzel, Das Ratsfenster von 1480 im Ulmer Miin- ster und sein Meister Peter Hemmel von Andlau, in: Ulm und

Oberschwaben 32, 1951, S. 22 ff., und Frankl (wie Anm. 7), S. 56 ff. (trotz vermeintlich fundamentaler Meinungsverschiedenhei- ten hing die gesamte Arbeit der Werkstattgemeinschaft fiir beide im wesentlichen an der Person Hemmels; die vier anderen >>Mei- ster<< wurden zu unselbstandigen Mitarbeitern degradiert). Zum

gegenwairtigen Stand der Hemmel-Forschung vgl. vorwiegend Riidiger Becksmann, Zur Werkstattgemeinschaft Peter Hem- mels in den Jahren 1477-1481, in: Pantheon 28, 1970, S. 183-197, ders., Die mittelalterlichen Glasmalereien in Baden und der Pfalz (CVMA Deutschland II,1) Berlin 1979, S. XLI-XLIV, ders., Die mittelalterlichen Glasmalereien in Schwaben von 1350 bis 1530 (CVMA Deutschland 1,2), Berlin 1986, S. LIV-LVI, und nochmals ders., Deutsche Glasmalerei des Mittelalters, Stuttgart 1988, S. 161-169. Obwohl auch Becksmann an der Fiihrungsstel- lung Hemmels festgehalten hat, unterscheidet er daneben doch bestimmte Qualitiiten und bevorzugte Arbeitsbereiche einzelner Meister; etwa den Schwerpunkt des Lautenbacher Meisters bei Stifterbildern und Baldachinen, bzw. die fiihrende Rolle des Ratsmeisters bei der Ausbildung der Kabinettscheibenmalerei. 10 Absolut unzutreffend ist daher das von Hans Wentzel (wie Anm. 9), S. 15, gefallte qualitative Urteil zugunsten des Rats- fensters. Dieses mag wohl in der Farbwahl den Geschmack Wentzels eher getroffen haben und kleinteiliger ist es allemal. Doch in der Technik und hier ebenso in der Zeichnung der Kopfe (ganz besonders in der Wurzel Jesse) ist das Kramerfenster dem Ratsfenster fraglos iiberlegen.

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Abb. 2. Ulm, Miinster, Wurzel Jesse aus dem Kramerfenster. Stra3burger Werkstattgemeinschaft, um 1480/81

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 97

Die ebenso virtuose wie kostspielige Technik, die im (Euvre der Werkstattgemeinschaft urplbtzlich und

gleich in hbchster Perfektion erstmals 1477 im Achsen- fenster der Tiibinger Stiftskirche (flachendeckend aber nur ein einziges Mal im Kleid der Barbara von Gonza-

ga, I, id)11 auftaucht, besitzt in StraBburg keinen Vor- lauf und ist auch sonst in der zeitgleichen Glasmalerei

nirgendwo vorbereitet. Die einzige Ausnahme bieten die Werke >Hans von Ulms< aus den 350er und 40er Jah- ren des Jahrhunderts: erstmals (um 1430/31) auf klei- nerer Flche in den Gewolbekappen beim Kindermord der Besserer-Kapelle im Ulmer Miinster (filigrane Blattranken, I, 2b); danach als Damast im Gewand des Pilatus in den Ulmer Westportalscheiben (w XIX, 2b; um 1440); und schlieBlich in groBem Stil im Berner Pas- sionsfenster von 1441 (wieder im Kleid des Pilatus, ehem. I, Ib; heute entfremdet in der Krauchtal-Erlach-

Kapelle des Berner Miinsters).12 Paul Frankl hat aus diesem Grunde die i0berzeugung geaiuBert, daB Hemmel - wahrend seiner Wanderzeit - in direkte

Beriihrung mit der Ulmer Werkstatt gekommen sein

miisse;13 doch wie erklirt sich dann die lange Zuriick-

haltung? - Hemmel war immerhin seit 1447 in StraB-

burg niedergelassener Werkstattleiter.14 Es liegt also auf der Hand, daB dem plotzlichen

Auftauchen des Verfahrens die Vermittlung der hand- werklichen Befaihigung unmittelbar vorausging. DaB dies tatsdchlich von Ulm her geschehen sein diirfte, da-

fiir sprechen auch einige entscheidende Novitiiten im architektonischen Aufbau des Ulmer Kramerfensters. Dort finden sich - gleichfalls zum ersten Mal in der

StraBburger Produktion - zusammenhiingende felder-

iibergreifende Architektur- und Astwerkbaldachine. Bis dato - und so auch im nebenstehenden Ratsfenster - war jede einzelne Scheibe entweder in sich selbst ab-

geschlossen oder durch eine separate Bekronung iiber-

hoht worden, wobei von Lanzette zu Lanzette nicht ein- mal immer symmetrisch vorgegangen wurde. Als

extremer Gegensatz dazu erscheint nun im Kramerfen- ster der alle vier Bahnen zusammenfassende, zweifach

gebrochene Architekturbaldachin iiber der Wurzel

Jesse, mit den sich durchdringenden Scheren- und

Kielbbgen (Abb. 2), oder aber die Verschmelzung iden-

tischer Bekronungen zu einem ununterbrochenen Rie-

gel iiber Geburt und Beschneidung (10a-d). Die Einzel-

form des Kielbogens mit kreuzenden weitgeschweiften Streben und eingestellten gebogenen Fialen begegnet bereits im Tiibinger Achsenfenster, wo wie bemerkt

auch der geatzte Uberfang seinen Anfang nimmt. Neu

ist dagegen das durchlaufend hinterlegte MaBwerkgit- ter aus iiberschnittenen steilen Spitzbdgen an der Front

und MaBwerkballustraden mit gegenstiindigen Fisch-

blasen an den Flanken. Dieses Motiv, das letztlich der monumentalen

Architektur der groBen Miinsterkirchen - den Blend-

arkaden und kiihnen Stabwerkvorhaingen, etwa der

StraBburgerWestfassade schon ab Ende des 13.Jh. oder

formal wie zeitlich wesentlich naiher am oberen Ab-

schluB des Ulmer Turmvierecks15 - verpflichtet ist, scheint in der Zierarchitektur des 15. Jahrhunderts

nicht eben selten. In StraBburg jedoch, wo wir die Vor-

bilder dafiir zuerst vermuten wiirden, findet sich kein

einziger Vergleich, weder am Taufstein Dotzingers von

1453, noch an der Kanzel Hans Hammers von 1485. Da

die StraBburger Kanzel in der Form ihrer Baldachine

beinahe w6rtlich dem 30 Jahre ailteren Taufstein Dot-

zingers folgt, darf man annehmen, daB auch das zwi-

schenzeitlich (1483, ebenfalls von Hans Hammer) er-

richtete, irgendwann vor 1630 zerstbrte Sakraments- haus des StraBburger Miinsters keine entsprechend kombinierten Bogen- und Stabwerkformen zeigte.16

Fiir die auf oberrheinische Anregungen (besonders na-

11 CVMA Deutschland 1,2 (wie Anm. 9), S. 281, Fig. 197, ver- merkt die betreffenden Teile als Erganzung des 19. Jh.; die leider erst nach Erscheinen des Bandes erm6glichte griindliche Be- standsaufnahme der Tiibinger Fenster in der Werkstatt ergab je- doch einwandfrei die Echtheit des geitzten Oberfangs (freundl. Mitteilung von Prof. Dr. Riidiger Becksmann, Freiburg, der die nachtraigliche Untersuchung vorgenommen hat). 12 Vgl. Luc Mojon, Das Berner Miinster (Die Kunstdenkmiler der Schweiz: Kanton Bern, Bd.IV), Basel 1960, S. 244 f. 13 Frankl (wie Anm. 7), S. 131. Vgl. ebenso schon Joseph L. Fi- scher, Handbuch der Glasmalerei, Leipzig 1914, S. 119-121, also noch vor der Umbenennung des Meisters: >*Hans Wild hat, kon- kret gesprochen, die Schule und Titigkeit des Hans von Ulm ge- kannt<<... >jedenfalls steht fest, daB er in seinen technischen

Kunstgriffen an die Traditionen des Hans von Ulm ankniipft, wiahrend er im Stil auf dem Boden der oberrheinischen Kun-

strichtung steht? (gemeint ist die Anlehnung an Schongauer) ... >>die Berner Glasgemilde bilden den Ubergang von diesem Mei- ster zu Hans Wild<<. Von dieser zutreffenden Einschiitzung hat Fischer nach der - besonders von ihm selbst sehr eilig vorgenom- menen - Umwidmung der Fenster von Wild auf Hemmel aller-

dings nichts mehr wissen wollen (Handbuch 21937, S. 122 ff.). 14 Vgl. Rott 1936 (wie Anm. 4), Quellen 2., S. 244.

15 Die Ausfiihrung des Glockengeschosses entspricht - in Ab-

weichung gegeniiber den Planen Ulrichs von Ensingen (RiB A) -

wesentlich dem gegen 1470 gezeichneten RiB B in London (Hans Koepf, Die gotischen Planrisse der Ulmer Sammlungen, Ulm

1977, Kat.Nr. 4). 16 DaB die Kanzeltiir (1485 und damit spiter als die in Frage ste- henden Glasmalereien) wenigstens einmal eine dem Tiibinger und Ulmer Fenster vergleichbare Verschleifung von Kiel- und

Scherenb6gen mit durchstoBenden gebogenen Fialen zeigt, hat Michael Roth, Die Zeichnungen des >Meisters der Coburger

Rundblitter<, Phil. Diss. Berlin 1988 (Microfiche 1991), S. 163, Anm. 2, angemerkt; wichtig scheint mir aber auch hier der Hin- weis auf die Vereinzelung des Motivs, >da vergleichbare Archi- tekturbaldachine in der gleichzeitigen oberrheinischen Skulptur nicht nachzuweisen sind<<.

Vgl. dazu allgemein: Anneliese Seeliger-Zeiss, Lorenz Lechler von Heidelberg und sein Umkreis (Heidelberger Abhandlungen N.F. Bd.10), Heidelberg 1967, bes. S. 43 ff.; Jiirgen Julier, Studien zur spitgotischen Baukunst am Oberrhein (Heidelberger Kunst-

geschichtliche Abhandlungen N.F. Bd.13), Heidelberg 1978; Bar- bara Schock-Werner, Das StraBburger Miinster im 15. Jahrhun-

dert, Koln 1983.

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98 HARTMUT SCHOLZ

tiirlich auf mutmaBliche Vorbilder Nicolaus Gerhaerts) zuriickgefiihrten Schreinretabel der Zeit, in St. Wolf- gang (1471-81), Zwickau (1479), Krakau (1477-89), Lau- tenbach im Renchtal (1491-94 ?), Kefermarkt (1491-98), etc. gilt dasselbe. 7Allein im schwabischen Einzugsbe- reich und hier insbesondere im Zentrum Ulm selbst existieren Beispiele in Fiille, und tatsaichlich geht die

Verwendung dieser flach hinterlegten Stabwerkblen- den in Altiiren, am Sakramentshaus, am Dreisitz und am Chorgestiihl dort bereits auf eine lange ununterbro- chene Tradition zuriick.18 Es ist gut denkbar, daB die getrennte Entwicklung innerhalb der beiden Zentren spiitgotischer Hiittenkunst auf den Umstand zuriickzu- fiihren ist, daB die monumentalen Bauaufgaben am

StraBburger Miinster mit der Vollendung des Turm- helms durch Johannes Hiiltz von Koln 1439 abgeschlos- sen waren und die Kleinarchitektur sich fortan nicht mehr vorwiegend an die GesetzmidBigkeiten und kla- ren Vorgaben der groBen Baukunst gebunden sah. In Ulm jedoch traten die Arbeiten am Westturm des Miin- sters seit Mitte des Jahrhunderts erst in ihre hohe Phase ein, und die permanente Beschiftigung mit m6glichen Korrekturen an der zugrundeliegenden Planung Ul- richs von Ensingen, die schlieBlich um 1470 ff. in den Konkurrenz-Rissen B (Moritz Ensinger ?), C (Matthiius Bbblinger) und D (Jbrg Syrlin d. A. oder d. J.) gipfelt, diirfte sich beinahe zwangsliufig - als MaBstab und

Orientierung - auch in der Zierarchitektur niederge- schlagen haben. 19

Die erstaunlichsten Parallelen zu den fraglichen Lbsungen im Kramerfenster begegnen tatsichlich nur in Ulm selbst um 1470, wo gerade die Neuausstattung des Altarraums auf vollen Touren lief. Der mit Syrlins Auftrag fiir den Ulmer Hochaltar verbundene beriihm-

te RiB im Wiirttembergischen Landesmuseum Stutt-

gart zeigt nicht nur die fraglichen Stabwerkblenden an den dreiseitig gebrochenen Baldachinen, sondern stimmt in der Verschleifung von Kiel- und ScherenbS- gen, alternierend eingestellten Fialen und den durch

umschlungene langstielige Blitter gebildeten MaB-

werkgehaingen bereits weitgehend mit den rund zehn Jahre spditeren Gebilden im Kramerfenster iiberein; allein die zusitzlichen gebogenen Fialen fehlen hier noch (Abb. 1, 2). Ein besonders merkwiirdiges Motiv - die noch unvollkommenen Versuche zur perspektivi- schen Verkiirzung der eingeschriebenen DreipaBnasen an den fluchtenden Seiten der Baldachine -, das im

Stuttgarter RiB stiindig wiederholt wurde, begegnet mit denselben Mangeln behaftet an den Nasen der PaBb6- gen im Kramerfenster wieder.20

Nun hat man schon wiederholt auf die potentiellen oberrheinischen Stilquellen der Ulmer Chorausstat-

tung, insbesondere auf das 1466 abgeschlossene Vorbild Nicolaus Gerhaerts im Konstanzer Munster hingewie- sen, doch ein Vergleich mit dem Chorgestiihl ebendort beweist nur ein weiteres Mal, daB gerade die strenge, fast stereotype architektonische Flichengliederung mit den durchgehenden Stabwerkblenden am Ulmer

Chorgestiihl und im HochaltarriB in der straBburgi- schen Plastik und ihren Satelliten keine Voraussetzung besitzt.21Immerhin begegnet die Grundform der iiber- schnittenen Scheren-und Kielbogen auch an den Ballu- straden der Riickseiten des Konstanzer Gestiihls (also bald nach 1466 und sehr wahrscheinlich nach Vorent- wiirfen Nicolaus Gerhaerts), doch die in Konstanz be-

vorzugten abstrakt ornamentalen MaBwerkfiillungen haben weder in der Ulmer Chormoblierung, noch in der StraBburger Glasmalerei irgendeine Nachfolge ge-

17 Eine Ausnahme bietet Pachers Altar in Bozen-Gries (1471- 75), der - im Unterschied zum St. Wolfganger Altar - noch deut- lich genug in der Tradition Multschers steht, dessen Sterzinger Altar nur etwa 50 km von Pachers Werkstattsitz in Bruneck ent- fernt zu sehen war (vgl. etwa die Vorhangengel im Schrein). Nicolo Rasmo, Michael Pacher, Miinchen 1969, S. 60, verweist gerade ffir die >>hintereinanderliegenden Vertikalschichten<< der Schreinarchitektur auf Tiefenbronn (Hochaltar) und das Ulmer Chorgestiihl; vgl. auch Michael Baxandall, Die Kunst der Bild- schnitzer, Miinchen 1984, S. 26 und 330, und Erich Egg, Gotik in Tirol. Die Fliigelaltiire, Innsbruck 1985, S. 176 ff. Nachwirkun- gen dieser Art sind auch in St. Wolfgang bei den gemalten Balda- chinen der Schreinriickwand oder im Kirchenviiteraltar in Miin- chen zu finden. 18 Zu nennen wiren ohne jeden Anspruch aufVollstlindigkeit: Schiichlins Tiefenbronner Hochaltar (1468/9); der abgebroche- ne Sterzinger Schrein Multschers (1457), von dem ein Stuck des MaBwerkgitters wenigstens im Foto iiberliefert ist; der Scharen- stettener Altar (um 1440); der Schrein in Berghofen (1438), und wenn man will, kann man die Form bis zu den Baldachinen der Westvorhalle, Anf. des 15. Jh. zuriickverfolgen (vgl. Manfred Tripps, Hans Multscher, Seine Ulmer Schaffenszeit 1427-1467, WeiBenhorn 1969, Abb. 33, 80,1435,172, 220). Vgl. auch den Altar- riB im Ulmer Stadtarchiv (Koepf wie Anm. 15, S. 158, Kat.Nr. 50).

19 Vgl. Koepf (wie Anm. 15), S. 41-54, Kat. Nr. 5, 7, 8, und Peter Pause, Gotische Architekturzeichnungen in Deutschland, Bonn 1973, Nr. 97, 95, 126. 20 Uber Anbetung der Kanige und Darbringung (12a-d), oder bei den kleinen Tabernakeln mit Prophetenfigiirchen iiber Ver-

kiindigung und Heimsuchung (7a-d); vgl. Frankl (wie Anm. 7), Abb. 139, 141, 144, 149. Den Hinweis auf dieses besondere Detail im Stuttgarter RiB verdanke ich Dr. Karl Halbauer, Stuttgart. 21 Wolfgang Deutsch, Die Konstanzer Bildschnitzer der Spitgo- tik und ihr Verhaltnis zu Niklaus Gerhaert (Schriften des Vereins

ftir Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, 81. Heft), 1963, S. 82-87, hat das fragliche Motiv an den unmittelbaren Vor-

liufern des Konstanzer Gestiihls in der Kathedrale von Genf

(1. H. 15. Jh.), in St.Claude (1449-1465), deren gemeinsamem Vorbild am Hof zu Bourges (erhalten ist lediglich ein Dreisitz-

fragment) u.a., bzw. niherhin am Oberlinger Chorgestiihl (1420/30, vom Ulmer Meister des Dornstadter Altars) nachge- wiesen und demgegeniiber gerade die >dynamische, stabwerk-

freie Ornamentik< in Konstanz hervorgehoben; ffir Deutsch die

eigentliche Gewihr ffir deren StraBburgischen Ursprung und den entwerfenden Anteil Nicolaus Gerhaerts.

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 99

Abb. 3. Ulm, Miinster, Sakramentshaus, Tabernakel mit

eingestellten Propheten, um 1462-71

funden.22 Selbst fir die spielerische Entwicklung kom-

plexer Astwerkausziige, die Ende der siebziger Jahre in der Werkstattgemeinschaft einsetzte und in kiirzester

Folge einen erstaunlichen Reichtum an Varianten

schuf, blieb das tektonische Prinzip voll und ganz ge- wahrt.23

Selbst wenn man annehmen wiirde, das im Bilder- sturm zerst6rte Konstanzer Retabel Nicolaus Gerhaerts

kinne entsprechend kombinierte Kiel- und Scheren-

bogenbaldachine mit hinterlegtem Stabwerk enthalten haben (was schon angesichts fehlender Reflexe in der oberrheinischen Skulptur nicht sehr wahrscheinlich

ist), erklirt das nicht, warum die StraBburger Glas- maler erst 14 Jahre spliter und ausgerechnet fiir einen Ulmer Auftrag darauf zuriickgegriffen haben sollten.

Um die Arbeiten Syrlins und daneben vor allem den Stuttgarter Hochaltarril nicht die gesamte Beweis-

Abb. 4. Niirnberg, St. Lorenz, Volckamer-Fenster, Architekturbekr6nung mit eingestellten Figuren.

Strafburger Werkstattgemeinschaft, um 1481

last tragen zu lassen, braucht man den Blick in Ulm nur zu wenden und findet dieselben durch Scherenb6gen iiberschnittenen Kielbogenbaldachine vor Stabwerk-

gittern auch im Auszug des hochaufragenden Sakra- mentshauses von 1462-71. Tatsichlich sind hier die An-

klMnge beinahe noch zwingender als im AltarriB, denn

jeder einzelne der vierseitig gebrochenen, ringsum an-

gebrachten Baldachine der untersten Zone ergabe - in die Fliche abgewickelt - einen durchlaufenden Riegel, wie den oben beschriebenen der 10. Zeile im Kramer-

fenster; auch die einwirts gebogenen Kreuzblumen und Fialen der einzelnen Baldachinkompartimente im Kramerfenster sind iiber den Kleeblattbigen des zwei- ten Geschosses bzw. den umlaufend gebogenen Fialen der Sakramentshausspitze bereits vorexerziert.24 Doch damit sind die Beziige zur StraBburger Glasmalerei noch keineswegs ersch6pft. Wohl der kiihnste Einfall in

22 Vgl. Jakob Eschweiler/ Martin Hamacher, Das Konstanzer

Chorgestiihl, Friedrichshafen 1949, Abb. 8. 23 Ob diese Entwicklung freilich direkt auf die friihen Astwerk- baldachine in Ulm (in den Glasgemdilden der Besserer-Kapelle, um 1430) zuriickgefiihrt werden kann, wie Seeliger-Zeiss (wie Anm. 16), hier besonders S. 39-48, vermutet hat, sei dahinge- stellt; immerhin zeigt einer der friihen Astwerkrahmen der

StraBburger Glasmalerei (Kreuzigungsscheibe in Ravensburg, 1477/78; CVMA Deutschland 1,2 [wie Anm. 9], Abb. 249) noch fast dieselbe Form. 24 Vgl. die Abbildungen bei Franki (wie Anm. 7), Abb. 140, bzw. Rudolf Pfleiderer, Das Miinster zu Ulm und seine Kunstdenkma-

le, Stuttgart 1905 (Neudruck: Ulm 1990), Taf. 14-16, und August Raichle, Das Ulmer Miinster, Stuttgart 1950, Abb. 86, 91.

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100 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 5. Niirnberg, St. Lorenz, Volckamer-Fenster, Baldachin iiber dem Georgskampf. Werkstattgemeinschaft, um 1481

Sachen Bildarchitektur innerhalb der StraBburger Werkstattgemeinschaft - die iiber Eck gestellten drei-

seitigen Tabernakel im Niirnberger Volckamer-Fen- ster, deren Figuren durch die vordere Stiitze verdeckt werden und so die Erinnerung eines plastischen Vor- bilds zuriickrufen - finden sich absolut w6rtlich auch am Ulmer Sakramentshaus. Form und Anordnung der

grazil aufragenden Tabernakel, Profile, Wasserschlage, vorgestellte Fialen, Bogenkreuze und die drei abschlie- Benden Kreuzblumen verraten in toto den gleichen Entwurf.25 Selbst die steil geschwungenen Verstrebun-

gen zu den flankierenden, mit Fialen bekr6nten Stiit- zen fuBen hier wie dort auf eingestellten diinnen Saul- chen; nur die Figuren selbst sind ausgetauscht worden

(Abb. 3, 4). Zwei weiteren Baldachinen des Volckamer- Fensters - zu Seiten der Wurzel Jesse, iiber der Seba- stiansmarter und dem HI. Georg (3a-b/5e-f) - liegt schlieBlich wieder die zentrale Bekr6nung im Schrein des Ulmer Hochaltarrisses zugrunde, womit wir erneut beim Ausgangspunkt der Einbindung ins kiinstlerische Umfeld der Ulmer Chorausstattung angelangt waren (Abb. 1, 5).

Bei dieser Gelegenheit sei nur angemerkt, daB das Volckamer-Fenster der Niirnberger St. Lorenzkirche in den Jahren 1480/81, also in unmittelbarem AnschluB an

das Kramerfenster, ausgefiihrt wurde und zusammen mit diesem wie dem zuvor entstandenen bereits wie- derholt erwthnten Tiibinger Achsenfenster in mehr als einer Hinsicht eine besondere Gruppe innerhalb der Produktion der Werkstattgemeinschaft bildet.26 Doch nur die beiden spaiteren Fenster (das Volckamersche fast zur Hilfte seiner Fliche) zeigen architektonische

Ldsungen, die nie und nimmer auf das Konto eines rei- nen Glasmalers gehen k6nnen. Eine Orientierung an den zeitgleichen Werken der Zierarchitektur, vorwie-

gend an den reichen Ausziigen spitgotischer Schnitz-

altire ist eben fiir die betreffenden Fenster schon mehr- fach erwogen worden, doch mir ist kein zweites Bei-

spiel bekannt, wo derartig iiberschnittene Figuren bei absolut entsprechendem architektonischen Aufbau der Tabernakel begegnen.27 Deren ebenso brillant wie lo-

gisch konstruierter Aufbau setzt tatsichlich mehr vor- aus als nur die bloBe visuelle Kenntnis realer, d.h. ge- bauter Vorbilder. Der hierfiir verantwortliche, d.h. der entwerfende Meister muB im Umgang mit den Mitteln architektonischer Gestaltung nicht nur gut vertraut ge- wesen sein, sondern die Beftihigung zum >Reisser< selbst in hohem MaBe besessen haben. Wenn den Glas- malern aber nur entsprechende Risse vorlagen, woher sollten diese denn gekommen sein, wenn die Einzelfor- men gerade in StraBburg bis dahin sonst nicht nachzu- weisen sind?

Eine ganz wesentliche Erginzung erfahren die hier in Frage stehenden Beziige zwischen den StraB-

burger Fenstergliederungen und der gebauten oder entworfenen Zierarchitektur in einem AltarriB mit mu- sizierenden Engeln in Wien; zwei der im Schrein vor-

gesehenen Baldachine folgen w6rtlich den oben ange- sprochenen Bekr6nungen im Kramerfenster und im

Volckamer-Fenster (Abb. 2, 5, 6).28 >>Marginale<< Ab-

weichungen (die stirkere Untersicht) des Mittelteils ge- geniiber der realisierten Fassung in Niirnberg sind zu

vernachlissigen. Der Schrein ist nicht symmetrisch an-

gelegt, im rechten Baldachin vielmehr eine alternative

(breitere) Lb6sung vorgeschlagen. Der unmittelbare Zu- sammenhang mit dem Werkstattkreis der Glasmaler wird bestitigt durch die Zugehirigkeit des Wiener Ris-

ses zum Konvolut jener Zeichnungen, die unter dem Sammelbegriff >>Meister der Gewandstudien<< oder >>Meister der Coburger Rundblkitter< firmieren, und in

25 Die Ubereinstimmungen sind schon von Frankl (wie Anm. 2), S. 69 f., hervorgehoben worden. 26 Die enge technische, zeichnerische und ikonographische Zu-

sammengehirigkeit der drei genannten Farbfenster ist nicht zu- letzt auf die Wiederverwendung und Modifikation derselben Entwiirfe im Figiirlichen (Wurzel Jesse, Marienleben) wie im Bereich der Bildarchitektur (felderiibergreifende Baldachine) zuriickzufiihren und laiBt sich allein durch den begrenzten Blick- winkel m6glicher Hiindescheidung zwischen jenen fiinf Mei- stern der Glasmalergemeinschaft (samt einer unbestimmten

Zahl von Mitarbeitern) kaum zureichend erkliiren.

