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STAATSRÄTIN FÜR INTERKULTURELLEN UND INTERRELIGIÖSEN DIALOG SOWIE GESELLSCHAFTLICHE WERTEENTWICKLUNG HEIMAT UND IDENTITÄT Nr. 03 | 11 Beiträge zum Dialog Heimat im Netz?

HEIMAT UND IDENTITÄT€¦ · Vom Umgang mit sozialen Netzwerken - ein persönli-ches Interview mit Mahha El-Faddagh NETzHEIMATEN Die Heimat in der offline-welt unterscheidet sich

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Page 1: HEIMAT UND IDENTITÄT€¦ · Vom Umgang mit sozialen Netzwerken - ein persönli-ches Interview mit Mahha El-Faddagh NETzHEIMATEN Die Heimat in der offline-welt unterscheidet sich

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STAATSRÄTIN FÜR INTERKULTURELLEN UND INTERRELIGIÖSEN DIALOG

SOWIE GESELLSCHAFTLICHE WERTEENTWICKLUNG

HEIMATUNDIDENTITÄT

Nr. 03 | 11

Beiträge zum Dialog

Heimat im Netz?

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2 HEIMAT UND IDENTITÄT Ausgabe 3/11

GrUßworTHelmut Rau ist Minister im Staatsministerium und unter anderem zuständig für neue Medien

HEIMAT IM NETz?Prof. Dr. Regina Ammicht Quinn fragt nach der Hei-mattauglichkeit des Internet.

wIr wIlDBEUTEr IM wEB 2.0 Seine ungeheure Macht entfaltet das Internet, weil es an soziale Urbedürfnisse des Menschen anknüpft.Von Dr. Michael Blume

wENN ES DoNNErT IM INTErNETDr. Carsten Könneker berichtet begeistert von Bloggewit-tern als neuer Form der wissenschaftskommunikation.

DokUMENTATIoN DES BloGGEwITTErSwir stellen Auszüge aus dem Bloggewitter „Heimat und Identität“ vor - Eine spannende reise bis zum Mond

Inhalt

FAMIlIENBANDEVom Umgang mit sozialen Netzwerken - ein persönli-ches Interview mit Mahha El-Faddagh

NETzHEIMATENDie Heimat in der offline-welt unterscheidet sich gar nicht so sehr von der wahlheimat im Netz. Für beide gibt es klare regeln, wer aufgenommen wird und wer nicht.Von Prof. Dr. Annette Leßmöllmann

DAS lEBEN IN DEr „worlD oF wAr-CrAFT“Ein erfolgreiches online-Computerspiel wirft Fragen nach den Grenzen zwischen virtueller und realer Identität auf. Von Dr. Martin Hoffstadt

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Unter dem Motto "Heimat im Netz?" befasst sich die nunmehr dritte Ausgabe der Schriftenreihe Heimat und Identität mit einem Thema, das in heutiger zeit von zentraler Bedeutung ist: den neuen Medi-en als kommunikationsmittel einer modernen Ge-sellschaft.

wurde noch vor einigen Jahren das Internet weit-gehend passiv als Informations- und kommunika-tionsplattform genutzt, sind die heutigen Nutzerin-nen und Nutzer verstärkt aktive Mitgestalter, die Informationen erstellen und bearbeiten. Es ergeben sich damit neue wege des Austauschs von Ideen und Meinungen. In zeiten von Globalisierung und In-ternationalisierung übernehmen die neuen Medien dabei nicht nur die Aufgabe eines reinen kommu-nikationsmediums, sie beeinflussen vielmehr unsere sozialen Beziehungen und auch die Identifikation mit dem Begriff "Heimat". Darüber hinaus können sie wertvolle Dienste für den Dialog zwischen Ge-sellschaft und Politik leisten. So werden Diskussi-ons- und politische Meinungsbildungsprozesse im-mer häufiger im weltweiten Netz angestoßen.

Die vorliegende Ausgabe der Schriftenreihe zeigt anschaulich, welche neuen wege auch das land Baden-württemberg hier beschritten hat. Mit dem „Bloggewitter“ wurden Bürgerinnen und Bürger dazu eingeladen, Beiträge über das Thema "Heimat und Identität" zu schreiben. Ein themenbezogener

Grußwort

Diskussionsraum wurde geschaffen und eine inspi-rierende Debatte über die Gegenwart und zukunft unserer Gesellschaft angestoßen. Nicht nur das „Bloggewitter“, sondern auch der kurzfilm „Heimat und Identität“, der ebenfalls im Internet zur Verfü-gung steht, sollen zum Denken anregen und zum Gespräch einladen.

Mit Projekten wie diesen kann und soll es gelingen, insbesondere junge Menschen intensiver und nach-haltiger an demokratischen Prozessen zu beteiligen und sie dafür zu begeistern. Dieser fruchtbare weg verdient es, weitergeführt zu werden.

Helmut rau Minister im Staatsministerium

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4 HEIMAT UND IDENTITÄT Ausgabe 3/11

Heimat ist ein „trotziger Begriff“.

Das schreibt der in Haifa geborene und in Berlin lebende Historiker, Germanist und Judaist Yoav Sapir in seinem Bei-trag zu dem Bloggewitter „Heimat und Identität“. Ein trot-ziger Begriff, ein altmodischer, ein unpassender Begriff, der so gar nicht in die flexiblen lebenswelten vor allem junger Menschen passen will – und der sich gerade dort in neuer weise entdecken lässt.

Vom 15.9. bis zum 15.10.2010 wurden wissenschaftsblogge-rinnen und -blogger des Scilog-Portals eingeladen, über das Thema "Heimat und Identität" zu schreiben. Ihre Blogposts verfassten sie unabhängig, und sie blieben auch selbst verant-wortlich dafür, wie sie mit den Diskussionen und kommen-taren in ihrem Blog umgehen. Damit entstand im Netz ein themenbezogener Diskussionsraum, der einerseits die Frei-heiten des Internet achtet, andererseits aber übersichtlich blieb und für dessen inhaltliche Qualität kompetente, aktive und sichtbare Persönlichkeiten Verantwortung übernahmen.Dieses Bloggewitter ist auf großen zuspruch gestoßen: Im Januar 2011 gab es 24 Blog-Beiträge eingeladener wissen-schafts-Blogger, 224 leserkommentare bei 23 391 (unter-schiedlichen) IP-zugriffen. Auszüge aus dieser Diskussion sollen im vorliegenden Heft dokumentiert werden.

warum aber sind die neuen Medien interessant für die Dis-kussion eines „trotzigen Begriffs“ wie „Heimat“?

Die Möglichkeiten elektronischer kommunikation und welt-weiter Vernetzung haben unser leben grundlegend verän-dert. Die Cousine, die Freundin oder die wissenschaftskol-legin, die rund um die halbe welt wohnt, gehen in meiner virtuellen welt aus und ein. wir können wissen, Neuigkei-ten und witze teilen, gemeinsam arbeiten oder spielen. Und manchmal fühlen wir uns ihnen näher als den Nachbarn, mit denen wir Tür an Tür leben.

wo Jane Austen, Bettina von Arnim oder Annette von Dros-te-Hülshoff Briefe schrieben, um ihren Platz in der welt

zu definieren und in der welt vernetzt zu sein, sind heute schon Emails altmodisch: Chats, sms und tweets erlauben Formen der kommunikation, die unmittelbar sind – und so schnell gehen, dass man sie, wie das gesprochene wort, auch durchaus nach einigem Nachdenken manchmal gerne zurücknähme.

Dabei ist der zugang zu neuen kommunikationsformen weltweit ungleich verteilt: Am Beginn des 21. Jahrhunderts hat etwa die Hälfte der weltbevölkerung niemals ein Telefongespräch geführt. Und zugleich ist Manila die stolze sms-Hauptstadt der welt. Für die etwa 6,5 Millionen Einwohner ruandas, so Professor Pe-ter Filzmaier von der Universität klagenfurt, gibt es weniger Telefon- und Modemanschlüsse als für die Mitarbeiter der weltbank. Afrika ist insgesamt schwächer im Internet vertre-ten als die Stadt New York.

Für die Generation der „Digital Natives“ aber, der Einheimi-schen der Digitalwelt, ist über Herkunfts- und kulturgren-zen hinweg das Netz längst selbstverständlich geworden. Es bestimmt einen wesentlichen Teil ihres In-der-welt-Seins.

In dieser Situation ist zweierlei nötig: die Diskussion im Netz und über das Netz. Beides soll in diesem Heft auspro-biert und angestoßen werden.

Die Diskussion im Netz ist von den unterschiedlichen politi-schen Institutionen eine immer noch vernachlässigte Form. Verlautbarungen sind eine Sache, Dialog- und Partizipations-formen eine andere.

Und zugleich brauchen solche Dialog- und Partizipations-formen das Nachdenken über das Netz: Inwiefern stellen sich im Internet die Fragen nach den Spielregeln des zu-sammenlebens neu? Müssen in der realen welt bestehende werte und Tugenden neu verhandelt werden? was bedeutet „Freundschaft“ in einem sozialen Netzwerk? welche rolle übernimmt der homo ludens, der spielende Mensch, im In-ternet? Verändert sich der „wert“ einer Information, wenn

Heimat im Netz?Von regina Ammicht Quinn

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jeder sie ungeprüft auf eine Homepage stellen kann und die ganze digitale welt (kostenlos) auf sie zugreifen kann? wenn Heimat Sicherheit bedeutet, ist für die Einheimischen im Netz dieser ort ein sicherer ort?

Und wie steht es mit meiner Identität, wenn digitale zu-gehörigkeiten unter Umständen ganz andere sind als in der realen welt? wenn Nationalität, Hautfarbe, religion oder auch Geschlecht in den Hintergrund treten können, wenn sie ungenannt und ungesehen bleiben können – oder wenn sie erst recht meine zugehörigkeiten bestimmen?

was sagen uns also die Blogger und Bloggerinnen über „Hei-mat und Identität“? Über den trotzigen Begriff Heimat und die Identität auf der Plastikkarte?

Sie widersprechen und zitieren sich und schaffen damit ein eigenes Netz an Ideen, Argumenten und Bildern, in dem wir uns neu verorten können. Für den einen ist Heimat Schick-sal, für die andere wahl. Sie beschreiben Heimat als Gefühl oder Duft oder als Fußballplatz. Heimat erscheint als der ort, an dem ich mich auskenne, an dem ich mich „einnorde“. Und Heimat wird zum Beziehungsgefüge, das ich von ort zu ort mit mir trage.

Der Neurogenetiker und Biologe Joe Dramiga schreibt über die Flucht seiner Mutter vor dem Terrorregime Idi Amins,

über den Namen, den sein Großvater ihm gab: otim – „der in der Fremde Geborene“ und über die wunde, die das Ver-lassen der Heimat schlägt. Für den luft- und raumfahrtin-genieur Michael khan gehört zur Heimat das wissen, diese Heimat verlassen zu können – andernfalls wäre Heimat ein Gefängnis.

Ich lade Sie ein, sich ansprechen und anregen zu lassen, kritisch im und über das Netz weiter zu sprechen und im Symbol des Netzes auch die Verbundenheit über Grenzen hinweg zu erfahren.

Prof. Dr. regina Ammicht Quinn ist ehrenamtliche Staats-rätin für interkulturellen und interreligiösen Dialog sowie gesellschaftliche werteentwicklung in der landesregie-rung Baden-württemberg.

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wir wildbeuter im web 2.0 - Die soziale Macht des Internet(t)Von Michael Blume

Das Internet ist an Demokratiebewegungen und revo-lutionen beteiligt, es beschleunigt den Nachrichten-, Informa-tions- und warenaustausch, fördert den internationalen Aus-tausch zwischen kulturen und wissenschaften und ermöglicht die Pflege grenzüberschreitender Beziehungen. Aber auch Mob-bing, fremdenfeindliche und extremistische Herabwürdigungen Anderer breiten sich im world wide web aus. Seine ungeheure Macht entfaltet das Internet, weil es an soziale Urbedürfnisse des Menschen anknüpft.

Geld regiert die Welt? Von wegen!

In den letzten Jahren haben eine ganze reihe von wissen-schaftlichen Studien und Experimenten das lange dominie-rende Bild des Menschen als eines vorwiegend materiell ori-entierten „Homo oeconomicus“ ins wanken gebracht. Viele Menschen zeigten sich bereit, auf eigene Vorteile – wie einen Spielgewinn – zu verzichten, wenn dafür „unfaires“ Verhal-ten von anderen, auch völlig anonymen Spielteilnehmern bestraft wurde. Sie erhöhten ihre – durchschnittliche – Spen-denbereitschaft und regeltreue, wenn sie durch worte oder auch nur Symbole (wie aufgeklebte Augen über einem Com-puterbildschirm) vorbewusst in eine Stimmung des Beobach-tet-werdens versetzt wurden – oder wenn religiöse Feiertage

anstanden. Und in internationalen Studien häuften sich die Befunde, wonach sich das Glück von Menschen oberhalb ei-nes bestimmten wohlstandsniveaus durch noch mehr Besitz kaum mehr erhöhte.

wenn wir wissen wollen, warum wir sind, wie wir sind – so sollten wir schauen, wie wir wurden. Jene wenigen Völ-ker, die auch heute noch wie unsere Vorfahren als Jäger und Sammler (wildbeuter) leben, bieten eine neue Antwort auf das oft „seltsame“ Verhalten von Menschen – gerade auch wenn wir uns vermeintlich frei im Internet als neuer „virtu-eller Heimat“ bewegen.

weil es wildbeutern kaum möglich war und ist, größeren Be-sitz anzuhäufen oder auch nur Nahrung in Scheunen oder kühlschränken einzulagern, wurde und wird Beute in soziale reputation umgewandelt: wer viel oder Besonderes erjagt oder gesammelt hatte – wozu neben Fähigkeiten eben stets auch wechselndes Glück beitrug – gab anderen und konnte dafür darauf zählen, auch selbst bei Bedarf etwas zu erhalten. Mehr noch: Fähige Handwerkerinnen, erfolgreiche Jäger, wis-sende Sammlerinnen, Heiler, Hüterinnen wertvoller Traditio-nen oder auch einfach freundliche Mitmenschen, denen man

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sich und auch die eigenen kinder anvertrauen konnte, er-warben je auf ihre weise soziale Anerkennung, die wiederum gegen Nahrung, Güter, Schutz und attraktive Beziehungen „eingetauscht“ werden konnte. Der Mensch entwickelte sich so in einzigartiger weise zu einem wesen, das von klein auf auf die soziale wertschätzung durch andere Menschen zwin-gend angewiesen war – und ist. Anerkennung erleben wir als buchstäblich überlebenswichtig, hungern nach ihr und neh-men große Anstrengungen auf uns, um sie zu erhalten.

Die Entstehung von Tauschmärkten und schließlich Geld ist dagegen erst wenige tausend Jahre alt. Nicht zufällig warnen religiöse Traditionen vor dem „Götzen Mammon“,

Trotz der Ausbreitung der Agrar- und später Industriewirt-schaft haben kulturen von Jägern und Sammlern – kürzer: wildbeutern – auf allen kontinenten (inklusive Nordeuropas) überlebt. An die Stelle früherer Verachtung für die vermeint-lichen „wilden“ ist dabei in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend respekt und Interesse getreten. So haben Ethno-logen entdeckt, dass wildbeuter überall auf der welt wirt-schaftsweisen des „Sharing“ (deutsch: Teilens) praktizieren. Dabei sorgen komplexe Erwartungen und regeln dafür, dass Überschüsse innerhalb der Gruppen so verteilt werden, dass Arbeitsteilung und Gegenseitigkeit gewahrt bleiben. Beispiels-weise gehört bei den !kung San im südlichen Afrika erjagtes wild mitunter nicht dem Jäger, sondern der Herstellerin bzw. dem Hersteller des Pfeiles. Erfolgreiche Jäger genießen deswe-gen wertvolle reputation und ihnen werden auch viele zeitauf-

wändig gefertigte Pfeile überreicht. zugleich wird der Ertrag der Jagden so verteilt, dass die Gemeinschaft bestehen kann.

Auch in Agrargesellschaften wird das Sharing zur Abfederung von risiken noch oft praktiziert. zwar spricht es emotionale Sehnsüchte an, kann jedoch nicht einfach mit höherer Moral gleichgesetzt werden: Meist bezieht sich das Teilen vor allem auf die Mitglieder der eigenen Gruppe und kann in sich moderni-sierenden Gesellschaften dann auch als Hindernis für Fleiß und Innovation, als Nepotismus (Begünstigung von Familien- und Stammesmitgliedern) sowie als korruption wirksam werden.

Quelle: richard lee & richard Daly, The Cambridge Encyclopedia of Hun-ters and Gatherers, Cambridge 2004

der nur scheinbar persönliche Erfüllung garantiere, und rufen ihre Anhänger stattdessen zu Spenden zugunsten des gemeinschaftlichen zusammenhaltes auf. Und wenn Charles Dickens 1843 den reichen Geizhals Ebenezer Scrooge in der „Christmas Carol“ gerade noch erkennen lässt, dass durch Mit-Teilen gepflegte, soziale Bindungen beglückender sind als nur materieller Besitz, so wird diese Aussage über alle kulturen hinweg verstanden. Ebenso hat sich zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass Men-schen in Not auch, aber eben nicht nur durch materielle zuwendung zu helfen ist. ob arm oder reich: Menschen sehnen sich nach Teilhabe, Anerkennung und der Erfah-rung, etwas beitragen zu können.

Mit-Teilen für Reputation – Das Wirtschaftssystem von Jägern und Sammlern

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onlinenutzung in Deutschland (ab 14 J.) Vergleich Alterskohorten

Quelle: ARD/ZDF-Onlinestudien 1997 - 2010

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in Ausbildung

Berufstätig

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onlinenutzung in Deutschland (ab 14 J.) Nach Berufstätigkeit

Quelle: ARD/ZDF-Onlinestudien 1997 - 2010

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Unsere Evolutionsgeschichte formte uns zu den sozial be-fähigten, aber eben auch bedürftigen und also manipulier-baren Menschen, die wir sind. Und genau an dieser Stelle setzt die Verheißung, die Macht und auch die Bedrohung des Internets an.

Der Erfolgszug des Internets in unser Leben

Als die ArD 1997 zum ersten Mal eine onlinestudie für Deutschland vorlegte (dann ab 1998 gemeinsam mit dem zDF) gaben 6,5 Prozent aller befragten Deutschsprachigen ab 14 Jahren an, das Internet zu nutzen und also „online“ zu sein: 10,0% der Männer und 3,3% der Frauen. Im Jahr 2010 waren es unter 1804 Befragten bereits 69,4% (Männer: 75,5%, Frauen: 63,5%) – und in der Altersgruppe der 14 bis 19 Jäh-rigen glatte 100,0%!

76% der online-Nutzer nutzten für die Internet-Anwahl noch einen klassischen Computer, unter den 14-29 Jährigen nur noch 71%. Der tragbare laptop diente dagegen schon 51% aller Nutzer und 61% der Jüngeren als (weiterer) zu-gang. zunehmend greift das Internet aber auch in die wel-ten außerhalb des Computers aus: Vor allem jüngere Nutzer wählen sich zunehmend auch durch Spielkonsole (5% der 14-29 Jährigen, Gesamt: 2%), Musikempfänger (3% der 14-29 Jährigen, Gesamt: 1%) und vor allem Handy bzw. Smartphone (13% dieser Altersgruppe, Gesamt: 5%) ein.

Fernsehen und radio werden nicht etwa aufgegeben, son-dern zunehmend in die Internetnutzung integriert. Unklar ist noch, inwiefern die Internetaktivitäten nur „virtuelle“ Beziehungen begünstigen und also Vereinsamung begünsti-gen – oder umgekehrt gerade auch kontaktscheueren Men-schen den Dialog mit der Umwelt und die Begegnung mit Gleichgesinnten erleichtern. Für beides gibt es Hinweise: So stellte die Studie „Digitale Gesellschaft“ im Dezember 2010 fest, dass unter der Gruppe der „digitalen Profis“ (12% der deutschsprachigen wohnbevölkerung ab 14 Jahren) Singles und Paare ohne kinder deutlich überwogen, wogegen junge Eltern vor allem unter den Gelegenheits- und Berufsnutzern (insgesamt 35%) anzutreffen waren. Allerdings sind hierbei die genauen Ursachen und wirkungen noch unklar und und das Internet wird von allen Gruppen zunehmend zur Pflege von Sozialkontakte (Freundschaften und Beziehungen bis hin zur aktiven Partnersuche) eingesetzt. Auch im Hinblick auf das Ehrenamt ist einerseits der Bedeutungsverlust klassi-scher Formen beklagt worden – andererseits finden sich im Netz neue Formen des freiwilligen Engagements, von denen wikipedia nur die Bekannteste ist.

Anschmiegsame Spiele

Schon lange bevor Computer vernetzt werden konnten, er-kannten Entwickler die Bedeutung der reputation für die Motivation von Spielerinnen und Spielern: High-Score-lis-

ten und Turniere luden ein, „mit zu spielen“ und unter Um-ständen Stunden und ganze Tage zu investieren, um ränge zu erwerben oder zurück zu gewinnen.

Die Möglichkeiten des Internets haben der Spieleindustrie völlig neue Möglichkeiten eröffnet: Nahezu jedes erfolgreiche Spiel wird inzwischen über Internetangebote und eine „Com-munity“ begleitet, die Tipps, Tricks und Erfolge austauscht und zunehmend auch virtuelle waren anbietet. In Foto- und Videosammlungen vom Bildschirm (sogenannte Screenshots) verewigen Spielende Ereignisse und Erfolge und teilen sie ei-nander mit. Und obgleich keine echten Dinge, sondern nur Bits und Bytes ausgetauscht werden, beträgt der Markt für den Erwerb virtueller Charaktere, kleidungen, waffen, Grundstü-cke und Geräte (wie Autos oder Mähdrescher) längst mehrere hundert Millionen Euro im Jahr - und wächst weiter.

Und immer mehr Spiele erlauben über das web das "ver-netzte" Spiel gegen- oder miteinander, womit sich die Mög-lichkeiten zur Gestaltung von Turnieren, ligen und schließ-lich Teams noch weiter erhöhen. In online-rollenspielen entstehen so fantastische, virtuelle welten, in denen sich die Spielerinnen und Spieler als gestaltungskräftig erleben und beispielsweise Monster niederkämpfen, zauber anwen-den, