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A mon heißt das letzte russische Dorf unweit der M3, der Auto- bahn, die von Moskau in die Ukraine führt. Es war früher ein Nest, das niemand wahrgenommen hat, die Grenze dahinter war eher symbolisch. Das ist nun anders. Die Kranken- schwester Lena Majorowa steht vor ihrem Holzhaus und zeigt auf Stellungen russi- scher Soldaten. Die Männer haben Grä- ben ausgehoben, hinter Sandsäcken sind Maschinengewehre versteckt. Über ihren Kopf donnert ein Militärhubschrauber. Lena Majorowa hat so etwas noch nie ge- sehen, jedenfalls nicht hier. Aber sie billigt den martialischen Auf- marsch sieben Kilometer vor der Grenze. Weil sie und die Menschen in den umlie- genden Dörfern in dem Gefühl leben, „dass die da drüben kurz vor einem Bür- gerkrieg stehen und faschistische Frei- schärler aus Kiew im Anmarsch sind“. Zumindest hat Majorowa das im russi- schen Staatsfernsehen gehört. Zehn Brigaden mit einer Sollstärke von jeweils bis zu 4000 Mann habe der Kreml an die Grenze zur Ukraine verlegt, be- richten westliche Militärs in Moskau. In der vergangenen Woche waren auf der M3 immer wieder Buskolonnen zu sehen, die Soldaten zur Grenze brachten. „Wir wissen aber nicht, wie viel Mann genau da sind“, sagt ein Nato-General. Die Nato- Aufklärung habe kein Kommandozen- trum in der Grenzregion ausgemacht, dennoch könne man eine Invasion nicht ausschließen. Ohnehin wäre die ukraini- sche Armee nicht in der Lage, einer Of- fensive lange Widerstand zu leisten. Schützengräben und Panzeraufmär- sche – wann hat es das mitten in Europa das letzte Mal gegeben? Wann eine solche verbale Artillerie wie in der vergangenen Woche? Vor allem aber: Hat Russland tat- sächlich vor, die Ukraine zu besetzen, zu- mindest den russischsprachigen Osten? Von einer „illegalen und illegitimen Aggression“ sprach Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und warnte vor einem weiteren Truppenaufbau. „Meine Nachricht an Russland ist: Sie haben die Wahl“, so Rasmussen. Die Allianz will nun Objekte in der Ukraine gemeinsam mit Kiew schützen sowie Uniformen, Er- satzteile und Flugbenzin liefern. Moskau dagegen ließ erklären, dass „Russland keine außergewöhnlichen Ak- tivitäten von militärischer Bedeutung an der Grenze zur Ukraine durchführt“. Von der Nato veröffentlichte Satellitenfotos, Ausland UKRAINE Hart an der Grenze In Luhansk, Donezk und Charkiw haben von Russland gesteuerte Aufständische Verwaltungs- gebäude besetzt und fordern mehr Autonomie. Will Präsident Putin in den Osten des Landes einmarschieren – oder nur Chaos stiften? Prorussische Separatisten vor der Donezker RUSSLAND Schwarzes Meer UKRAINE MOLDAU WEISSRUSSLAND Kiew Charkiw Amon Donezk Luhansk Krim Cherson Sewastopol 150 km Umfrage der Kiewer Soziologischen Gruppe „Rating“ im Auftrag des Internationalen Zentrums für Politische Studien, 21. bis 29. März, 2000 Befragte Umfrage in der Ukraine sind dagegen. % sind für eine Abspaltung der Donbass-Region im Osten des Landes. % sind für eine endgültige Übergabe der Krim an Russland. % sind für den Erhalt der Autonomie der Krim im Bestand der Ukraine. % Donbass-Region die genau das belegen sollten, tat der Kreml als alte Aufnahmen ab. Der Schauplatz des Konflikts hat sich in die Ostukraine verlagert. Die Front verläuft jetzt östlich des Dnjepr, es geht um Städte wie Charkiw, Luhansk oder Donezk. Während in Kiew die Barrika- den abgebaut werden, wachsen hier neue, demonstrieren sie für den Anschluss an Russland, wenn auch mit deutlich gerin- gerer Begeisterung als auf der Krim. Sind diese Proteste ebenfalls von Mos- kau gesteuert? Und wird es in der Ost- ukraine eine Invasion, ein Referendum und dann eine Annexion geben – ist das der zweite Akt des Krim-Szenarios? Die Industriestadt Luhansk liegt fast direkt auf der Grenze, fährt man hinüber