27 Vgl. Frankl (wie Anm. 7), S. 100-104, Becksmann 1986 (wie Anm. 9), S. 277, ders., 1988, S. 166, und Scholz (wie Anm. 8), S. 268 f. 28 Wien, Graphische Sammlung Albertina, Inv.Nr. 24656; Hans

Tietze/Erika Tietze-Conrat/Otto Benesch, Beschreibender Ka-

talog der Handzeichnungen in der Graphischen Sammlung Al-

bertina, Bd. 4/5. Die Zeichnungen der deutschen Schule bis zum Klassizismus, Wien 1955, Nr. 22 (auf die Zeichnung und ihre Be-

ziehung zur Stralburger Glasmalerei hat mich Dr. Michael

Roth, Ulm, zuerst aufmerksam gemacht; ihm gilt an dieser Stelle mein besonderer Dank).

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 101

Abb. 6. Wien, Graphische Sammlung Albertina, AltarriB mit musizierenden Engeln StraBburg, um 1485

denen zahlreiche Motive, Figuren oder einzelne Dra-

perien sowie ganze Kompositionen mit erhaltenen

StraBburger Farbfenstern exakt zusammenstimmen.29 Das Problem Entwurf oder Nachzeichnung liBt sich im

vorliegenden Fall eindeutig zu Lasten einer puren Nachzeichnung entscheiden, da >>plastische Bildwerke, Schnitzaltire oder Goldschmiedearbeiten aus der Zeit vor 1500 mit ungleich angelegten Schreinhailften nicht

bekannt sind<<.30 Doch als direktes Vorbild fiir die

StraBburger Fenster in Ulm und Niirnberg kommt der RiB gleichfalls nicht in Frage, da er nach den von Mi- chael Roth aufgezeigten Querverbindungen friihestens Mitte der 80er Jahre entstanden sein diirfte und sich auch in technischer Hinsicht (intensive WeiBhohung, Angabe von Schlagschatten) mit den >>spiteren<< Blit- tern der Gruppe verbindet.31 Am plausibelsten scheint

29 Vgl. grundlegend: Friedrich Winkler, Skizzenbiicher eines unbekannten rheinischen Meisters um 1500, in: Wallraf- Richartz-Jahrbuch NF 1, 1930, S. 123 ff.; Lilli Fischel, Studien in der altdeutschen Abteilung der Badischen Kunsthalle II. Die Hei- mat des >>Meisters der Coburger Rundblitter<, in: Oberrheini- sche Kunst 6, 1934, S. 27-40; Hans-Heinrich Naumann, Le pre- mier ilve de Martin Schongauer Mathis Nithart, in: Archives Alsaciennes 14, 1935, S. 1-158; Gisela Bergstrdisser, Der Meister

der Karlsruher Passion und der Meister der Gewandstudien, in:

Graphische Kiinste N.F. 7, 1942/45, S. 5-12; Fedja Anzelewsky, Peter Hemmel und der Meister der Gewandstudien, in:

ZDVfKw. 19, 1965, S. 45-55; und zuletzt umfassend Roth (wie Anm. 16). 30 Roth (wie Anm. 16), Nr. 62. 31 Ebd. S. 165.

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102 HARTMUT SCHOLZ

daher der Gedanke an ein >>Musterblatt<, das einzelne vorbildliche Motive zu einem Gesamtbild vereinigt, oh- ne gleich fiir einen konkreten Zweck bestimmt gewe- sen zu sein. Die stilistische Beurteilung des Wiener Blattes als Arbeit eines >>oberdeutschen Bildhauers<< um 1480-1490 und die ndihere Lokalisierung nach Stral3- burg iiberzeugt nicht nur aufgrund der aufgezeigten Zusammenhainge mit den StraBburger Fenstern von

1480, sondern stiitzt sich zudem auf die enge Verwandt- schaft der musizierenden Engel mit den >Molsheimer Reliefs<< und der >>Amsterdamer Geburt Christi<, die wiederholt zum Ausdruck gebracht wurde.32 Ist der Wiener RiB tatsichlich als Muster eines Bildhauers zu

werten, dann wird man mit Recht fragen diirfen, wie dieser ausgerechnet an die Baldachinformen der StraB-

burger Glasmaler gekommen ist, die ja ihrerseits wie- der von plastischen Vorbildern (in Werk und RiB) her-

geleitet werden. Wir werden am Ende auf diesen Um- stand noch zu sprechen kommen.

Was nun die Frage nach dem Urheber der spezi- fisch ulmischen Einschlaige im Werk der StraBburger Glasmalergemeinschaft betrifft, so wird man eine der

m6glichen Antworten von vornherein mit Skepsis be- trachten miissen. DaB nimlich die Zunft der Kramer bei Bestellung des Werks auf die formale Einheit der

Neuausstattung des gesamten Miinsterchors bedacht

gewesen sein und den Glasmalern entsprechende Auf-

lagen (anhand einer bereitgestellten Visierung) iiber- mittelt haben k6nnte, wiirde zwar das Ulmer Fenster

erkliren, doch schwerlich auch das friiher ausgefiihrte in Tiibingen oder das Niirnberger Volckamer-Fenster, in dem ja noch weitere Motive ulmischer Provenienz anzutreffen sind, die im Kramerfenster gar nichtbegeg- nen und folglich einer derartig begriindeten Abhtingig- keit von einmalig bereitgestellten Vorlagen nicht zuge- schrieben werden k6nnen. Im iibrigen waire dann auch zu fragen, warum von einem solchen >>isthetischen< Bestreben im nebenstehenden Ratsfenster nichts zu

spiiren ist, wo doch gerade bei diesem alle Anzeichen

auf eine inhaltliche Abstimmung mit dem vorhande- nen bzw. geplanten Gesamtprogramm der Choraus-

stattung hinweisen.33 Dagegen traf die Bildauswahl der Kramer nur das Standardprogramm der StraBbur-

ger Glasmaler, und daB zumindest bei den Szenen des Kramerfensters keine detaillierten Vorgaben notig wa-

ren, dafiir zeugen die engen Beziige zu dessen unmittel- baren Vorstufen im Tiibinger Achsenfenster und im

Salzburger Klaner-Fenster. Alle Ereignisse des Marien- lebens sind dort in enger Anlehnung an jeweils ver- schiedene Stichversionen Schongauers und des Mei- sters E. S. zusammenkomponiert und im Kramerfen- ster nurmehr um einzelne Motive bereichertworden.34

Angesichts dieses merkwiirdigen Widerspruchs wird man die zwingenden Einfliisse seitens der Ulmer Zier- architektur auf andere Weise erkliren miissen und da-

fiir eignet sich allerdings eine gleichermaBen plausible wie brisante Alternative; niimlich: die erneute Rekru-

tierung des altbekannten, seinerzeit entthronten Ul- mers >Hans Wild<<, dessen Signatur im Kramerfenster bis heute keine zufriedenstellende Erkliirung gefunden hat, und der nach Lage der Dinge noch um 1470 in Ulm, spaiter jedoch im Umkreis der StraBburger Glasmaler

gesucht werden miiBte. Ein Glasmaler dieses Namens ist auch zwischen-

zeitlich in den Ulmer Quellen nicht aufgetaucht, doch wer beweist uns, daB die Signatur unbedingt die des

ausfiihrenden Glasmalers gewesen sein muB. Verglei- che mit den ntichstliegenden signierten Farbfenstern des spaiten 15. Jh. in Niirnberg und Eichstlitt sprechen viel eher fiir eine zweite M6glichkeit: Das Kaiserfenster von 1477/78 in der Chorachse der Niirnberger St.

Lorenzkirche trigt auf dem Gewandsaum des Kaisers

Heraklius die Signatur WOLE-UT (Abb. 50). DaB

Michel Wolgemut an den Entwiirfen insbesondere des

Kaiserfensters maBgeblich beteiligt war, ist durch aus-

gedehnte Vergleiche mit den Tafelmalereien der Werk-

statt hinreichend nachgewiesen; fiir dessen eigenhain-

dige Beteiligung als Glasmaler fehlt dagegen jeder si-

32 Tietze/Tietze-Conrat/Benesch (wie Anm. 28), Nr. 22. Roth (wie Anm. 16), S. 162 f., fiigt das Fragment eines Engels in StraB- burg (Musee de l'(Euvre Notre-Dame) hinzu, das schon von Eva Zimmermann, in: Spitgotik am Oberrhein, Kat. Ausst. Karlsru- he 1970, Nr. 68, an die Amsterdamer Geburt angeschlossen wor- den war. 33 Den Szenen der O)ffentlichen Wirksamkeit Christi in der un- teren Fensterhilfte des Ratsfensters (Zeile 1-7) folgt im oberen Teil (Zeile 8-12) ganz unvermittelt die Auferstehung und Him- melfahrt (Frankl [wie Anm. 7], Abb. 130-133). Ein Passions-

zyklus ist ffir keines der verlorenen Chorfenster iiberliefert, war aber mit Sicherheit fiir die Fliigel der Werktagsseite des Hoch- altars vorgesehen. SchlieBlich bestimmte die Korrektur der Miinsterpfleger auf dem Stuttgarter AltarriB anstelle der Ma- rienkr6nung im Auszug ain crucfiir mit Maria undsto. Johannes, eine Programmainderung, die gewi3 sowenig wahllos erfolgte wie der Verzicht auf die betreffenden zentralen Szenen im Rats- fenster.

34 Besonders gut nachvollziehbar ist dieser permanente ProzeB der ,Bildfindung< im Fall der Geburt Christi: In Salzburg geht die Szene im wesentlichen auf Anregungen seitens E. S. (L. 23 und L. 27) zuriick; Ochs und Esel dagegen sind unmittelbar aus

Schongauer (L. 4) iibernommen, dem auch die Hirten im Hin-

tergrund verpflichtet sind. In Tiibingen entstammen die Ele- mente der Stallruine genau, die Hirten und Maria in freierer

Umsetzung ebenfalls dem Schongauerstich L. 4, waihrend die anbetenden Engel im linken Vordergrund wieder auf Vorbilder beim Meister E. S. (L. 21-23) zuriickgehen. In Ulm schlieBlich wurde die Tiibinger Fassung im groBen und ganzen beibehalten

(die Gruppe der knienden Gottesmutter mit dem auf dem Man-

telzipfel gebetteten Kind entspricht nun fast wortlich L. 4), Ochs und Esel jedoch aus L. 5, der Stall und die knienden Engel bei E. S. (L. 23) und die beiden Gruppen jubilierender Engel iiber dem Stall sowohl bei E. S. (L. 22), wie bei Schongauer (L. 4) ent- lehnt.

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 103

chere Anhaltspunkt.35 Dasselbe gilt nachweislich ftir Holbeins Anteil am Weltgerichtsfenster im Mortua-

rium des Eichstiitter Doms, um 1505. Obwohl hier auch der ausfiihrende Glasmaler Gumpolt Giltlinger sein Kiirzel (selbst aufkurze Distanz nahezu unsichtbar) auf der Giirtelspange der HI. Margarete hinterlassen hat, nennt der volle Namenszug HOLBAIN (groB und deutlich auf dem Giirtel der Heiligen) wieder an erster Stelle den >geistigen Urheber<< des Entwurfs.36 DaB freilich nicht nur Maler als Entwerfer von Glasgemlil- den in Betracht zu ziehen sind, beweist schlieBlich der Fall des Landshuter Werkmeisters Hans Stethaimer, der 1447 und 1453 fiir glaswerk in Reichenbach (Klo- ster) und Landshut (Dreifaltigkeitskapelle) bezahlt wird; 37 oder aber ein so vielseitiger Kiinstler wie Ulrich Griffenberg in Konstanz (1475-1497/8), der - von Hau- se aus Bildhauer - zugleich Auftrige ftir

Tafel- und Glas- malerei entgegennahm.38 Dabei ist nicht vorauszuset- zen, daB diese die Glasgemdilde in jedem Fall auch selbst ausgeflihrt haben.

Um also zur eigentlichen Frage zuriickzukommen: Einen Glasmaler Wild hat es in Ulm nicht gegeben, ob- wohl der Name dort im 15. Jh. weit verbreitet war: Be- reits 1420 erwirbt Hans Wild, den man nennt Hiibsch henslin das Ulmer Biirgerrecht; er war Zimmermann von Beruf.39 Es folgt 1421: Hans Wild, der Weber.40 Im Steuerbuch von 1427 begegnen allein sechs Trdiger des Namens: neben Hiibschhans (- Hans Wild, der Zim-

mermann) und Hans Wild, Weber, die wir schon ken-

nen, Hans Wild, Schnider, Hans Wild von Nawe, Hans Wild und Cuntz Wild.41 Ferner erwerben das Biirger- recht, 1429: Claus Wild, Zimmermann;42 1439: Hainz

Wild, bumann, mitKindPeter, derselbe der 1445 seiner- seits als Biirge fiir Ulrich Wild in Erscheinung tritt und dort >>Karrer<< genannt wird.43 Daneben verzeichnen die zuflilligen Ausziige Neubronners aus den heute ver- lorenen Steuerbiichern fiir 1441: Hans Wild; ao. 1442: Hans Wild und Claus Wild, den Zimmermann; ao.

14453 zusaitzlich Hans Wild, Schnider; ao. 1447: Hans

Wild; ao. 1449: wieder Hans und Claus Wild,44 sowie Ulrich Wild (Biirger ad tempus); ao. 1455: Hans Wild, Ulrich Wild und Jorg Wild; ao. 1460: Ludwig Wildund Hans Wild; ao. 1461: Conrat Wild und Hans Wild.45 1463 erscheint Peter Wild, Goldschmid (t) im Meister- buch der Goldschmiede, wom6glich derselbe, der be- reits 1439 als Kind des Hainz Wild in den Biirgerbii- chern Erwaihnung fand.46 Fiir die folgenden Jahre wie-

derum bei Neubronner; ao.1469: nur ein Hans Wild; ao. 1481: Clas Wild, Schriner, Cunrat Wild, Schwerdt-

feger gen.; schlieBlich ao. 1484: Linhart Wild, Mathis

Wild, Schriner, Cunrat Wild, Schwerdtfeger gen., Hans

Wild, Nadler, Jorg Wild, Marner und Clas Wild, Schri- ner.47 Im zweiten erhaltenen Steuerbuch von 1499 er- scheinen nurmehr Jorg Wild und Hans Wild, letzterer vermutlich identisch mit dem Neubiirger von 1482.48 Doch keiner der bisher Genannten niihrt den Verdacht,

irgend etwas mit der Signatur im Kramerfenster zu tun haben.

Anders im Fall des durchaus beiliiufig erwiihnten Hans Wild im Kontext der Zinsstiftung eines gewissen Hainrich Hubenschmied in das Ulmer Spital vom 22. Februar 1469: Die betreffende Quelle nennt das Haus Hubenschmieds zwuschen hannsenLidenfrofl des

glaJfers und hannsen wilden des Kamensetzers huser In

35 Vgl. besonders Ursula Frenzel, Michael Wolgemuts Titigkeit fiir die Niirnberger Glasmalerei, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 1970, S. 27-46; Die weitreichenden Uberle- gungen zu >>Wolgemut als Leiter einer Tafel- und Glasmalerei- werkstattw bei Eva Ulrich, Studien zur Niirnberger Glasmalerei des ausgehenden 15. Jahrhunderts (Erlanger Studien Bd. 23), Erlangen 1979, S. 165 ff., finden keine Stiitze in den Quellen. 36 Gottfried Frenzel, Die Farbverglasung des Mortuariums im Dom zu Eichstiitt, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmu- seums 1968, S. 7-26, besonders Anm. 10; Becksmann 1988 (wie Anm. 9), Nr. 55. Eine zweite Signatur Holbeins findet sich im Schutzmantelfenster ebd., auf dem Armelstreifen des links von Maria knienden Geistlichen: HOLBON. Zweifel an der Au- thentizitiit der Schriftziige (vgl. Christian Beutler/Gunther Thiem, Hans Holbein d. A., die spiitgotische Altar- und Glasma- lerei, Augsburg 1960, S. 183-186) sind durch Frenzels grundle- gende Untersuchung des Eichst~itter Bestandes, im Rahmen der Restaurierung 1966-1968, endgiiltig ausgeriumt worden. 37 Vgl. Volker Liedke, Neue Urkunden iiber Hans Stethaimer von Landshut, in: Ars Bavarica 1, 1973, S. 9 f. (freundliche Mittei- lung von Fritz Herz, Freiburg). 38 Vgl. Hans Rott, Beitrige zur Geschichte der oberrheinisch- schwaibischen Glasmalerei B, in: Oberrheinische Kunst 2, 1927, S. 124, und ders., Quellen und Forschungen zur siidwestdeut- schen und schweizerischen Kunstgeschichte I. Bodensee, Stutt- gart 1933, S. 67 und 69 f. 39 StA Ulm, A 3731, Biirgerbuch 1387-1427, ao. 1420: fol. 90

(584); er erscheint im erhaltenen Steuerbuch von 1427 unter dem Namen Hiibschhans (StA Ulm, A 6506/1, fol. 111). 40 StA Ulm, A 3731, ao. 1421: fol. 96 (612); biirgt selbst im Jahr 1442 (fol. 113). 41 Steuerbuch 1427 (StA Ulm, A 6506/1), fol. 96,102,111,133,138 bzw. 181 und 156. 42 StA Ulm, A 3732, Biirgerbuch 1428-1449, ao. 1429: fol. 10 (58); Biirge ist sein Bruder Hans Wild, gen. hiibsch Hans, ebenfalls Zimmermann. 43 Ebd. ao. 1439: fol. 79 (354), bzw. ao. 1445: fol. 138 (600). 44 Vermutlich Vater und Sohn, die iiber einen liingeren Zeit- raum in den Hiittenbiichern von 1448-1456 nachzuweisen sind

(StA Ulm, A 7081, zu Nov. 1453 - Jan. 1454: unter der 2. Rubrik der wochentlich entlohnten stiindigen Mitarbeiter (Zimmerleu- te, Sattler, Sailer, Wagner, Schmied und Bicker). 45 Vgl. Johann Neubronner, Ausziige aus den verlorenen Steuerbiichern 1387-1517 (StA Ulm, A 6506, fol. 20b, 21b, 22b, 25a, 27v, 27a, 29v, 30a, 32a). 46 StA Ulm, A 7766 (Ehrengedidchtnis der Samtlichen Goldt- schmiden v. ao. 1449 byi 1743); vgl. Rott 1934 (wie Anm. 4), S. 70. 47 Neubronner (wie Anm. 45), fol. 35a, 41a, 42, 43, 43a, 44, 44a, 45. Clas Wild, der Schreiner, und Hans Wild, der Nadler, hatten erst 1480 bzw. 1482 das Biirgerrecht erworben (vgl. das Biirger- buch 1474-1499, StA Ulm, A 3733, fol. 33 und 44). 48 Steuerbuch 1499 (StA Ulm, A 6506/2), fol. 41, 78; vgl. Anm. 47.

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104 HARTMUT SCHOLZ

der Judengafien das man nennet das Siej3loch; also

gleich hinter dem Miinsterchor - dem Viertel der Stadt, wo in diesen Jahren auch die meisten Glaser, Maler und Bildhauer iiberliefert sind.49 Bereits das Steuer- buch von 1427 verzeichnet einen Hans Kamensetzer wohnhaft neben Haintz Lidenfrost, und man wird kaum fehlgehen, dahinter jeweils denselben Haus-

stand, dieselben Personen bzw. Vater und Sohn zu ver- muten.50 Doch interessanter als diese anhaltende Nachbarschaft des spiteren Hans Wild Kamensetzer scheint uns die folgende nach StraBburg weisende

Quelle. Der einzige Kiinstler ndimlich, der rechtzeitig fiir unsere Belange, zu Anfang der 70er Jahre, den Weg von Ulm nach StraBburg genommen hat, ist der Bild- hauer Hans Kamensetzer; der betreffende Eintrag im

StraBburger Biirgerbuch vom 16. Dezember 1471 lautet: Item Hans Kamensetzer von Ulme, der bildeh6wer, hat das burgrecht houffi und will dienen mit den golt- smyden; ouch uffden egenanten mentag.51 Ob die ange- strebte Verbindung mit den Goldschmieden schon al- lein auf die besondere Berufung und Beflihigung des Bildhauers zum ,Reisser< schlieBen liiBt, sei vorerst da-

hingestellt; passen wiirde es nach den bisher angestell- ten Oberlegungen recht gut.

DaB der Name Kamensetzer in Ulm nicht mehr ausschlieBlich als Berufsbezeichnung verstanden wer- den darf, beweist schon das vergleichsweise haiufige Vorkommen im Steuerbuch von 1427, wo von insge- samt fiinfVertretern immerhin einer als Weber bezeugt ist.52 Uber die spiitere Existenz diverser >Kamensetzer<< in Ulm unterrichten wieder das Biirgerbuch von 1428- 1449 und die Ausziige Neubronners aus den verlorenen Steuerbiichern:53 dort erscheinen ao. 1427: PeterRyjfer

Kamosetzer und ao. 1430: Hanns Kamosetzer, Weber.54 Ao. 1440 erwirbt Hanns Kamensetzer, schnider das Biir-

gerrecht; es biirgen Hanns Kamensetzer, sin bruder so- wie ein Marner und ein Mertzler. 55Ao. 1441 steuern Pe- ter Kamensetzer, schnider (in der *Nachbarschaftf von Michel Schlaffer, Maler, und Ulrich Adam, Zimmer-

mann) und einer der verschiedenen Hanns Kamenset- zer (neben Jirg Schnitzer, Ludwig, Hans und Hainz

Syrlin, Jakob und Hans Acker); derselbe dort offenbar noch 1447; 56 ao. 1442 ein anderer Hanns Kamensetzer neben einem gewissen Lebzelter und dem Bildhauer Chunrat Gebhart.57 AuBerdem verzeichnet Neubron- ner fir 1442 und 14453 einen R(ich)hartKamensetzerun- bekannten Berufs unmittelbar neben Hainrich Huben- schmid.58 Ao. 1445 erwirbt Hanns Volk Kamensetzer das Biirgerrecht, offenbar ein naher Verwandter jenes Volk(er) Kamosetzer, der schon im Steuerbuch von 1427

genannt wird; er steuert 1447 zwischen Hans Thoman, Maler, und Heinrich Behem, Maler.59 Danach flieBen die Quellen spirlicher. Erst ao. 1460 erscheint wieder

ein Hanns Kamensetzer neben Cunrat Kamenschmid,

Ludwig und Hans Wild; ao. 1461 in voillig anderer Um-

gebung, dabei ein Jirg Hiirlin (womoglich identisch mit Hirlin Miler?).601469, in dem Jahr also, in dem die

Spitalurkunden das Haus hannsen wilden des Kamen- setzers neben Heinrich Hubenschmid und Hans Liden- froB eindeutig belegen, fehlt dieser bei Neubronner; nur ein Hans Wild erscheint dort neben einem Kamen- schmid. Ao. 1471 nennt dafiir Hanns Kamensetzer ne-

ben Kamenschmidin, unweit auch Peter Kamensetzer, und das Jahr 1476 verzeichnet letztmals Peter Kamen- setzer neben Contz Kamenschmid.61 SchlieBlich be-

gegnet um 1470 noch ein hanji kame(n)setzer in der

49 StA Ulm, Veesenmayersche Urkundensammlung, zum 22. Feb. 1469; gedruckt bei Friedrich Pressel, Nachrichten iiber das ulmische Archiv, in: Ulm und Oberschwaben N.F. 3, 1871, S. 93. 50 StA Ulm, A 6506/1, fol. 112. 51 Rott 1936 (wie Anm. 4), Quellen 1., S. 259, und Charles Witt- mer/J. Charles Meyer, Le livre de Bourgeoisie de la ville de Strasbourg 1440-1530, I, Strasbourg/Ziirich 1948, S. 281 (2556). Ein gewisser Hans Weideman aus Ulm (ungenannten Berufs, doch er dient in der Steltzenzunft der Maler, Glaser und Bild- hauer) erwirbt erst 1478 das Biirgerrecht (Wittmer/Meyer, I, S. 348, 3094), und wann der Ulmer Maler Heinrich Liitzelman nach StraBburg kam, ist villig offen. Er wird erstmals 1473 als Hausbewohner gegeniiber dem weltlichen gericht an der ober-

strafle, juxta domum dictefabrice, nuncupatam zu der Beginen (immerhin in unmittelbarer Nachbarschaft der Stralburger Glasmalergemeinschaft; vgl. Rott 1936 [wie Anm. 4], Quellen 1., S. 210). 52 StA Ulm, A 6506/1, fol. 56 bzw. 91, 87, 112, 163; zu Herkunft und Bedeutung des Namens vgl. Josef Karlmann Brechen- macher, Etymologisches Wirterbuch der deutschen Familien- namen, Bd. 2, Limburg a.d.Lahn 1960-1963, S. 6. 53 Obwohl Neubronners Auswahl zufaillig bleibt, gibt die Abfol- ge der Namen schon einen relativen Hinweis auf die Wohnver-

haltnisse der betreffenden Personen - mit anderen Worten: Wer nacheinander aufgefiihrt wurde, der muB in der Regel auch in der engeren Nachbarschaft gewohnt haben, denn die Steuerbii- cher waren nach Wohnvierteln und StraBen geordnet, und wer, wie Neubronner, daraus exzerpierte, der wird diese Folge wohl

zwangsliufig gewahrt haben. Wirklich verbindlich kann diese Oberlegung naturgemiB3 nicht sein, da wir nicht wissen, nach welchen Kriterien Neubronner seine Auwahl traf. 54 StA Ulm, A 6506, fol. 13v, 15b. 55 StA Ulm, A 3732, fol.86 (386); es ist nicht ausgeschlossen, daB beide Briider den gleichen Vornamen trugen, vielleicht handelte es sich aber doch um ein Versehen des Schreibers, denn 1441 wird auch ein Peter Kamensetzer, Schneider erwihnt. 56 StA Ulm, A 6506, fol. 19a, 20a und 25v. 57 Ebd. fol. 21; unter dem Namen Paulin Lebzelter(oder Letzel-

ter) ist zwischen 1468 und 1481 ebenfalls ein Bildhauer iiberliefert (vgl. Rott 1934 [wie Anm. 4], S. 59). 58 Ebd. fol. 22b und 24a. 59 StA Ulm, A 3732, fol. 138; Biirgen sind drei Weber. Vgl. Steuerbuch 1427 (wie Anm. 41), fol. 113, und Neubronner (wie Anm. 45), fol. 26. 60 Ebd. fol. 30a und 33. 61 Ebd. fol. 35a, 37 und 37v.

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 105

Zunftliste der Mertzler.62 Danach verschwindet der Name in den Ausziigen und auch im Steuerbuch von 1499 fehlt er ganz.

