4
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected]. Marcus Creutz Garmisch P atentinhaber, die in Deutschland gegen Plagia- toren vor Gericht ziehen, brauchen Geduld. Über ein Jahr dauert ein Prozess in der Regel. Anders in München – dort machen die Richter dank eines neuen Verfahrens Tempo. Die beiden Patentkammern am Landgericht benötigen im Schnitt nicht einmal ein Drei- vierteljahr bis zum Ergebnis. 1 437 Patent- und Gebrauchs- musterverletzungsverfahren gab es im Jahr 2009 – 168 da- von kamen in München vor Gericht. Gut dreimal so viele Fälle (548) wurden in Düssel- dorf verhandelt – dort vergin- gen jedoch zwölf bis 14 Mo- nate bis zur Entscheidung, hat die Sozietät Taylor Wes- sing in ihrer jährlichen Sta- tistik zur weltweiten Pro- zesssituation im gewerbli- chen Rechtsschutz ermit- telt. Neben Düsseldorf ge- lang es nur dem Landge- richt Mannheim (291 Fälle), so zügig wie die Münchener zu arbeiten. Schneller geht es an der Isar dank eines neuen Verfahrensmo- dells, das der Vorsit- zende Richter Peter Guntz entwickelt hat. Statt nach Ge- setzesreformen zu schreien oder auf die dünne Personaldecke zu ver- weisen, wenden die Richter beste- hende Vorschriften der Zivilprozess- ordnung einfach konsequenter an. Marcus Creutz Garmisch A ufschlussreiche Benchmark- zahlen für Rechtsabteilun- gen bietet die aktuelle Studie „2010 Law Department Survey“. Die US-Kanzleiberatung Hilde- brandt Baker Robbins hat dafür rund 250 Rechtsabteilungen großer Unternehmen befragt. Wichtigstes Ergebnis: 2009 sind die Ausgaben für externe Rechtsberater erstmals seit zehn Jahren gesunken – um gut zwei Prozent. Zuvor waren sie um fünf bis neun Prozent jährlich ge- stiegen. Von den Einsparungen wa- ren vor allem externe Anwaltskanz- leien betroffen. Bei ihnen sparten US-Unternehmen fünf Prozent ein, weltweit waren es sechs Prozent. Im Gegenzug stärkten zwei Drit- tel der Firmen die eigenen Rechts- abteilungen oder hielten zumindest die Personalstärke. Auch in Deutschland ist das ein Trend, den die Wirtschaftskrise forciert hat. Denn externe Wirtschaftsanwälte sind vom Stundenhonorar her be- trachtet rund viermal teurer als an- gestellte Unternehmensjuristen. Weil nur eine kleine Schar exzellen- ter Topanwälte in Spezialgebieten echten Mehrwert schaffen kann, ge- raten viele Wirtschaftskanzleien un- ter Rechtfertigungsdruck. Flucht zu Dumpingpreisen Nach Meinung vieler Rechtsabtei- lungsleiter ist die Balance zwischen Leistung und Gegenleistung aus den Fugen geraten. Einige schlie- ßen sich auf Internetseiten wie www.acc.com zusammen und bauen einen Index über das Preis- Leistungs-Verhältnis einzelner Kanzleien auf. So mancher externe Wirtschaftsanwalt sucht sein Heil bereits in Dumpingpreisen. „Der Kaufmann macht seinen Ge- winn beim Einkauf, während die Anwälte ihren Gewinn beim Ver- kauf gemacht haben“, analysiert Rechtsanwalt Markus Hartung. Er war bis vor zwei Jahren Managing Partner der Sozietät Linklaters und berät heute Anwälte bei ihrer Strate- gie. Stundensätze hätten Rechtsex- perten durch Addition ihrer Kosten und einer Marge errechnet – und mit den Mandanten allenfalls über Unternehmen kürzen die Ausgaben für externe Wirtschaftsanwälte müssen ihre Vermarktungsstrategie umkrempeln, weil die Kunden zunehmend Festpreise statt der Marcus Creutz Garmisch W er erinnert sich nicht an den Kinoklassiker „Die zwölf Geschworenen“? Henry Fonda spielt darin einen Laienrichter. Er hält den Ange- klagten, der einen Mord verübt ha- ben soll, gegen die erdrückende Mehrheit aller anderen Jurymit- glieder für unschuldig. Mit seiner Geradlinigkeit setzt der „Geschwo- rene Nummer acht“ alias Fonda ei- nen gruppendynamischen Pro- zess in Gang, an dessen Ende der Angeklagte wegen erheblicher Zweifel an den Ermittlungsergeb- nissen einstimmig freigesprochen wird. Ob Laien oder professionelle Richter: Sozialpsychologen wissen längst, dass die wenigsten Jurymit- glieder unvoreingenommen sind. Denn in schwierigen Verhandlungs- situationen sucht der Mensch unbe- wusst nach Orientierung. Doch an- ders als der bedächtige Henry Fonda in dem 1956 verfilmten Justiz- thriller kann heutzutage oft genug nur derjenige sicher sein, Entschei- dungsprozesse zu seinen Gunsten zu beeinflussen, der als Erster laut brüllt und bisweilen unverschämte Forderungen erhebt. Jüngstes Beispiel: das Ende 2010 ergangene 1,3-Milliarden-Dollar-Ur- teil gegen SAP vor einem US-Ge- richt. Oracle-Chef Larry Ellison hatte sich höchstpersönlich in das Verfahren eingeschaltet und in der Öffentlichkeit lauthals vier Milliar- den Dollar Schadensersatz gefor- dert. Exzentrisch – so urteilten ei- nige Beobachter und vielleicht gar Jurymitglieder. Doch Ellison ist ein ausgebuffter Verhandler, der weiß, dass die sogenannten Experten sehr oft ihre eigene Beeinflussbar- keit unterschätzen. Die Verteidiger von SAP konnten dem verbalen Angriff von Ellison nichts entgegensetzen, was die Jury von der Macht der ersten Zahl hätte abbringen können. Woran das liegt, hat die Kölner Sozialpsy- chologin Birte Englich erforscht. In einer Studie wies sie nach, dass auch ein gutes Verteidigerplädoyer keinen Einfluss auf das Strafmaß mehr hat, wenn die Staatsanwalt- schaft zuvor mit einem bestimm- ten Strafmaß einen ersten Anker ge- setzt hat. Selbst Zwischenrufe aus den Zuschauerrängen wie „Geben Sie ihm doch fünf Jahre“ zeigen mehr Wirkung. Laut Englich kom- men Urteilern zunächst die Infor- mationen in den Sinn, die leicht zu- gänglich und zudem selbst gene- riert sind. Ein Allheilmittel gegen Beein- flussbarkeit gibt es nicht. Aber Richter und Verhandler laufen we- niger Gefahr, sich ins Bockshorn ja- gen zu lassen, wenn sie die Ver- handlungskunst erlernen. Doch wer schafft es in der Hektik des All- tags, sich mit den eigenen menta- len Prozessen und deren Fehleran- fälligkeit auseinanderzusetzen? Richter machen kurzen Das Landgericht München hat Verfahren um Patentstreitigkeiten enorm beschleunigt. Das Erfolgsrezept ist simpel: bestehende Regeln konsequent anwenden. IMPRESSUM Redaktion: Marcus Creutz, Ingmar Höhmann, Thomas Mersch, Stefan Merx Layout: Holger Hopp Bildredaktion: Corinna Thiel Votum: Die Macht der ersten Zahl HRSchulz/IMAGO (o.), Ute Schmidt/bildfolio (u.), PR (o.r.) Justizpalast München: Früher eher für lange Verfahren bekannt, machen die Patentexperten der Landeshauptstadt nun Tempo. Zentrale der Deutschen Bank: Straff organisierte Rechtsabteilung. SPEZIAL: LEGAL SUCCESS 55 DONNERSTAG, 27. JANUAR 2011, Nr. 19 So verhindern sie beispielsweise, dass sich die Anwälte mit Schriftsät- zen bombardieren und Nebelker- zen rund um technische Detailfra- gen zünden. Nur drei Monate nach Klageeinreichung kommt es in Mün- chen zum sogenannten frühen ers- ten Termin. In dieser ersten von zwei mündlichen Verhandlungen geben die Richter bereits bekannt, wie sie die Erfolgsaussichten der Klage einschätzen und wo Pro- bleme liegen. Auch vereinbaren sie mit den Anwälten, wie viele Schrift- sätze diese innerhalb welcher Fris- ten einreichen dürfen. Seit einem Jahr ist das Verfahren im Einsatz – mit Er- folg: „Die Anwälte halten sich sehr gut an die Fris- ten“, sagt Richter Guntz. Im Schnitt reichen sie pro Par- tei nur noch zwei Schriftsätze ein. Auch bei den An- wälten kommt die konsequente wie offene Art der Pro- zessführung gut an. „Man schreibt nicht ins Blaue hi- nein, sondern weiß, welche vor- läufige Auffassung das Gericht hat und kann daher zielgerichtet zu die- sen Punkten Stel- lung nehmen“, sagt Sabine Rojahn, Partnerin im Münchener Büro von Taylor Wessing. Angekratztes Image aufpoliert Die Konzentration des oft umfang- reichen Streitstoffs auf wenige ent- scheidende Punkte stoppt eine wei- tere Unsitte, die Patentverfahren in die Länge ziehen kann: die Einho- lung von privaten und vor allem ge- richtlichen Sachverständigengut- achten. Bestellt nämlich das Ge- richt einen Sachverständigen, ist eine Verzögerung um mindestens ein Jahr die Folge. Die Münchener waren früher dafür bekannt, ver- gleichsweise oft Gerichtssachver- ständige zu beauftragen – deshalb mieden einige Patentinhaber den oberbayerischen Standort. Das neue Verfahrensmodell poliert also auch das angekratzte Image in Pa- tentsachen auf. Die Münchener hof- fen so, ihre Chancen zu verbessern, einer von drei deutschen Standor- ten für die geplante EU-Patentge- richtsbarkeit zu werden. Besonderheit im deutschen Recht Weiterer Nebeneffekt: Die Erhe- bung einer Nichtigkeitsklage beim Bundespatentgericht verzögert das Verfahren nicht mehr. Besonderheit des deutschen Rechts ist, dass Pa- tentfragen auf zwei verschiedenen Gerichtsebenen be- handelt werden. Der Inhaber eines Patents kann den vermeintlichen Produktpiraten we- gen Patentverlet- zungen vor dem Landgericht auf Unterlassung und Schadensersatz verklagen. Dage- gen kann sich die- ser auch mit dem Argument zur Wehr setzen, das Patent selbst sei nichtig. Dazu muss er parallel beim Bundespatentge- richt eine Nichtig- keitsklage anstren- gen. In München findet nach rund ei- nem halben Jahr die zweite mündli- che Verhandlung statt, ein Urteil des Bundespatentgerichts liegt da meist noch nicht vor. Deshalb bean- tragen die Anwälte der vermeintli- chen Patentverletzer gern die Aus- setzung des Verfahrens bis zu einer Entscheidung zur Nichtigkeit. Das aber kann Jahre dauern. Die Richter in München sind bei der Aussetzung zurückhaltend, drei bis vier Verfahren von fast 200 wa- ren vergangenes Jahr betroffen. Ihr Argument: „Das Patent hat die Ver- mutung des Rechtsbestands für sich“, sagt Richter Guntz. „Etwa 80 Prozent Wahrscheinlichkeit muss für die Nichtigkeit sprechen.“ die Höhe der Marge verhandelt. Mittlerweile verlangten die Kunden aber zunehmend Festpreise. Damit tun sich die Anwälte schwer. Für Hartung lautet ein Schlüssel- wort „Decomposing“: Anwälte müssten lernen, komplexe Dienst- leistungen in ihre Einzelteile zu zer- legen und mit eigenen Preisschil- dern zu versehen. Dazu sei zu- nächst ein internes Projektmanage- ment nötig. Bei dessen Aufbau aber sind die Anwälte laut Hartung „noch nicht über das Krabbelalter hinausgekommen“. Unternehmen zeigen, wie es geht: So hat die Deutsche Bank eine Abteilung geschaffen, deren einzige Aufgabe die Organisation der Rechtsabteilung ist. Wirtschaftsex- perten verbessern Arbeitsprozesse und Risikomanagement und über- nehmen das Kostenmanagement. Treff der Firmenjuristen Über seine Erfahrungen berichtet Harry Szameitat, COO Legal der Deutschen Bank, bei den Eurofo- rum-Unternehmensjuristentagen – sie finden vom 21. bis zum 25. Feb- ruar in Berlin statt. Angekündigt hat sich auch Sabine Leutheusser- Schnarrenberger. In einer von Her- mann-Josef Knipper, stellvertreten- der Chefredakteur des Handels- blatts, moderierten Gesprächs- runde wird die Bundesjustizminis- terin mit Rechtsexperten über aktu- elle Reformvorhaben des Daten- schutzes diskutieren. Rechtsexperten üblichen Stundenhonorare erwarten. Standortwettbewerb Mit der Einführung des EU-Pa- tents soll eine europäische Gerichtsbarkeit für Patent- streitsachen entstehen. Da- nach wird es in jedem Mit- gliedsstaat eine bestimmte Anzahl von Eingangsgerich- ten geben – in Deutschland sind es drei. Gesetzt ist der- zeit wohl nur das Landge- richt Düsseldorf. Von der Anzahl der Verfahren her liegt das Landgericht Mün- chen hinter Mannheim/ Karlsruhe. Chancen rech- nen sich auch Hamburg und Frankfurt aus. Prozess M it Tilman Müller-Stoy, Fach- anwalt für gewerblichen Rechtsschutz bei Bardehle Pagenberg, sprach Marcus Creutz über den Wettbewerb der Patentge- richte um lukrative Fälle. Handelsblatt: Beginnt auch hierzu- lande das „Forum Shopping“ bei Pa- tentstreitigkeiten – also die strategi- sche Gerichtsauswahl des Klägers? Tilman Müller-Stoy: In Deutschland hat Forum Shopping bei Patentver- letzungssachen schon lange Tradi- tion. Ein patentverletzendes Ange- bot im Internet eröffnet den Zu- gang zu allen zwölf deutschen Pa- tentstreitgerichten – eine häufige Möglichkeit. Seit dem Wegfall der Zulassung von Rechtsanwälten in nur einem Landgerichtsbezirk brau- chen Unternehmen nicht einmal den Anwalt zu wechseln. Handelsblatt: Wie kam es zu dem Wettstreit zwischen den Gerichten? Müller-Stoy: Patentstreitverfahren haben hohe Streitwerte. Die Bun- desländer profitieren über die streitwertabhängigen Gerichtsge- bühren. Zudem verstehen sich deut- sche Patentstreitgerichte schon seit langem als Dienstleister der Recht- suchenden, hier also der Patentin- haber – wohl auch für das internatio- nale Renommee. Deutschland ist ge- messen an der Anzahl der Verfah- ren der mit Abstand bedeutendste Patentstreitort Europas. Handelsblatt: Wie hoch sind die Streitwerte in der Regel? Müller-Stoy: Typische Streitwerte in Patentstreitsachen liegen zwi- schen 500 000 und fünf Millionen Euro. Der Durchschnittswert dürfte bei einer Million Euro liegen. Ver- einzelt werden deutlich höhere Werte festgesetzt, bis hin zum Maxi- malwert von 30 Millionen Euro. Handelsblatt: Wie stark verzögern sich Patentverletzungsverfahren durch gerichtliche Sachverständi- gengutachten? Müller-Stoy: Eine Statistik gibt es nicht. Ich schätze aufgrund der Fälle in unserer Kanzlei, dass die Gerichte in jedem fünften bis zehn- ten Fall einen Sachverständigen be- stellen. Dadurch verzögern sich Ver- fahren um mindestens ein Jahr, gele- gentlich um zwei Jahre oder mehr. Handelsblatt: Eignet sich die Be- schleunigung des Verfahrens, wie sie das Landgericht München in Pa- tentfällen praktiziert, als Blaupause für die Zivilgerichtsbarkeit? Müller-Stoy: Das Modell ist geeig- net, Zivilverfahren jeglichen Gegen- stands zu beschleunigen – aber zum Preis einer Mehrbelastung der Rich- ter. Patentstreite rechtfertigen die- sen Mehraufwand volkswirtschaft- lich, um Innovationen effektiv zu schützen. Ob das in allen Zivilstreit- verfahren angemessen und – ohne Aufstockung der Richterzahl – über- haupt möglich ist, erscheint mir aber fraglich. Tilman Müller-Stoy Tilman Müller-Stoy: „Das Münchener Modell ist keine Blaupause für alle Zivilverfahren“ EU-INITIATIVE

HB Legal Succes vom 27.01.2011

Embed Size (px)

DESCRIPTION

HB Legal Success

Citation preview

Page 1: HB Legal Succes vom 27.01.2011

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected].

Marcus CreutzGarmisch

P atentinhaber, die inDeutschland gegen Plagia-toren vor Gericht ziehen,brauchen Geduld. Über

ein Jahr dauert ein Prozess in derRegel. Anders in München – dortmachen die Richter dank einesneuen Verfahrens Tempo. Diebeiden Patentkammern amLandgericht benötigen imSchnitt nicht einmal ein Drei-vierteljahr bis zum Ergebnis.

1 437 Patent- und Gebrauchs-musterverletzungsverfahrengab es im Jahr 2009 – 168 da-von kamen in München vorGericht. Gut dreimal so vieleFälle (548) wurden in Düssel-dorf verhandelt – dort vergin-gen jedoch zwölf bis 14 Mo-nate bis zur Entscheidung,hat die Sozietät Taylor Wes-sing in ihrer jährlichen Sta-tistik zur weltweiten Pro-zesssituation im gewerbli-chen Rechtsschutz ermit-telt. Neben Düsseldorf ge-lang es nur dem Landge-richt Mannheim (291Fälle), so zügig wie dieMünchener zu arbeiten.

Schneller geht es ander Isar dank einesneuen Verfahrensmo-dells, das der Vorsit-zende Richter PeterGuntz entwickelt hat. Statt nach Ge-setzesreformen zu schreien oderauf die dünne Personaldecke zu ver-weisen, wenden die Richter beste-hende Vorschriften der Zivilprozess-ordnung einfach konsequenter an.

Marcus CreutzGarmisch

Aufschlussreiche Benchmark-zahlen für Rechtsabteilun-gen bietet die aktuelle Studie

„2010 Law Department Survey“.Die US-Kanzleiberatung Hilde-brandt Baker Robbins hat dafürrund 250 Rechtsabteilungen großerUnternehmen befragt. WichtigstesErgebnis: 2009 sind die Ausgabenfür externe Rechtsberater erstmalsseit zehn Jahren gesunken – um gutzwei Prozent. Zuvor waren sie umfünf bis neun Prozent jährlich ge-stiegen. Von den Einsparungen wa-ren vor allem externe Anwaltskanz-leien betroffen. Bei ihnen spartenUS-Unternehmen fünf Prozent ein,weltweit waren es sechs Prozent.

Im Gegenzug stärkten zwei Drit-tel der Firmen die eigenen Rechts-abteilungen oder hielten zumindestdie Personalstärke. Auch inDeutschland ist das ein Trend, dendie Wirtschaftskrise forciert hat.Denn externe Wirtschaftsanwältesind vom Stundenhonorar her be-trachtet rund viermal teurer als an-gestellte Unternehmensjuristen.Weil nur eine kleine Schar exzellen-ter Topanwälte in Spezialgebietenechten Mehrwert schaffen kann, ge-raten viele Wirtschaftskanzleien un-ter Rechtfertigungsdruck.

Flucht zu Dumpingpreisen

Nach Meinung vieler Rechtsabtei-lungsleiter ist die Balance zwischenLeistung und Gegenleistung aus

den Fugen geraten. Einige schlie-ßen sich auf Internetseiten wiewww.acc.com zusammen undbauen einen Index über das Preis-Leistungs-Verhältnis einzelnerKanzleien auf. So mancher externeWirtschaftsanwalt sucht sein Heilbereits in Dumpingpreisen.