Hart an UdKRAeINEr Grenze - SPIEGEL

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Amon heißt das letzte russischeDorf unweit der M3, der Auto-bahn, die von Moskau in die

Ukraine führt. Es war früher ein Nest,das niemand wahrgenommen hat, dieGrenze dahinter war eher symbolisch.Das ist nun anders. Die Kranken-

schwester Lena Majorowa steht vor ihremHolzhaus und zeigt auf Stellungen russi-scher Soldaten. Die Männer haben Grä-ben ausgehoben, hinter Sandsäcken sindMaschinengewehre versteckt. Über ihrenKopf donnert ein Militärhubschrauber.Lena Majorowa hat so etwas noch nie ge-sehen, jedenfalls nicht hier. Aber sie billigt den martialischen Auf-

marsch sieben Kilometer vor der Grenze.Weil sie und die Menschen in den umlie-genden Dörfern in dem Gefühl leben,„dass die da drüben kurz vor einem Bür-gerkrieg stehen und faschistische Frei-schärler aus Kiew im Anmarsch sind“.Zumindest hat Majorowa das im russi-schen Staatsfernsehen gehört. Zehn Brigaden mit einer Sollstärke von

jeweils bis zu 4000 Mann habe der Kremlan die Grenze zur Ukraine verlegt, be-richten westliche Militärs in Moskau. Inder vergangenen Woche waren auf derM3 immer wieder Buskolonnen zu sehen,

die Soldaten zur Grenze brachten. „Wirwissen aber nicht, wie viel Mann genauda sind“, sagt ein Nato-General. Die Nato-Aufklärung habe kein Kommandozen-trum in der Grenzregion ausgemacht,dennoch könne man eine Invasion nichtausschließen. Ohnehin wäre die ukraini-sche Armee nicht in der Lage, einer Of-fensive lange Widerstand zu leisten.Schützengräben und Panzeraufmär-

sche – wann hat es das mitten in Europadas letzte Mal gegeben? Wann eine solcheverbale Artillerie wie in der vergangenenWoche? Vor allem aber: Hat Russland tat-sächlich vor, die Ukraine zu besetzen, zu-mindest den russischsprachigen Osten? Von einer „illegalen und illegitimen

Aggression“ sprach Nato-GeneralsekretärAnders Fogh Rasmussen und warnte voreinem weiteren Truppenaufbau. „MeineNachricht an Russland ist: Sie haben dieWahl“, so Rasmussen. Die Allianz willnun Objekte in der Ukraine gemeinsammit Kiew schützen sowie Uniformen, Er-satzteile und Flugbenzin liefern. Moskau dagegen ließ erklären, dass

„Russland keine außergewöhnlichen Ak-tivitäten von militärischer Bedeutung ander Grenze zur Ukraine durchführt“. Vonder Nato veröffentlichte Satellitenfotos,

Ausland

U K R A I N E

Hart an der GrenzeIn Luhansk, Donezk und Charkiw haben von Russland

gesteuerte Aufständische Verwaltungs- gebäude besetzt und fordern mehr Autonomie.

Will Präsident Putin in den Osten des Landes einmarschieren – oder nur Chaos stiften?