Mit Ausnahme der drei zu Anfang bezeugten We- ber und Schneider ist nicht zu entscheiden, wer von den Genannten nun tatsachlich >Kamin-Setzer< war und wer inzwischen nur so hieB. DaB aber der 1471 in StraB- burg eingebiirgerte Bildhauer einer dieser in Ulm nie- dergelassenen Sippen angeh6rte, wird niemand be- streiten wollen, wobei uns die Abkunft aus dem mit den Steinmetzen eng verwandten Berufsstand der Kamin- setzer entschieden plausibler erscheint, als die Verbin- dung mit einer Weber- oder Schneiderfamilie.63 Sollte der Betreffende aber ein Sohn des 1469 genannten Kamensetzers Hans Wild gewesen sein, dann ware es naheliegend, die formalen Einwirkungen seitens der Ulmer Zierarchitektur auf die Arbeiten der StraBbur- ger Glasmaler-Gemeinschaft an seine Person zu kniip- fen und die Signatur im Ulmer Kramerfenster - genau wie im Falle Holbeins und Wolgemuts - auf den poten- tiellen Anteil des Bildhauers an den Entwiirfen zu be- ziehen. Dieser Vorschlag steht und faillt allein schon mit der M6glichkeit, die beiden Namen mit ein und dersel- ben Person zu verbinden, doch daftir gibt es geniigend Praizedenzfaille, wie etwa die nachstehenden Beispiele in Ulm, StraBburg und N6rdlingen: Der in N6rdlingen seBhafte Peter Kamensetzer steuert iiber zwanzig Jahre (1459-1479) stets im selben Haus, aber nur einmal 1466 wird er dort - wie Hans Wild 1469 in Ulm - unter sei- nem vollem Namen Peter Kejiler gefiihrt.64 Der Maler Bartholomaus Zeitblom tragt in Ulm, wo der Gebrauch eines zweiten Zunamens keine Seltenheit war, gele- gentlich auch den Beinamen Hausner; in den N6rdlin- ger Urkunden wird er dagegen nur Bartholome Haus- ner zu Ulm genannt.65 Am verwirrendsten ist das Bei- spiel des StraBburger Werkmeisters Hans Hammer, der sich zuweilen auch Hans Meiger nennt: So er- scheint er im Biirgerbuch von 1482 als HansMeigervom

Werde, der balierer, in einem Spruchbrief desselben Jah- res erstmals mit dem Namen Hans Hamer, der balierer unser lb. Frauen miinster, und auch seine Ernennungs- urkunde von 1486 lautet auf den Namen Hans Hammer; in einem Spruchbrief des Jahres 1487 nennt er sich wie- der Meigerund sein kiirzlich wiederentdecktes Muster- buch in Wolfenbiittel triigt die Signatur von mirHamer von Werd.66

II.

Auch wenn wir zunaichst von der verlockenden Mb*g- lichkeit absehen, daB der Ulm-StraBburger Bildhauer Hans Kamensetzer mit dem 1469 in Ulm genannten Hans Wild Kamensetzer in familiirer Beziehung ge- standen haben k6nnte, erfiillt er doch entschieden alle Voraussetzungen, um fiir die oben festgestellten Nach- wirkungen der Ulmer Plastik und Zierarchitektur auf die StraBburger Glasmalerei zuallererst in Betracht ge- zogen zu werden. Dieser Hans Kamensetzer ist ja kei- neswegs ein Unbekannter. Zwar konnte ihm bis heute kein einziges Werk mit Sicherheit zugeschrieben wer- den, doch allein schon die wenigen iiberlieferten Nach- richten, die wir iiber ihn besitzen, unterstreichen sei- nen auBergew6hnlichen Ruhm. Der kaiserliche Ruf nach Wien, dem er kurz vor seinem Tod 1487 von StraB- burg aus gefolgt war und von dem wir im Zusammen- hang der NachlaBregelung in den Ulmer Urkunden er- fahren, erinnert an die Berufung Nicolaus Gerhaerts zwei Jahrzehnte zuvor und bestiitigt zum ersten Mal die hohe Wertschaitzun , die dem Meister schon zu Lebzei- ten gezollt wurde. Ein zweites Mal begegnet sein Na- me bereits geraume Zeit nach seinem Tod - im Streit der StraBburger Bildhauer und Maler um eine strenge- re Beachtung der jeweiligen Zustiindigkeitsbereiche - als Kronzeuge althergebrachter und bewaihrter Ge- wohnheiten unter den werckleuten der freien kiinst des

62 Ulm, StA, U 5099, fol. 12. Die Zunftlisten tragen - von spiite- rer Hand - das Datum 1470; die Bliitter 11 und 13 sind im beigeleg- ten Ms. Picards anhand der Wasserzeichen in die Jahre (1497- 99) bzw. (1461-64) datiert worden. 63 Hier deckt sich unsere Vorstellung zumindest sinngemaiB mit der wiederholt vorgeschlagenen Herleitung des Namens aus dem Slawischen kamjen= Stein (vgl. Max Gottschald, Deutsche Namenkunde, Berlin/New York 51982, S. 279). Ein Kaminsetzer war freilich alles andere als ein simpler Ofen- setzer. Der umbaute, mit Rauchabzug versehene Kamin blieb in Deutschland noch bis ins 14.Jh. ein Vorrecht des Adels und der hohen Geistlichkeit, beschrainkt auf Burgen, Pfalzen, Herrensit- ze, Klister und Abteien (Alfred Faber, Entwicklungsstufen der haiuslichen Heizung, Miinchen 1957, besonders S. 43 ff., Abb. 22; vgl. Giinther Binding, in: Lexikon des Mittelalters V, Miinchen/ Ziirich 1990, Sp. 883 f.). Im Laufe des 15. Jh. erreichte er zuneh- mend auch die biirgerliche Wohnkultur; vgl. insbesondere die zeitgenossischen Darstellungen in der niederlindischen Tafel- malerei, beim Meister von Fl6malle (Merode-Altar, New York; Verkiindigung, Briissel; Werl-Altar, Madrid; Madonna am Ka-

min, Leningrad; Salting-Madonna, London), Rogier van der Weyden (Verkiindigung, Turin; Johannes-Altar, Berlin), Dieric Bouts (Abendmahl in St. Peter in L6wen) oder im siiddeutschen Raum bei Friedrich Herlin (Rothenburger Hochaltar, Oberfiih- rung des betriigerischen Wirts). 64 Niheres dazu in Anm. 69. 65 Vgl. Rott 1934 (wie Anm. 4), S. 20 f. Ahnliches gilt fiir den Ul- mer Maler Jos Mathis gen. Sturmeister (1431-1473), der in Ulm fast ausschlieBlich Jos Mathis, in Basel dagegen bevorzugt Jos Sturmeister genannt wird (Rott, 1934, S. 10, bzw. ders., 1936, Quellen 2., S. 41). 66 Vgl. Schock-Werner (wie Anm. 16), S. 171 f., und Franqois Joseph Fuchs, Introduction au >Musterbuch de Hans Hammer, in: Bulletin de la Cath6drale de Strasbourg 20,1992, S. 13, 28. Das jeweils beigegebene Meisterzeichen 11iit keinen Zweifel an der Identitfit der Person. 67 Rott 1936 (wie Anm. 4), Quellen 1., S. 260. Es wire nicht ab- wegig, wenn der Meister dazu berufen worden war, die unvol- lendete Arbeit Nicolaus Gerhaerts am Kaisergrab fortzufiihren.

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106 HARTMUT SCHOLZ

bildhowens nemlich bey menschen gedechtnis, besunder meisterNiclaus von Leyen, meisterHans Geuch, meister HansKamensetzer, meisterLux Kotter, Veit Wagener, die do alle beriimpt sin gewesen gegen konigen und keiseren und gegen fursten und heren, des ein loblich stat StroJf- burg lob und rum hat gehabt...68 Insbesondere diese herausragende Nennung im Kreise der grB3ten Mei- ster des Fachs hat die Forschung aufgeriittelt und Zu-

schreibungen nach sich gezogen: Bereits Hans Rott hat- te einen Namensvetter des Ulm-StraBburger Bild- hauers in Ndrdlingen ausgemacht und diesen - vorbe- haltlich der nach wie vor ungekliirten Identitiit - mit den Schreinskulpturen des fiir Friedrich Herlin, Maler von Rothenburg, gesicherten Hochaltars der Nbrdlin-

ger St.Georgskirche in Verbindung gebracht.69 Lilli Fischel hat diesen Ansatz aufgegriffen und weitere Werke an den iiberlieferten Wirkungsstiitten des Bild- hauers in StraBburg (Statuetten an der Miinsterkanzel Hans Hammers, 1485) und Wiener Neustadt (Apostel und Verkiindigungsgruppe an den Langhauspfeilern des Doms) angeschlossen.70 Letztere wurden von Karl

Oettinger allerdings umgehend wieder aus dem poten- tiellen CEuvre gestrichen, mit der Begriindung, daB Wien und Wiener Neustadt von 1485-90 durch die Un-

garn besetzt, der Kaiser vertrieben war, und Kamenset- zer folglich nur vor 1485 nach Wien gezogen sein kSn- ne, womit zugleich seine Beteiligung an der StraBbur-

ger Kanzel (1484/ 85) in Frage gestellt sei.71 Tatsichlich wurde Wiener Neustadt (in der 2. Hilfte des 15. Jh. der

bevorzugte Aufenthalt der kaiserlichen Familie) erst am 17. August1487 von den Ungarn eingenommen, und es ware nicht weiter verwunderlich, wenn der Tod

Kamensetzers im selben Jahr auch ursichlich mit den Wirren der Besetzung zusammenhinge.

Fiir Ndrdlingen blieb Hans Kamensetzer aller-

dings weiter im Gespraich: zunaichst bei Walter Paatz, der hierbei erstmals auch das zweite groBe Retabel Her- lins in Rothenburg und dessen eindeutig ulmische Vor-

aussetzungen einbezogen hat. 72Die engen Zusammen-

hiinge der Altiire in N*rdlingen und Rothenburg im

ganzen waren liingstens bekannt und nicht ohne Grund auf den Anteil Herlins an der jeweiligen Gesamtkon-

zeption zuriickgefiihrt worden.73 Einstimmig akzep- tiert sind die Beziige nach Ulm fiir sechs Standfiguren unter dem Kreuz und den Schmerzensmann im Auszug des Rothenburger Schreins. 74 Das scheinbar unvermit- telte und raistelhafte Nebeneinander dieser ailteren, an Multscher geschulten Standfiguren und der bereits dem Vorbild Gerhaerts verpflichteten Schreinmitte - dem Kruzifix mit vier schwebenden Engeln (Abb.7) - lieB den Gedanken an Kamensetzer als Schnitzer der

>jiingeren<< Rothenburger Figuren plausibel erschei-

nen, doch obwohl Paatz auch in Nordlingen einen ul- mischen Einschlag wahrzunehmen glaubte, hat er sich dort nicht auf denselben Meister festlegen wollen.75 Diesen letzten Schritt hat erst Hans K. Ramisch vollzo-

gen, der nun, im Gegensatz zur gesamten bisherigen Forschung, ftir ganz Rothenburg und Nardlingen den- selben Bildhauer - Hans Kamensetzer - in Anspruch nahm, wobei der qualitative stilistische Sprung inner- halb der Bildwerke durch den iiberlieferten Wechsel des Meisters von Ulm nach StraBburg und die platzli- che Begegnung mit den Werken Nicolaus Gerhaerts hinreichend erklirt wiirde.76 Auf der Basis eingehen-

68 Rott 1936 (wie Anm. 4), Quellen 1., S. 269, datiert die Quelle um 1520. Vgl. dagegen neuerdings Victor Beyer, in: Encyclop6- die de L'Alsace, VII, 1984, S. 4407 (Kamensetzer), mit Datierung Mitte des 16. Jh. 69 Hans Rott, Oberrheinische Meister des 15./16. Jahrhunderts, Namen und Werke, in: Oberrheinische Kunst 53, 1928, S. 66 f. und S. 78, bzw. ders. 1934 (wie Anm. 4), S. XLV und S. 186. Dem von Rott in Nordlingen entdeckten Hans Kamensetzer war die Stadt im Jahr 1476 aus unbekannten Griinden versagt und ain zeit ver- boten gewesen, doch auf Fiirsprache des Grafen Wolfgang von Ottingen scheint man bald auf den Vollzug der Strafe verzichtet zu haben (StA N6rdlingen, Missive Graf Wolfgang von Ottingen an die Stadt Nordlingen vom 16. X. 1476, fol. 168). Der Genannte war allerdings kaum Nordlinger Biirger, denn der einzige in den Biirger- und Steuerbiichern iiberlieferte Triger des Namens - der auch von Rott (S. 186) bemiihte Kamensetzer, der im Jahre 1479 als Schwiegervater eines gewissen Michel Werlin genannt wird - hieB tatsaichlich Peter und liiBt sich iiber mehr als zwei Jahrzehnte - 1466 sogar mit vollem Familiennamen PeterKefjler der Kamensetzer (fol. 44) - nachweisen (1477 auch mit seiner Tochter), stets in derselben Gassen gein Unsern Hergott by dem Vachturm hinuff(StA Nordlingen, vgl. die Steuerbiicher 1459 ff.). 70 Lilli Fischel, Nicolaus Gerhaert und die Bildhauer der deut- schen Spitgotik, Miinchen 1944, S. 72-97. Dieselbe Beziehung Ndrdlingen - Wiener Neustadt hatte zuvor schon Heinz Stafski, Der Meister der Wiener Neustlidter Apostel vom Oberrhein?, in: ZDVfKw 5, 1938, S. 62-76, bemerkt.

71 Karl Oettinger, Anton Pilgram und die Bildhauer von St. Ste-

phan, Wien 1951, S. 91 (Anm. 72). Allenfalls als Nachfolger Nicolaus Gerhaerts am Grabmal Fried- richs III. lieB Oettinger den )Schwaben< zu - >etwa als Meister der Tumbenpfeiler<<; im iibrigen seien die Wiener NeustAdter

Apostel friihestens in die 90er Jahre zu datieren und zu diesem

Zeitpunkt war Kamensetzer bereits verstorben. 72 Walter Paatz, Siiddeutsche Schnitzaltiire der Spitgotik (Hei- delberger Kunstgeschichtliche Abhandlungen N.F. Bd. 8), Hei-

delberg 1963, S. 22-29. 73 Dagegen hat Elmar Dionys Schmid, Zum Thema Nordlinger Hochaltar, in: Maltechnik Restauro, 1972, S. 181 f., auf der Basis archivalischer Nachrichten die Vermutung geliuBert, die Visie-

rung zum Nordlinger Hochaltar sei vom obersten Werkmeister der Georgskirche, Nicolaus Eseler d. A., gerissen worden. 74 Vgl. zusammenfassend Anton Ress, Die Kunstdenkmiler von Mittelfranken VIII. Stadt Rothenburg o.d.T., Miinchen 1959, S. 166-170. 75 Paatz (wie Anm. 72), S. 26. 76 Hans K. Ramisch, Zum Meister des N6rdlinger Hochaltars, in: Jb. d. Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-Wiirttemberg 8, 1971, S. 19-34. Gerhaert selbst hatte StraBburg bereits 1467 in

Richtung Wien verlassen; es liegt freilich nahe, daB ihn sein Weg dabei auch durch die Donaustadt Ulm fiihrte.

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Page 16: Hans Wild und Hans Kamensetzer. Hypotheken der Ulmer und Strassburger Kunstgeschichte des Spätmittelalters

ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 107

der technologischer Untersuchungen des Rothenbur-

ger Retabels im Rahmen der Konservierung durch das

Bayerische Landesamt fiir Denkmalpflege (1969) sowie bis dato nicht ausgewerteter Archivalien erschlo3 Ra- misch eine Unterbrechung der bildnerischen Ausstat-

tung am Rothenburger Altar und die spitere (durch Rechnungen bis 1475 belegte) Nachlieferung an Bilden von... Stratzburg. Fiir deren Anbringung muBte die

iiberhoihte Schreinmitte nachtrdiglich beschnitten und der Kreuzbalken selbst an drei Seiten verkiirzt werden, wofiir sich ebenfalls Zahlungsbelege fiir den Schreiner vom Jahr 1471 erhalten haben. Unterstiitzt wird Ra- mischs Interpretation durch den Umstand, daB die far-

bige Fassung der >straBburgischen<< Bildwerke nicht mit den iibrigen von Herlin gefaBten Figuren in Ro-

thenburg zusammenstimmt und daB der ersetzte Kopf des Jakobus gleichfalls dieser jiingeren Gruppe zuge- hirt. 77Allein die Tatsache, daB einer fertig gefaBten Fi-

gur wenig sphiter der Kopf ausgewechselt wurde, setzt schon zweifelsfrei einen ungewollten Zwischenfall (Be- schtidigung beim Transport oder ihnliches) voraus, aus dem sich auch die weitere Verzigerung erkliiren lieBe.

Wenig hilfreich und diesem konkreten Fall nicht ange- messen ist daher auch der Einwand von Johannes Tau-

bert, man k6nne >sich kaum vorstellen, daB der Platz

fiir den Kruzifixus, die zentrale Figur des Altars, von 1466 bis 1471 vakant gewesen sein soll<<.78

Nachdem aber zwischenzeitlich auch der originale Nirdlinger Schrein aus seiner barocken Ummantelung befreit und das iiberlieferte Stiftungsdatum 1462 durch die Wiederentdeckung der zweimaligen Inschrift Her- lins bestiitigt worden war, war auch die zentrale These von Ramisch hinfdillig geworden und die Bewertung der Nirdlinger Figuren auf einen villig neuen Grund

gestellt. 79Diese Wendung, die schon durch die Friihda-

tierung von Eva Zimmermann (bald nach 1462) und die beinahe zwangsliufige Zuschreibung an Nicolaus Ger- haert durch Elmar Dionys Schmid fast zeitgleich vorbe- reitet wurde, hat daraufhin gewichtige Fiirsprecher ge- funden, ist aber dennoch nicht unumstritten.80 Es scheint mehr denn je iiblich geworden, die gesamte Entwicklung der siiddeutschen Plastik nach Mitte des

Jahrhunderts nahezu uneingeschrlinkt an die Person Nicolaus Gerhaerts zu kniipfen und, ohne den gewiB

iiberwiltigehden EinfluB dieses herausragensten Bild- hauers der Spiitgotik in Abrede zu stellen, die Inan-

spruchnahme so eigenwilliger Werke wie der Nbirdlin- ger Schreinfiguren oder der Dangolsheimer Mutter-

gottes fiir Gerhaert selbst tli3t doch gewisse Zweifel zu.

Trotzdem, und darum geht es hier, verschwand der Na- me Kamensetzer wieder von der Bildfliiche, da er erst im Jahr 1471 das StraBburger Biirgerrecht erworben hatte und - wenn vielleicht auch ein, zwei Jahre zuvor -

nicht schon 1462 in StraBburg tlitig gewesen sein konn- te.81

Lassen wir also Ndrdlingen beiseite, dann bleibt doch Rothenburg, und einige Zusammenhtinge der be-

treffenden Bildwerke mit der hier eigentlich in Frage stehenden Vermittlung von Vorlagen an die Werkstatt-

gemeinschaft der StraBburger Glasmaler sind bemer- kenswert genug, um mitgeteilt zu werden. Gehen wir

also aus vom letzten ernstzunehmenden Versuch, das

am Werk vorgefundene besondere Zusammentreffen verschiedener stilistischer Merkmale mit dem Namen

Hans Kamensetzer zu verkniipfen, so bleibt dies - un-

geachtet der inzwischen anderweitig vergebenen Nbrdlinger Figuren - der Beitrag von Ramisch. Mit den

ailteren blockhaft voluminasen Standfiguren und deren

Riickbeziehung auf den Umkreis Multschers wird man

keine ernsten Probleme haben.82Absolut zutreffend ist

77 Vgl. K. W. Bachmann/Eike Oellermann/Johannes Taubert, The Conservation and Technique of the Herlin Altarpiece (1466), bzw. M. Broekman-Bokstijn/J.R.J. van Asperen de Boer/E.H. van Thul-Ehrenreich/C.M. Verduyn-Groen, The scientific exa- mination of the polychromed sculpture in the Herlin Altarpiece, in: Studies in Conservation 15, 1970, S. 327-400, hier Fig. 13. 78 Johannes Taubert, Friedrich Herlins N6rdlinger Hochaltar von 1462. Fundbericht, in: Kunstchronik 25, 1972, S. 61. 79 Vgl. Taubert (wie Anm. 78). Die Inschrift lautet: Dis werck hat gemacht fridrich herlein von rotenburck 1462. 80 Eva Zimmermann (wie Anm. 32), Nr. 42, 43; Elmar Dionys Schmid, Der Nirdlinger Hochaltar und sein Bildhauerwerk, Phil. Diss. Miinchen 1971 (erstmals mit der Zuschreibung an Nicolaus Gerhaert). Vgl. stellvertretend fiir viele Reaktionen: Hans-Peter Hilger, Der Hochaltar von St. Georg in N6rdlingen, Bericht iiber das Collo-

quium vom 24.-26. Oktober 1972 in St. Georg in N6rdlingen, in: Kunstchronik 26,19735, S. 198-215, sowie die umfassenderen Bei-

trige zum Thema bei Alfred Schidler, Studien zu Nicolaus Ger- haert von Leiden - Die Nordlinger Hochaltarfiguren und die

Dangolsheimer Muttergottes in Berlin, in: Jb. der Berliner Mu- seen 16,1974, S. 46-82 (uneingeschrainkte Zuschreibung an Nico- laus Gerhaert), und zuletzt Roland Recht, Nicolas de Leyde et la

Sculpture h Strasbourg - 1460-1525, Strasbourg 1987, hier beson- ders S. 125-128 bzw. 152-185 (gibt die Standfiguren aus stilisti- schen wie historischen Erwigungen dem von 1427-1465/66 in

StraBburg titigen Hans Jiuch; nur der Kruzifix sei von Gerhaert, der den Auftrag anstelle des vorzeitig verstorbenen Kollegen zu Ende gefiihrt haben soill). 81 Soweit ich sehe, hat nur Herbert Schindler, Der Schnitzaltar,

Regensburg, 1978, S. 107 f., an Hans Kamensetzer als dem >>Mei- ster der Noirdlinger Hochaltarfigurenw festgehalten und diesem seinerseits die eng verwandte Dangolsheimer Muttergottes in

Berlin, die gleichfalls fiir den Gerhaert-Kreis reklamierten Wei-

Benburger Biisten, die Figuren in Herlins drittem Schrein in

Bopfingen (1472) und schlieBlich sogar Modell und Ausarbei-

tung des Bronzegrabs fiir Truchsess Georg I. von Waldburg (t 1467, ausgefiihrt wohl in den 80er Jahren) im Augustiner- Chorherrenstift Waldsee (Krs. Ravensburg) zugeschrieben. 82 In letzter Zeit hat Heinz Stafski, Der Niirnberger Bildhauer Simon Lainberger als Mitarbeiter der Maler Friedrich Herlin und Hans Pleydenwurff, in: Anzeiger des Germanischen Natio- nalmuseums Niirnberg 1982, S. 23-30, und ders., Zur Auffin-

dung der Statue des HI. Michael aus dem *Hofer Altar<<, in: An-

zeiger 1988, S. 117-125, die Reste der plastischen Ausstattung des

ehem. Hofer Altars von 1465 (Niirnberg, GNM und St. Jakob)

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108 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 7. Rothenburg o. d. T., St. Jakob, Jiingere Kreuzgruppe im Schrein des Hochaltars von 1466. StraBburg, um 1471

aber auch der bis dahin nicht gesehene Zusammen-

hang der >>jiingeren<< Rothenburger Schreinplastik mit ulmischen Vorbildern aus der unmittelbaren Nachfolge Multschers. Naher noch als der Vergleich des Gekreu-

zigten mit Multschers Georg im Sterzinger Altar scheint hier die Verwandtschaft mit den minnlichen Figuren der Kreuzabnahme in Schiichlins 1469 voll- endetem Tiefenbronner Hochaltar oder einzelnen Pro-

pheten des Ulmer Sakramentshauses (Melchisedek, Abb. 44). Der strenge eingefallene Gesichtstypus, die

schmalen, beinahe geprel3ten, seitlich stets leicht nach unten gebogenen Lippen und der schrige Augenschnitt dieser offenkundig in hohem MaBe von Rogier van der

Weyden beeinfluBten Arbeiten stehen auch zeitlich ni- her an Rothenburg als der Sterzinger Altar (Abb. 8, 9). Fiir den Typus des zur Seite hin ausgerichteten Kruzifi- xus mit dem auf die Brust gesunkenen Haupt, den

asymmetrisch gestrafften Armen und angezogenen Knien hat Alfred Schdidler zutreffend auf Multschers Grabsteinmodell fiir Ludwig den Gebarteten hinge-

mit der Werkstatt der ilteren Rothenburger Skulpturen verbun-

den, doch obwohl die Ahnlichkeiten in Gewdindern und Typen besonders der Hll. Michael und Nikolaus nicht zu leugnen sind,

tut man sich schwer, den betrachtlichen qualitativen Abstand zu

Rothenburg im Rahmen derselben Werkstatt anzusiedeln; im

iibrigen betont auch Stafski das Vorbild Multschers.

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 109

Abb. 8. Christus am Kreuz (Ausschnitt aus Abb. 7)

wiesen, und Hartmut Krohm hat dem die beiden Ge-

kreuzigten in Scharenstetten und Wiblingen hinzuge- fiigt.83

Was nun die vorherrschende oberrheinische Kom-

ponente der >jiingeren< Rothenburger Skulpturen be- trifft, so ist iiber den angefiihrten westlichen Stilquellen bei Rogier, Nicolaus Gerhaert, E.S. und dem rekla- mierten Vorbild der N6rdlinger Kreuzgruppe eines der nachstverwandten Werke am Oberrhein nur zigernd in die Betrachtung einbezogen worden. Die unmittel- barsten Parallelen zu den schwebenden Engelsfiguren der Rothenburger Schreinmitte finden sich ndimlich ausnahmslos in dem kleinformatigen Geburtsreliefdes Amsterdamer Rijksmuseums (um 1470/80); demsel- ben, das - der Engel wegen - bereits zum Wiener Altar- riB aus dem Konvolut des >>Gewandstudienmeisters<< in

Beziehung gesetzt worden ist (Abb.10). Schon Schmid

Abb. 9. Tiefenbronn, Pfarrkirche, Christus bei der Kreuz- abnahme im Hochaltar. Ulm 1469

hat als weitere Stilquelle des >>jiingeren<< Rothenburger Meisters in StraBburg auf das nicht gerhaertsche Vor- bild der sogenannten >>Molsheimer Reliefs<< (Teile des

ehemaligen Hochaltars der StraBburger Kartause im Musee de l'CEuvre Notre-Dame) 84 aufmerksam ge- macht; fiir die >Verriumlichung< und die >wechselsei-

tige Verspannung von negativer und positiver Plastizi-

tait< der Figuren verweist er zudem gerade auf die Stil- stufe der Amsterdamer Geburt, die ihrerseits dieselbe

Abhangigkeit verrat.85 Die direkte Verkniipfung der kleinen, doch vortrefflichen Amsterdamer Skulpturen- gruppe mit dem Werk des Rothenburger Schnitzers ist aber erst bei Krohm, am Rande der jiingsten >Bemer-

kungen zur kunstgeschichtlichen Problematik des Her- lin-Retabels<< zu finden.86

Tatsaichlich begegnen hier wie dort dieselben En-

gelskipfe mit den anmutig rundlichen Ziigen und dem

spitzen kleinen Mund, desgleichen der weibliche Ty- pus mit dem ovalen glattgespannten und vornehm in sich gekehrten Gesicht der knienden Maria in Amster- dam beim rechten unteren Engel in Rothenburg. Die noch im Knien ungebremste Bewegung des rechten

Engels der Amsterdamer Geburt kann der schweben- den Haltung in Rothenburg unmittelbar an die Seite ge-

85 Alfred Schadler, Stetigkeit und Wandel im Werk des Veit

StoB, in: Kat. Ausst. Veit StoB in Niirnberg, Miinchen 1985, S. 40, und Hartmut Krohm, Bemerkungen zur kunstgeschichtlichen Problematik des Herlin-Retabels in Rothenburg o.T., in: Jb. der Berliner Museen N.F. 33, 1991, S. 199. Gegen Schadlers Versuch einer Zuschreibung der Rothenburger Kreuzgruppe an den jun- gen Veit StoB hat Krohm bereits berechtigte Zweifel angemeldet. 84 Vgl. Zimmermann (wie Anm. 32), Nr. 6-7, die m.E. etwas zu friih >>um 1450-60< datiert.