„Der Kaufmann macht seinen Ge-winn beim Einkauf, während dieAnwälte ihren Gewinn beim Ver-kauf gemacht haben“, analysiertRechtsanwalt Markus Hartung. Erwar bis vor zwei Jahren ManagingPartner der Sozietät Linklaters undberät heute Anwälte bei ihrer Strate-gie. Stundensätze hätten Rechtsex-perten durch Addition ihrer Kostenund einer Marge errechnet – undmit den Mandanten allenfalls über

Unternehmen kürzen die Ausgaben für externeWirtschaftsanwälte müssen ihre Vermarktungsstrategie umkrempeln, weil die Kunden zunehmend Festpreise statt der

Marcus CreutzGarmisch

Wer erinnert sich nicht anden Kinoklassiker „Diezwölf Geschworenen“?

Henry Fonda spielt darin einenLaienrichter. Er hält den Ange-klagten, der einen Mord verübt ha-ben soll, gegen die erdrückendeMehrheit aller anderen Jurymit-glieder für unschuldig. Mit seinerGeradlinigkeit setzt der „Geschwo-rene Nummer acht“ alias Fonda ei-nen gruppendynamischen Pro-zess in Gang, an dessen Ende derAngeklagte wegen erheblicherZweifel an den Ermittlungsergeb-nissen einstimmig freigesprochenwird.

Ob Laien oder professionelleRichter: Sozialpsychologen wissenlängst, dass die wenigsten Jurymit-glieder unvoreingenommen sind.Denn in schwierigen Verhandlungs-situationen sucht der Mensch unbe-wusst nach Orientierung. Doch an-ders als der bedächtige HenryFonda in dem 1956 verfilmten Justiz-thriller kann heutzutage oft genugnur derjenige sicher sein, Entschei-dungsprozesse zu seinen Gunstenzu beeinflussen, der als Erster lautbrüllt und bisweilen unverschämteForderungen erhebt.

Jüngstes Beispiel: das Ende 2010ergangene 1,3-Milliarden-Dollar-Ur-teil gegen SAP vor einem US-Ge-richt. Oracle-Chef Larry Ellisonhatte sich höchstpersönlich in dasVerfahren eingeschaltet und in derÖffentlichkeit lauthals vier Milliar-den Dollar Schadensersatz gefor-dert. Exzentrisch – so urteilten ei-nige Beobachter und vielleicht garJurymitglieder. Doch Ellison ist einausgebuffter Verhandler, der weiß,dass die sogenannten Expertensehr oft ihre eigene Beeinflussbar-keit unterschätzen.

Die Verteidiger von SAP konntendem verbalen Angriff von Ellisonnichts entgegensetzen, was dieJury von der Macht der ersten Zahlhätte abbringen können. Worandas liegt, hat die Kölner Sozialpsy-chologin Birte Englich erforscht. Ineiner Studie wies sie nach, dassauch ein gutes Verteidigerplädoyerkeinen Einfluss auf das Strafmaßmehr hat, wenn die Staatsanwalt-schaft zuvor mit einem bestimm-ten Strafmaß einen ersten Anker ge-setzt hat. Selbst Zwischenrufe ausden Zuschauerrängen wie „GebenSie ihm doch fünf Jahre“ zeigenmehr Wirkung. Laut Englich kom-men Urteilern zunächst die Infor-mationen in den Sinn, die leicht zu-gänglich und zudem selbst gene-riert sind.

Ein Allheilmittel gegen Beein-flussbarkeit gibt es nicht. AberRichter und Verhandler laufen we-niger Gefahr, sich ins Bockshorn ja-gen zu lassen, wenn sie die Ver-handlungskunst erlernen. Dochwer schafft es in der Hektik des All-tags, sich mit den eigenen menta-len Prozessen und deren Fehleran-fälligkeit auseinanderzusetzen?

Richter machen kurzenDas LandgerichtMünchen hat Verfahrenum Patentstreitigkeitenenorm beschleunigt.Das Erfolgsrezept istsimpel: bestehendeRegeln konsequentanwenden.

IMPRESSUMRedaktion:Marcus Creutz,Ingmar Höhmann, ThomasMersch,Stefan MerxLayout:Holger HoppBildredaktion: Corinna Thiel

Votum:Die Machtder ersten Zahl

HRSc

hulz/IMAGO(o.),U

teSc

hmidt/bildfolio

(u.),P

R(o.r.)

Justizpalast München: Früher eherfür lange Verfahren bekannt,

machen die Patentexperten derLandeshauptstadt nun Tempo.

Zentrale der Deutschen Bank:Straff organisierte Rechtsabteilung.

SPEZIAL: LEGAL SUCCESS 55DONNERSTAG, 27. JANUAR 2011, Nr. 19

So verhindern sie beispielsweise,dass sich die Anwälte mit Schriftsät-zen bombardieren und Nebelker-zen rund um technische Detailfra-gen zünden. Nur drei Monate nachKlageeinreichung kommt es in Mün-chen zum sogenannten frühen ers-ten Termin. In dieser ersten vonzwei mündlichen Verhandlungengeben die Richter bereits bekannt,wie sie die Erfolgsaussichten derKlage einschätzen und wo Pro-bleme liegen. Auch vereinbaren siemit den Anwälten, wie viele Schrift-sätze diese innerhalb welcher Fris-ten einreichen dürfen.

Seit einem Jahr ist das Verfahrenim Einsatz – mit Er-folg: „Die Anwältehalten sich sehrgut an die Fris-ten“, sagt RichterGuntz. Im Schnittreichen sie pro Par-tei nur noch zweiSchriftsätze ein.Auch bei den An-wälten kommt diekonsequente wieoffene Art der Pro-zessführung gutan. „Man schreibtnicht ins Blaue hi-nein, sondernweiß, welche vor-läufige Auffassungdas Gericht hatund kann daherzielgerichtet zu die-sen Punkten Stel-lung nehmen“, sagt Sabine Rojahn,Partnerin im Münchener Büro vonTaylor Wessing.

Angekratztes Image aufpoliert

Die Konzentration des oft umfang-reichen Streitstoffs auf wenige ent-scheidende Punkte stoppt eine wei-tere Unsitte, die Patentverfahren indie Länge ziehen kann: die Einho-lung von privaten und vor allem ge-richtlichen Sachverständigengut-achten. Bestellt nämlich das Ge-richt einen Sachverständigen, isteine Verzögerung um mindestensein Jahr die Folge. Die Münchenerwaren früher dafür bekannt, ver-gleichsweise oft Gerichtssachver-ständige zu beauftragen – deshalb

mieden einige Patentinhaber denoberbayerischen Standort. Dasneue Verfahrensmodell poliert alsoauch das angekratzte Image in Pa-tentsachen auf. Die Münchener hof-fen so, ihre Chancen zu verbessern,einer von drei deutschen Standor-ten für die geplante EU-Patentge-richtsbarkeit zu werden.

Besonderheit im deutschen Recht

Weiterer Nebeneffekt: Die Erhe-bung einer Nichtigkeitsklage beimBundespatentgericht verzögert dasVerfahren nicht mehr. Besonderheitdes deutschen Rechts ist, dass Pa-tentfragen auf zwei verschiedenen

Gerichtsebenen be-handelt werden.Der Inhaber einesPatents kann denvermeintlichenProduktpiraten we-gen Patentverlet-zungen vor demLandgericht aufUnterlassung undSchadensersatzverklagen. Dage-gen kann sich die-ser auch mit demArgument zurWehr setzen, dasPatent selbst seinichtig. Dazu musser parallel beimBundespatentge-richt eine Nichtig-keitsklage anstren-gen.

In München findet nach rund ei-nem halben Jahr die zweite mündli-che Verhandlung statt, ein Urteildes Bundespatentgerichts liegt dameist noch nicht vor. Deshalb bean-tragen die Anwälte der vermeintli-chen Patentverletzer gern die Aus-setzung des Verfahrens bis zu einerEntscheidung zur Nichtigkeit. Dasaber kann Jahre dauern.

Die Richter in München sind beider Aussetzung zurückhaltend, dreibis vier Verfahren von fast 200 wa-ren vergangenes Jahr betroffen. IhrArgument: „Das Patent hat die Ver-mutung des Rechtsbestands fürsich“, sagt Richter Guntz. „Etwa 80Prozent Wahrscheinlichkeit mussfür die Nichtigkeit sprechen.“

die Höhe der Marge verhandelt.Mittlerweile verlangten die Kundenaber zunehmend Festpreise. Damittun sich die Anwälte schwer.

Für Hartung lautet ein Schlüssel-wort „Decomposing“: Anwältemüssten lernen, komplexe Dienst-leistungen in ihre Einzelteile zu zer-legen und mit eigenen Preisschil-dern zu versehen. Dazu sei zu-nächst ein internes Projektmanage-ment nötig. Bei dessen Aufbau abersind die Anwälte laut Hartung„noch nicht über das Krabbelalterhinausgekommen“.

Unternehmen zeigen, wie esgeht: So hat die Deutsche Bank eineAbteilung geschaffen, deren einzigeAufgabe die Organisation derRechtsabteilung ist. Wirtschaftsex-

perten verbessern Arbeitsprozesseund Risikomanagement und über-nehmen das Kostenmanagement.

Treff der Firmenjuristen

Über seine Erfahrungen berichtetHarry Szameitat, COO Legal derDeutschen Bank, bei den Eurofo-rum-Unternehmensjuristentagen –sie finden vom 21. bis zum 25. Feb-ruar in Berlin statt. Angekündigthat sich auch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. In einer von Her-mann-Josef Knipper, stellvertreten-der Chefredakteur des Handels-blatts, moderierten Gesprächs-runde wird die Bundesjustizminis-terin mit Rechtsexperten über aktu-elle Reformvorhaben des Daten-schutzes diskutieren.

Rechtsexpertenüblichen Stundenhonorare erwarten.

StandortwettbewerbMitder Einführung des EU-Pa-tents soll eine europäischeGerichtsbarkeit für Patent-streitsachen entstehen. Da-nachwird es in jedemMit-gliedsstaat eine bestimmteAnzahl von Eingangsgerich-ten geben – in Deutschlandsind es drei. Gesetzt ist der-zeit wohl nur das Landge-richt Düsseldorf. Von derAnzahl der Verfahren herliegt das Landgericht Mün-chen hinter Mannheim/Karlsruhe. Chancen rech-nen sich auch Hamburgund Frankfurt aus.

ProzessM it Tilman Müller-Stoy, Fach-

anwalt für gewerblichenRechtsschutz bei Bardehle

Pagenberg, sprach Marcus Creutzüber den Wettbewerb der Patentge-richte um lukrative Fälle.