Prorussische Separatisten vor der Donezker

RUSSL AND

SchwarzesMeer

U K R A I N E

MOLDAU

WEISSRUSSL AND

KiewCharkiw

Amon

Donezk

Luhansk

Krim

Cherson

Sewastopol

150 km

Umfrage der Kiewer Soziologischen Gruppe „Rating“ im Auftrag des Internationalen Zentrums für Politische Studien, 21. bis 29. März, 2000 Befragte

Umfrage in der Ukraine

sind dagegen.

9% sind für eine Abspaltung der Donbass-Region im Osten des Landes.

5% sind für eine endgültige Übergabe der Krim an Russland.

87%

sind für den Erhalt der Autonomie der Krim im Bestand der Ukraine.77%

Donbass-Region

die genau das belegen sollten, tat derKreml als alte Aufnahmen ab. Der Schauplatz des Konflikts hat sich

in die Ostukraine verlagert. Die Frontverläuft jetzt östlich des Dnjepr, es gehtum Städte wie Charkiw, Luhansk oderDonezk. Während in Kiew die Barrika-den abgebaut werden, wachsen hier neue,demonstrieren sie für den Anschluss anRussland, wenn auch mit deutlich gerin-gerer Begeisterung als auf der Krim. Sind diese Proteste ebenfalls von Mos-

kau gesteuert? Und wird es in der Ost -ukraine eine Invasion, ein Referendumund dann eine Annexion geben – ist dasder zweite Akt des Krim-Szenarios?Die Industriestadt Luhansk liegt fast

direkt auf der Grenze, fährt man hinüber

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nach Russland, kommt man ins ehemaligeStalingrad. In diesen Tagen haben in Lu-hansk Männer wie Alexej Relke das Sa-gen. Relke, 41, ist in der besetzten ört -lichen Zentrale des Geheimdienstes SBUzu treffen. Er hat sich eine Kalaschnikowum den Hals gehängt, in die er zur Be-grüßung ein Magazin voller Patronen ein-klickt. „Ich bin im Krieg“, sagt er. Relke hat das Kommando über einige

hundert prorussische Aufständische über-nommen, die sich im Geheimdienstgebäu-de verschanzt haben. Man nennt ihn den„Deutschen“. Den Spitznamen und einenschwäbischen Akzent hat er aus Süd-deutschland mitgebracht, wo er 16 Jahrelang gelebt und auf dem Bau gearbei -tet hat.

In einer Holzkiste hinter ihm liegenzehn weitere Kalaschnikows. Ruhig zähltAlexej Relke auf, über welche Waffen sei-ne Leute noch verfügen: Handgranaten,Minen, Panzerfäuste. Er weiß, wie mandamit umgeht, er ist in der Sowjetuniongeboren und hat als Offizier in der russi-schen Armee gedient. Zwar hatte Innenminister Arsen Awa-

kow eine „Anti-Terror-Operation“ gegenRelke und die anderen angekündigt, aberFreitagmorgen lief das erste Ultimatumab. Dass es vorerst ohne Folgen blieb,zeigt die Hilflosigkeit der Regierung ge-genüber den Separatisten. Denn Relkelässt keinen Zweifel: „Wenn sie schießen,werden wir zurückschießen.“ Der „Deut-sche“ war es, der den Aufstand von Lu-

hansk ausgelöst hat. Am 5. April hattedie Regierung ihn festnehmen lassen.Eine Kiewer Spezialeinheit drang um vierUhr morgens in seine Wohnung ein undnahm ihn mit. Der Vorwurf: Landesverratund Sabotage. Am Abend präsentierteder SBU dann im ukrainischen Fernsehen300 Maschinengewehre, einen Granatwer-fer und Messer, die angeblich bei dem Be-schuldigten konfisziert worden waren. Am gleichen Tag verhaftete der Ge-

heimdienst in Luhansk einige Dutzendweitere Aktivisten. Relke verteidigt sich,die Anschuldigungen seien erfunden. Erhabe im Februar lediglich mit Gleichge-sinnten ein „Koordinationszentrum“ ge-gründet, „als wir gesehen haben, was dain Kiew abgeht“. Nach den Festnahmen

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Gebietsverwaltung: Sie lehnen die Regierung in Kiew ab, aber heim ins Putin-Reich will hier gerade mal jeder Dritte

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stürmten Mitstreiter die Geheimdienst-zentrale und pressten ihn frei. Und dabeiblieb es nicht, die Aufständischen kon-trollieren inzwischen auch das Waffen-arsenal des Geheimdienstes. Deshalbträgt Relke jetzt Camouflage und eineschusssichere Weste mit der Aufschrift„SBU“. Auch aus Russland seien Kämpfer hier,

erzählt Relke, „aus jeder Stadt zwei, dreiLeute“. Durchs Fenster ist zu hören, wieeinige hundert Anhänger draußen das rus-sische Volkslied „Katjuscha“ singen.Befragt man den Aufständischen nach

seinen politischen Zielen, gerät er jedochschnell in Verlegenheit. „Die Menschenhier werden dermaßen unterdrückt, desglauben Sie gar net“, erklärt er und er-

zählt von der Abschaffung des Russischenals zweite Amtssprache. Ein Verbot aller-dings, das nie in Kraft getreten ist. Dannspricht er von Freiheit und Demokratie,irgendwann fällt ihm das Wort „Referen-dum“ ein. Relke sagt: „Wir wünschen esuns, aber wir glauben nicht, dass Russ-land uns militärisch unterstützt. Wir müs-sen den Job schon allein machen.“ Das Regionalparlament von Luhansk

hat einige Tage gezögert und dann dieBesatzer unterstützt: In einer Erklärungforderten die Abgeordneten eine Amnes-tie und ein landesweites Referendumüber die Umwandlung der Ukraine ineine Föderation. Auch in der südwestlich von Luhansk

gelegenen Bergbaustadt Donezk haltenprorussische Aktivisten noch immer dieGebietsverwaltung besetzt. Aber wer gab

das Kommando dafür? „Für uns kam dasüberraschend“, sagt Miroslaw Rudenkoim 13. Stock der Provinzzentrale, wo erund andere „Regierungsmitglieder“ derinzwischen ausgerufenen „Republik Do-nezk“ über die nächsten Schritte beraten. Kaum einer der jetzigen Anführer war

selbst an der Besetzung beteiligt, erzähltder 31-Jährige, „die Proteststimmung wareigentlich noch nicht reif für einen Auf-stand“. Aber die Ankündigung der Re-gierung, die verlustreichen Bergwerke zuschließen, dazu der steigende Benzin-preis, all das hat die Stimmung in derStadt verschlechtert. Rudenko ist führendes Mitglied der

„Volkswehr des Donbass“, einer gutorga-nisierten Bewegung. Sein T-Shirt zeigt ein

Porträt ihres Gründers Pawel Gubarew.Dieser hatte sich nach Wiktor Januko -wytschs Flucht zum „Volksgouverneur“von Donezk erklärt und war vom Geheim-dienst festgenommen worden. Er sitzt jetztim Gefängnis, seine Frau Jekaterina Gu-barewa floh ins russische Rostow am Don. Gubarews „Volkswehr“ steht in engem

Kontakt mit dem „Eurasischen Jugend-bund“ des Moskauer Ideologen Alexan-der Dugin. Ende März wurde ein Ge-spräch zwischen ihm und Jekaterina Gu-barewa öffentlich, in dem sie die Strategiefür Donezk diskutierten. Dugin versprichtdarin die Unterstützung Russlands undempfiehlt, Bürgerwehren gegen die „Kie-wer Junta“ zu bilden sowie ein Referen-dum über die Unabhängigkeit des Don-bass zu fordern. Es ist genau das Szenario,dem die Aufständischen nun folgen.