85 Schmid (wie Anm. 80), S. 172; vgl. auch Zimmermann, in:

Spatgotik am Oberrhein (wie Anm. 52), Nr. 67, Farbtaf. II, >um

1470-80<<, und Kat. Amsterdam 1975, S. 450-452 (Inv.Nr. R.B.K.

16985), mit Spatdatierung >>ca. 1485<<. 86 Krohm (wie Anm. 83), S. 205-208. Obwohl hier die nachste- henden Beobachtungen zum engeren Werkkreis des fraglichen Bildhauers eine ebenso unerwartete wie weitgehende Bestliti-

gung fanden, kann ich den friihen Datierungsvorschliigen Krohms nicht folgen.

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110 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 10. Amsterdam, Rijksmuseum, Geburt Christi. StraBburg, um 1470/80

stellt werden, und auch die Faltengebung zeigt in bei- den Fillen denselben Kontrast von langgezogenen, ho- hen Stegen, die mit wechselnder Spannung und haiufig nahezu parallel gefiihrt werden, einfachen stumpfen Zickzackformen an den Armeln und rund geblihten, sehr weich ausschwingenden Saumkanten (Abb.10, 11-14). Alles in allem sind die Ubereinstimmungen der thematisch eigentlich nur schwer vergleichbaren Wer- ke in Amsterdam und Rothenburg derart eng, daB an der Annahme ein und desselben Ateliers kaum ein Weg vorbeifiihrt. Wer daffir nach Lage der Dinge in Frage

kommt, dariiber gibt vielleicht das Amsterdamer Relief selbst die iiberzeugendste Auskunft: Ein besonders reizvolles und zudem innerhalb der Geburts-Ikonogra- phie h6chst aulergew6hnliches Detail nimlich ist der alles iiberragende, kunstvoll gebildete Kamin mit vor-

kragendem zinnenbewehrten Gesims und hoch aufge- mauertem Schlot am rechten Rand der Szene. Mir ist zuvor kein zweites Beispiel bekannt, wo statt der offe- nen Feuerstelle der Stallruine und noch dazu derart be- herrschend ein Kamin erscheint und es wire jedenfalls ein sehr ansprechender Gedanke, hinter diesem Zei-

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 111

Abb. 11. Wien, Hofburgkapelle, Engel der

Verkiindigung. Um 1485 Abb. 12. Rothenburg o. d. T., St. Jakob, Engel der Kreuzigung

aus dem Hochaltar

Abb. 13. Amsterdam, Rijksmuseum, Engel der Geburt Christi

Abb. 14. Rothenburg o. d. T., St. Jakob, Engel der Kreuzigung aus dem Hochaltar

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112 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 15. Wien, Hofburgkapelle, HI. Laurentius. Um 1485

chen anspruchsvoller biirgerlicher Wohnkultur die kaum versteckte >Signatur< des Meisters Hans Kamen- setzer zu vermuten.7

In jiingster Zeit hat Roland Recht den von ihm so bezeichneten >>Maitre A< der StraBburger Kanzelsta- tuetten mit dem >>Meister der Amsterdamer Geburt<<

gleichgesetzt und letzteren versuchsweise mit Nicolaus Hagenauer identifiziert.88 Was Hagenauer betrifft, so hatte dieser freilich erst 1493 das StraBburger Biirger- recht erworben und ist zuvor iiberhaupt nicht nachzu- weisen. DaB der 1472 in Hagenau mit einem Kalvarien-

berg fir den Georgsfriedhof beauftragte meister Niclaus von Straf3burg, der steinmetze mit Hagnauer identisch gewesen sein sollte, was Rott vermutet hat und seither als Faktum zu gelten scheint, muB ganz ent- schieden zuriickgewiesen werden: Hinter dem Ge- nannten diirfte sich vielmehr kein anderer als Nikolaus

Dotzinger, der Sohn des StraBburger Werkmeisters Jodok Dotzinger verbergen, der bereits 1459 auf dem

Regensburger Hiittentag als Steinmetzgeselle seines Vaters begegnet und nicht lange nach dessen Tod 1472

Abb. 16. Wien, Hofburgkapelle, Maria der Verkiindigung. Um 1485

die Stadt endgiiltig verlassen hat. 89 Beinahe unwillkiir- lich fiihlt man sich an zwei Vorginge in der dilteren For-

schung erinnert: V6ges sogenannten >Siindenfall<<, die

Vereinnahmung des Ulmer Sakramentshauses ins ver- meintliche >schwibische Friihwerk<< Nicolaus Hage- nauers,90 und Fischels Zuschreibung der StraBburger Kanzel-Statuetten an den Meister der Nordlinger Hochaltarfiguren und der Wiener Neustidter Apostel; ihrem Verstindnis nach kein anderer als der Ulm-.

87 Entsprechende - mehr oder weniger verborgene oder ver-

schliisselte - Hinweise finden sich gar nicht so selten. Um nur ein Beispiel aus der ndiheren Umgebung unseres Meisters zu nen- nen: Bartholomdius Zeitblom hat seine Autorschaft am Blaubeu- rer Hochaltar wohl folgendermaBen dokumentiert. Auf dem Saum der Halsborte des Johannes in der Kreuztragung stehen die Worte: IH MAKT DEK ZIT (es folgt eine Blume); und am ,Armel steht: ICH MOLT (vgl. Michael Roth/Hans Westhoff,

Beobachtungen zu Malerei und Fassung des Blaubeurer Hochal-

tars, in: Fliigelaltare des spiten Mittelalters, hrsg. v. Hartmut Krohm und Eike Oellermann, Berlin 1992, S. 178, Abb. 12). 88 Recht (wie Anm. 80), S. 232 f. und 276 f. 89 Rott 1936 (wie Anm. 4), S. 261; zu Dotzinger vgl. Schock- Werner (wie Anm. 16), S. 171. 90 Wilhelm V6ge, Niclas Hagnower - Der Meister des Isenhei- mer Hochaltars und seine Friihwerke, Freiburg 1951.

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 115

Abb. 17. Darmstadt, Hessisches Landesmuseum, HI. Katharina aus Stift

Nonnberg bei Salzburg. Werkstattgemeinschaft, um 1480

StraBburger Bildhauer Hans Kamensetzer (s.o.). Mit

Nirdlingen vergleicht auch Recht die Dynamik der ein- zelnen Figuren, die Draperien und die eng verwandten

Kopftypen der Amsterdamer Geburt, und obwohl Fischel bei ihrer Zuschreibung gerade nicht den Mei- ster der (insgesamt sechs) Alabasterfigiirchen am

Strafburger Kanzelkorb91 - mit anderen Worten Rechts >>Maitre A< - im Auge hatte, weist dessen offen- sichtliche Nachfolge in der Wiener Hofburgkapelle in eben dieselbe Richtung, die Fischel zufolge auch der zweite Bildhauer der Kanzel eingeschlagen haben

muB, namlich nach Wien:92 Fiir den reklamierten Zu-

91 Deren urspriingliche Bestimmung fiir die Kanzel und mithin

auch das Datum 1485 sind allerdings nicht gesichert; eine Her- kunft etwa vom abgebrochenen Stral3burger Sakramentshaus

(1485) wire ebenfalls miglich (vgl. zuletzt in: Sculptures alle- mandes de la fin du Moyen Age, Ausst. Kat. Paris, 1991, S. 85-87). 92 Fischel (wie Anm. 70), S. 74 ff., Abb. 69 f. Vgl. Theodor

Demmler, Beitrige zur Kenntnis des Bildhauers Nicolaus Ger- haert von Leiden, in: Jb. der PreuBischen Kunstsammlungen 42, 1921, S. 20-55, der besagten Zyklus in der Wiener Hofburgkapel- le (vorbehaltlich ihres hohen Aufstellungsortes und der >>dicken Tiinche des XIX. Jahrhunderts<<) sogar fiir m6gliche Spditwerke

Gerhaerts halten wollte; mindestens aber flir die eines Schiilers, >>der ihm an Gestaltungskraft nicht nachstand< (alte Abb. bei Moritz Dreger, Osterreichische Kunsttopographie Bd. 14, Wien

1914, S. 22 ff., Abb. 15-24; vgl. neuerdings die Beitrage von Elisa- beth Fichtenau bzw. Manfred Koller/Maria Ranacher, in Oster-

reichische Zs. fiir Kunst und Denkmalpflege 52, 1978, S. 21-50. Uber hervorragende Aufnahmen der 1978 iiberwiegend aufihre

originale Fassung freigelegten Figuren verfiigt das Bundesdenk-

malamt Wien; fiir die groBziigige Uberlassung der Fotos habe ich Generalkonservator Dr. Ernst Bacher in Wien herzlich zu dan-

ken).

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114 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 18. StraBburg, Miinsterkanzel, Alabasterstatuette der HI. Katharina.

StraBburg, um 1485/85

Abb. 19. StraBburg, Miinsterkanzel, Alabasterstatuette eines HI. Bischofs.

Stral3burg, um 1485/85

Abb. 20. Wien, Hofburgkapelle, HI. Bischof. Um 1485

sammenhang mit den StraBburger Kanzelstatuetten steht insbesondere der hl. Bischof, dessen Gewandbe-

handlung in nahezu allen Details dem Alabastervorbild in Straflburg verpflichtet ist (Abb. 19, 20). Den unmittel- baren Werkstattzusammenhang der Amsterdamer Ge- burt mit dem Figurenzyklus der Wiener Hofburgkapel- le vertreten indessen noch schlagender die anmutige Mariengestalt der Verkiindigung oder der Kopf des H1. Laurentius ebendort (Abb. 10, 15, 16).95

Auch die wiederholt in diesem Kontext genannten groBen Schreinfiguren im Hochaltar der Kaschauer Eli- sabethkirche (Ko'ice in der Slowakei) und das friihzei-

tig daran angeschlossene Geburtsrelief aus der Burgka- pelle Hlohovec-Galg6c in der Slowakischen National-

galerie in Bratislava miissen, trotz ihrer ungeklirten Chronologie, in ein niheres Verhdiltnis zum >Meister

der Amsterdamer Geburt und der Rothenburger Kreuzgruppe< gestellt werden: Die Kaschauer Mutter-

gottes ist der Amsterdamer noch enger verwandt als den Hofburgskulpturen, und die Ziige der HI. Elisabeth in Kaschau weisen wiederum zuriick auf den locken-

k6pfigen Engel der Kreuzigung in Rothenburg. Die frii- her vehement vertretenen Beziehungen des Kaschauer Altars zur Ulmer Plastik, insbesondere Gregor Erharts, aber auch zur Heggbacher Madonna (letzterer ent-

spricht besonders die Faltenbehandlung der H1. Elisa- beth von Ungarn), sind zwar inzwischen relativiert

worden, doch diirfte, wie immer, auch hier ein Quan- tum Wahrheit hinter den weitreichenden Beobachtun-

gen Radocsays hinsichtlich der ulmischen Wurzeln des Bildhauers stecken.94

Man mag es drehen und wenden wie man will, im-

95 Vgl. ebenso Krohm (wie Anm. 85), S. 207 f., Abb. 21. 94 Vgl. D. Radocsay, Der Hochaltar von Kaschau und Gregor Er-

hart, in: Acta Historiae Artium Academiae Scientiarum Hungari- cae VII, Budapest 1961, S. 19-50, bzw. Theodor Miiller, Sculpture in the Netherlands, Germany, France and Spain 1400 to 1500

(The Pelican History of Art), Harmondsworth 1966, S. 119, und Krohm (wie Anm. 85), S. 208. Nach der Niederschrift des vorliegenden Beitrags erschien zum Kaschauer Altar und seinen oberrheinischen Stilquellen ein wei-

terer Artikel von Gyingyi T6r6k, Zu Fragen der skulpturalen Ausstattung des Altars der hl. Elisabeth in Kaschau, in: Fliigelal- tiire des spditen Mittelalters (wie Anm. 87), S. 157-166, mit niitzli- chen Abbildungen sowohl der Kaschauer Schreinfiguren wie der

PreBburger Geburt Christi. Auch von dieser Seite wird auf die di- rekten Beziehungen mit der Amsterdamer Geburt, den Rothen-

burger Kreuzengeln, den Alabasterstatuetten der Straf3burger Kanzel und den Wiener Hofburgskulpturen verwiesen.

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 115

Abb. 21. Ulm, Miinster, Prophetenstatuette aus dem Ratsfenster (I, 4c). Werkstattgemeinschaft,

1480 datiert

mer wieder stol3en wir auf denselben Kreis von Bild- werken, und nach Lage der Provenienzen kann eigent- lich kaum mehr ein Zweifel daran bestehen, daB der zur fraglichen Zeit in Ulm, StraBburg und Wien iiber- lieferte Hans Kamensetzer mindestens in Teilen damit in Verbindung gebracht werden muB - und dies vor-

zugsweise mit der Amsterdamer Geburt. DaB nun dieselbe Skulpturengruppe auch zur

StraBburger Glasmalerei in Beziehung steht, unter- streicht die oben geiuBerte Vermutung iiber eine aktive EinfluBnahme des Bildhauers auf die ansdissige Werk-

stattgemeinschaft: Man vergleiche etwa die anmutige Alabasterfigur der H1. Katharina am Stralburger Kan- zelfuB mit derselben Heiligen im Hessischen Landes- museum in Darmstadt (ehem. Salzburg, Stift Nonn-

berg; Abb. 17, 18) oder den markigen Bischof ebendort

Abb. 22. Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, Studienblatt mit stehenden Heiligen. StraBburg, um 1485/90

mit den Prophetenfigiirchen der rahmenden Architek- turen in den >StraBburger< Fenstern; hier besonders deutlich am Beispiel einer der Statuetten im Ulmer Ratsfenster von 1480 (Abb. 19, 21).95 Eine Zeichnung aus dem Fundus des Gewandstudienmeisters im Berli- ner Kupferstichkabinett vermag die komplexen Quer- verbindungen wohl am besten zu belegen. Selbst als

Nachzeichnung plastischer Vorbilder in der Art der Kanzelstatuetten und der Wiener Neustaidter Apostel gehandelt,96 steht ihre kompakte, reich profilierte Architekturrahmung in ndichster Beziehung zur Darm- stlidter Katharinenscheibe; die in hohem Grade plasti- sche Beschreibung des markanten Bischofskopfes ist im

iibrigen der Gesichtsmodellierung des Ulmer Prophe- ten noch unmittelbarer an die Seite zu stellen als dem Bischof der StraBburger Kanzel (Abb. 19, 21, 22).

95 Das Ratsfenster triigt zwar - wie zu Anfang bemerkt - insge- samt eine andere Handschrift als das Kramerfenster, doch gera- de an drei Baldachinscheiben mit den fraglichen Propheten (I, 4a/c/12b) sind dieselben Entwiirfe wie dort verwendet worden.

Vgl. im iibrigen auch die Prophetenstatuetten im Ulmer AltarriB mit den entsprechenden Typen der StraBburger Werkstattge- meinschaft (hier v. a. Abb. 1 und 17). 96 Vgl. dazu nochmals S. 135 und Anm. 164.

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116 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 23. Rothenburg o. d. T., St. Jakob, Pre3brokat der Schrein- mitte. Friedrich Herlin, 1466

SchlieBlich begegnet auch der PreBbrokat im Gewand der knienden Maria und des rechten Engels der Am- sterdamer Geburt - im wesentlichen iibereinstimmend - unter den Damastmustern der StraBburger Werk-

stattgemeinschaft: zunachst ausschlieBlich in kleineren

Ausschnitten, in der k6stlichen Rundscheibe einer H1. Dorothea auf der Rasenbank in Altshausen, bei den Ge- wdindern der Wurzel Jesse im Tiibinger Achsenfenster, dem Weltgericht ebendort, wiederum bei den Stamm-

vaitern im Ulmer Kramerfenster und im Niirnberger Volckamer-Fenster und spater als groBfldichiger Hinter-

grund in den Baldachinscheiben des Miinchner Scharf-

Abb. 24. Nelkendamast der StraBburger Werkstatt-

gemeinschaft, um 1475

zandt-Fensters;97 also vorwiegend in der Gruppe von

Werken, die auch im Hinblick auf den architektoni- schen Formenschatz auf Ulm zuriickverweist.98

Kommen wir also wieder zuriick zur Glasmalerei der StraBburger Werkstattgemeinschaft, dann erflihrt dieser Exkurs eine interessante Erginzung. Allein in Herlins Arbeiten der 60er Jahre, und hier an erster Stel- le im Rothenburger Hochaltar, begegnet eines der auf-

wendigsten Damastmuster, das spaiter (erstmals um 1474/75) zum festen und nachhaltig ausgesch6pften Be- stand der StraBburger Glasmaler avancierte, innerhalb der Stralburger Tafel- und FaBmalerei der Zeit jedoch

97 Vgl. Becksmann 1986 (wie Anm. 9), Abb. 10, Farbtaf. VII, Abb. 358, 410, und Frankl (wie Anm. 7), Abb. 77, 111, 138, 172f.

194, 198, 202 f. 98 Im deutschen Raum begegnet das Muster zuerst um 1450 in

einer oberrheinischen Votivtafel im Freiburger Augustinermu- seum (Inv.Nr. M 88/18; vgl. Detlef Zinke, Augustinermuseum, Gemlilde bis 1800, Freiburg 1990, S. 21-23), danach allerdings auch bei Herlin 1459 bzw. 1462 (Altardecke in der Beschneidung

im Bayerischen Nationalmuseum bzw. im Nirdlinger Hoch-

altar), im Tiefenbronner Hochaltar Schiichlins von 1469 (Pref3- brokat im Gewand der rechten Trauernden der Kreuzabnahme-

gruppe, in Anlehnung an den Befund neu gefaBt) und - mit star- keren Abweichungen - in den spiteren ulmischen Altiren in Churwalden (1477) und Blaubeuren (1495); Hinweise zur Ver-

breitung in der FaB- und Tafelmalerei verdanke ich der liebens-

wiirdigen Hilfe von Annette Kollmann, Stuttgart.

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 117

nicht zu finden ist. 99Das am hdiufigsten verbreitete Nel- kendamast-Muster der Werkstattgemeinschaft, das si- cher datiert zum ersten Mal 1475 im Stiftungsfenster Hans von Bubenhofens, Landhofmeister Graf Eber- hards von Wiirttemberg, in der Uracher Stiftskirche verwendet wurde, geht in allen Einzelheiten auf den

groBfliichigen Brokatvorhang der Rothenburger Schreinmitte zuriick (Abb. 23, 24).100 Der hochst kom-

plizierte Rapport hat zwar im einzelnen Verformungen erfahren, doch die Vorbildlichkeit im ganzen ist eindeu-

tig. Einzelne MiBverst~indnisse wie die mehr ins Deko- rative gewendete StraBburger Bildung der aufsprin- genden Samenkapseln miissen auf Ungenauigkeiten bei der Umzeichnung zuriickgefiihrt werden, beweisen dadurch aber um so eindeutiger die Prioritiit der Ro-

thenburger Fassung; dasselbe gilt fiir die weniger schliissig verbundene, lockere Streuung der Motive in der Fliche und die breitere Abstufung des zentralen

Granatapfelmotivs. An der Urheberschaft Herlins ist freilich nicht zu zweifeln, denn zum einen gewihrlei- sten die technologischen Untersuchungen am Rothen-

burger Retabel, daB die Fassung von Schrein und Figu- ren in seiner Werkstatt erfolgt sein muB, zum anderen

begegnet das Muster auch im Heimsuchungsbild auf den Fliigeln ebendort und bereits 1463 im Kreuzigungs- epitaph der Magdalena Miiller geb. Fuchshart (j 1462) im Museum in NSrdlingen.

Was daraus zu schlieBen ist, liegt auf der Hand. DaB im Bereich der architektonischen Fenstergliede- rung und im Hinblick auf jene technischen Verfahrens- weisen beim kunstvollen Atzen von Ujberfangglaisern eine vorhergehende Vermittlung von Ulm nach StraB-

burg stattgefunden haben diirfte, glauben wir zu An-

fang plausibel gemacht zu haben. DaB der Urheber die- ser Neuerungen seine Anregungen von Werken der Plastik und Zierarchitektur und (oder) den zugrunde- liegenden Visierungen in Ulm selbst bezogen hat und -

wie der spditere Wiener AltarriB nahelegt - wohl selbst auf diesem Gebiet tiitig gewesen ist, scheint gleichfalls einleuchtend. Wenn nun aber auch im ornamentalen

Bereich, darunter beim meistbenutzten Damastmuster

der StraBburger Werkstattgemeinschaft ein >>schwibi- sches Vorbild< aus dem Bereich der Schreinarchitektur und FaBmalerei im Hintergrund steht, und zwar genau das Werk, dessen zentrale Kreuzgruppe erst Anfang der

siebziger Jahre von StraBburg aus nachgeliefert wurde, dann verstirkt das doch nachhaltig den Verdacht, daB wir es in allen diesen Fillen mit ein und demselben Mittelsmann zu tun haben. Dieser miiBte dann freilich

spaitestens Mitte der 70er Jahre in direkte Beriihrung zumindest mit dem (oder den) Glasmaler(n) des StraB-

burger Katharinenfensters, der Kreuzigung von Kay- sersberg, der Madonna mit der Konigskerze in Obernai und des Tiibinger Bubenhofen-Fensters gekommen sein; den Werken also, in denen der besagte Nelken- damast bereits vor der Griindung der Werkstattge- meinschaft 1477 begegnet. Wenn dem aber so ist und

das platzliche Aufkommen der fraglichen Ornamente nicht nur ein Zufall, dann kannte der besondere Ein- fluB dieses Meisters - auch iiber den dekorativen Be- reich hinaus - bereits in diesen Fenstern spiirbar wer-

den.

Beginnen wir beim Katharinenfenster der Wilhel-

merkirche in StraBburg, das mit ziemlicher Sicherheit noch vor 1475 entstanden ist: Der qualitative Sprung ge-

geniiber der ilteren StraBburger Glasmalerei, d.h.

iiber den Stil des Walburger Meisters von 1461 und da-

mit den des Meisters der Karlsruher Passion hinaus, ist

hier mit Hinden zu greifen und war der AnlaB fiir Hans Wentzels Annahme einer Reise Hemmels nach den

Niederlanden - eben genau in diesen Jahren zwischen 1473 und 1474; mit dem Resultat einer nachhaltigen BeeinfluBung durch die Kunst Rogier van der Wey- dens: .. .. jedenfalls sind die Figuren auf den Scheiben Peters von Andlau aus der Zeit nach 1475 schlank und

schmal, zierlich und hdfisch, vornehm und fein in den

Typen und von graziler Eleganz, ohne alle Anklainge an

Derbes und Biuerisches. Technisch sind die Scheiben noch reicher, graphisch differenzierter, sicherer und

hirter in der Zeichnung, vielfliltiger in der Farbe und

einfallsreich in der Verwendung von Ausschliff, Uber-

fang und Silbergelb<<. 10 Frankl hat die Vorstellung von

der niederliindischen Reise - wenngleich mit aben-

teuerlichen Argumenten iiber die vermeintliche Ausla-

stung der Werkstatt in jenen Jahren - zuriickgewiesen und behauptet, >>diese treffende Charakterisierung (!) gelte ebenso fiir Hemmels Werke vor 1474, vorausge- setzt man schreibt ihm eben nicht (wie Wentzel) die des

Walburger Meisters von 1461 zu<<.102 Tatskichlich stiitzt sich Frankl dabei aber auf alle die Werke, deren Friih-

99 Erst um einiges spaiter (gegen 1490) und nur ein einziges Mal

begegnet der gleiche Nelkendamast in der Trinitiitstafel des

>Meisters der Gewandstudien< (bzw. >>Meister von Alt-St. Peter<<) im Mused des Beaux-Arts in Lyon, fiir die sich im iibrigen eine dem Wiener AltarriB technisch sehr nahestehende Vorstu- die des knienden Johannes in Paris erhalten hat (Roth [wie Anm. 16], Nr. 115; Abbildung der Tafel bei Michael Roth, Die Zeichnungen des sog. Meisters der Gewandstudien und ihre Be-

ziehungen zur Stra.burger Glas- und Tafelmalerei des spiten 15. Jahrhunderts, in: Deutsche Glasmalerei des Mittelalters.

Bildprogramme - Auftraggeber - Werkstiitten, Berlin 1991, Abb. 18 f. 100 Bis 1475 hatten die StraBburger Glasmaler ein villig ande- res Damastmuster nahezu ausschlieBlich verwendet (vgl. CVMA Deutschland 1,2 [wie Anm. 9], Fig. I, 40), das mit Auftauchen des bei Herlin entlehnten Rapports weitgehend aus der Produktion verschwand und erst von Theobald von Lixheim seit Mitte der

80er Jahre wieder hervorgeholt wurde. 101 Wentzel (wie Anm. 9), S. 26. 102 Frankl (wie Anm. 7), S. 132.

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118 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 25. Stuttgart, Wiirttembergisches Landesmuseum. RiB flir das Hochaltarretabel des Ulmer Miinsters. Ulm, vor 1474

datierung heute mit guten Griinden abgelehnt wird. 10 Es spielt hier weiter keine Rolle, ob man Hemmel mit dem Walburger Meister identifizieren m6chte oder nicht. Tatsache bleibt in jedem Fall der von Wentzel beobachtete fundamentale Stilwandel innerhalb der

gesamten StraBburger Glasmalerei-Produktion im er- sten Jahrfiinft der 70er Jahre.