Handelsblatt: Beginnt auch hierzu-lande das „Forum Shopping“ bei Pa-tentstreitigkeiten – also die strategi-sche Gerichtsauswahl des Klägers?Tilman Müller-Stoy: In Deutschlandhat Forum Shopping bei Patentver-letzungssachen schon lange Tradi-tion. Ein patentverletzendes Ange-bot im Internet eröffnet den Zu-gang zu allen zwölf deutschen Pa-tentstreitgerichten – eine häufigeMöglichkeit. Seit dem Wegfall derZulassung von Rechtsanwälten innur einem Landgerichtsbezirk brau-chen Unternehmen nicht einmalden Anwalt zu wechseln.

Handelsblatt: Wie kam es zu demWettstreit zwischen den Gerichten?Müller-Stoy: Patentstreitverfahrenhaben hohe Streitwerte. Die Bun-desländer profitieren über diestreitwertabhängigen Gerichtsge-

bühren. Zudem verstehen sich deut-sche Patentstreitgerichte schon seitlangem als Dienstleister der Recht-suchenden, hier also der Patentin-haber – wohl auch für das internatio-nale Renommee. Deutschland ist ge-messen an der Anzahl der Verfah-ren der mit Abstand bedeutendstePatentstreitort Europas.

Handelsblatt: Wie hoch sind dieStreitwerte in der Regel?Müller-Stoy: Typische Streitwertein Patentstreitsachen liegen zwi-schen 500 000 und fünf MillionenEuro. Der Durchschnittswert dürftebei einer Million Euro liegen. Ver-einzelt werden deutlich höhereWerte festgesetzt, bis hin zum Maxi-malwert von 30 Millionen Euro.

Handelsblatt: Wie stark verzögernsich Patentverletzungsverfahrendurch gerichtliche Sachverständi-gengutachten?Müller-Stoy: Eine Statistik gibt esnicht. Ich schätze aufgrund derFälle in unserer Kanzlei, dass dieGerichte in jedem fünften bis zehn-ten Fall einen Sachverständigen be-stellen. Dadurch verzögern sich Ver-fahren um mindestens ein Jahr, gele-gentlich um zwei Jahre oder mehr.

Handelsblatt: Eignet sich die Be-schleunigung des Verfahrens, wiesie das Landgericht München in Pa-tentfällen praktiziert, als Blaupausefür die Zivilgerichtsbarkeit?Müller-Stoy: Das Modell ist geeig-net, Zivilverfahren jeglichen Gegen-stands zu beschleunigen – aber zumPreis einer Mehrbelastung der Rich-ter. Patentstreite rechtfertigen die-sen Mehraufwand volkswirtschaft-lich, um Innovationen effektiv zuschützen. Ob das in allen Zivilstreit-verfahren angemessen und – ohneAufstockung der Richterzahl – über-haupt möglich ist, erscheint miraber fraglich.

TilmanMüller-Stoy

TilmanMüller-Stoy: „DasMünchenerModellist keineBlaupause für alle Zivilverfahren“

EU-INITIATIVE

Page 2: HB Legal Succes vom 27.01.2011

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected].

Marcus CreutzGarmisch

Jeder ordentliche Kaufmannweiß: Offener Streit kann Ge-schäftsbeziehungen ruinieren.

Meinungsverschiedenheiten sollendeshalb möglichst schonend undunter Ausschluss der Öffentlichkeitbeigelegt werden. Das gelingt durchVereinbarung eines Schiedsgerichts-verfahrens oder einer Wirtschafts-mediation im zu Grunde liegendenVertrag. Die nicht öffentlichen Ver-fahren hindern eigentlich den Gangvor ein staatliches Zivilgericht.

Jüngst aber hat das LandgerichtHeilbronn in der juristischen Fach-welt für erhebliche Verwirrung ge-sorgt. Die Richter weigern sich, denWillen der Parteien zu akzeptieren,vor Anrufung eines Gerichts eineWirtschaftsmediation zu versu-chen. Begründung: Die Parteienhätten nach der Mediationsklauseljederzeit die Möglichkeit, die Media-tion ergebnislos zu beenden.

Kein Hindernis für eine Klage

Daraus ziehen die Richter den über-raschenden Schluss: „Der Verweisauf einen zunächst durchzuführen-den Güteversuch erweist sich damitals bloße Förmelei.“ Die Mediations-klausel sei zwar ein „durchaus ver-nünftiger Appell an eine gütliche Ei-nigung“. Ein Klagehindernis er-wachse daraus aber nicht.

Im zu Grunde liegenden Fallhatte ein Bauunternehmen mit ei-nem Bauhandwerker eine Rahmen-vereinbarung inklusive Mediations-klausel abgeschlossen. Nachdemder Handwerker diverse Arbeitenan einem Bauobjekt durchgeführthatte, forderte er vom Auftraggeberden vereinbarten Werklohn über13000 Euro – dieser wurde auchbis auf einen Betrag von rund 2 500Euro bezahlt. Hinsichtlich der Diffe-renz kam es zu Meinungsverschie-denheiten. Als der Handwerker denBetrag schließlich einklagte, vertei-digte sich der Bauunternehmer da-mit, dass für die Klage derzeit dasRechtsschutzbedürfnis fehle. Dennes habe vorher keine Mediationstattgefunden.

„Das Landgericht Heilbronn hatden irrigen Rechtsgrundsatz aus

der Taufe gehoben, dass derjenige,der sich nicht einigen muss, es garnicht erst zu versuchen braucht“,kritisiert Rechtsanwältin Karen Eng-ler. Die Leiterin der Kölner Centralefür Mediation betont, dass es für

sämtliche Verfahren der alternati-ven Streitbeilegung typisch sei,dass ein Zwang zur Einigung nichtexistiert und das Verfahren deshalbjederzeit beendet werden könne.„Wenn die Parteien sich zum Zeit-punkt des Abschlusses eines Ver-

trags gleichwohl dazu verpflichte-ten, im Fall eines Streits nicht so-gleich die gerichtliche Auseinander-setzung zu suchen, dann ist das kei-neswegs als bloßer Appell an die zu-künftigen Streithähne zu verste-hen“, sagt Expertin Engler. „Viel-mehr wollen sich die Parteien zu ei-nem Zeitpunkt, an dem sie nochüber einen kühlen Kopf verfügen,dazu verpflichten, bei einer späterauftretenden Streitigkeit zunächsteine gütliche Einigung zu versu-chen.“

Der vorliegende Fall wäre idealfür einen Mediationsversuch gewe-sen. Statt nämlich ein Urteil über ei-nen vergleichsweise geringen Be-trag zu erwirken und damit einedauerhafte Geschäftsbeziehung auflange Sicht zu zerstören, hätte eineprofessionell begleitete Mediation

Handelsblatt: Herr Schneider, derDatenschutz gilt in weiten Teilender Bevölkerung als zahnloser Ti-ger. Muss der Gesetzgeber einemmöglichen Missbrauch von Informa-tionen hilflos zuschauen?Jochen Schneider: Ganz zahnlos istder Datenschutz nicht. Im Daten-schutzskandal Lidl wurden 1,5 Mil-lionen Euro Bußgeld verhängt. DieE-Commerce-Branche fürchtet zu-nehmend Imageschäden und setztauf Datenschutzsiegel.

Handelsblatt: Wo sehen Sie Ansatz-punkte für eine Verbesserung desgesetzlichen Rahmens?Schneider: Es braucht vor allemTransparenz in Verbindung mit Auf-klärung und Verfallfristen. Zudemdie Pflicht zu datenschutzfreundli-chen Voreinstellungen und die früh-zeitige Einbeziehung des Daten-schutzes in die Gesamtkonzeptionneuer Produkte und Dienstleistun-gen. Hinzu kommt eine einfache,früh einsetzende Haftungsrege-lung.

Handelsblatt: Die Wirtschaft sollweiter brummen und die IT-Bran-che nicht in ihrer Innovationskraftgebremst werden. Kann ein moder-ner und effektiver Datenschutzfunktionieren, ohne den Marktteil-nehmern weh zu tun?Schneider: Bisher haben die Fir-men die Berücksichtigung des Da-tenschutzes als nicht lohnend ange-sehen. Das ändert sich, wenn wirk-lich hohe Haftungssummen dro-hen. Auch die Versicherer werdendann darauf drängen.

Handelsblatt: Was sind Handlungs-möglichkeiten?Schneider: Integration von Daten-schutz und Sicherheit im eigenenInteresse lassen sich weitgehend inEinklang bringen. Darauf sollte dieCompliance-Abteilung hinwirken.Datenschutz kann auch ein Marke-ting-Instrument sein – das gilt nichtnur für die Webshops und virtuelleMarktplätze, die zunehmend mitDatenschutzsiegeln arbeiten. Da-tenschutz wird für Arbeitgeber at-traktiv, um sich positiv von Konkur-renten abzuheben. Der Big Brotheram Arbeitsplatz spricht für einschlechtes Betriebsklima.

Handelsblatt: Nach den Daten-schutz-Skandalen bei der Deut-schen Telekom und der DeutschenBahn – dabei wurden Mitarbeiterausspioniert – sind zahlreiche Un-ternehmen verunsichert. Sie sehenDatenschutz als Hemmschuh fürihre Compliance-Bemühungen.Können Sie diese Sorge nachvollzie-hen?Schneider: Die Verunsicherung be-steht, vor allem im Konzern. DenUnternehmen ist zu empfehlen,Compliance-Maßnahmen so weitwie möglich auf die einzelnen Kon-zerngesellschaften zu dezentralisie-ren. Datenübermittlungen an denKonzernvorstand und den Auf-sichtsrat sollten grundsätzlich in ag-gregierter, also nicht personenbezo-gener Form erfolgen.

Handelsblatt: Der Staat selbst ver-hält sich beim Datenschutz auchnicht immer widerspruchsfrei, wieRechtsexperten beispielsweisebeim Ankauf der Steuersünder-CDskritisieren.Schneider: Leider muss man sagen:Das Strafrecht ist weitgehend blindbezüglich des Datenschutzes. Mankann auch sagen: Der Datenschutzendet dort, wo das Strafrecht an-fängt. Das gilt übrigens nicht nurim Steuerstrafrecht, sondern sogarim Verkehrsrecht. Denken Sie etwaan die Diskussion um Langstre-cken-Tempokontrollen. Im Ergeb-nis geht von derartigen Beispieleneine schlechte Signalwirkung fürdie Bevölkerung aus.