Trotzdem ist die Lage hier nicht so ein-deutig wie auf der Krim. Laut Umfragendes Donezker Instituts für Sozialfor-schung dominieren zwar Ängste vor „ra-dikal eingestellten Bewohnern der West-ukraine“. Knapp die Hälfte der Befragtenfürchtet zudem die Regierung in Kiew.Drei Viertel lehnen jedoch die Besetzungvon Gebäuden ab. Die Hälfte der Befrag-ten fordert mehr Rechte für die Regionen,aber innerhalb der Ukraine. Nur ein Drit-tel kann sich einen Anschluss an Russlandvorstellen. Doch nichts verändert sich inder Ukraine derzeit schneller als die Stim-mung des Volkes. Immerhin tat Übergangspremier Arse-

nij Jazenjuk vorigen Freitag das, was erund seine Regierung schon längst hättentun sollen: Er fuhr nach Donezk. Dorttraf er Rinat Achmetow, den reichstenOligarchen des Landes. Für dessen Un-ternehmensgruppe SCM arbeiten welt-weit 300000 Menschen, aber Kern seinesImperiums ist die Schwerindustrie imDonbass. Achmetow war Finanzier der„Partei der Regionen“, der Machtbasisvon Janukowytsch. An ihm kommt auchdie neue Regierung kaum vorbei. Der öf-fentlichkeitsscheue Milliardär hat sich inden vergangenen beiden Wochen zwi-schen die Fronten begeben: Er redete mitden Besetzern der Gebietsverwaltung,gleichzeitig forderte er Gespräche mitKiew. In Charkiw, mit 1,5 Millionen Einwoh-

nern die zweitgrößte Stadt der Ukraine,ist die Bevölkerung ähnlich gespalten wiein Donezk. „Den Anschluss an Russlandbefürworten hier maximal 10 Prozent, 40 Prozent sind für eine enge Zusammen -arbeit mit Russland in einer Zollunion,30 Prozent wollen in die Europäische Union, dem Rest ist es egal“, sagt Bür-germeister Hennadij Kernes, der beliebtist, weil er für saubere Straßen, Kinder-spielplätze und neue Parks gesorgt hat. Russland hatte darauf gehofft, dass Ker-

nes die Abspaltung des Ostens von derUkraine betreiben würde. Bei einem Kon-gress der Separatistenbewegung „Ukrai-nische Front“ im Februar verschwand erallerdings schnell. Denn er weiß, dass die Mehrheit der Bürger nicht heim insPutin-Reich möchte. Die neue Kiewer Regierung würde den

Bürgermeister dennoch gern loswerden.Sein langjähriger Gegenspieler ist nun In-nenminister geworden und hat ein Ermitt-lungsverfahren gegen Kernes einleitenlassen. Im Wochenrhythmus muss dieserjetzt zu Verhören in die Hauptstadt. „Alle, die hier in Charkiw vorige Wo-

che den Gouverneurspalast gestürmt ha-ben, sollen vor Gericht, diejenigen aber,die in Kiew das Rathaus besetzten, sollennun Helden sein“, sagt er. „So wird eskeine Versöhnung geben.“ Kernes fordert,die russischen Fernsehsender wieder zu-zulassen, deren Ausstrahlung ein Kiewer

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Besetzer Relke (M.) in der SBU-Zentrale von Luhansk: „Ich bin im Krieg“

„Wir glauben nicht, dass Russland uns militärisch unterstützt. Wir müssen den Job schon allein machen.“

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Gericht zum Ärger vieler im Osten bisauf weiteres untersagt hat. Der Gegenspieler des Bürgermeisters

residiert zwei Kilometer entfernt amPlatz der Freiheit im Gouverneurspalast.Ihor Baluta ist ein massiger Mann, dieneue Regierung hat ihn eingesetzt, ihnschützt ein Aufgebot von 250 schwer -bewaffneten Polizisten. In seinem Bürohängt noch Brandgeruch. Am vorvergan-genen Sonntag musste der Gouverneurum sein Leben fürchten. Da stürmten einige hundert prorussische Aktivistendas Gebäude. Balutas Bürofenster zer-splitterte, Kugeln schlugen ein, im Erd -geschoss brannte es. In der Nacht zuDienstag eroberten Spezialeinheiten dasGebäude zurück. „Wir haben 62 Menschen festgenom-