Man braucht nicht lange zu suchen, um allernaich- ste Parallelen fiir den oben gekennzeichneten moder- nen Figurenstil im Kreise der Beispiele wiederzufin-

den, die auch im architektonischen Bereich die offen-

kundige Inspirationsquelle abgegeben haben. Fiir die

anmutige Gestalt der HI. Katharina in St. Wilhelm bie- ten die beiden Standfiguren der Barbara und Katharina im Stuttgarter AltarriB vergleichbare Vorbilder (Abb. 25-27, 50). Die schlanken, fast gestreckten Proportio- nen der Figuren, der freundlich lebhafte Ausdruck der vornehmen Kopftypen, das lange, in Strahnen offen herabflieBende Haar und die zierlich zerbrechliche Bil-

dung der Hinde sind in hohem MaBe verwandt. Auf die

iippigen Gewainder der Einzelfiguren wurde in den Szenen des Katharinenfensters naturgemlB verzichtet; trotzdem ist die hartbriichige Faltengebung mit schar-

fen, kristallinen Schichtungen, schmalen Stegen und

engen Osen in Verbindung mit weichen gebogenen Saumkanten ein Merkmal, das die gesamte spitere StraBburger Glasmalerei durchzieht. Auch fiir den ge- waltigen Kopf des birtigen Kaisers mit den miirrisch

herabgezogenen Mundwinkeln, der krdiftig sich sen- kenden Nase und den an der Nasenwurzel senkrecht ansetzenden Stirnfalten bieten der HI. Antonius und Gottvater der Marienkronung im Stuttgarter RiB un- mittelbare Ubereinstimmungen (Abb. 26, 29). DaB selbst neben dem wachsenden EinfluB Schongauers nach Mitte der 70er Jahre - greifbar in der freien Ver-

wendung von Stichen, die niemals w6rtlich und haufig genug in Kombination mit Vorlagen des Meisters E.S.

erfolgte - Stil und zeichnerische Merkmale des Stutt-

garter Altarrisses ihre vorausgesetzte Giiltigkeit be-

105 Neben dem Katharinenfenster und der Kreuzigung in Kay- sersberg sind das in erster Linie die >>kleinteiligen<< Fenster der

StraBburger Magdalenenkirche (1904 verbrannt; Reste im

Mus'e de l'CEuvre Notre-Dame), die keineswegs 1468/69, son- dern allenfalls kurz vor 1475, oder erst wieder ab 1478 (dem Be-

ginn des Neubaus) entstanden sein k6nnen: Die Schleifung der alten aul3erhalb der Stadtmauer gelegenen Anlagen zwischen dem 9. Nov. 1475 und dem 2. Feb. 1476 - als Folge des Burgundi- schen Kriegs - war quasi iiber Nacht beschlossen worden, da man befiirchtete, diese k6nnten von Karl dem Kiihnen als Dek-

kung mifBbraucht werden. Erst am 20. Jan. 1478 erfolgte die

Grundsteinlegung fiir die neue Kirche, die 1481 weitgehend fer-

tiggestellt war; dieses Datum trugen auch die Chorfenster mit

felderiibergreifenden Szenen (vgl. Haug [wie Anm. 4], 1956, S. 104-108; Lucien Pfleger, in: St. Magdalena, Geschichte des

Klosters und der Pfarrei, hrsg. v. Eugen Speich, Straflburg 1937, S. 16 ff.).

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 119

Abb. 26. Details aus Abb. 25 (HIl. Martin, Antonius und Barbara)

wahrten, daftir zeugt etwa die Gegeniiberstellung des

Propheten Habakuk im Kramerfenster mit dem H1. Martin im Auszug der Visierung (Abb. 26, 28); ange- sichts der rund zehn Jahre, die zwischen den beiden Werken liegen, sind die Ubereinstimmungen erstaun- lich genug. Sie gehen weit iiber den Typus mit den halb geschlossenen schweren Lidern und verbittert nach unten gezogenen Mundwinkeln hinaus. Man beachte nur die schrig aufgesetzten harten Parallelschraffen zur

Modellierung der Schatten am Nasenriicken oder die breite abgeflachte Rundung der Nasenspitze mit den kleinen Hikchen zur Charakterisierung der Nasenflii- gel; letzteres ein hiufig zu beobachtendes Merkmal der

Stragburger Glasmalerei. SchlieBlich scheint man noch zu Beginn der 90er Jahre, im Scharfzandt-Fenster der Miinchner Frauenkirche, aus diesem alten Fundus

gesch6pft zu haben, wie ein Vergleich der Hil. Afra und Katharina in Miinchen mit Helena und Barbara ver- deutlicht. 104

All dies fiihrt uns zwangsliufig zur Frage nach dem Zeichner der Stuttgarter Altarvisierung und dessen

Verhiltnis zu einem der mutmaBlichen Entwerfer der StraBburger Glasmaler-Gemeinschaft in jenen Jahren.

Zunichst zur Entstehungszeit: 1474 wird die Visierung im Zusammenhang mit Syrlins Auftrag zum Hochaltar erwahnt, was nichtbedeutet, daB sie erstin diesem Jahr gefertigt wurde.105 So tragt etwa der Vespertoliumsril im Ulmer Stadtarchiv das Datum 1475, doch der Auf- trag an Syrlin d.J. erging erst im Jahr 1482. 106 Wolfgang Deutsch hat die begriindete Vermutung geiuBert, daB der AltarriB bereits bei der Planung der neuen Chor- ausstattung zusammen mit dem Chorgestiihl entwor- fen wurde: also vor 1469. Die >>altertiimliche<< Konzep- tion der Madonna mit dem biuchlings gehaltenen Kind unterstreicht diese Vermutung, und tatsichlich spricht auch der gewiinschte Wechsel im Figurenprogramm des Auszugs (Kreuzgruppe anstelle der Marienkri- nung) fiir einen lingeren Zeitraum zwischen Entwurf und Auftragsvergabe: >>Es waire andernfalls kaum zu verstehen, warum der Auftraggeber nicht gleich das Richtige bestellt hat<<. 107Wie bekannt, traigt der RIB auf der Riickseite den Vermerk syrlin, >>zweifellos zeitge-

104 Vgl. Frankl (wie Anm. 7), Abb. 203, 205. 105 Rechnungen der Frauenpflege 1456-1518, StA Ulm, A 6967

(1474, Februar 25.); im Wortlaut bei Julius Baum, Die Ulmer Pla- stik um 1500, Stuttgart 1911, S. 153, Nr. 12, und Rott 1954 (wie Anm. 4), S. 52. 106 Vgl. Koepf (wie Anm. 15), Nr. 29, sowie den Vertrag bei Baum (wie Anm. 105), S. 155, Nr. 25. 107 Wolfgang Deutsch, Der ehemalige Hochaltar und das Chor-

gestiihl - Zur Syrlin- und zur Bildhauerfrage, in: 600 Jahre Ul-

mer Miinster, Festschrift (Forschungen zur Geschichte der Stadt

Ulm, Bd.19), hrsg. von Hans Eugen Specker und Reinhart Wort-

mann, Ulm 1977, S. 310 ff.: Der AltarriB >>verrdit keinerlei Kennt- nis der Gestiihlswangen. Er scheint nur den Dreisitz vorauszu- setzen<<.

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120 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 27. StraBburg, St. Wilhelm, H1. Katharina aus dem Katharinenfenster. Stralburger Glasmaler, um 1475

Abb. 28. Ulm, Miinster, Prophet Habakuk aus dem Kramer- fenster. Werkstattgemeinschaft, um 1480/81

Abb. 29. StraBburg, St. Wilhelm, Kaiser Maxentius aus dem Katharinenfenster. StraBburger Glasmaler, um 1475

Abb. 30. StrafBburg, St. Wilhelm, Katharinenfenster, Maxentius fordert die Anbetung des G6tzenbildes,

StraBburger Glasmaler, um 1475

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 121

n6ssisch<. 108 Das Meisterzeichen Syrlins dagegen, wie etwa im TurmriB D (ebenfalls Stuttgart, Wiirtt. Lan-

desmuseum), erscheint im AltarriB nicht, und im Hin- blick auf den hohen Rang der zeichnerischen Durch-

ftihrung unterscheidet sich dieser ganz wesentlich von den drei iibrigen erhaltenen Visierungen der Syrlin- Werkstatt.109Es geht hier gar nicht darum, in die nach wie vor kontroverse Diskussion zur Titigkeit Syrlins d. A. als Bildhauer und die Frage nach dem >>Meister der Wangenbiisten<< einzusteigen. Die wesentlichen Ar-

gumente sind zur Geniige bekannt, und ich gestehe gern, daB ich den kenntnisreichen U0berlegungen von Deutsch im Kern der Sache beipflichte. DaB Architek- tur und Figuren in jedem Fall vom selben Zeichner

stammen, ist iiberzeugend; >>der Duktus der Hand-

schrift<< ist hier wie dort vollig gleich, und das gegensei- tige Oberlagern und Riicksichtnehmen bei der Anlage der verschiedenen Teile ware anders auch nicht m6g- lich gewesen. 110Wenn Syrlin d. A. aber mindestens ei- nen der beiden Entwiirfe (Altar- oder Brunnenril3) nicht selbst ausgefiihrt haben kann, dann ist die Frage nach dem Zeichner offen, denn der riickseitige Vermerk auf dem Stuttgarter AltarriB ist wohl kaum als Signatur zu lesen.

Julius Baum hat den Meister der Tiefenbronner

Hochaltarfiguren (es sind tatsaichlich mehrere Bild- hauer an diesem Altar zu unterscheiden) fiir den Ur- heber der Visierung gehalten und fiir diesen Fall auf eine Zusammenarbeit Syrlins mit Schiichlin geschlos- sen. 11 Deutsch hat die enge Verwandtschaft zum sog. >>Heggbacher Meister<<, insbesondere mit den Hll. Do- rothea und Katharina in Tiefenbronn bestiitigt, eine

Identifizierung aber letztlich doch abgelehnt und statt- dessen den Reisser der Holzschnitte fiir die Ulmer

Aesopausgabe (gedruckt bei Johann Zainer, um 1476) als Zeichner vorgeschlagen; allerdings ohne diesen, wie zuvor Lilli Fischel, auch mit dem Meister der Wan-

genbiisten gleichzusetzen.112 Die Beziige zum Aesop wie zum Ulmer Boccaccio (De claris mulieribus, Jo-

hann Zainer, 1473) sind in der Tat so eng wie kaum ein

Vergleich aus dem Bereich der Ulmer Plastik. Das be- weist jedoch keineswegs, daB der Zeichner nicht trotz- dem von Hause aus Bildhauer gewesen sein kann, denn der formale Vergleich zwischen Visierung und Bild- werken - insbesondere des Heggbacher Meisters -

kann aufgrund der unterschiedlichen Gattungen gar nicht so zwingend sein, wie Deutsch im Hinblick aufdie abweichende Bildung der ovalen Kopfform in H6he der Schliifen gern unterstellen mochte.113

In direktem Zusammenhang mit unserer Frage steht eine Zeichnung aus dem unmittelbaren Kreis der

StraBburger Glasmaler, die in mehr als einer Hinsicht

zwingende Obereinstimmungen zum Stuttgarter RiB aufweist und auBerdem die Kenntnis der zeitgleichen Ulmer Gestiihlsplastik - genauer den Dreisitz - voraus- setzt. Die vergleichsweise sorgftiltige Federzeichnung einer weiblichen Biiste im Dresdner Kupferstichkabi- nett, 114 den Sauminschriften zufolge eine tiburtinische

Sibylle oder eine Hl. Martha vorstellend, trdigt alle

Kennzeichen der in der StraBburger Werkstattgemein- schaft gelaiufigen Typen. Die engsten Beziehungen las- sen sich wieder zum Katharinenfenster der StraBbur-

ger Wilhelmerkirche kniipfen (Abb. 27, 31). Insbeson- dere die Zeichnung der beschatteten Gesichtshailfte, der breit und weich umschriebene Kontur von der

Braue hinab entlang der Nase, die Lichtkante am aiuBe- ren UmriB und die Modellierung von Wangen, Hals und Schulteransatz mit nadeldiinnen fahrigen Strichla-

gen erscheint aufs hdchste verwandt. Die mandelf6r- mig >ausgeschnittenen< Augen mit den starren dunklen

Pupillen sind spitestens seit Tiibingen charakteristisch im (Euvre der StraBburger Werkstattgemeinschaft. Man vergleiche etwa den Kopf des HI. Georg; hier fin- den sich auch die kurzen schraiggesetzten Schraffen auf dem Nasenriicken wieder (Abb. 32). In welchem Ver-

hdiltnis - Entwurf oder Nachzeichnung - das Blatt zur

Glasmalerei stehen kbnnte, bleibt schwer zu entschei- den. Die Zeichnung ist zwar recht detailgenau durchge-

108 Ebd. Der Namenszug wurde bei der Restaurierung 1970 ge- funden. 109 Zieht man Vespertoliums- und TurmriB D (1475, und um 1482) als Werke des jiingeren Syrlin ab, was gemeinhin ge- schieht, dann verbleiben fiir Syrlin d. A. nur der Fischkasten-und der AltarriB. Wenn iiberhaupt, dann kann er aber nur ffir einen der beiden >in Stil und Qualitiit extrem verschiedenen<< Risse ver- antwortlich gemacht werden (vgl. Heinrich Feurstein, Waren die beiden Syrlin wirklich Bildhauer, in: Jb. der PreuB. Kunstsamm- lungen 48,1927, S. 21, Pause wie Anm. 19, Nr. 95,118, Koepf [wie Anm. 15], Nr. 8, 29, 30, 49, und ausfiihrlich Deutsch [wie Anm.

107], S. 310 ff.). Allerdings ist auch die Zuschreibung des Turm- risses nicht unumstritten: Karl Friederich, Die Risse zum Haupt- turm des Ulmer Miinsters, in: Ulm und Oberschwaben 36,1962, S. 36 f., hatte sich hierin fiir Syrlin d. A. ausgesprochen. 110 Vgl. in diesem Sinne bereits Anja Broschek, Michel Erhart, Ein Beitrag zur schwlibischen Plastik der Spitgotik, Berlin/New York 1973, S. 119, Anm. 13; Deutsch (wie Anm. 107), S. 310 ff.

111 Baum (wie Anm. 105), S. 33 f., Taf. 3c; vgl. ebenso Georg Weise, Mittelalterliche Bildwerke des Kaiser-Friedrich- Museums und ihre nichsten Verwandten, Reutlingen 1924, S. 139-146, der dem Tiefenbronner Altar noch die Madonnen des ehem. Zisterzienserinnen-Klosters St.Georg in Heggbach (Krs. Biberach) und der Pfarrkirche in Pfaffenhofen a.d. Roth

(Krs. Neu-Ulm) angeschlossen hat (Weise, Abb. 102, 104). 112 Deutsch (wie Anm. 107), S. 315-318; vgl. Lilli Fischel, Bil-

derfolgen im friihen Buchdruck, Stuttgart 1963, S. 50-62.

113 Deutsch (wie Anm. 107), S. 312-314. 114 Dresden, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, Inv.Nr. C

1937-190, MaBe: 205 X 150 mm; vgl. Edmund Schilling/Georg Swarzenski, Handzeichnungen alter Meister aus deutschem Pri-

vatbesitz, Frankfurt 1924, Taf.1, Edmund Schilling, Altdeutsche

Handzeichnungen aus der Sammlung Johann Friedrich Lah- mann zu Dresden, Miinchen 1925, Nr. 1, und Walter Koschatzky, Albertina Wien, Zeichnungen 1450-1950, Ausst. Kat. Miinchen 1986, S.76.

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122 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 32. Tiibingen, Stiftskirche, HI. Georg aus dem Achsenfenster.

Werkstattgemeinschaft 1477

Abb. 31. Dresden, Kupferstichkabinett, H1. Martha oder Tiburtinische Sybille.

Um 1470/80

fiihrt, doch alles andere als befangen. Im Gegenteil: Die souverdine ziigige Strichflihrung verrait einen Zeichner von hohem Format, der allenfalls an einem besonderen anatomischen Detail, dem Ohr, gewisse Unsicherheiten erkennen liBt. Doch gerade hierin folgt ihm - so es denn weitere entsprechende Entwiirfe von seiner Hand gab 115 - fast die gesamte Produktion der

Strafburger Glasmaler. Wenn Ohren iiberhaupt sicht- bar werden, dann sind sie zumeist verungliickt. Diese Schwache teilt der Zeichner der Dresdner Frauenbiiste aber zugleich auch mit dem Reisser des Ulmer Hochal-

tars, und das ist gewifl nur eine von zahlreichen Ge- meinsamkeiten zwischen den beiden Entwiirfen (vgl. Abb. 26, 51, 3355). Stellt man die H1. Martha(?) in Dres- den neben die Magdalena im Stuttgarter Altarrif, dann

zeigt sich zunichst bei beiden die im wesentlichen iden-

tische modische Gewandung mit dem enganliegenden, vorne geschniirten bzw. gekniipften Kleid, weitem Halsausschnitt und weit geschnittenen, in harten Brii- chen zusammengeschobenen Armeln auf der zuge- wandten K6rperseite bzw. dem in einem weiten Bogen iiber die abgewandte Schulter gelegten Mantel mit auf- stehendem Saum. Auch das hinter dem angewinkelten Arm hochgezogene und eingeklemmte Stiick Mantel mit dem charakteristischen T-firmigen Faltensteg fehlt hier nicht. Die schlanken grazilen Hinde der Dresdner

Figur weisen an den Fingern dieselben kurz gebogenen parallelen Querschraffen aufwie bei Katharina und He- lena. Trotz des nicht unerheblichen Malstabunter- schieds der Figuren ist die Intensitait der zeichnerischen Durchfiihrung hochgradig verwandt. Am eindeutig- sten sind die handschriftlichen Vergleiche in den Par-

115 Das Blatt ist heute an der Unterkante unvermittelt abge- schnitten, doch die Federzeichnung des Mantels fiihrte ehemals in voller Breite und Intensitdit dariiber hinaus und k6nnte also durchaus auch eine Ganzfigur vorgestellt haben: vergleichbar et-

wa der HI. Katharina in Darmstadt, die auch im Typus sehr ver- wandt ist (Abb. 17), oder den Hll. Katharina und Barbara in der

Besserer-Kapelle des Ulmer Miinsters.

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LM UND STRASSBURG: HANS WILD 123

Abb. 33. Hi. Magdalena aus dem Ulmer HochaltarriB

(Ausschnitt aus Abb. 25)

tien mit starkem graphischem Aufwand, den Schatten- zonen mit mehrfach iiberlagerten Schraffuren, die we-

niger der beschriebenen Einzelform folgen (so beson- ders in den hellen, beleuchteten Stellen), als vielmehr

souverin dariiber hinweggefiihrt werden und ein dich- tes Geflecht von Linien iiber dem Kontur ausbreiten. Identisch sind auch die aufflilligen Lichtkanten, die den

aiuBeren UmriB beschatteter Volumina begleiten und damit das riumliche Zueinander der Formen hervor- hebt.

Die Beziige zur Ulmer Kunst enden immerhin nicht beim Stuttgarter AltarriB. Schon die gesamte Hal-

tung der Dresdner Figur fordert den Vergleich mit den Gestiihlsbiisten heraus. Die Vorliebe fir Sauminschrif- ten - neben lateinischen Majuskeln mit einzelnen grie- chischen Lettern vorwiegend hebraiisierende Schriftzii-

ge - teilt die Dresdner Zeichnung nur mit den Sibyllen am Dreisitz (Abb. 34). Im Chorgestiihl fehlt dieser Zierat fast vollstindig, dafiir scheinen einzelne Reliefs am Dorsale in der aufrechten Haltung niher verwandt: ihrer modischen Tracht wegen auf den ersten Blick Re- becca im vierten Stand von Osten, die auch im Typus, dem lebhaft freundlich bis kecken Gesichtsausdruck,

Abb. 34. Ulm, Miinster, Samische Sybille vom Dreisitz, 1467-69

die nichste Parallele bietet. Doch ebensogut kime die

Wangenbiiste der libyschen Sibylle oder die Reliquien- biiste einer HI. Magdalena im Ulmer Museum zum

Vergleich in Betracht.116 Eine weitere Zeichnung mit den Halbfiguren der Hil. Martha und Magdalena in der Wiener Albertina wiederholt die Dresdner Martha wiirtlich und ist nun ihrerseits mit Sicherheit als Nach-

zeichnung zu bestimmen (Abb. 55).117 Dort wo die Dresdner Zeichnung einfach beschnitten wurde, liuft die Wiener Fassung langsam aus, nimmt also bereits Riicksicht auf die Biistenform; die Schriftzeichen an den Gewandsiumen der Dresdner Martha sind zwei- fellos urspriinglicher, als die siuberlich reingezeichne- ten und z.T. offenbar miBverstandenen in Wien. AuBer- dem fehlt im Wiener Blatt der schmale Tuchzipfel an der beschatteten Gesichtsseite und schlieflich verzich- tete der Wiener Zeichner auch darauf, das verungliick- te Ohr der Dresdner Version zu kopieren und hielt sich an dieser Stelle seiner sonst aiuBerst pedantisch, mit kurzen dichten Strichlagen durchgefiihrten Zeichnung peinlich zuriick. Der besondere Wert dieser Kopie be- steht aber darin, daB sie uns eine zweite Halbfigur iiber- liefert, fiir die sich das Vorbild unserers Zeichners nicht

116 Vgl. die Ansicht der Libyca im Halbprofil bei RudolfPfleide- rer (wie Anm. 24), Taf. 22.; brauchbare Abbildungen auch bei Alfred Vollmar, Das Miinster von Ulm, Karlsruhe 1949, Abb. 67

(Rebecca) bzw. Deutsch (wie Anm. 107), Abb. 97 (Magdalena). 117 Wien, Graph. Sammlung Albertina, Inv.Nr. 3046, MaBe:

210 x 270 mm (das entspricht in der Hihe dem Dresdner Blatt); Koschatzky (wie Anm. 114), Nr. 19: >oberrheinischer oder mit- telrheinischer Meister, um 1470N, vermutet, daB beide Zeich-

nungen auf ein gemeinsames Vorbild zuriickgehen.

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Page 33: Hans Wild und Hans Kamensetzer. Hypotheken der Ulmer und Strassburger Kunstgeschichte des Spätmittelalters

124 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 35. Wien, Graphische Sammlung Albertina, Hi. Martha und Magdalena Abb. 36. Marienkopf aus einem zerst6rten Erscheinungsfenster der StraBburger Magda- lenenkirche. Privatbesitz. Werkstattgemein-

schaft um 1478

erhalten hat. DaB es existiert haben muB3, beweist der absolut identische Faltenstil der H1. Magdalena, der sich wiederum eng an den Stuttgarter AltarriB an-

schlieBt, wahrend der Kopf deutlicher als bisher dem

urspriinglich niederlandischen Exempel folgt und dar- iiber hinaus ohne Einschrinkung dem Typenschatz der

StraBburger Werkstattgemeinschaft entspricht: Man

vergleiche nur den Marienkopf in Schweizer Privatbe- sitz aus der Kr6nung Mariens im Chor der 1904 abge- brannten Magdalenenkirche (Abb. 55, 56).118 Das Ur- bild der Dresdner und Wiener Zeichnungen darf man letztlich bei Rogier vermuten, dessen hl. Magdalena im

Braque-Triptychon im Gesamttypus wie in einzelnen Motiven (Kopfbedeckung, Kragenform, geschniirtes Mieder, Mantel iiber der abgewandten Schulter, Hal-

tung des SalbgefdiBes) bereits alle wesentlichen Merk- male in sich vereint.119 Eine dritte Zeichnung schlieB-

lich, wieder eine weibliche Biiste, die Rogiers Magdale- na im Braque-Triptychon noch naher kommt als die

Blitter in Dresden und Wien, steht offensichtlich in di- rekter Beziehung zur delphischen Sibylle am Ulmer

Chorgestiihl.120 Die Motive gleichen sich in nahezu je- der Hinsicht: die eigentiimliche Kopfbedeckung aus konzentrisch geflochtenen Bastreifen mit den pseudo- griechischen Schriftzeichen, die Stirn- und Kinnbinden

mit dem seitlich herabfallenden schmalen Tuchzipfel, die zweifach gebrochene, zugespitzte Form des Kra-

gens iiber dem verschrdinkten Brusttuch und das vorne

schrig geschniirte Mieder. Fein gestrichelte Hilfslinien verraten die Nachzeichnung, doch in einzelnen, detail- lierter durchgefiihrten Partien der Gewandung ahnelt die Strichfiihrung noch entfernt dem Dresdner Blatt.

III.

In welchem niheren Verhaltnis der Dresdner Zeichner zur damals entstehenden umfangreichen Neuausstat-

tung des Ulmer Miinsterchores - vom Sakramentshaus bis zum Hochaltar (letztererwenigstens in Planung und

Entwurf) - gestanden haben mag, sei dahingestellt; daB er diese jedoch mit eigenen Augen verfolgte, ist kaum zu bezweifeln. Im selben kiinstlerischen Umfeld muB andererseits auch der Bildhauer Hans Kamensetzer seine nachhaltigen Eindriicke gesammelt haben, so- fern er nicht selbst daran beteiligt war, ehe er 1471 nach

StraBburg iiberwechselte. Aufgrund der spirlichen Quellen darfaufein

niheres Verhdiltnis gegeniiber dem Ulmer Bildhauer Jirg Stain (1453-t 1491) geschlossen

118 Paul Frankl, Nachtriige zu den Glasmalereien von Peter

Hemmel, in: ZfKw 16, 1962, S. 201 f., gibt zwar die zutreffende

Identifizierung, datiert aber umrn 10 Jahre zu friih (vgl. Anm. 103). 119 Fiir wie vorbildlich die Rogiersche Fassung den Zeitgenos- sen gegolten haben muB, beweisen zwei exakte Nachzeichnun-

gen in London (beide British Museum; vgl. Micheline Sonkes,

Dessins du XVe siecle: Groupe van der Weyden, Les Primitifs Flamands III, Bruxelles 1969, B 25, B 24, Taf. XVIII). 120 New York, The Woodner Familiy Collection; von Rainer

Schoch, in: Niirnberg 1500-1550, Kunst der Gotik und Renais-

sance, Ausst. Kat. Niirnberg 1986, Nr. 39, ohne zwingenden Grund dem Umkreis Hans Pleydenwurffs zugeschrieben.

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 125

werden, da dieser nach dem Tod Kamensetzers 1487 als

Zeuge fiir den Anspruch eines leiblichen Bruders des Verstorbenen - Thoman Kamensetzer - zur Aussage vor Gericht verpflichtet wird. Nicht ohne Grund hat Rott in Jdrg Stain daher einen Schwager Kamensetzers vermutet, und liest man den Spruchbrief genau, dann wird mindestens der Gedanke an ein verwandtschaftli- ches Verhailtnis bestltigt: Thoman Kamensetzer, Pfar- rer in Landensberg (bei Giinzburg), klagt vor dem Ul- mer Stadtgericht den Nachweis ein, daB er als leibli- cher Bruder des kiirzlich verstorbenen StraBburger Bildhauers rechter und nachster erb sei. Diesen Nach- weis hatten die StraBburger von ihm verlangt, doch die-

jenigen Personen in Ulm, die dies wuBten und bestiiti-

gen konnten - neben Jdrg Stain der Kramer Ulrich Kanrfi und Margaretha Diirrin - waren zunaichst und

freiwillig nicht bereit gewesen, ein entsprechendes Zeugnis abzulegen. DaB sie vielmehr erst unter Eid da- zu gezwungen werden muBten, die Wahrheit zu sagen, daraufhin aber ainhelliglich bezeugen, hat Schmid da- zu veranlaBt, die Ulmer selbst als Anwairter auf die Erb- schaft zu bezeichnen, die sie dem Bruder offensichtlich vorenthalten wollten. Bemerkenswert ist ferner, daB die Ulmer Verwandten(?) besser iiber die letzten Aktivi- tiiten des Bildhauers unterrichtet waren als der Bruder selbst; >>dieser gibt an, Hans K. sei in StraBburg gestor- ben, wiihrend die Ulmer wissen, daB er von Strapfburg zu der kaiserlichen maiestat gen Wien getzogen und das- selbs mit tod vergangen sei,.121

UOber den Kramer Ulrich KiriB und die als Witwe Peter Reichlins bezeichnete Margaretha Diirr wissen wir kaum etwas;122 zu Stain dagegen liBt sich einiges sagen, obwohl er von der Ulmer Kunstgeschichte bis-

lang weitgehend iibersehen wurde. Die Verkettung mehrerer ungliicklicher Umstiinde hat dazu gefiihrt, daB alle wesentlichen Nachrichten, die Rott fiir ihn zu-

sammengestellt hat, auf den vermeintlichen )Bild- hauer< Jirg Syrlin d. A. bezogen worden sind. Es ist v6l-

lig abwegig, anzunehmen, daB Syrlin (1449 - zwischen 1487 und 1491) immer dort mit vollem Namen und gele-

gentlich mit dem Zusatz Schreiner oder Kistler er-

scheint, wo er fiir entsprechende Arbeiten herangezo- gen wurde, dort jedoch maister Jorgen, bildhower ge- nannt worden sein soll, wo es sich auch um veritable

Skulpturen handelte.123 Dies widerspriiche allen Re-

geln der bei Rechtsgeschaften iiblichen und notwendi-

gen Eindeutigkeit, und nur der Wunsch, aus Syrlin un- ter allen Umstanden einen Bildhauer zu machen, ver-

mag das zu erkliiren. Selbst dort, wo es sich zweifelsfrei

widerlegen liiNt, hat man davor nicht zuriickge- schreckt: So verzeichnet das sogenannte Rote Buch des

Klosters Lorch im Jahr 1484 die Fertigung der tafel uff demfron altar von maister Jorgen stainhower ze Ulm, um dritthalb hundert guldin.124 1491 erscheint im sel- ben Roten Buch des Klosters der Eintrag: XIIIIkal.juny Pontentiane virginis (- 18. Mai). Obyt maister Jorg de

Ulma, der die tafel uffdemfron altar hat gemacht und

darnach pro remedio anime sue und siner huflfrawen das crucifix in dem capitel by dem stul des abts um- sunst.125 Zwei weitere Eintraige in den Rechnungsbii- chern der Pfarrkirchenbaupflege belegen, daB Jbrg Stain tatsichlich zwischen dem 7. Mairz (Thomas von

Aquin) und dem 7. August (Afra) 1491 gestorben sein

muB, 126 und somit ist an der Nachricht iiber den Todes-

tag (18. Mai) im Lorcher Diplomatar nicht zu zweifeln.

Syrlin jedoch, dem die genannten Arbeiten in Lorch

(der Fronaltar ist bedauerlicherweise zerstart, das Kru-

zifix existiert) weithin zugeschrieben werden,127 wird

bereits im April 1491 (Freitag vor St. Jbrgenfag) als ver-

storben bezeichnet, hat also mit dem fiir Lorch tlitigen Meister Jorg nichts zu tun.128

Dasselbe gilt offenbar auch fiir einen Auftrag der

Jahre 1467-1469; die betreffende Quelle im Rechnungs- buch der Pfarrkirchenpflege der Jahre 1456-1518 lautet

wie folgt: Item wir pfleger, mit namen MangKraft Con- rat Bitterlin, Thoman Wirttemberg syen iiberkomen mit

maister Jorgen, bildhower, von der bild wegen zuo ma-

chen III groflun bild und zehen klainen bild, undgeben im XXXIIfl darvon zuo machen; dasgeschach uffdorns- tag vor Magdalene im LXVIIjar. - Item und ist bezalt

121 Rott 1936 (wie Anm. 4), Quellen 1., S. 260. Engere Familien- angehorige des Kiinstlers waren in Ulm selbst offenbar nach 1476 nicht mehr am Leben (vgl. S. 94). Zur mutmaBlichen Verwandtschaft vgl. Rott (wie Anm. 6), S. 108, und mit den hier zusammenfassend referierten Erliute- rungen bereits Schmid (wie Anm. 80), S. 42 f. 122 Ulrich Karyss ist in der Kramerzunftliste von 1470 verzeich- net (Ulm, StA, U 5099, fol.24); ein peter richlin (wohl der verstor- bene Mann der Margaretha Diirr) erscheint immerhin im selben Faszikel gemeinsam mit einem hanfJ kame(n)setzerin der Zunft- liste der Mertzler, d. h. der Kleinhiindler (fol. 12; vgl. bereits Anm. 62). 123 Vgl. Rott 1934 (wie Anm. 4), zu Jorg Syrlin d. A.: S. 50-53; zu

Jorg Stain: S. 55 f. 124 Ebd. S. 55; Rotts Vermutung, daB es sich bei dem genannten Jorgen stainhower um einen Schreibfehler fiir Jorgen stain, bild-

howerze Ulm handeln muB, l iBt sich im nachhinein auch bewei- sen. 125 Ebd. S. 56. 126 Ebd. S. 56. 127 Diese irrige Zuschreibung geht offenbar schon auf Baum

(wie Anm. 105), S. 154, zuriick, der die Lorcher Quellen unmittel- bar unter Jorg Syrlin auffiihrt, und wurde spiter ohne Frage in die einschligigen Kunstdenkmailerinventare iibernommen. Ei- ne Ausnahme bildet Hermann Kissling, Kloster Lorch, Bau- und

Kunstgeschichte, hrsg. von der Stadt Lorch, Lorch 1990, S. 183 f. Eine vage Vorstellung vom Aussehen des Fliigelretabels vermit- telt die Initial-Miniatur eines Lorcher Antiphonars (Vesper zu

Fronleichnam) in der Wiirttembergischen Landesbibliothek

(Cod. mus. I 64; Kissling, Abb. S. 179). 128 Rott 1934 (wie Anm. 4), S. 53; sein Tod fillt jedenfalls vor

April 1491.

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126 HARTMUT SCHOLZ

worden ufffritag nauch Jacobi in LXVIIIIjar.129 Nach Lage der Dinge kann es sich dabei eigentlich nur um den Bilderschmuck eines der beiden damals in Arbeit befindlichen groBen Ausstattungsobjekte des Miinsters handeln: den Dreisitz oder das Sakramentshaus. Am Sakramentshaus kamen wohl nur die Steinbildwerke in Frage, doch hier zaihlt manfiinfgroBe - unten die beiden Stiitzfiguren Sebastian und Christophorus und im ersten GeschoB des Auszugs die drei versteckten Prophetenbilder - und zehn kleine Bilder - acht Kleri- ker am Treppenlauf und zwei (heute verlorene) Sta- tuetten seitlich des Schreins;130 die drei groBen Pro- phetenbilder unterscheiden sich allerdings erheblich vom plastischen Schmuck der Treppenanlage. "'1 Beim Dreisitz dagegen paBt die genannte Zahl der Bildwer- ke, nimmt man die acht Propheten einschlieBlich der beiden verlorenen Reliefs auf mittlerer HShe an den hinteren Schmalseiten 32 fiir die zehen klainen bild, die vollrunden Wangenbiisten der beiden Sybillen und die Standfigur des Auferstandenen im Auszug fiir die gro- Ben. Der Dreisitz ist freilich in doppelter Hinsicht fiir Syrlin als Unternehmer gesichert: Signiert und datiert 1468 andree (30. Nov.) Jorg Syrlin, als auch erwaihnt im Vertrag fiir das Chorgestiihl (vom 13.Juni 1469), und so ist man schnell geneigt, hinter jenem Jorg Bildhauer niemand anders als Jorg Syrlin d. A. zu vermuten.133 Doch hier sind schwerwiegende Bedenken ange- bracht:

1. Der oben wiedergegebene Vertrag von 1467

spricht allein von Bildwerken. Mit keinem Wort wird der eigentliche Rahmen - die Gestiihlsarchitektur - er-

wthnt und folglich muB man annehmen, daB die Miin- sterpfleger zunaichst den (leider nicht erhaltenen) Ver-

trag iiber die Kistlerarbeit und einen zweiten iiber die Bildwerke abgeschlossen haben. DaB dies fiir ein En- semble mit ein und demselben Meister geschehen sein sollte, wiire ebenso umstdindlich wie unwahrschein- lich; jedenfalls kenne ich keinen vergleichbaren Fall. Es macht vielmehr nur dann einen Sinn, wenn die Anteile an verschiedene Meister vergeben wurden.134

2. Der erltuternde Kontrakt zum anschlieBenden

Chorgestiihl geht in dankenswerter Ausfiihrlichkeit auf Anzahl und Form der von Syrlin zu fertigenden stend des Gestiihls ein, die nach Inhalt einer vorgelegten Vi-

sierung und dem Vorbild des Dreisitzes im Laufe von vier Jahren ausgefiihrt werden sollten. Holz, Klam- mern, Naigel usw. sollten ihm ohne sin costen und schaden von der Miinsterpflege zur Verfigung gestellt werden. Dagegen war er ausdriicklich verpflichtet, alle arbei4 es sye mit bildwerck oder anderem, also fiir unser Interesse v.a. die weiter verdingten Bildhauerarbeiten, aus dem vereinbarten Gesamtlohn selbst zu bestrei- ten. 135

3. Beim Auftrag zum Hochaltar (1474) ging man dann soweit, etlich bild in die taffel (d.h. eine >>griBere Anzahl<< von Bildwerken) an Michel Erhart direkt zu

vergeben, mit dem - parallel zu Syrlin - ein eigenerVer- trag abgeschlossen wurde. Bei Syrlins Anteil war dies-

129 Ebd. S. 55; Rechnungen der Pfarrkirchenbaupflege 1456- 1518 (gefunnden gelt und bestellung), StA Ulm, A 6967, fol.10 (16. Juli 1467 und 28. Juli 1469). 130 Vgl. das ausfiihrliche Abbildungsmaterial bei Raichle (wie Anm. 24), und V6ge (wie Anm. 90). 131 Kiirzlich hat Alfred Schidler, Niclaus Weckmann - Bild- hauer zu Ulm, in: Miinchner Jb. der Bildenden Kunst 43, 1992, S. 44 f., die nahe stilistische Verwandtschaft der drei Propheten zur Erbirmdegruppe aus dem Sterzinger Altar (heute Ferdinan- deum Innsbruck) und zum Vesperbild in Weil von 1471 (heute Wiirtt. Landesmuseum Stuttgart) hervorgehoben, nachdem be- reits Wortmann, Das Ulmer Miinster, 21981, S. 44 f., auf deren Niihe zu Multscher hingewiesen und eine friihe Entstehung der Figuren (Anfang der 60er Jahre im Zuge der ersten Planungs- stufe des Sakramentshauses) angenommen hatte. Deutlich sei demgegeniiber die Treppenanlage mit ihren Stiitz- und Brii- stungsfiguren als nachtrigliche Konzeption zu erkennen, abwei- chend nicht allein in Ornament und Figurenstil, sondern auch im Material. Auch sind die kleinen Statuetten am Treppenlauf wohl aus einem Stiick mit den architektonischen Teilen gehauen und daher ist kaum anzunehmen, daB hier eine separate Auf- tragsvergabe iiberhaupt m6glich war. Der hohe Aufwand an Ar- chitektur deutet vielmehr auf die Bauhiitte selbst als ausfiihren- des Organ; die Planung kinnte dann freilich mit der Person Mo- ritz Ensingers in Zusammenhang stehen, wie Volkhard Frebel, Das Ulmer Sakramentshaus und sein Meister, in: Ulm und Oberschwaben 44, 1982, S. 239-252, mit guten Griinden vermu- tet hat. 132 Auf der Nordseite sind die Umrisse des abgearbeiteten Re- liefs einer Standfigur noch deutlich genug zu sehen; auf der Siid-

seite beweist wenigstens die unsaubere Oberflhiche das ehemali- ge Vorhandensein einer Abdeckung (den Hinweis aufdiese Fehl- stellen verdanke ich Dr. Gerhard Weilandt, Stuttgart). 133 So zuletzt auch Gerhard Weilandt, War der iltere Siirlin Bildhauer? in: Jb. der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden- Wiirttemberg 28,1991, S. 537-53, wo der betreffende Vertrag aus- giebig und eben mit diesem naheliegenden Ergebnis diskutiert wird. 134 Auch das chronologische Argument, das Weilandt (wie Anm. 133), S. 42 f., fiir seine Gleichsetzung von maister jorgen bildhower mit Syrlin d. A. bemiiht, vermag nicht zu iiberzeugen; im Gegenteil: 1. ist es ohne weiteres >zu verstehen<<, wenn die Miinsterpfleger mit der Verdingung des Chorgestiihls solange warteten, bis der Dreisitz samt den Bildwerken vollendet war, und 2. wire vielmehr zu fragen, warum Syrlin die Vollendung der Schreinerarbeit schon am 30. November 1468 durch Inschrift besiegelte, den Auftrag zum Chorgestiihl aber erst ein halbes Jahr danach erhalten hatte. DaB dies nicht unmittelbar mit der noch anstehenden Endabrechnung der Dreisitzskulpturen (28. Juli 1469), folglich ebensowenig mit einer vermeintlichen Identi- tiit Syrlins und des gesuchten Bildhauers J6rg zu tun haben kann, dafiir spricht 3. der Umstand, daB der Originalvertrag fiir das Chorgestiihl eben doch schon 1 1/2 Monate zuvor (13. Juni 1469) abgeschlossen worden war. Der verzogerte Ulbertrag ins Rech- nungsbuch der Frauenpflege (4. August 1469) hat schlieBlich - abgesehen vom Gebrauch doppelter Buchffihrung - in der Frage der Meister erst recht keinerlei Beweiskraft. 135 Baum (wie Anm. 105), S. 152 f.; Rott 1934 (wie Anm. 4), S. 51 f.

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 127

mal keine Rede mehr von Skulptur, sondern nur noch vom sarch zu der tafel, also dem Schrein.136

4. DaB dieser Fortgang nicht als unumkehrbare

Entwicklung von der ganzheitlichen Leistung zur Ar-

beitsteilung verstanden werden darf, belegt schliellich der Auftrag zum Vespertolium (1482), der mit Syrlin d. J. den Preis von 80 Gulden vereinbartfur sin arbait

unfiir die bild. Das sol er alles uffsin kosten machen; am Ende folgt nochmals der Zusatz: dii bild sol er bezalen, der freilich nurim Falle der Weitervergabe von Skulp- turen an einen Subunternehmer einen Sinn be- kommt. 137

5. Bleibt anzumerken, daB die erhaltene Zunftliste der Kramer (der in Ulm bekanntlich die Maler, Glaser und Bildhauer zugehdrten) um das Jahr 1470 besagten J6rg pildhower verzeichnet, wie iibrigens auch die di-

versen, mit Sicherheit auf Stain zu beziehenden Eintrii-

ge im Rechnungsbuch der Frauenpflege von 1456-1518 stets auf den Namen J6rg bildhower ausgestellt wurden und damit der erforderlichen Eindeutigkeit Rechnung tragen.138 Von Jorg Syrlin dagegen ist bekannt, daB er der Zunft der Schreiner und Wagner angeh6rte, was zwar nicht ausschlieBt, daB er selbst in der Lage war, Bildwerke zu schaffen (denn diesen sollte freigestellt sein, in welcher der beiden Ziinfte sie sich organisier- ten), doch es belegt zweifelsfrei, daB Syrlin mit jenem kontinuierlich - auch von den Miinsterpflegern - so ge- nannten, der Kramerzunft zugehdrigen JorgBildhauer nicht identisch gewesen sein kann.139

Aus den Vertragstexten lilBt sich, wie das schon Deutsch mit Nachdruck getan hat, nur der SchluB zie-

hen, daB die Bildwerke in aller Regel eben nicht vom Schreiner - dem ilteren oder jiingeren Syrlin - ausge- fiihrt wurden, blieb es diesem nun jeweils iiberlassen, selbst nach geeigneten Bildhauern Ausschau zu halten, oder hatte die Miinsterpflege diese Verantwortung erst

gar nicht aus der Hand gegeben.'" . Wenden wir uns

daraufhin wieder der Quelle von 1467-69 zu, dann ist

die MdSglichkeit auszuschlieBen, daB mit dem genann-

ten Meister Jorg Bildhauer Jorg Syrlin gemeint sein konnte. Unter den damals in Ulm bezeugten Bild- hauern kommt aber nur einer als Alternative in Frage, und das ist Jdrg Stain, der spaitere Meister des Lorcher

Fronaltars.41 Wenn dem aber so ist, und der fragliche Auftrag tatsaichlich mit dem Dreisitz in Verbindung steht, dann miiB3te sich von hier aus auch eine Bezie-

hung zum einzig sicheren Werk Stains - dem Kruzifix in

Lorch - herstellen lassen. Fiir den Auferstandenen im

Auszug ist das auch ohne weiteres moglich, denn ob- wohl wir nicht wissen kdnnen, wann Stain den Lorcher

Gekreuzigten tatsdichlich geschnitzt hat,142 ist die Ver-

wandtschaft der beiden Figuren evident (Abb. 37, 39). Nach den genealogischen Wurzeln muB nicht erst

miihsam gesucht werden; es sind dieselben, und sie lie-

gen offen zutage: Der Auferstandene im Dreisitz ist von

Wilhelm VSge zutreffend auf das >>multscherische<< Vor-

bild des Kasseler Schmerzensmanns zuriickgefiihrt worden, der um die Mitte des Jahrhunderts entstanden

sein muB;'45 Standmotiv, Gewandbehandlung (v.a. das Lendentuch) sind diesem verpflichtet ohne ihn zu

erreichen. Demselben Exempel folgt im iibrigen (nur ohne Mantel und in gegensinnigem Kontrapost) auch

der Schmerzensmannm im Auszu des Rothenburger Hochaltars von 1466 (Abb. 40).1 In Kopfform und

Typus noch naiher steht allerdings der Schmerzens- mann aus Multschers Sterzinger Altar (Abb. 38). Der

gestreckte Lorcher Gekreuzigte ist, trotz des womig- lich erheblichen zeitlichen Abstands, der schlankeren

Gestalt des Sterzinger Schmerzensmanns noch unmit-

telbarer an die Seite zu stellen. Die ausgezehrten Ziige, die altertiimliche Form der Dornenkrone und das Len-

dentuch mit den einfachen stibingen Parallelfalten

136 Baum (wie Anm. 105), S. 153 und 157; Rott 1934 (wie Anm.

4), S. 56. 137 Baum (wie Anm. 105), S. 155; Rott 1934 (wie Anm. 4), S. 53. 138 Vgl. Rott 1934 (wie Anm. 4), S. 56: zu 1491. 139 Ulm, St.A., Ulmensien 5099, fol. 100v; bzw. Fratris Felicis Fabri tractatus de civitate Ulmensi, hrsg. von Gustav Veesen-

mayer, Tiibingen 1889, S. 138: >>Sexta decima zunfta scriniatorum et currificatorum ... in qua sunt Siirlin dicti ...<<. 140 Vgl. Wolfgang Deutsch, Jorg Syrlin der Jiingere und der Bildhauer Niklaus Weckmann, in: ZWLG 27, 1968, hier beson- ders S. 41-47. 141 Schon Irmgard Himmelheber, Ein Ulmer Bildschnitzer der

Spitgotik, in: Jb. der Staatlichen Kunstsammlungen in Baden-

Wiirttemberg 6, 1969, S. 33-48, hat in Stain den Urheber der Bildwerke am Dreisitz vermutet. 142 DaB er ihn dem Kloster nach Vollendung des Fronaltars

(1484) in eigener Sache gestiftet hat, bedeutet nicht automatisch, daB er ihn erst fiir diesen Zweck geschaffen haben muB; vgl. Rott 1954 (wie Anm. 4), S. 56.

143 Kassel, Landesmuseum; vgl. Wilhelm V6ge, Syrlin und Multscher (postum), in: Miinchner Jb. fiir Bildende Kunst, 5. F.

12, 1961, S. 176-183 (freundlicher Hinweis von Uwe Gast M.A.,

Freiburg). Ob die Figur von Multscher selbst stammt, wie V6ge annehmen mochte, wage ich nicht zu entscheiden (vgl. ebenso: Theodor Demmler, Kat. der Bildwerke des Deutschen Museums

Berlin, Bd. 3: Die Bildwerke in Holz, Stein und Ton, Berlin/

Leipzig 1930, S. 126; Gert von der Osten, Der Schmerzensmann, Berlin 1935, S. 101 f., Abb. 115,117-120); in dessen unmittelbaren Werkstattkreis gehort sie auf jeden Fall (vgl. Alfred Schtdler, Die

Friihwerke Hans Multschers, in: Zs. fiir Wiirttembergische Landesgeschichte 14, 1955, S. 423, und Manfred Tripps, [wie Anm. 18], S. 271). 144 Aufgrund dieser engen Beziige zum Kassler Typus ordnet von der Osten (wie Anm. 143), S. 106 f., Abb. 121, den Rothenbur-

ger Schmerzensmann v6llig zu Recht Multschers >engerem Kreis<< zu.

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128 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 37. Lorch, Klosterkirche, Kruzifix. J6rg Stein, vor 1484

sind hier nichstverwandt.145 Insbesondere aber die anatomisch korrekte Bildung des Brustkorbs mit dem

elliptisch vom Brustbein herab sich abzeichnenden

Rippenknorpel verrdit das Vorbild Multschers, wurde

in Lorch jedoch in einem MaBe gesteigert, das der aufs hochste angespannten Haltung des ans Kreuz Genagel- ten adaiquaten Ausdruck verleiht. Dies betrifft ebenso- sehr die natiirliche Wiedergabe der gestreckt durchge-

145 Allerdings sind gerade beim Lendentuch - der einzigen schwachen Stelle der Figur - Zweifel hinsichtlich der Originali- tit erlaubt. Die Formen (die mindestens an die Grundkonzep- tion erinnern m6gen) scheinen iiberschnitzt, der links angesetzte wehende Zipfel nicht urspriinglich. Miglicherweise wurden be- treffende Teile verdindert, um die Doppelfunktion als Grab- christus zu gewiihrleisten: Die Arme der Figur sind schwenkbar,

doch wer weiB, ob sie dies von Anfang an gewesen sind. M6glich ware umgekehrt auch eine Beschidigung beim alljihrlichen Ge- brauch an Karfreitag (zur Verwendung im Rahmen der Karfrei-

tags-Liturgie vgl. mit sch6ner Ausfiihrlichkeit Wolfgang Deutsch, Ein Kruzifix in Weil der Stadt und andere Werke Michel

Erharts, in: Heimatverein Weil der Stadt, Berichte und Mittei-

lungen 54, 1985, Nr. 5, besonders S. 4-6).

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 129

Abb. 38. Innsbruck, Ferdinandeum, Schmerzensmann vom Sterzinger Altar. Werkstatt Hans Multscher,

1456-58

driickten Beine, die jeden der angestrengten Muskeln sichtbar werden laBt. Kein Zweifel, Stain muB durch die anatomische Schule Multschers gegangen sein, be- vor er in Ulm als Meister in Erscheinung tritt. DaB er erstmals 1455 in einer Urkunde erwahnt wird, bedeutet freilich nicht automatisch, daB er zu diesem Zeitpunkt bereits iiber eine eigene Werkstatt verffigte. Denkbar wdire gleichermaBen eine Mitarbeit in Multschers Un- ternehmen.146 Im direkten Vergleich mit dem Aufer- standenen des Dreisitz erweist sich der Lorcher Kruzi-

Abb. 39. Ulm, Miinster, Auferstandener vom Dreisitz,

1467-69

Abb. 40. Rothenburg o.d.T., Schmerzensmann vom

Hochaltar, 1466

fix (abgesehen vom iiberschnitzten Lendentuch und der ruin6sen Gesamterhaltung) als die qualitatvollere Figur, doch auch bei jenem wird die urspriingliche Wirkung durch die dicke Fassung des 19. Jh. stark

beeintraichtigt. All dies beriihrt aber nicht die M6glich- keit ihrer gemeinsamen Herkunft aus der Werkstatt

J6rg Stains. Deutsch hat am Dreisitz wenigstens zwei Schnitzer von unterschiedlichem Rang getrennt, dabei aber gerade den Auferstandenen ausgeklammert, da dessen Urspriinglichkeit nicht ausreichend gesichert sei.147 Wenn es aber zutrifft, daB >>Haltung, Gebarden, die Falten des Mantels und des Lendentuchs ohne wei- teres zur Formensprache des Tiefenbronner Meisters<<

(dem von Deutsch so getauften Schnitzer der Kreuzab-

nahme, der beiden Johannes und der Kreuzgruppe im

Auszug des Tiefenbronner Hochaltars) passen, dann scheint mir der abweichende >>Gesichtsschnitt<< (soweit sich dieser unter der Fassung iiberhaupt zureichend beurteilen liBt) ein vergleichsweise schwaches Argu- ment gegen die Werkstattzugeh6rigkeit der Figur; zu- mal das im Dreisitz unmittelbar unter dem Auferstan- denen befindliche Relief des Salomon im mittleren

146 Zur erstmaligen Erwihnung Stains 1453 vgl. Weilandt (wie Anm. 133), Anm. 4. 147 Deutsch (wie Anm. 107), S. 291 ff., hier besonders Anm. 231:

DaB unter der Fassung des 19. Jh. eine altere festgestellt wurde, riiumt den ehemaligen Verdacht aus, die Figur insgesamt sei nur eine Kopie nach dem Vorbild des beschdidigten Originals.

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130 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 41. Tiefenbronn, Pfarrkirche, Gekreuzigter im Auszug des

Hochaltars, 1469

Wimperg gen Westen denselben Typus vertritt. 148 Am Tiefenbronner Altar selbst jedoch war mindestens noch ein zweiter Schnitzer von hohem Format beteiligt, Deutsch zufolge der Heggbacher Meister mit den Heili-

gen Dorothea und Katharina, nach Anja Broschek der Schnitzer der trauernden Marien (Magdalena und Sa-

lomae), die ihrerseits wieder in einen Zusammenhang mit den drei verbliebenen Sakramentshausfiguren im dritten Stockwerk (Jeremias, Nehemia und Malachias) gehiren. 149 Vom Heggbacher schlieflich stammen am Dreisitz auch die erythraische Sibylle und Micha.

Ich bezweifle, daB eine saubere Trennung der bei- den wesentlichen Stilstromungen im Tiefenbronner

Retabel, im Ulmer Sakramentshaus und im Dreisitz ohne Harten durchzufiihren ist, doch soviel ist festzu- halten: Beide miiBten in diesen Jahren wohl innerhalb einer Werkstatt zu suchen sein, denn es ist ziemlich un-

wahrscheinlich, daB die jeweiligen Bildprogramme in

allen drei Fillen, d.h. bei jeweils verschiedenen Auf-

traggebern stets an die selben Ateliers aufgeteilt wor- den wiren. DaB dies tatsaichlich die Werkstatt Stains ge- wesen sein diirfte, dafiir spricht nach allem auch die sti- listische Nihe des Lorcher Kruzifixus zur allerdings wesentlich schwicheren Gehilfenarbeit des Gekreu-

zigten im Auszug des Tiefenbronner Altars (Abb. 41). Die hier vorgeschlagene Identifizierung der Werk-

statt Stain besitzt im iibrigen auch ein historisches Argu- ment: Die bereits erwihnte, von spaterer Hand glaub- wiirdig 1470 datierte Zunftliste der Kramer, nennt unter den Vertretern (genauer den Meistern) kiinstleri- scher Handwerke neun Maler, zwei (oder drei) Karten-

maler, zwei Glaser, aber nur einen Bildhauer.150 Die Generation Multschers war offenbar bereits vollstan-

dig abgetreten und Meister wie Michel Erhart noch nicht ziinftig etabliert. Da bekanntlich jeder Meister, der ein Handwerk in Ulm selbstdindig ausiiben wollte,

148 Neben den genannten Arbeiten hatDeutsch (wie Anm. 107), S. 501-504, dem >>aus der Werkstatt Multschers hervorgegange- nen< Tiefenbronner Meister die folgenden Werke zugeschrie- ben: zwei Madonnenbilder in Neufra (um 1460; von Rott 1954 wie Anm. 4, S. XVI, freilich ohne nihere Begriindung als Friih- werk J6rg Stains gehandelt) und Rennertzhofen (um 1465), fiinf der acht Holzfiguren im Auszug des Ulmer Sakramentshauses (Melchisedek, Elias, Salomo, Tobias und Jesus Sirach, zwischen

1467-71), eine sitzende Muttergottes in Privatbesitz (Abb. in: Weltkunst 44, 22.10.1974, S. 1717) und schlie6lich die Ritterfigu- ren an Syrlins Fischkasten (1482).

149 Anja Broschek (wie Anm. 110), S. 115 f., Abb. LXVII-LXIX.

Dagegen spricht die von Deutsch (wie Anm. 107), S. 298-301, vor-

geschlagene Zuschreibung der drei zuletzt genannten Propheten vom Sakramentshaus an Michel Erhart und deren Datierung in die Mitte der 70er Jahre; allerdings begegnet deren tainzerische

Schrittstellung schon im AltarriB von ca. 1469 (Christus als Aufer- standener und der hl. Martin im Auszug) und muB auch nicht di- rekt auf Gerhaert zuriickgehen. 150 Ulm, StA, U 5099, fol. 25v; vgl. zuletzt Gerhard Weilandt, Die Ulmer Kiinstler und ihre Zunft, in: Meisterwerke massen-

haft, Kat. Ausst. Stuttgart 1993, S. 369-387, hier besonders S. 374.

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 131

zuvor Zunft und Biirgerrecht erwerben muBte und zwar ausnahmslos, gab es - so sehr dies zunachst be- fremdet - um 1470 anscheinend nur ein einziges anstiin- diges Bildhaueratelier in der Stadt, naimlich die Werk- statt Jarg Stains. Alle iibrigen namentlich bekannten Bildhauer - Michel Erhart, Paul Lebzelter und der ver- mutlich mit Multscher verwandte Kitzin - kbnnen bis dahin nur unter den abhlingigen Mitarbeitern vermutet werden; noch die Zunftordnung der Maler, Bildhauer und Glaser von 1496 hdilt ja fest, das ein yeder maister longesellen, sovil er will, anstellen mog, und diese Rege- lung muB wohl zu Zeiten recht ausgiebig gehandhabt worden sein. 151 Selbst den mutmaBlich eingesessenen Biirgersohnen Lebzelter152 und Kitzin155, die schon als Gesellen ziinftig gewesen sein diirften, k6nnte - nach MaBgabe der Ordnung von 1496 - allenfalls >>Stiick- werk<< weiterverdingt worden sein. Da ein unselbstiin- diger Bildhauergeselle ohne eingetragene< Werkstatt aber gewiB keine weiteren longesellen beschaiftigen konnte, sind die stets wiederkehrenden verschiedenen Stilrichtungen an den Ulmer und Tiefenbronner GroB- auftriigen schwerlich mit den Genannten zu verbinden; es sei denn als Mitarbeiter der Werkstatt Stain.154

Schon die spairliche historische Oberlieferung zur Person des von uns gesuchten Hans Kamensetzer lieBe an eine iihnliche Stellung denken. Ihn versuchsweise mit einem der maBgeblichen Schnitzer der spiiten 60er Jahre in Ulm - etwa dem Tiefenbronner oder dem Heggbacher Meister - gleichzusetzen, ware aber nur statthaft, wenn sich 1. einer der beiden spaitestens seit 1471 nicht mehr in Ulm nachweisen lieBe, und 2. eine erkennbare Beziehung zum potentiellen StraBburger Werk bestiinde, doch dafiir fehlt jede Voraussetzung. Allenfalls motivische Briicken lieBen sich schlagen, wie beispielsweise die frei hinterschnittenen, auf Schulter und Brust herabh~ingenden Tuchzipfel der turbaniihn- lichen Kopfbedeckungen bei Melchisedech und Elias im Ulmer Sakramentshaus, die ganz dihnlich auch beim Joseph der Amsterdamer Geburt wiederkehren (Abb. 10, 44), oder das Gewandmotiv des einwirts geschlage- nen Mantelendes iiber dem tief sitzendem Knie des

Melchisedech, das gut vergleichbar auch beim Engel der Verkiindigung der Wiener Hofburgkapelle begeg- net (Abb. 11, 44).

Daneben sollte freilich eine zweite Spur nicht unerwiihnt bleiben, denn es scheint vielmehr, daB die beiden zuvor genannten Bedingungen durch die figiir- liche Ausstattung der Treppenanlage des Ulmer Sakra- mentshauses von 1462-71 erfiillt werden, die in Ulm selbst keine eigentliche Nachfolge besitzt und auBer- dem - wie erwiihnt - bereits fiir einen StraBburger Mei- ster in Anspruch genommen wurde. Wilhelm V6ges Zuweisung der betreffenden Steinskulpturen an Nico- laus Hagenauer hat zwar ebensowenig iiberzeugt wie die jiingste Zuschreibung der Alabasterfiguren am StraBburger Kanzelkorb an Hagenauer durch Roland Recht, 155 doch die Verwandtschaft der beiden Gruppen untereinander ist trotz des zeitlichen Abstands von bald zwei Jahrzehnten nicht zu leugnen: Den kleinen Sta- tuetten geistlicher Wiirdentriger an den Ballustraden der Treppenliufe in Ulm fehlt noch die enorme plasti- sche Prdisenz der Stral3burger Figuren, doch charakte- ristische Einzelmotive wie die durch die Arme einge- schniirte und schildf6rmig vor dem K6rper ausschwin- gende Kasel der Oberhirten, die auf flacher Folie wie aufgesetzt erscheinenden Faltenstege und -briicken, die sternf6rmigen Sockelplatten und vor allem die mar- kanten, breiten Kopfe mit den kriiftig ausgepriigten Kie- ferknochen sind hier schon wesentlich vorgebildet (vgl. Abb. 19, 20 42, 43). Wenn die Zuschreibung der StraB- burger Alabasterfiguren an Hans Kamensetzer ihre Richtigkeit hat, dann wiren die kiinstlerischen Voraus- setzungen des Bildhauers eher noch hier zu suchen, und eine Zusammenarbeit mit der Bauhiitte unter der Leitung Moritz Ensingers - der nach Volkhard Frebel fiir den architektonischen Teil am Sakramentshaus ver- antwortlich gewesen sein diirfte156 - boite zugleich das Vorbild fiir die spitere Kooperation mit dem StraBbur- ger Werkmeister Hans Hammer.

Fassen wir also vorliufig zusammen: Die hier im I. und II. Abschnitt angesprochenen und eigentlich in Frage

151 Vgl. Rott 1934 (wie Anm. 4), S. 74. DaB Michel Erhart in Neubronners Ausziigen bereits 1469 unter den Steuerzahlern er- scheint, indert nichts. Hitte er, wie Broschek (wie Anm. 110), S. 24, daraus schlieBt, bereits damals die selbstlindige ?Stellung ei- nes Meisters< innegehabt, dann ware er auch in der Zunftliste von 1470 verzeichnet worden. 152 AuBer den beiden seit Rott 1934 (wie Anm. 4), S. 59, bekann- ten Eintrigen von 1468: Paulin Lebzelter, und 1481: Palsen Letzel- ter, bildhawer, sei noch aufNeubronners Ausziige aus den Steuer- biichern verwiesen, wo ao. 1442, ein Lebzelter neben dem Bild- hauer Chunrat Gebhart begegnet (Ulm, StA, A 6506, fol. 21); m6glich, daB es sich hier um ein und dieselbe Person handelt, doch eher k6nnte der Vater des Bildhauers gemeint sein, der dann auch fiir den Eintrag von 1468 in Frage kommt. Anschei- nend war der Bildhauer noch 1499 am Leben, aber nicht mehr in Ulm (vgl. Alfred Schidler [wie Anm. 131], S. 44).

153 Seit Rott 1934 (wie Anm. 4), S. 59, im Zeitraum von 1475- 1491 nachgewiesen und offenbar ein Verwandter von Multschers Frau, einer geb. Kitzin. 154 Unter diesen Umstiinden sind auch die vorsichtig formulier- ten Identifizierungsversuche von Deutsch (wie Anm. 107), Anm. 268a, der den Bildhauer Kitzin als m6glichen Erben und Nach- folger in der Leitung der Multscherwerkstatt hinter dem Tiefen- bronner Meister vermutet, bzw. ders., Anm. 329, und Schidler (wie Anm. 131), S. 44 f., die das 1471 datierte Vesperbild aus Klo- ster Weil (Wiirtt. Landesmuseum, Stuttgart) mit dem Meister- zeichen P fiir Paul Lebzelter in Vorschlag gebracht haben, mit einem zusiitzlichen Fragezeichen zu versehen. 155 Vgl. bereits Anm. 88 und 90. 156 Vgl. Anm. 131.

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152 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 42. Ulm, Miinster, Sakramentshaus, Hi. Papst

vom Treppenlauf, um 1462-71

Abb. 43. Strafburg, Miinsterkanzel, HI. Bischof,

um 1483/85

stehenden Nachwirkungen in der Stralburger Glas- malerei weisen

vielf•iltig zuriick auf denselben Kreis vorbildlicher Werke der Plastik und Zierarchitektur in

Ulm, resp. auf Werke, an deren Herkunft oder Bezie-

hung mit Ulm nicht zu zweifeln ist; allesamt gehiren an das Ende der 60er Jahre und alle stehen in einem mehr oder weniger direkten Werkstattzusammenhang. Wer Architektur und Steinplastik des Sakramentshauses

(1462-71) entworfen und ausgefiihrt hat, ist einstweilen nicht mit letzter Sicherheit zu entscheiden, doch die

plastische Ausstattung der obersten beiden Stockwerke

(die acht Holzfiguren direkt oberhalb der iiber Eck ge- stellten Tabernakel, die ihrerseits im Volckamer-Fen- ster in Niirnberg w6rtlich aufgegriffen wurden) stammt wohl aus derselben Ulmer Werkstatt wie die Bildwerke am Dreisitz (1467-69) und am Tiefenbron- ner Hochaltar (1469). Die beste Kraft dieser Werkstatt - der Heggbacher Meister - wurde im iibrigen schon mehrfach mit dem ReiBer der Ulmer Hochaltarvisie-

rung (um 1469 ?) gleichgesetzt, die in ihren architekto- nischen wie figiirlichen Bestandteilen neben dem Sa- kramentshaus die naichsten Parallelen zur StraBburger Glasmalerei aufweist. Weitere Zeichnungen mit weib- lichen Biisten, darunter insbesondere das Dresdner Blatt einer heiligen Martha, kniipfen in technischer und stilistischer Hinsicht unmittelbar an den AltarriB und die Ulmer Gestiihlsplastik an, wobei der Typenschatz den StraBburger Glasgemdilden hier noch niher- kommt. Die archivalische Notiz iiber den Auftrag von dreizehn Bildwerken, deren naheliegende Verbindung mit den Dreisitzskulpturen und die Vergleiche mit dem

Lorcher Kruzifix unterstreichen die Vermutung, daB es sich bei der fraglichen Bildhauerwerkstatt um diejeni- ge J6rg Stains gehandelt haben wird.

DaB der im Dezember 1471 in StraBburg eingebiir- gerte Bildhauer Hans Kamensetzer wahrend seiner letzten Ulmer Jahre zuerst unter den Mitarbeitern Stains zu suchen ware, scheint nicht nur durch die for- malen Beziige gerechtfertigt, sondern k6nnte sich auch auf den Umstand stiitzen, daB Stain - war er nun ein Verwandter des Verstorbenen oder nicht - nach dem Tod Kamensetzers als Zeuge fi-r dessen leiblichen Bru- der Thoman Kamensetzer vor Gericht zitiert wurde. Den nachhaltigen Eindruck, den daneben das gleich- zeitig - wohl in der Ulmer Bauhiitte - ausgefiihrte Sakramentshaus, besonders die steinernen Treppenfi- guren bei ihm hinterlassen haben, mit einer direkten

Beteiligung an den betreffenden Teilen zu erkliren, wire nicht minder verlockend, doch sollte man auch hier mit Zuweisungen vorsichtig sein. Das mutmafli- che StraBburger und Wiener Werk verrat eine so voll-

stindige Anverwandlung an oberrheinische und nie- derlandische Stileigentiimlichkeiten, daB Riickbeziige auf die Ulmer Vorschule des Bildhauers - mit Ausnah- me der Rothenburger Kreuzgruppe - kaum festzuma-

Abb. 44. Ulm, Miinster, Melchisedech vom Sakramentshaus, um 1462-71

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 133

chen sind. Eben diese hochgradige Wandlungsfdihig- keit diirfte dem Meister iiberhaupt seinen spiteren Ruhm eingetragen haben, denn die in den 60er Jahren

abgetretene Bildhauergeneration um Nikolaus Ger- haert und den Schnitzer der Nordlinger Hochaltarfigu- ren hatte in StraBburg derartige MaBstiibe gesetzt, daB nur ein den groBen Vorliiufern gleichermaBen aufge- schlossener wie kongenialer Meister dem Anspruch gerecht werden konnte, deren unmittelbare Nachfolge mit dem verbiirgten Erfolg anzutreten. Von Bartholo-

maius Widitz etwa, dem zweiten StraBburger Bildhauer

jener Jahre, ist eine vergleichbare Wertschaitzung nicht iiberliefert.

IV.

Halten wir trotz mangelnder Eindeutigkeit im Bereich der Ulmer Plastik selbst an der reklamierten Mittlerrol- le des Bildhauers (und ReiBers ?) Hans Kamensetzer im Falle der ulmischen Einschlige im (Euvre der StraB- burger Glasmalergemeinschaft fest, dann bleibt freilich zu kliren, wie einem Bildhauer die Rolle eines Entwer- fers fiir Glasmalereien zuwachsen konnte.

Tatsache ist, daB fiir keinen zweiten Ort im spaiten 15. Jh. eine solch umfangreiche, in sich relativ geschlos- sene Gruppe von Studienblittern nachgewiesen ist, die

vorwiegend als Nachzeichnungen und Bildnotizen ein- zelner Motive, Figuren, Gruppen und ganzer Komposi- tionen Einblick in die Vorlagensammlungen spiitmittel- alterlicher Werkstiitten vermitteln und damit zugleich die Bedeutung derartiger Musterblitter und Risse im Arbeitsablauf belegen kdnnen, wie dies in StraBburg fiir die Zeichnungen des sog. >>Gewandstudienmei- sters<< zutrifft. Tatsache ist aber auch, daB die genannte Skizzengruppe nicht auf eine einzige Gattung zu bezie- hen ist, sondern iibergreifend angelegt, wenn vielleicht auch nicht entsprechend benutzt wurde. DaB die >Stu-

diensammlung< nahtlos von einem in den anderen Be- reich iiberwechselte, beweisen Blaitter wie der friiher erwaihnte Wiener AltarriB, dessen Vorderseite, wie be-

reits ausgefiihrt, den alternativen Entwurf eines Altar- schreins mit Skulpturen trigt, wobei zwei der kompli- zierten Baldachine den Ausfiihrungen der StraBburger Glasmaler in Ulm (Kramerfenster) und Niirnberg (Volckamer-Fenster) gleichen, waihrend riickseitig ein

Damastmuster erscheint, das in der Tafelmalerei des

Marientods vom >>Meister von Alt-St.Peter<< in Krakau

Verwendung fand.157 Entsprechend liegen die Verhilt- nisse etwa bei der Zeichnung einer Madonna mit sprin- gendem Hund in der Hamburger Kunsthalle (Inv. Nr. 23 916), die sehr weitgehend mit der Darstellung eines oberrheinischen Schieferreliefs der Berliner

Skulpturengalerie zusammenstimmt, zugleich aber auch in eine nihere Beziehung mit der kleinen Rund- scheibe einer Hi. Dorothea auf der Rasenbank aus der

StraBburger Glasmalergemeinschaft geriickt werden

kann.158 Unter den verschiedenen riickseitigen Da-

mastmodeln des Hamburger Blattes geht der zweite von rechts oben auf das Muster im Gewand des Jiing-

lings in Rogiers Kreuzabnahme im Prado zuriick; die

klagende Magdalena ebendort findet sich spaiter als Ko-

pie auf der Beweinungstafel in Alt-St. Peter wieder. Es

muB offen bleiben, ob die beiden Blitter, ebenso wie

eine Anzahl weiterer, eher als Bildhauerstudien zu gel- ten haben oder dem (Euvre des Tafelmalers von Alt-St. Peter zugeschrieben werden miissen, dessen Typen- schatz im iibrigen die engsten Beziige zum Gesamtbe- stand der Zeichnungen aufweist. Letzteres ist wohl nur

unter der Voraussetzung moglich, daB man sie - wie die

zahlreichen Skizzen nach Glasgemlilden in Walburg, St. Wilhelm sowie Arbeiten der spaiteren Werkstattge- meinschaft - als Mustersammlung der einen Werkstatt

nach Entwiirfen oder ausgefiihrten Werken verschie-

dener Gattungen betrachtet. Doch ganz gleich wie diese

Frage zu entscheiden ist: Zum einen sind die beiden ge- nannten >>Bildhauerei<<-Zeichnungen in Wien und

Hamburg die einzigen der Gruppe, die iiberhaupt Da-

maste und Brokate festhalten, d.h. die oben ausgespro- chene Oberzeugung von der Ubermittlung des Nelken- damastmusters aus dem Rothenburger Schrein an die

StraBburger Glasmaler durch den Bildhauer der

Kreuzgruppe findet hierin eine unerwartete Stiitze.159 Zum zweiten reflektieren die vergleichsweise wenigen Zeichnungen nach plastischen Vorbildern offenbar alle

einen ganz bestimmten Kreis von Bildwerken. Ein zweites Blatt in Hamburg, das einzige, das mit Sicher-

heit zwei verschiedene Ansichten derselben ausgefiihr- ten Skulptur - einer Verkiindigungsmaria - wiedergibt, offenbart naichste Beziehungen zur Hi. Magdalena in

Biengen, die stets in die unmittelbare Nachfolge des Meisters der Ndrdlinger Hochaltarfiguren gestellt wur-

157 Roth (wie Anm. 16), Nr. 62. 158 Ebd., Nr. 24; das Blatt wird bei Winkler (wie Anm. 29), S. 136,151, Abb. 141, als Kopie einer Skulptur, bei Naumann (wie Anm. 29), S. 59 f., 67, 70 f., Abb. 24, dagegen als Vorzeichnung des Berliner Reliefs und von Ewald M. Vetter, Maria im Rosen-

hag, Diisseldorf1956, S. 46, Abb. 14 f., wieder als Nachzeichnung einer unbekannten niederliindischen Vorlage bezeichnet. Als un- mittelbares Vorbild scheidet das Berliner Relief mit Sicherheit aus, doch der zugrundeliegende ,Entwurf( war ebenso gewiB in beiden Faillen derselbe. Zur Rundscheibe der HI. Dorothea in

Altshausen vgl. Becksmann 1986 (wie Anm. 9), S. 11, Abb. 10 f., Farbtaf. VII.; vgl. hier insbesondere den blechern gebogenen, aufstehenden Saum des Mantels links. 159 DaB Rogiers Kreuzabnahme im Prado, aus der wie gesagt eines der Damastmuster der Hamburger Zeichnung entlehnt

wurde, zugleich das maBgebliche Vorbild fiir die Kreuzabnahme des Tiefenbronner Hochaltars von 1469 abgegeben haben diirfte,

mag als nachtrigliches Argument fiir die oben rekonstruierte Laufbahn des Bildhauers Hans Kamensetzer betrachtet werden.

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154 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 45. Biengen, Pfarrkirche,

H1. Magdalena. StraBburg, um 1470

de (Abb. 45, 46).160 Die Studie einer H1. Magdalena in Paris steht sogar direkt zwischen der N6rdlinger und der Biengener Figur. 161 Eine Zeichnung der Anbetung der Kinige in Coburg wird zwar - wie zehn weitere

Fassungen in Holz, Stein, Ton und Cartapesta - letztlich auf einen verlorenen Stich des Meisters E.S. zuriickge- fiihrt, doch die Angabe von Schlagschatten aufdem Co- burger Blatt weist deutlich genug auf ein plastisches Vorbild als unmittelbare Quelle; unter den erhaltenen

Abb. 46. Hamburg, Kunsthalle, Drei Studien nach einer Verkiindigungsgruppe. StraBburg, um 1490

Versionen offenbar das ehem. in der Slg. Figdor in Wien befindliche Cartapestarelief.162 Die Bildkompo- sition eines weiteren Blattes in Coburg, sieben schwe- bende Engel mit den Leidenswerkzeugen, ist gleich- falls iibereinstimmend auf ein Werk der Kleinplastik zuriickgefiihrt worden, wobei schon das Motiv selbst, die bewegte Haltung der Engel mit dynamisch um den

K6rper gewickelten Stoffbahnen, den Vergleich mit

Nibrdlingen und Rothenburg nahelegt. 165Aufein plasti-

160 Hamburg, Kunsthalle, Inv.Nr. 25 919a; Roth (wie Anm. 16), Nr. 116, der zuerst auf die >singulire< Bedeutung der Studie auf- merksam gemacht hat, nennt als nichsten Verwandten fiir die

Gewandfiihrung mit langen, schmalen und parallel gefiihrten Faltenschliuchen zutreffend den HI. Matthaus in Wiener Neu-

stadt, doch dasselbe Motiv bei noch weitergehender Entspre- chung der Draperie zeigt eben auch die Biengener Figur. 161 Paris, Louvre, Cabinet des Dessins, Inv. R.F. 731v (recto drei

Kopien nach den Schongauerstichen L. 61, L. 62 und L. 66); Roth (wie Anm. 16), Nr. 111v, hat den sichtbaren Zusammenhang mit Nordlingen und Biengen bereits hergestellt. 162 Coburg, Kunstsammlungen der Veste, Inv.Nr. Z 245; Roth

(wie Anm. 16), Nr. 22 (mit weiterer Lit.). Vgl. besonders: Hans

Huth, Ein verlorener Stich des Meisters E. S., in: Fs. flir Adolf Goldschmidt zu seinem 70. Geburtstag, Berlin 1955, S. 74-76, Abb. 1-9 (mit einer Zusammenstellung von elf Fassungen), der

schon den direkten Zusammenhang mit dem Relief der Slg. Fig- dor betont; ebenso Edith Hessig, Die Kunst des Meisters E. S. und die Plastik der Spatgotik, Berlin 1955, S. 61 f., Taf. 52b, c, 53a-c, 54a (mit einer Liste von vierzehn Versionen, davon zwei nur entfernter verwandt). 163 Coburg, Kunstsammlungen der Veste, Inv.Nr. Z 2511; vgl. Winkler (wie Anm. 29), S. 156,151, Abb. 140; Christiane Anders- son/ Charles Talbot, From a Mighty Fortress, Detroit 1985, Nr. 57. Roth (wie Anm. 16), Nr. 64, hat den Hinweis auf Nardlingen bereits gegeben. Die daneben erwogene Beziehung der drei klei-

neren, nur fliichtig skizzierten klagenden Engel im Zentrum der

Zeichnung zu einzelnen Blittern der Symbolum-apostolicum- Gruppe (besonders Coburg und Paris) iiberzeugt dagegen nicht. Deren dramatische Haltung und Gebdirden stehen vielmehr noch unmittelbarer mit Rothenburg in Verbindung.

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 135

sches Vorbild vom Meister der Alabasterstatuetten der

StraBburger Kanzel, also wieder vom Meister der Am- sterdamer Geburt, weist schlieBlich die schon weiter oben erwiihnte Berliner Zeichnung zweier stehender

Heiliger unter einem reich profilierten architektoni- schen Rahmen. 164 Der erstmals von Roth hergestellte Zusammenhang mit einem der beiden heiligen Bischi- fe der Miinsterkanzel reicht iiber die gesamte Anlage der Figur - die zwischen den Armen zusammengescho- bene, darunter elliptisch ausschwingende, wie ein Schild vor dem Korper herabhiingende Kasel, >das glockenf6rmige Auseinanderstreben der scharf um- knickenden Staufalten< am Boden - bis zum hichst >>markanten Gesichtsschnitt<< des faltigen Charakter-

kopfs (Abb. 19, 22).165 Die Figur des HI. Paulus riickt Roth in die Naihe der Wiener NeustAidter Apostel (hier besonders den HI. Matthdius), fiir deren Abkunft aus demselben Werkstattkreis bereits Stafski und Fischel

eingetreten waren.166 Alles in allem also dominiert in den Nachzeichnungen das Vorbild des Meisters der Amsterdamer Geburt, neben spiirbaren Nachwirkun-

gen der Nbrdlinger Hochaltarfiguren, so daB man zu-

nichst mit aller gebotenen Vorsicht auf einen engeren Kontakt des Zeichners mit diesen beiden Werkstaitten schlieBen mochte. Erinnern wir uns ferner, daB der >Amsterdamer Meister< selbst (nach unserer iberzeu- gung Hans Kamensetzer) in hohem MaBe der Tradi- tion der Nordlinger Figuren verpflichtet war und sehr wahrscheinlich mit dem Schnitzer der jiingeren Ro-

thenburger Schreingruppe (dem Kruzifix mit vier schwebenden Engeln) gleichzusetzen ist, dann scheint sich der Kontakt sogar ausschlieBlich auf dieses eine - vermutlich ?nahegelegene<< - Atelier beschrhinkt zu ha- ben.

Die ortliche Nihe kann freilich mit noch weit grb- Berer Berechtigung fiir das Verhiltnis Zeichner-Glas- maler reklamiert werden, denn eine weitaus stattliche- re Anzahl wdrtlicher Obernahmen, die das zeichneri- sche (Euvre des >>Gewandstudienmeisters? oder Ma- lers der Passionstafeln von Alt-St. Peter iiber die Jahre

hinweg mit den Glasmalereien der StraBburger Werk-

stiitten verbindet, wird man zwangsliufig aufeinen an- dauemden gegenseitigen Austausch zuriickfiihren, wie er eben nur bei unmittelbarer riiumlicher Nachbar- schaft vonstatten gehen konnte. DaB wenigstens drei der fiinf namentlich bekannten Glasmaler der Werk-

stattgemeinschaft beieinander - in deroberstraJfe neben bzw. gegeniiber dem Stockgericht- nachgewiesen sind, ist nicht unwesentlich, denn nur so erklirt sich zwang- los, daB an den verschiedenen Fensterauftriigen in aller

Regel anteilig gearbeitet werden konnte (Abb. 47).167 Obwohl von den beiden verbleibenden Meistern des

zunichst auf vier Jahre (1477-81) abgeschlossenen Ge-

meinschaftsvertrags - Werner Stire168 und Lienhard

Spitznagel'69 - entsprechende Nachrichten fehlen, darf man voraussetzen, daB auch sie in der Nachbar- schaft zu finden waren. Stellen wir in Rechnung, daB die nebeneinanderliegenden Werkstatten von Theo- bald Lixheim, Hans von Maursmiinster sowie der Ma- ler Heinrich Liitzelman und Hans von Frankfurt iiber Generationen (das gesamte 15. Jh. hindurch) und trotz wechselnder Besitzverhiltnisse in der Hand der jeweils selben Berufsgruppe verblieben waren 170 und iibertra-

gen diese Verhdiltnisse - wer oder was auch immer fiir diese Kontinuit~it verantwortlich war - auf die nichst angrenzenden Hiiuser, dann kommen wohl nur zwei

Hiuser als Wohnsitz der oben Genannten in die engere Wahl: dasjenige Liitzelmans, in dem vormals der Ma-

164 Berlin, Staatliche Museen PreuBischer Kulturbesitz, Kup- ferstichkabinett, Inv. KdZ 4332v. 165 Roth (wie Anm. 16), Nr. 91v. Dasselbe Prinzip zeigt auch die Josephsfigur der Amsterdamer Geburt. 166 Vgl. bereits S. 106 und Anm. 70. 167 Wie z. B. die vereinzelten Ubergriffe des mal3geblichen Glasmalers vom Ulmer Kramerfenster am zeitgleichen, groB- teils jedoch in einer anderen Werkstatt der Gemeinschaft ausge- fiihrten Ulmer Ratsfenster belegen (vgl. Anm. 95). Zum Sitz der verschiedenen Werkstitten vgl. Adolph Seyboth, Das alte StraBburg vom 13. Jahrhundert bis zum Jahre 1870. Ge- schichtliche Topographie nach den Urkunden und Chroniken, StraBburg 1890, S. 83 und 90. Eine der wichtigsten Quellen zur Topographie StraBburgs im Mittelalter und iiber die damaligen Wohnverhiltnisse der StraBburger Kiinstler ist das Allmend- buch von 1466 (fiir diesen iiberaus fruchtbaren Hinweis habe ich Archivdirektor a.D. Franqois Joseph Fuchs in StraBburg herzlich zu danken). 168 Nachweisbar von 1472-1484: Item Wernher Stire, derglaser, hat das burgrecht kouf uff mentag sant Urbanstag (25. V. 1472; Wittmer wie [Anm. 51], I, Nr. 2586); bzw.: Item Wernher Stoere, derglaser, hat sin burgrehtabgeseit tercia post letare (30. III. 1484; Wittmer, II, Nr. 3645).

169 Lienhard Spitznagel wird nur einmal 1480 genannt - eben im Zusammenhang des Gemeinschaftsvertrags (Rott 1936 [wie Anm. 4], Quellen 1, S. 244 f.). Ober ihn konnte einstweilen nur soviel ermittelt werden, daB er gebiirtiger StraBburger war, denn sein Vater, von Beruf Schiffszimmermann, erscheint be- reits 1439 und 1444 - anlBl3lich der Armagnakenziige - in den Mannschaftslisten der StraBburger Ziinfte (Archives municipa- les, A.A. 194 / A.A. 195); den Beruf des Vaters spiegelt auch noch das Siegel Spitznagels unter dem Vertrag von 1480. 170 Auf Theobald von Liheim (1471-1507; 1488 hier nachgewie- sen) folgte der Glaser Ludwig von Maursmiinster(1528-40 nach-

gewiesen). Die Werkstatt Hans von Maursmiinsters (1475-1503; ebenfalls 1488 erwaihnt), Glaser des Frauenwerks, hatte zuvor Hans Herzog(1427-1466) inne; auch er Zeit seines Lebens Miin- sterglaser. Im Hause Liitzelmans sind vormals der Maler und Glasmaler Hermann Schadeberg von Basel (1399-1447), Hans Hirtz (1421-1463) und 1427 zugleich ein Hans Schnitzeler (offen- bar Bildschnitzer) nachgewiesen; wie Liitzelman war schon

Schadeberg Maler des Frauenwerks. Vorgainger des Malers Hans von Frankfurt waren die Maler Hans Knebel (1427) und

Jheronymus derMaler(1420); vgl. Seyboth (wie Anm. 167), S. 90.

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136 HARTMUT SCHOLZ

SA

M0NSTER C NEUE KANZLEI B STOCKGERICHT

2 Theobald von Lixheim (G 1488) Ludwig von Maursmunster (G 1528-40)

3 Hans Herzog (G 1427-60) Hans von Maursminster (G 1488)

,.Hieronymus

von Frankfurt (M 1507) 4 Hermann Schadeberg (M+G 1399-1447)

Hans Hirtz (M 1421-63) Hans von N6rdlingen (B 1427-52) Heinrich LCtzelman (M 1473-1488)

5 Hans Knebel (M 1427) Hans von Frankfurt (M 1473)

%6 Hans J6uch (B 1427-65/66) Ulrich von Pforzheim (G 1427)

.,7 Peter Lempel (B 1427)

8 Peter Hemmel von Andlau (G 1466) 9 N.N. der Maler (1466)

M (Maler), G (Glasmaler B Bildhauer

Abb. 47. Wohnsituation der Maler, Glaser und Bildhauer im 15. Jh. in der OberstraBe in StraBburg; die halbfett gesetzten Namen bezeichnen Angeh6rige der StraBburger Glasmalergemeinschaft von 1477-81. Ausschnitt aus dem Stadtplan von 1765 (Blondel,

mit Beifiigung der StraBennamen und Hiusernummern von 1870 durch Seyboth; Hervorhebungen vom Autor)

ler Hans Hirtz (1421-1465), der Glasmaler Hermann

Schadeberg von Basel (1599-1447) und der Schnitzer Hans von Nirdlingen (1427 bis vor 1459) 171 zusammen

gewohnt und gearbeitet hatten, woraus immerhin er- sichtlich wird, daB geniigend Platz fiir mehrere Betrie- be zugleich vorhanden war, 172 oder aber das gemeinsa- me Haus des Glasers Ulrich von Pforzheim (1427-51) und des Bildhauers Hans J6uch (1427-65/66), schraig vis a vis von Peter Hemmel (vgl. Abb. 47). 17 Dasselbe diirfte auch fiir Hans Kamensetzer zutreffen, iiber des-

sen Niederlassung ebenfalls keine Nachrichten existie- ren. Wenn irgendwo, dann ist seine Werkstatt hier zu

suchen, wo auch die beiden grofen Meister des Fachs - Nicolaus Gerhaert und Hans Jauch - zuvor gelebt und

gearbeitet hatten. Beide waren bereits in den 60er Jah- ren abgetreten und hatten ein Vakuum im Viertel hin- terlassen: Hans J6uch war 1465/66 gestorben und Nico- laus Gerhaert 1467 nach Wien gezogen. Sollte sich also hier - wie in den benachbarten Werkstitten auch - die

Nachfolge iiber den Beruf geregelt haben, und in bei-

171 Das Allmendbuch von 1427 fiihrt diesen nur als Hans Snitze- ler. Erst in den Rechnungsbiichern der Frauenpflege 1443-1452 erscheint er unter der Rubrik eingenommener Zinse im Kirch-

spiel St. Martin stets neben Hertzog Glaser unter seinem vollen Namen Hans von Ndrdlingen der Snitzeler (StraBburg, Archives

municipales, Miinsterrechnungen, zuletzt 1451/52, fol. 18'); im

Jg. 1459/60 fehlt er und war entweder verstorben oder abgewan- dert. 172 Das Haus war ehedem im Besitz des Malers und Glasmalers Hermann Schadeberg von Basel, der es 1421 an Hans Hirtz ver- kauft hatte, aber dort wohnen blieb; die jiihrlichen Steuern oder Mietzinsen betrugen damals Vlb geltz. Ein spditerer Vermerk be-

sagt: Git nu Heinrich Liitzelman, der moler, die iiberige III lb geltz

(Rott 1956 [wie Anm. 4], Quellen 1., S. 189 f.; Seyboth [wie Anm.

167], S. 90). Wenn sich der Gesamtzins im Lauf der Jahre nicht

geindert hatte, dann muf es weitere Zahlende (Mitbewohner des Hauses) gegeben haben. 175 Ganz ohne Vorbehalt sollte diese Ubertragung freilich nicht

geschehen, denn immer wieder sind daneben noch andere Beru- fe vertreten: sogar im Hause Liitzelmans mit der einzigartigen- Genealogie seit dem friihen 14. Jh. mit Heinricus dictus Baldes, schilter (Maler) ist 1466 ein Schneider iiberliefert, und im ge- meinsamen Haus des Bildhauers Hans Jduch und des Glasers Ulrich von Pforzheim wohnte zwischenzeitlich auch ein Tuch- mann; vgl. Seyboth (wie Anm. 167), S. 89.

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 137

den oben genannten Hiiusern werden ja zuvor ein Bild- hauer und ein Glasmaler beieinander iiberliefert, dann hatten wir ein Mitglied der StraBburger Glasmalerge- meinschaft unter einem Dach mit dem Ulmer Bild-

hauer, und das Problem der Vermittlung ware auch

praktisch gel6st. DaB wie gesagt auch der >>Gewandstudienmeister<<

(oder >>Meister von Alt-St. Peter<<) unbedingt unter den benachbarten Malern gesucht werden muB, wird nie- mand bestreiten wollen, und fiir einen von diesen -

Heinrich Liitzelman - ist dies, allerdings ohne naihere Begriindung, auch bereits erwogen worden. 174 Es gibt keine wirklichen Argumente, die es rechtfertigen wiir-

den, einem der moglichen Kandidaten hierin den Vor-

zug zu geben, darum beschrlinken wir uns auf einen

Umstand, der nochmals die fraglichen Beziehungen nach Ulm betreffen konnte. Heinrich Liitzelman bege- gnet in den Quellen zuerst 1473 im oben erwaihnten

Haus, im Kirchspiel St. Martin; er hatte dafiir einen

jiihrlichen Zins von III lb & an das Frauenwerk zu ent- richten. 175 Der Jahrgang 1475/76 verzeichnet an dieser Stelle Heinrich von Ulme, den moler, und 1492 bzw. 1500-1506 wieder Heinrich Liitzelman mit jeweils der- selben Summe, so daB man deren Gleichsetzung durch Rott wohl beipflichten darf. Da der Ulmer Maler im All- mendbuch von 1466 noch nicht genannt wird, scheint er sich erst zwischen 1466 und 1473 an dieser Stelle nieder-

gelassen zu haben. Wann Liitzelman aber wirklich von Ulm nach StraBburg iibergewechselt war, bleibt offen, da er in den Biirgerbiichern nirgends zu finden ist. 176

Niedergelassen inmitten der Meister der Glasmalerge- meinschaft, in der ehemaligen Werkstatt von Hans

Hirtz, scheint er geradezu praidestiniert als Urheber je-

ner Gruppe von Zeichnungen, deren friiheste noch deutlich unter dem EinfluB des Meisters der Karlsruher Passion (Hans Hirtz ?) stehen, dessen Typenschatz zu-

gleich auch die unmittelbare Quelle fiir den Tafelmaler

abgegeben hat. 177 Im (Euvre des Gewandstudienmei- sters gibt es allerdings wenig Substantielles, das fiir eine Herkunft aus Ulm sprechen konnte. Abgesehen von be- stimmten Eigentiimlichkeiten des Berliner Entwurfs

fiir einen Marienaltar - neben dem hinterlegten Bogen- gitter v.a. der gerade AbschluB des Schreins mit durch die Decke stoBendem Kielbogen 178 - steht dafiir ledig- lich die blattffillende Zeichnung einer iiber drei Fen- sterbahnen und drei Zeilen ausgedehnten Darstellung der PietA in Chantilly, die im iiberlieferten Werk der

StraBburger Glasmaler keinerlei Parallele besitzt

(Abb. 49). 179 Im Ulmer Miinsterchor hingegen befand

sich noch zu Beginn des 18. Jh. im ebenfalls dreibahni-

gen nordlichen Langchorfenster (nord V) fensterfiil- lend >ein groB Marienbild sitzet / welches den gemahl- ten Leichnam JEsu auf dem SchoB ligend hat<; ausge- fiihrt um 1449-1453 durch einen der beiden Ulmer Glasmaler Hans Acker oder Peter Deckinger.18o Wie in

etwa das Fenster ausgesehen hat, dariiber lidt sich nur

mutmaBen, da wir aus diesen Jahren keine erhaltenen

Zeugnisse Ulmer Glasmalerei mehr besitzen. Das Ber- ner Passionsfenster des Hans (Acker ?) von Ulm war be-

reits Ende der 30er Jahre ausgefiihrt und 1441 eingesetzt worden und vertritt dementsprechend auch sehr genau die Stilstufe des Wurzacher Altars von 1437 aus der Werkstatt Hans Multschers. Setzen wir fiir die Folgezeit eine ebensolche parallele Entwicklung von Glas- und Tafelmalerei voraus, eine Unterstellung, die der beider-

seitige Bestand in Ulm seit Anfang des 15. Jh. ohne Ein-

174 Vgl. Hans Haug, in: Catalogue des peintures anciennes. Mus6e des Beaux-Arts de la ville Strasbourg, StraBburg 1938, Nr. 20, und Madeleine Rocher-Jauneau, in: Kat. Musee des Beaux- Arts Lyon, Peintures, o.J. (1972), S. 6. Die von Rott (wie Anm. 6), S. 74 ff., ?einstweilen<< vertretene Identifizierung mit Marx Doiger (1444-1475 in StraBburg nach-

gewiesen) hat auch inzwischen nicht mehr fiir sich. Zum einen bilden die Arbeiten der 80er und 90er Jahre den L6wenanteil im Werk des Gesuchten und zum anderen saB Doiger nicht in der Nachbarschaft der Werkstattgemeinschaft, sondern in der

Sporergasse (Spiessgasse), dem zweiten Siedlungsschwerpunkt StraBburger Kiinstler im Spitmittelalter; vgl. Seyboth (wie Anm. 167), S. 35-37. 175 Rott 1936 (wie Anm. 4), S. 210 f. 176 Die Jahrginge 1440-1530 sind vollstiindig vorhanden (Witt- mer/Meyer [wie Anm. 51], I-III, 1948-1961). Andererseits begeg- net bereits in den 40er und 50er Jahren wiederholt der Maler Hans Liitzelman, 1466 ein Claus Liitzelman, und unter den stuid- tischen Truppen ist 1475 wieder ein Hans Liitzelman, Karten- maler, erwifhnt (Rott 1936 [wie Anm. 4], Quellen 1, S. 204), doch auch in Ulm ist der Name wiederholt nachzuweisen (im Steuer- buch 1427: Haintz Lutzelman, Lutzelmannin Witwe und Jorg Lutzelman, StA Ulm, A 6506/1, fol. 8, 44; im Steuerbuch 1499: Hans Litzelman, Endres Litzelman und Alexander Litzelman, A 6506/2, fol. 12, 39, 176). 177 Zur Gleichsetzung des Meisters der Karlsruher Passion mit

Hans Hirtz vgl. insbesondere Lilli Fischel, Die Karlruher Passion und ihr Meister, Karlsruhe 1952. Zur vorherrschenden Abhan-

gigkeit des Meisters von Alt-St. Peter< vom Meister der Karlsru- her Passion vgl. iibereinstimmend dies. (wie Anm. 29), S. 35-40, Bergstrasser (wie Anm. 29), S. 11 f., und zusammenfassend Roth

(wie Anm. 16), S. 14-19 und S. 423 ff. 178 Roth (wie Anm. 16), Nr. 79, hat fiir diese Besonderheit be- reits auf Multschers Prachtfenster am Ulmer Rathaus (1427), ei- nen AltarriB im Ulmer Museum (Koepf [wie Anm. 15], Nr. 50) und den in Ulm ausgefiihrten Churwaldener Altar (Tripps [wie Anm. 18], Abb. 237) hingewiesen. Man darf ergainzend hinzufii- gen, daB das Motiv am Dreisitz (1468) und am Chorgestiihl (1469-74) des Ulmer Miinsters in Serie begegnet. 179 Chantilly, Mus&e Conde, Inv. Fl. et All. I 308. Die von Nau- mann (wie Anm. 29), S. 123,126, und Roth (wie Anm. 16), Nr. 25,

angestellten Vergleiche mit StraBburger Glasgemailden in Wal-

burg und Lautenbach iiberzeugen weder in den Einzelmotiven noch weniger aber fiir die einzigartige fensteriibergreifende Ge-

samtl6sung. 180 Elias Frick, Ulmisches Miinster, oder: Eigentliche Beschrei-

bung von Anfang/Fortgang/Vollendung und Beschaffenheit des herrlichen Miinster-Gebiudes zu Ulm, Ulm (1718), 21731 (unver-

ainderter Neudruck, Neu-Ulm 1964), S. 21, iiberliefert, daB die Flankenfenster >niemahls

ganz.gemahlt<< (d.h. nicht mehr zur

Ginze farbig verglast) gewesen seien.

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138 HARTMUT SCHOLZ

Abb. 48. Ulm, Miinster, Trauernde Maria aus dem Zunftfenster der

Zimmerleute. Ulm, um 1471

Abb. 49. Chantilly, Musee Conde, Studienblatt mit Pieth fiir ein drei-

bahniges Fenster. StraBburg, um 1475/80

schrinkung rechtfertigen kann, dann diirfte das besag- te Marienbild bereits zu den Werken des Sterzinger Meisters hiniibergeleitet haben. 181 Dessen Vorbild sind letztlich noch die nachfolgenden - gleichfalls iibergrei- fend angelegten und nur partiell farbig verglasten -

Darstellungen der Zunftfenster um 1470 im Langhaus- obergaden des Miinsters verpflichtet, und vergleicht man etwa die Maria der aufzw6lfScheiben ausgedehn- ten Kreuzigung im Fenster der Zimmerleute (nord III; Abb. 48) mit der Zeichnung in Chantilly, dann sind Ahnlichkeiten etwa in der Disposition des Kopftuchs nicht zu ibersehen. Die >kannelierte? Nimbenform der

Zeichnung, die in den Glasgemilden der StraBburger Werkstattgemeinschaft nirgends begegnet,182 fehlt zwar auch hier, geh6rte aber zuvor - bis Bern - noch zum festen Bestandteil Ulmer Glasmalereien, und die kristalline Faltengebung nimmt das in StraBburg erst seit Mitte der 70er Jahre gebriuchliche Konzept vor-

weg. DaB das untergegangene Ulmer Fenster tatsdich- lich das Vorbild fir den Zeichner abgegeben haben

diirfte, ist mehr als wahrscheinlich, denn erstens ist das Thema in der Glasmalerei iiberhaupt recht selten dar-

gestellt worden und demzufolge muB auch die identi- sche Bildldsung im dreibahnigen Fenster hiher bewer-

181 Tatsichlich existieren in der Ulmer Tafelmalerei um 1450

Werke, die exakt diesen Ubergang kennzeichnen: eine Tafel der

Stuttgarter Staatsgalerie (Inv.Nr. 1584), deren Vorderseite mit der Beisetzung Johannes des Taufers bereits der Stilstufe des

Sterzinger Meisters zugewiesen werden mulB, wihrend die Riickseite (Taufe Christi, trotz teilweise barocker Ubermalung) ohne jeden Zweifel noch an die diltere Richtung - des Berner Pas- sionsfensters - erinnert; samt der zugeh6rigen Tafel in Miinchen

(Gastmahl des Herodes und Johannes tauft im Jordan; Alte Pina-

kothek, Inv.Nr. 1462/ 5691) wiederholt zutreffend bestimmt: Ot- to Fischer, Hans Multscher, in: Pantheon 24, 1939, S. 551 ff.

(Friihwerk des Meisters der Sterzinger Altarfliigel); Johannes von Waldburg-Wolfegg, Lucas Moser, Berlin 1939, S. 83 (Hans von Ulm = Hans Acker); vgl. zusammenfassend Bruno Bushart, in: Kat. der Staatsgalerie Stuttgart I. Alte Meister, Stuttgart 1962, S. 188. 182 Roth (wie Anm. 16), S. 83.

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ULM UND STRASSBURG: HANS WILD 159

Abb. 50. Signaturen: a. Niirnberg, St. Lorenz, Kaiserfenster (Entwurf Michel Wolgemut), um 1478; b. Eichstditt, Dom, Weltgerichtsfenster (Entwurf Hans Holbein d. A.), um 1505;

c. und d. Ulm, Miinster, Kramerfenster, um 1480/81

tet werden, und zweitens scheint eben diese felderiiber- greifende Darstellungsform erst durch Anregungen aus dem Ulmer Kunstkreis in Stral3burg eingefiihrt worden zu sein.

DaB die Kenntnis der Ulmer Pieth im dreibahni-

gen Chorfenster nord V den Stralburger Glasmalern auf dieselbe Weise vermittelt wurde wie die eingangs betrachteten spezifisch ulmischen Architekturformen des Kramerfensters, die Technik des Ausschliffs und das felderiibergreifende Kompositionsprinzip ist gut m6glich; denkbar aber auch ein zusitzlicher Anteil des Malers Heinrich von Ulm (Heinrich Liitzelman), denn neben der Signatur HANS WIL/Ttragt das Kramerfen- ster eine zweite Inschrift in beinahe gleicher Gr6Be, die - weniger auffallend aus dem Schwarzlot ausgekratzt -

bislang iibersehen wurde. Im Saum des Gebetsschals beim oberen Kinig in 2b der Wurzel-Jesse steht umlau- fend: /DIN- VERO/ LITZ-AN/MI/ (Abb. 50). Solange eine eindeutige Aufl6sung der ganzen Zeile nicht ge- lingt, sollte man vorsichtig sein mit dem SchluB aufeine

Signatur. Immerhin drangt sich der Vergleich mit Wol-

gemuts etwa gleichzeitiger Signatur WOLE" UTim St.

Lorenzer Kaiserfenster auf; dergestalt verkiirzt k6nnte LITZ-AN auch fiir Liitzelman stehen. Sollte diese

Uberlegung tatsdichlich das Richtige treffen, dann hit- ten also zwei nach StraBburg emigrierte und in unmit- telbarer Nachbarschaft der Glasmalergemeinschaft niedergelassene ehemalige Ulmer Meister ihren akti-

ven Anteil am EntwurfsprozeB fiir das Fenster ihrer

vormaligen Zunftgenossen (der Kramerzunft geh6rten in Ulm die Glaser, Maler und Bildhauer an) im Ulmer Miinster auf eben diese Weise stolz zur Kenntnis ge- bracht. Die Wahrscheinlichkeit dieser Hypothese be- ruht nicht zuletzt auf dem Umstand, daB nur im Ulmer Kramerfenster und nirgendwo sonst im umfangrei- chen CEuvre der StraBburger Glasmaler Signaturen er-

scheinen, und nur in Ulm diirften die Namen der Be- treffenden noch gewissen Kreisen bekannt gewesen sein.

Kommen wir abschliel3end noch kurz auf das be- sondere Problem der Meisterscheidung an den ausge- fiihrten Glasmalereien der StraBburger Werkstattge- meinschaft zu sprechen, dann ist eine der wesentlichen

Praimissen der hohen Wertschaitzung Peter Hemmels - die Gesamtverantwortung fiir die Entwiirfe - gewil3 nicht mehr aufrechtzuerhalten. Es ist ausgeschlossen, und dies widerspricht in der Tat vollkommen der ge- laufigen Einschaitzung, daB Hemmel an der Erfindung der grogartigen Kompositionsl6sungen im Tiibinger Achsenfenster, im Ulmer Kramerfenster, im Niirnber-

ger Volckamer-Fenster und schlieBlich im Scharfzandt- Fenster der Miinchner Frauenkirche den maBgebli- chen Anteil gehabt haben kann. Jemand, der iiber ei- nen Zeitraum von 50 Jahren hinweg, von 1447-1477, stets die gleichen kleinteiligen Szenenfolgen entworfen und ausgeflihrt und dabei niemals das Scheibenformat

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140 HARTMUT SCHOLZ

in Frage gestellt hatte, kann nicht plotzlich eine derart innovative Entwicklung begriindet haben, wie sie in ra- scher Folge an den genannten Fenstern der Werkstatt-

gemeinschaft in Erscheinung tritt. Eine solche Wand-

lungsfdihigkeit ware - ganz abgesehen von den voraus-

gegangenen Uberlegungen zur Identittit der eigentli- chen Entwerfer - einerm bald sechzigjiihrigen Meister einfach nicht zuzumuten und auch das merkwiirdige Zusammentreffen der verschiedenen Modernismen mit dem Griindungsdatum der beriihmten StraBbur-

ger Glasmalerkooperative (1477) spricht deutlich ge- nug gegen den Altmeister. Nimmt man dagegen das letzte fiir Hemmel selbst gesicherte und erhaltene Fen- ster in Salzburg (1480 datiert) als verbindlichen Anhalt

fiir dessen pers6nliche Eigenart, dann bestiitigt sich dessen Festhalten an feldweisen Kompositionen noch zu Zeiten, als die aktuelle Entwicklung lingst den Schritt zu iibergreifenden Losungen vollzogen hatte. Es iiberrascht auch nicht, daB im zeichnerisch naichstver- wandten Ulmer Ratsfenster (ebenfalls 1480 datiert) die untere Fensterhdilfte mit den Darstellungen zur Offent- lichen Wirksamkeit Christi noch im wesentlichen dem- selben Prinzip huldigt, waihrend in den mehrfeldrigen Kompositionen der Auferstehung und Himmelfahrt in der oberen Fensterhdilfte zeichnerische Eigenarten be-

gegnen, die entweder eine Beteiligung eben des Glas- malers verraten, dem zu iiberwiegenden Teilen auch das Kramerfenster und das Tiibinger Achsenfenster zu-

geschrieben werden miissen, oder vielmehr Entwiirfe der Art voraussetzen, wie sie den zuletzt genannten

Werken zugrundelagen. Eine Trennung der verschie-

denen ausftihrenden Glasmalerhtinde innerhalb der

Werkstattgemeinschaft ist nicht zuletzt aufgrund des

wechselseitig iibergreifenden Gebrauchs der Vorlagen so schwer zu leisten.

Abbildungsnachweise 1, 25, 26, 33: Wiirttembergisches Landesmuseum, Stuttgart 2-5, 24, 27-30, 39, 42, 44, 48, 50: Corpus Vitrearum Aevi (Arbeits- stelle der Akademie der Wissenschaften und der Literatur

Mainz), Freiburg i.Br.

5a: Germanisches Nationalmuseum 5b: Fritz Hummel 6, 35: Bildarchiv der Osterr. Nationalbibliothek (Fonds Alberti-

na) 7, 8, 12, 14, 23, 30, 37, 40: Bildarchiv Foto Marburg 9, 41, 47: Autor 10, 13: Rijksmuseum Stichting, Amsterdam

11, 15, 16, 20: Bundesdenkmalamt, Wien 17: Hessisches Landesmuseum, Darmstadt

18, 19: Photo Service d'Architecture de l'(Euvre Notre Dame,

Strasbourg 21, 32: Wiirttembergische Landesbildstelle, Stuttgart 22: Jirg P. Anders, Berlin 31: Staatliche Kunstsammlungen, Dresden 34: Miinsterbauamt, Ulm 36: Historisches Museum, Basel 38: Ferdinandeum, Innsbruck

43, 46: Reproduktion 45: Kunsthalle, Karlsruhe 46: Elke Walford, Hamburg 49: Giraudon, Paris

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