Handelsblatt: In sozialen Netzwer-ken steht oft die Befürchtung eineszumindest sorglosen Umgangs mitDaten im Raum. Wie können Nut-zer überprüfen, ob ihr Anbieter se-riös ist?Schneider: Sie sollten das vielfältigeAngebot von sozialen Netzwerkensorgfältig dahingehend selektieren,welcher Anbieter datenschutz-freundliche Einstellungsmöglichkei-ten vorsieht und wie es um dieSuchmaschinenauslesbarkeit steht.Hilfestellungen können dabei Testsvon Verbraucherzentralen bieten.Im Hinterkopf behalten sollte man,dass sich Kostenlos-Portale teil-weise über den Verkauf von Kun-dendaten finanzieren.

Heilbronner Richter hebeln Mediationsklauseln ausEin Urteil verwirrt diejuristische Fachwelt:Dürfen Schiedsverfahrenumgangen werden, auchwenn sie vereinbart sind?

JOCHEN SCHNEIDER

„Datenschutz istMarketing“

Jochen Schneider gilt als einer der Top-Experten für IT-Recht: Mit demHonorarprofessor der Uni München und Namenspartner der Kanzlei

Schneider Schiffer Weihermüller sprach Marcus Creutz überkonstruktive Ansätze für verbesserten Schutz der Persönlichkeit.

Thorsten

Joch

imfürH

ande

lsblatt

„Das LandgerichtHeilbronn hateinen irrigenRechtsgrundsatz ausder Taufe gehoben.“Karen EnglerKölner Centrale für Mediation

SPEZIAL: LEGAL SUCCESS 57DONNERSTAG, 27. JANUAR 2011, Nr. 19

zumindest die Chance auf weitereGeschäfte erhalten.

BGHmit anderer Sichtweise

Die Entscheidung des LandgerichtsHeilbronn dürfte aber aller Voraus-sicht nach ein Ausreißer bleiben.Denn der Bundesgerichtshof hat inmehreren Entscheidungen aner-kannt, dass es den Vertragspart-nern grundsätzlich möglich sei, dieprozessuale Durchsetzbarkeit vonForderungen über Schlichtungs-klauseln temporär einzuschränken(Az.: VIII ZR 197/82 + XII ZR 165/06).„Der Versuch des Landgerichts,den ihm vorliegenden Sachverhaltdavon zu unterscheiden, überzeugtnicht“, sagt Engler. „Denn Gründefür eine unterschiedliche Behand-lung von Schlichtungsklausel undMediationsklausel bestehen nicht.“

Handelsblatt: Bei Online-Portalenstellt sich immer wieder die Fragedes Jugendschutzes. Geschieht daetwas?Schneider: Ein Vorschlag, der disku-tiert wird, ist, ob es künftig gesetzli-che Verfallfristen geben soll, vor al-lem für Daten von Jugendlichen.Die Daten würden automatisch ge-löscht, wenn der Betroffene sienicht wieder neu frei gibt.

Handelsblatt: Bundesjustizministe-rin Sabine Leutheusser-Schnarren-berger will nach dem Vorbild derStiftung Warentest eine Stiftung Da-tenschutz schaffen. Verbrauchersollen sich so an den positiven Be-wertungen datenschutzfreundli-cher Produkte, Dienstleistungenund Unternehmen orientieren.Was halten Sie davon?Schneider: Im Koalitionsvertragder aktuellen Regierung heißt esdazu, dass die Stiftung DatenschutzProdukte und Dienstleistungen aufDatenschutzfreundlichkeit prüfen,Bildung im Bereich des Datenschut-zes stärken, den Selbstdatenschutzdurch Aufklärung verbessern undein Datenschutzaudit entwickelnsoll. Diese Lösung könne auch denStandort stärken, wenn daten-schutzfreundliche Technik ausDeutschland mit geprüfter Qualitätweltweit vertrieben werden kann.Eine solche Stiftung ist also einegute Idee. Denn die Stiftung Waren-test hat mehr Verbraucherschutz ge-bracht als viele Gesetze. Ähnlichdem Verbotsprinzip wirken die öf-fentlichen Datenschützer oft eherals negativ orientierte Bedenkenträ-ger. Die Stiftung könnte Lösungenprüfen und bewerten helfen.

Handelsblatt: Dauert es nicht vielzu lange, bis die Zertifizierungender Unternehmen erfolgt sind?Schneider: Das ist möglich, aller-dings scheint die Praxis relativ be-weglich zu sein. Die bisherigen Au-dit-Ansätze im Gesetz beziehungs-weise Entwurf waren sehr umständ-lich. Aber das Beispiel der MarkeTrusted Shops zeigt, dass es auchanders geht. Auch das Unabhän-gige Landeszentrum für Daten-schutz in Schleswig-Holstein wirbtmit vielen Zertifizierungen. Statt ei-ner Skandalisierung durch die Be-

hörden würde also durch die Zertifi-zierung der private Designansatzbeim Datenschutz gestärkt.

Handelsblatt: Welche Schadenser-satzbeträge und Strafen sind IhrerMeinung nach künftig erforderlich,um präventiven Datenschutz durch-zusetzen?Schneider: Ich denke da an 5 001Euro für den einfachen Fall, unab-hängig vom Nachweis. Klagen müss-ten dann beim Landgericht einge-reicht werden. Straftatbeständegibt es schon, diese sind aber wenigeffektiv. Ich meine ohnehin, dassdie zivilrechtliche Haftung vorran-gig eingesetzt werden sollte unddas Strafrecht nur als ultima ratio.

Handelsblatt: Wie ist die derzeitigeSituation?Schneider: Die Bußgelder sind jetzt

schon sehr hoch und können seitdem 1. September 2009 im Einzel-fall auch über 300000 Euro ausma-chen, falls damit Gewinn abge-schöpft werden soll. Höhere Stra-fen und Bußgelder bringen nichtmehr Schutz: ein klassisches Phäno-men, das sich nicht nur im Daten-schutz zeigt. Die Täter glaubennämlich immer, unerwischt davonzu kommen.

Handelsblatt: Sonderlich abschre-ckend klingen 5 001 Euro Schadens-ersatz aber nicht...Schneider: Das kommt auf dieGröße des Unternehmens an. Da-bei darf man auch den Multiplikati-onseffekt nicht vergessen. Hat einUnternehmen zum Beispiel die Da-ten von 10 000 Mitarbeitern falschbehandelt, steht plötzlich ein erheb-licher Betrag im Raum.

UrteilNeben demGrundrecht auf in-formationelle Selbstbestimmunghat das Bundesverfassungsgericht(Az.: 1 BvR 370/07) in seiner Ent-scheidung zur Online-Durchsu-chung im VerfassungsschutzgesetzNRW das neue „Grundrecht auf Ge-währleistung der Vertraulichkeitund Integrität informationstechni-scher Systeme“ kreiert. Es schütztden einzelnen Bürger vor Zugriffenauf Computer, Netzwerke und ver-gleichbare Systeme, wenn diesesein Persönlichkeitsrecht gefährden.

Analyse Laut Urteil ist die Bedeu-tung von Personalcomputern fürdie Persönlichkeitsentfaltung er-heblich gestiegen. Denn die Gerätekönnen für eine Vielzahl von Zwe-

cken genutzt werden – so zur „Ver-waltung und Archivierung der eige-nen persönlichen und geschäftli-chen Angelegenheiten, als digitaleBibliothek oder in vielfältiger Formals Unterhaltungsgerät“.

TrendNicht nur die größere Ver-breitung von Personalcomputernerhöht laut Bundesverfassungsge-richt die Bedeutung der Informati-onstechnik im Alltag. IT–Komponen-ten finden sich auch in Fahrzeugenoder anderen elektronischen Gerä-ten in derWohnung. Der Leistungs-umfang steigt, wenn solche Sys-teme, beispielsweise über das Inter-net, vernetzt werden – damitwächst auch „ihre Bedeutung fürdie Persönlichkeitsentfaltung“. crz

GRUNDRECHT DER VERTRAULICHKEIT

Page 3: HB Legal Succes vom 27.01.2011

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected].

Ingmar HöhmannBerlin

Christoph Wagner ist aufeine lange Nacht vorberei-tet, als die Fußballbossemit ihren Privatjets in Genf

landen. Es geht um den wichtigstenVertrag im europäischen Sport: dieTV-Rechte an der Champions Lea-gue. Wagner sitzt als Anwalt für denaustralischen Medienmogul RupertMurdoch am Tisch, der die Königs-klasse auf seinem Privatsender TM3übertragen will. Die Verhandlun-gen mit dem Verband Uefa ziehensich. Für Wagner ist das keine Über-raschung: „Erst in den frühen Mor-genstunden, meist zwischen fünfund sechs Uhr, geben die Parteiendie entscheidenden Positionenauf.“ Er nennt das „Deal fatigue“,Verhandlungsmüdigkeit.

Als der Vertrag endlich steht, hatWagners Team sein Ziel erreicht –

und für rund 815 Millionen Mark dieRechte erworben. Wagner sprichtheute vom „schönsten Deal“ seinerLaufbahn. Die „Bild“ titelt jedocherzürnt: „TV-Hai Rupert Murdochüberfällt Deutschland“. Denn diespektakuläre Nachtaktion AnfangMai 1999 trifft die deutsche Fernseh-branche ins Mark.

Konkurrenz schaut in die Röhre

Als am Tag darauf die TV-Elite zurGeburtstagsfeier des ehemaligenRTL-Chefs Helmut Thoma in Kölnzusammenkommt, herrscht Kater-stimmung. Auch MedienkonzernBertelsmann mit Sender RTL undUnternehmer Leo Kirch mit demPay-TV-Kanal Premiere hatten sichChancen ausgerechnet – nunschauen sie buchstäblich in dieRöhre.

Während Murdochs Einstieg inden deutschen Fernsehmarkt die

Schlagzeilen beherrscht, ist sein An-walt schon wieder in Berlin – zu-rück im Alltagsgeschäft. Typisch fürden heute 48-Jährigen: ChristophWagner zieht lieber im Verborge-nen die Strippen. Seine Arbeit eb-net Medienstars und Politpromi-nenz den Weg ins Rampenlicht,doch der Managing Partner des Ber-liner Büros der Großkanzlei HoganLovells, der als einer der brillantes-ten Medienanwälte Deutschlandsgilt, hält sich im Hintergrund. „Wag-ner ist alles andere als ein Selbstdar-steller“, sagt Hans Hege, Direktorder Medienanstalt Berlin-Branden-burg, der ihn seit seiner Referenda-riatszeit kennt. „Die Bühne über-lässt er den anderen.“

In der Branche ist Wagners Rufunumstritten. Der Anwalt hat diePrivatisierung der ostdeutschenFilmindustrie begleitet, den deut-schen Markt für Murdoch geöffnet

und für Haim Saban den Kauf undVerkauf von Pro Sieben Sat 1 be-treut – ein Deal, der den amerikani-schen Medienmagnaten um einigesreicher gemacht hat.

Milliarden-Deal mit UMTS-Lizenz

Um die höchste Summe ging es, alsWagner für die Telekommunikati-onskonzerne Telefonica und So-nera eine UMTS-Lizenz erwarb. ImAugust 2000 nahm er den Bescheidder Bundesnetzagentur entgegen –über 16 Milliarden Mark. Die Be-hörde schickte an einem Sonn-abend gar zwei Mitarbeiter nachBerlin, damit das Geld schnell über-wiesen wurde. Denn pro Tag fielenmehr als sieben Millionen Mark Zin-sen an.

Der Arbeitsplatzvon Wagner, eine derbesten Adressen Ber-lins. Sein Büro liegt im13. Stock des Kollhoff-Towers am PotsdamerPlatz 1. Neben einemStehpult am Fenster,von dem aus Wagnerwährend der Berlinaledas Blitzlichtgewitter auf dem rotenTeppich verfolgt, steht ein klappri-ger Regiestuhl aus Holz – ein Ge-schenk der Kollegen zum 40. Ge-burtstag. „Executive“ steht auf ei-ner Seite geschrieben, „Ch. Wag-ner“ auf der anderen.

Die Rolle als Regisseur würdesich Wagner selbst wohl nie anma-ßen, Starallüren sind ihm fremd. Erwirkt jungenhaft, fast schüchtern,trotz seiner angegrauten Haare.Wenn er über sich redet, sagt er„man“ oder „wir“. Doch wenn Wag-ner seine Fälle Revue passieren

lässt, lebt er auf, wird fast enthusias-tisch. „Er ist kein Krawallmacher,dafür ein guter Zuhörer, der seineAntworten gut überlegt“, sagt Chris-toph Küppers, Regional ManagingPartner für Kontinentaleuropa beiHogan Lovells. „Wer daraus aberden Schluss zöge, dass er in der Sa-che nicht hart bleiben würde, ist äu-ßerst schiefgewickelt.“

Nicht immer war Christoph Wag-ner so zurückhaltend. Nach dem Zi-vildienst zieht er in eine Wohnge-meinschaft in Berlin-Charlotten-burg, im Winter bringt der Kohle-ofen kaum Wärme. Wagner willJournalist werden, schreibt sich ander Freien Universität für Politikund Jura ein. Er verfasst Artikel für

eine Friedenszeitung,demonstriert gegenden Nato-Doppelbe-schluss und wettert ge-gen das Rüstungsbud-get der Bundesregie-rung. „Als jungerMann muss man denAnspruch haben,selbst den Unterschiedzu machen“, sagt Wag-

ner. „Das ist normal, oder nicht?“Doch die Diskussionen mit ande-

ren Politikstudenten ermüden ihn:„Ich war enttäuscht, wie wenig Tief-gang einige hatten“, sagt Wagner.„Ich habe gemerkt: Wer Disziplinhatte und etwas lernen wollte, warbei den Juristen.“ Nach dem Vordi-plom beendet er sein Politikstu-dium – er konzentriert sich fortanauf die Juristerei. „Ich wollte dasMachtgefüge verstehen, die Grund-regeln, um etwas verändern zu kön-nen. Und die Strukturen der Gesell-schaft sind juristisch festgelegt.“

Der Anwalt,dem dieMedienbossevertrauenChristophWagner ist einer der profiliertestenMedienrechtler in Deutschland. Der Berliner Juristarbeitet lieber im Hintergrund – das Rampenlichtgehört seinen Mandanten.

„Wagner ist allesandere als ein

Selbstdarsteller.Die Bühne

überlässt er denanderen.“Hans Hege

MedienanstaltBerlin-Brandenburg

Blick auf Berlin:Wagnerbehält gerne die Über-sicht. Oft arbeitet derManaging Partner vonHogan Lovells im Büroan einem Stehpult. DieAussicht über seine Ge-burtsstadt fasziniert ihn.

And

reas

Labe

sfürH

ande

lsblatt(3)

SPEZIAL: LEGAL SUCCESS 59DONNERSTAG, 27. JANUAR 2011, Nr. 19

Vor allem die Medien haben es ihmangetan. „Die Intendanten derRundfunkanstalten sind mächtigerals die Ministerpräsidenten“, sagter. „Mit der Berichterstattung kön-nen sie Wahlen entscheiden.“

Nach dem ersten Staatsexamenbeginnt Wagner eine Dissertationüber die europäischen Rundfunk-aufsichten. Während er in Italienforscht, fordert US-Präsident Ro-nald Reagan in seiner Rede in Ber-lin die Sowjetunion auf, die Mauerniederzureißen. Als Wagner in Brüs-sel arbeitet, feiern seine Kollegendaheim die Wiedervereinigung.Während eines Aufenthalts als Visi-ting Attorney seiner damaligenKanzlei Hogan & Hartson in Wa-shington verhüllt Christo denReichstag. „Ständig berichteten dieZeitungen auf den Titelseiten überBerlin“, erzählt Wagner. „Immerwenn ich im Ausland war, spieltesich hier das wirkliche Weltgesche-hen ab.“

Die großen Veränderungen faszi-nieren ihn: Auf seinem Schreibtischsteht ein Schwarz-Weiß-Foto vomPotsdamer Platz aus dem Jahr 1990.In einem Niemandsland steht eineinsames Haus zwischen ein paarBäumen. Von Vergänglichkeit zeu-gen die Bilder an den Bürowänden:die zerstörte Mailänder Scala nachdem Zweiten Weltkrieg, der Palastder Republik kurz vor dem Abriss.„Es ist spannend, Dinge verfallenund Ikonen stürzen zu sehen“, sagtWagner.

Verhandlungmit Kombinatsbossen

Sein erster großer Deal: die Privati-sierung der Filmstudios der ehema-ligen DDR in Babelsberg, der Defa.Wagner ist als 29-Jähriger plötzlichfür das filmische Erbe einer ganzenNation verantwortlich. Im Auftragder Treuhand sucht er Käufer fürdas Gelände, die Requisiten, dieFilme, die Drehbücher. Wagner ver-handelt mit Ex-Kombinatsbossenund kämpft gegen Stasi-Seilschaf-ten an. Den Zuschlag erhält der fran-

zösische Medienkonzern Vivendi,auch weil dieser den Regisseur Vol-ker Schlöndorff, bis dahin einzigerdeutscher Oscar-Gewinner, als Ge-schäftsführer einsetzen will. „Eingeschickter Schachzug“ sei das ge-wesen, sagt Wagner heute. „Manbraucht bei großen Deals ein Aus-hängeschild, um Glaubwürdigkeitzu demonstrieren.“

Daraus hat Wagner gelernt: Als ei-nige Jahre später die Verhandlun-gen um die ChampionsLeague beginnen, hater die Fußballpromi-nenz längst auf seineSeite geholt. Ein be-kannter Sportkommen-tator und wichtigedeutsche Funktionäreunterstützen plötzlicheinen kleinen Münche-ner Privatsender, der eigentlich alsFrauensender bekannt ist. Nicht zu-letzt deren Fürsprache überzeugtdie Uefa. Mit Menschen umgehen zukönnen und Vertrauen zu schaffen,das sei seine größte Stärke, sagt Wag-ner. Das Experiment erweist sichfür Murdoch als mäßig erfolgreich.Nach einer Saison verkauft er dieRechte an RTL und Premiere.

Den US-Milliardär Haim Saban,wie Murdoch eine Größe im globa-len Mediengeschäft, besucht Wag-ner in dessen Schloss in Los Ange-les. Der Amerikaner sei ein boden-ständiger Mensch. So wie er selbst,sagt Wagner. Auch geschäftlich istdie Beziehung erfolgreich: Wagnervertritt Saban 2003 beim Erwerbvon Pro Sieben Sat 1 in Deutschlandaus der Insolvenzmasse der Kirch-Gruppe. Keine leichte Aufgabe:

„Die deutsche Politikhatte sich schon aufeine sogenannte natio-nale Lösung verstän-digt“, sagt Wagner –die Sendergruppe sollan ein vom Bauer-Ver-lag angeführtes Konsor-tium gehen.

Doch Wagner gibtnicht auf – er nutzt sein Netzwerkund nimmt Kontakt zum US-Bot-schafter auf, damit der sich mitdem bayerischen Ministerpräsiden-ten und angehenden Kanzlerkandi-dat Edmund Stoiber in Verbindungsetzt. „Die damaligeBundesregierungvon Gerhard Schrö-der war wegen ih-

rer Verweigerungshaltung zumIrak-Krieg bei den USA in Ungnadegefallen. Das gab Stoiber dieChance, sich mit der Unterstützungfür einen US-Investor zu profilie-ren“, sagt Wagner. Die Strategiegeht auf: Stoiber lässt sich überzeu-gen – Saban darf die MünchenerSendergruppe kaufen.

Schachspiel als Taktikschule

Bei politischen Entscheidungen be-wege sich vieles in der juristischenGrauzone, sagt Wagner. Doch derfrühere Mittelrheinmeister imSchach setzt die wichtigen Figurenmeist gut in Szene. „Das Berech-nende, Taktische liegt mir mehr alsdas Schnelle und Unüberlegte.“Seine größte Schwäche? Der Juristbraucht lange. Er fragt seine Presse-sprecherin, seine Sekretärin unddann eine Anwaltskollegin. Ist dasUnsicherheit – oder nur geboteneVorsicht? Schließlich findet er et-was, und wieder vertraut er auf einfremdes Urteil: „Meine Frau sagt,

ich brauche ewig,wenn ich mich ent-scheiden muss.“

Bei der Fusion derKanzleien Hogan &

Hartson und Lovells im vergange-nen Jahr übernahm Wagner dieRolle des Managing Partners desBerliner Büros. Zudem wurde erCo-Chair der internationalen Indus-triegruppe TMT (Technologie, Me-dien und Telekommunikation). EinUnternehmen leiten wolle er eigent-lich nicht, sagt Wagner. Freiheit seiihm wichtig, „Easy Rider“ ist seinLieblingsfilm. An den Wochenen-den rast er mit seiner Ducati übersLand – oder er tobt sich aus beim Ki-tesurfen. Er liebe „das Gefühl, überdas Wasser zu fliegen“, sagt er.

Sich selbst schreibt Wagner je-doch Bodenhaftung zu, Berlin passtbesser zu ihm als Hollywood. Erschaut sich die Spiele von HerthaBSC im Stadion an, für die Philhar-monie hat er ein Abo. Wagner istMitglied der Freunde der National-galerie – und er verteidigt für klei-nes Geld lokale Unternehmen, zu-letzt den Sender Radio Paradiso imRechtsstreit um die Sendelizenz.„Mir liegt der Anwalts- mehr als derRichterberuf. Das ist eine Typfrage:Ich kämpfe lieber für eine Seite, alsmich darauf zu beschränken, bloßeMacht auszuüben.“

Die Mächtigen jedoch ärgert Wag-ner gerne – etwa vor drei Jahren, alser wieder für seinen prominentes-ten Mandanten in den Ring steigt.Rupert Murdoch will bei Premiereeinsteigen, dem Vorläufer des heuti-gen Pay-TV-Senders Sky. Wagnerwählt den Weg des geringsten Wider-stands: Zwischen Weihnachten undNeujahr fädelt er einen Deal über287 Millionen Euro ein, der Mur-dochs Konzern News Corp. rund 15Prozent der Anteile an Premiere ein-bringt. „Alle Investmentbanker undJournalisten waren im Urlaub“, sagtWagner, der seine Freude über die„Operation Nachtangriff“ getaufteTransaktion kaum verbergen kann.Sollte Murdoch für weitere Neuigkei-ten auf dem deutschen TV-Markt sor-gen, werden die Fäden wohl – unbe-merkt von der Öffentlichkeit – wie-der in Berlin zusammenlaufen.

1962 ChristophWagner wird in Berlin geboren.

1981 Beginn eines Politik- und Jurastudiums.

1990 Promotion zumDr. iur.

1991 Zweites juristisches Staatsexamen. DaraufAnwalt, ab 1996 Partner bei Oppenhoff & Rädler.

seit 2001 Partner bei Hogan Lovells (bis 2010 Ho-gan & Hartson).

2003 bis 2007Mitglied der Kommission zur Er-mittlung der Konzentration imMedienbereich.

2010Managing Partner von Hogan Lovells Berlinund Co-Chairman der Industriegruppe TMT.

VITA

Regiestuhl im Bürovon ChristophWagner

„Als junger Mannmussman den

Anspruch haben,selbst den

Unterschied zumachen.“

ChristophWagnerüber seine Studienzeit

Page 4: HB Legal Succes vom 27.01.2011

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected].

Martin HensslerKöln

E s war ein Ende mit Ansage:Der Grundsatz „Ein Betrieb,ein Tarifvertrag“ ist im Juli2010 vom Bundesarbeitsge-

richt (BAG) aufgegeben worden –nicht überraschend. Zuvor hattendie Richter des zuständigen 4. Se-nats mehrfach ihre Unzufrieden-heit mit der bisherigen Senatsrecht-sprechung zum Ausdruck gebracht.Schon vor dieser Entscheidung dis-kutierten Arbeitsrechtler intensiv,was die potenziellen Folgen künfti-ger Tarifpluralität sein würden –was also passiert, wenn mehrere Ta-rifverträge in einem Betrieb gelten.

Verlässliche Leitlinien fehlen

In der Praxis war diese Diskussionfreilich bislang ebenso wenig ziel-führend wie die politische Reform-debatte: Allzu unterschiedlich sinddie Reform- und Lösungsvor-schläge geblieben, verlässliche Leit-linien sind nicht erkennbar.

Ist wirklich eine „Balkanisie-rung“ des Streikrechts zu befürch-ten? Werden die Betriebe deutscherUnternehmen künftig nicht mehrein Ort der Arbeit, sondern des Ar-beitskampfs sein? Ingrid Schmidt,die Präsidentin des BAG, bezweifeltdies: „Wo sollen die denn auf ein-mal herkommen?“ sagt sie zum Ri-siko dauernder Arbeitskämpfe. Un-terstützt wird sie vom Sachverstän-digenrat, der in seinem Jahresgut-achten 2010/11 zur Zurückhaltungbei einer gesetzlichen Regelung rät.

Ganz anders ist die Einschätzungder Politik: Die Bundeskanzlerinhat auf dem letzten ArbeitgebertagEnde November versprochen, bisEnde Januar einen Regelungsvor-schlag zu präsentieren. Der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-WalterSteinmeier hat es sogar als einesder skandalösen Versäumnisse derRegierungskoalition angeprangert,dass sie die Tarifeinheit im Betriebnoch nicht wiederhergestellt habe.

Unabhängig davon, ob eine ge-setzliche Regelung tatsächlich unab-dingbar ist, sollte der Gesetzgebersie schon aus Gründen der Rechts-klarheit anstreben. Eine Rechtssi-cherheit schaffende und zugleichdie Verhältnismäßigkeit achtendeRegelung liegt im Interesse aller Ta-rif- und Arbeitsvertragsparteien.Zwar bleibt eine Teilregelung einesarbeitskampfrechtlichen Sonder-problems unbefriedigend, eine ko-härente und mit dem Tarifrecht ver-netzte Gesamtkodifikation des Ar-beitskampfrechts ist seit Jahrzehn-ten überfällig. Angesichts der Unfä-higkeit des Gesetzgebers, diesegroße Aufgabe zu bewältigen, führtaber kein Weg an einem ersten klei-nen Schritt vorbei.

Debatte über DGB-Vorherrschaft

Eine Schwäche der im Raum stehen-den Reformvorschläge: Sie sehennicht nur Einschränkungen desStreikrechts vor, sondern wollen be-reits auf tarifrechtlicher Ebene nureinen Tarifvertrag für einen Betriebbzw. eine Berufsgruppe zulassen.

Der gemeinsame Vorschlag derBundesvereinigung der DeutschenArbeitgeberverbände (BDA) unddes Deutschen Gewerkschafts-bunds (DGB) möchte im Grunde dieTarifeinheit auf gesetzlichem Wegewieder einführen. Allerdings sollean die Stelle des Spezialitätsprin-zips künftig das Repräsentativitäts-prinzip treten. Durchsetzen sollsich demnach der Tarifvertrag, der

mit der im Betrieb stärksten Ge-werkschaft geschlossen wurde. Klei-neren Gewerkschaften soll zugleichverboten werden, nach Abschlussdes Tarifvertrags mit der repräsen-tativen Gewerkschaft weiter zustreiken.

Meist wird sich nach diesem Mo-dell der Tarifvertrag mit der DGB-Gewerkschaft durchsetzen; es gibtaber jetzt schon einige Unterneh-men, etwa die Lufthansa oder dieprivaten Eisenbahnunternehmen,in denen die zustän-dige DGB-Gewerk-schaft nicht mehr dieMehrheit der organi-sierten Arbeitneh-mer hinter sich hat.

Das Gegenmodellbasiert auf dem Vor-schlag einer Professo-rengruppe. Sie willzwar ebenfalls Tarif-pluralitäten vermei-den, präferiert aberdas Konzept der „re-lativen Repräsentativität“. Der Re-formvorschlag fragt nicht, welcheGewerkschaft im Betrieb insgesamtam stärksten legitimiert ist, son-dern stellt für die Repräsentativitätauf den personellen Überschnei-dungsbereich zwischen zwei Tarif-verträgen ab. Danach wäre etwa beieinem Nebeneinander der DGB-Ver-kehrsgewerkschaft EVG und der Ge-werkschaft der LokomotivführerGdL ausschlaggebend, welche Ge-werkschaft im Überschneidungsbe-

reich – hier der Berufsgruppe derLokomotivführer – mehr Mitgliederhat. Hier wird sich regelmäßig nichtdie nach dem Industrieverbands-prinzip organisierte Multiberufsge-werkschaft, sondern der Berufsver-band durchsetzen. Die GdL dürfteso weiter streiken, wenn die Deut-sche Bahn, wie gerade geschehen,schon mit der Gewerkschaft EVG ei-nen Tarifvertrag für alle Bahnmitar-beiter geschlossen hätte.

Dieses Gegenmodell bevorzugtklar den Berufsverband, denn einhoher Organisationsgrad lässt sichfür eine Berufsgruppe von Schlüs-selfunktionsträgern deutlich leich-ter erreichen, wenn die Gewerk-schaft ihre Aktivitäten eng auf dieseBerufsangehörigen konzentriertund allein deren Interessen vertritt.

Die Förderung eines Systems, indem Berufsverbände nur noch fürihre eigenen Interessen kämpfen,bringt es aber zwangsläufig mitsich, dass all jene weniger qualifi-

zierten Arbeitnehmer an den Randgedrängt werden, die vom Arbeitge-ber kurzfristig ersetzbar sind undso nur über geringe Kampfkraft ver-fügen. Wer sollte künftig ihre Inte-ressen effektiv vertreten?

Vieles spricht dafür, dass es ohneSolidarität kein funktionsfähiges Ta-rifsystem geben kann. Ein Tarifsys-tem, das auf Berufsverbände setzt,wäre für die Arbeitnehmer mit ge-ringer Kampfkraft zwingend aufeine Ergänzung durch staatliche

Mindestlöhne angewiesen. Die Ein-kommensschere zwischen Schlüs-selfunktionsträgern und „einfa-chen“ Arbeitnehmern ginge ausei-nander, ohne dass sich das im Tarif-system korrigieren ließe.

Tarifkonkurrenzen sind aufzulösen

Wie sollten die Eckpfeiler einerüberzeugenden und verfassungs-konformen gesetzlichen Regelungaussehen? Zunächst bleibt es dabei,dass auf ein Arbeitsverhältnis nurein Tarifvertrag angewendet wer-den kann. Mehrere sich widerspre-chende Regelungen in einem Ver-tragsverhältnis, also Tarifkonkur-renzen, müssen aufgelöst werden.Hier behält das vom Vorrang desspezielleren Tarifs ausgehende Spe-zialitätsprinzip seine Rechtferti-gung. Problematisch ist allein dieTarifpluralität, also die Geltungmehrerer Tarifverträge in demsel-ben Betrieb, aber für unterschiedli-che Arbeitsverhältnisse, zu der es

als Folge einer Ge-werkschaftsplurali-tät kommen kann.Grundsätzlich hin-zunehmen sind sol-che Tarifpluralitä-ten, wenn sie da-rauf zurückzufüh-ren sind, dass derArbeitgeber odersein Verband mitverschiedenen Ge-werkschaften Tarif-verträge geschlos-

sen hat („gewillkürte Tarifplurali-tät“). Eine Gesetzesregelung, dieden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzachtet, greift daher nicht schon imTarifrecht, sondern erst auf derEbene des Arbeitskampfrechts.

Der Gesetzgeber hat bei der Aus-gestaltung dieser arbeitskampf-rechtlichen Folgen weiten Entschei-dungsspielraum. Bei Eingriffen indie Betätigungsfreiheit der Gewerk-schaften muss er sich aber auf daszur Sicherung eines funktionieren-

Der Arbeitskampf braucht neue Spiel

Mit der Aufgabe der Tarifeinheit konkurrieren inden Betrieben diverse Gewerkschaften um dieVorherrschaft. Skeptiker befürchten einedeutliche Zunahme von Streiks. DerGesetzgeber muss für Rechtsklarheit sorgen.

„Bei einigenUnternehmen hat diezuständigeDGB-Gewerkschaftschon nichtmehr dieMehrheit hinter sich.“Martin Henssler

SPEZIAL: LEGAL SUCCESS 61DONNERSTAG, 27. JANUAR 2011, Nr. 19

den Tarifsystems Erforderliche be-schränken. Verfassungsrechtlichunproblematische verfahrensrecht-liche Regelungen zur Koordinie-rung der Tarifverhandlungen sindEinschränkungen des Streikrechtsvorzuziehen.

Schlichtung sollte Vorrang haben

Jeder in einem Betrieb vertretenenGewerkschaft sollte ein Anspruchauf Beteiligung an laufenden Tarif-verhandlungen gewährt werden.Zudem muss ihren Mitgliedern einRecht auf Übernahme des Verhand-lungsergebnisses mit der betriebs-weit repräsentativen Gewerkschafteingeräumt werden. Jedem Arbeits-kampf sollte auch ein Schlichtungs-verfahren vorausgehen, in das auchdie von den „kleineren“ Gewerk-schaften vertretenen Berufsgrup-pen und Interessen einbezogen wer-den. Solche Schlichtungsverfahrenstellen sicher, dass auch die Interes-sen der Mitglieder der kleineren Ge-werkschaften ernsthaft diskutiertund in einen Regelungsvorschlageingebunden werden. ModerateEinschränkungen des Streikrechtsder Berufsverbände sind schließ-lich für jene Fälle zu erwägen, in de-nen es bereits zum Abschluss einesbetriebsweit geltenden und mit-gliedschaftlich stärker legitimiertenTarifvertrags gekommen ist. Dassetzt freilich voraus, dass die Indus-trieverbände ihrem Universalvertre-tungsanspruch tatsächlich gerechtwerden und sich stärker als bislangum die Belange der sogenanntenFunktionseliten kümmern.

Prof. Dr. Martin Henssler ist Ge-schäftsführender Direktor des Insti-tuts für Arbeitsrecht an der Uni Kölnund Präsident des Deutschen Juris-tentages.

Peter ReuterKöln

Von Berufs wegen war der Bon-ner Radiologe ans genaueDurchleuchten gewöhnt.

Dass ihn die Ermittler einmal selberper Screening bei unsauberen Fi-nanzgeschäften erwischen würden,hatte er nicht vermutet.

Der Reihe nach: Weil den Medizi-ner eine hohe Schuldenlastdrückte, suchte er nach einer Mög-lichkeit, sich seiner Verpflichtun-gen schnell und ohne große eigeneOpfer zu entledigen. Er fand denWeg nach England, denn das dor-tige Insolvenzverfahren gewährtprivaten Pleitiers eine Restschuld-befreiung (RSB) in der Regel schonnach zwölf Monaten. Hierzulandedauert die Wohlverhaltensperiodesechs Jahre. Um in den in Deutsch-land anerkannten Genuss der engli-schen Schuldentilgung zu kom-men, muss man nach den Vorgabender Europäischen Insolvenzverord-nung (EuInsVO) seinen Lebensmit-telpunkt in England nachweisen.

Und hier setzte das betrügerischeVorhaben ein: Zunächst habe derRadiologe seinen Grundbesitz aufFamilienangehörige übertragen,schildert der Mainzer RechtsanwaltUwe Pel, der die geschädigten Gläu-biger vertritt und zusammen mitder Bonner Staatsanwaltschaft undScotland Yard den Fluchtplan auf-deckte. Dann habe der Arzt in Lon-don eine Limited gegründet, als de-ren Gesellschafterin und Geschäfts-führerin seine Frau auftrat. Von die-ser Gesellschaft habe er sich alsArzt an ein englisches Krankenhausvermitteln lassen. Er bezog von derLimited ein Gehalt auf Sozialhilfeni-veau, sodass seine Einnahmen inEngland vor dem Gläubigerzugriffgeschützt waren und er sich vordem Insolvenzgericht in London alseinkommens- und vermögenslosdarstellen konnte.

Insolvenzflucht nach England

Nach dieser Vorarbeit stellte der Ra-diologe 2007 in London den Antragauf RSB, die man ihm nach einemJahr gewährte. Doch der vermeint-lich Entlastete, dessen Wohnungendaraufhin in Bonn und Londondurchsucht wurden, ist längst nichtaus dem Schneider: Im Februarwird über eine Schadensersatz-klage in Deutschland und über eineAnnullierung der Restschuldbefrei-ung in England verhandelt. Letzte-res gilt als Präzedenzfall.

Auf über 1 000 schätzt Pel die In-solvenzflüchtlinge, die es jedes Jahrnach England zieht. Anfang 2010 ti-telte der „Observer“ sogar: „Lon-don droht zum Bordell des Insol-venztourismus zu werden.“ Du-biose Schuldnerberater und An-wälte bieten vor allem über das In-ternet seit der europäischen Freizü-gigkeit ihre Dienste an, um den vor-geblichen Umzug und die schnelleSchuldenbefreiung über die Bühnezu bringen.

Ein Scheinumzug nach Englandbleibt nicht folgenlos, warnt Schuld-nerberater Frank Beck. An sichkann der Mainzer Rechtsanwaltdem englischen Verfahren viel Posi-tives abgewinnen, denn die wesent-liche Begründung für die Abkür-zung auf ein Jahr lautet: Eine län-gere Dauer würde den Schuldnerstigmatisieren.

Das sei für die ganze Wirtschaftschädlich, argumentiert Beck. „Au-ßerdem ist die englische Restschuld-befreiung tatsächlich eine. Die Ver-bindlichkeiten hören auf zu beste-hen, während sie in Deutschland le-diglich ihre Vollstreckbarkeit verlie-

ren.“ Auch gibt es in England keineSchufa, die es redlichen Schuld-nern noch bis zu vier Jahre nach derRSB unmöglich macht, Kredite zubekommen. In Deutschland verlän-gere die Schufa faktisch die gesetzli-che Verfahrensdauer, moniert derMainzer Rechtsanwalt Beck.

Das Verbraucherinsolvenzrechthätte eine Reform nötig, nicht nurweil Privatinsolvenzen zunehmen.Im Jahr 2010 haben nach Angabender Wirtschaftsinformation WBDatrund 112600 Schuldner den Antragauf Privatinsolvenz gestellt – 7,5 Pro-

zent mehr alsim Vorjahr.Damit Unter-nehmensgrün-der und über-schuldete Ver-brauchernach einemFehlstart mög-lichst schnellwieder aufdie Beinekommen,plant Bundes-

justizministerin Sabine Leutheus-ser-Schnarrenberger eine Halbie-rung der Zeit bis zur Erteilung derRSB von sechs auf drei Jahre. Die Be-troffenen „sollen sich schon baldwieder produktiv am Wirtschaftsle-ben beteiligen können“, verkündetdie Ministerin.

Allerdings ist die Verkürzungnach Ansicht der Berliner Rechtsan-wältin und Insolvenzverwalterin Su-sanne Berner nur sinnvoll, wenn zu-gleich eine Mindestbefriedigungs-quote erzielt werden könne, wie essie in Österreich gibt. Sonst befürch-tet sie, die Gläubigerquote könntenoch niedriger ausfallen. Dass dieAbkürzung mit dieser Gegenleis-tung erkauft werden muss, darüberdenkt nun auch das Justizministe-rium nach, denn eine bloße Abkür-zung stelle gravierende Eingriffe indie Grundrechte der Gläubiger dar.

Wenn die Privatinsolvenz refor-miert wird, so Berner, die auch Vor-sitzende des Verbands Junger Insol-venzverwalter (VJI) ist, solle manauch das Anfechtungsrecht im Ver-braucherinsolvenzverfahren stär-ken, um die Insolvenzmasse meh-ren zu können. Die Versagung derRSB dürfe nicht nur in den Händender Gläubiger liegen, sondern zu-sätzlich den Gerichten und Insol-venzverwaltern vorbehalten sein,die die Redlichkeit des Schuldnersbesser einschätzen könnten.

regeln SchnelleWege aus der SchuldenfalleEngland als Vorbild: In Deutschland reifen Pläne für eine Reform des Privatinsolvenzrechts.

DemonstrierendeMetallarbei-ter in Hitzeschutzanzügen:Diefällige Reform des Streikrechtskommt nur langsam voran.

Ponizak/,C

aro,Arm

inBrosch/PR

(u.),P

ressefotoRTL

RTL-Schuldnerberater Peter Zwegat: Gesetzesänderungenkönnten den Umgangmit Verbindlichkeiten vereinfachen.