men“, sagt Baluta, „Russen waren nichtunter ihnen. Unser Geheimdienst weißaber, dass sie am Sturm meines Dienst-sitzes teilgenommen haben. Sie habensich rechtzeitig aus dem Staub gemacht.“Später führt ein Berater des Gouverneursdurch die zerstörten Diensträume. „Dasalles wurde von Leuten im russischenKonsulat gesteuert und finanziert“, sagter, „das konnte der Gouverneur bloßnicht so deutlich sagen.“ Beweise dafürgibt es einstweilen so wenig wie für dieBehauptungen der prorussischen Aktivis-ten, unter den aus Kiew entsandten Spe-

zialtruppen seien Mitglieder der privatenUS-Sicherheitsfirma Greystone gewesen. Information und Desinformation sind

in diesen Tagen schwer auseinanderzu-halten. Die politischen Lager stehen sichunversöhnlich gegenüber, keine Verleum-dung ist schmutzig genug. Und auch dievielleicht wichtigste Frage ist unmöglichzu beantworten: Will Russland in dieUkraine einmarschieren? Selbst in Moskau kann das niemand ge-

nau sagen, kremlnahe Politologen rätselnüber die Absichten des Präsidenten. Stanislaw Belkowski, Autor eines Putin-kritischen Buches, schrieb in der Zeitung„Moskowski komsomolez“, dass der Prä-sident klar formuliert habe, was ihn voneinem Einmarsch abhalten könnte: „DieEinführung von Russisch als zweite Amts-sprache und die Föderalisierung der Ukrai-ne mit umfassenden Rechten für die Re-gionen.“ Beides ist für Kiew schwer zuerfüllen. Und wenn es im Osten zu Blutvergie-

ßen kommt, dürfte ein russischer Ein-marsch ohnehin kaum abzuwenden sein.Putin, dessen Popu laritätswerte nach derKrim-Annexion auf über 82 Prozent hoch-geschnellt sind, hat bei seinen AnhängernErwartungen geweckt. Verlöre er dieUkraine an den Westen, stünde er in ei-ner Linie mit seinen Vorgängern MichailGorbatschow und Boris Jelzin, denen die

Mehrheit der Russen den Verlust impe -rialer Größe nie verziehen hat. Der Kreml, so viel steht fest, wird die

Westorientierung der Ukraine mit allenMitteln zu verhindern suchen. In den ver-gangenen Tagen packte Moskau zunächstdie wirtschaftlichen Folterinstrumente aus.Russland strich der Ukraine nicht nur denGasrabatt, den der gestürzte Präsident Ja-nukowytsch ausgehandelt hatte, sondernerhöhte den Preis auf 486 Dollar pro 1000Kubikmeter. Das sind gut 100 Dollar mehrals der durchschnittliche Preis für Europa.Zu zahlen künftig per Vorkasse.Der Kreml wolle „gesteuertes Chaos“

erzeugen, schrieb die kremlkritische Zei-tung „Wedomosti“ vergangene Woche.In einem zweiten Schritt würde man die Präsidentschaftswahl sabotieren und eineKonföderation anstreben. Damit könntendie Ostgebiete der Ukraine sogar einesTages in Moskaus Zollunion eintreten.Aber hat Putin die Geister, die er geru-

fen hat, überhaupt noch im Griff? Ver-gangene Woche meldete ein hochrangigerrussischer Staatsbeamter erstmals „histo-rische Rechte Russlands“ an Territoriender ehemaligen Sowjetunion an, darunterdie östlichen Gebiete Kasach stans.Kasachstan rief daraufhin sofort seinen

Moskauer Botschafter zu Konsultationenzurück. MORITZ GATHMANN, CHRISTIAN NEEF,

WLADIMIR PYLJOW, MATTHIAS SCHEPP

Ausland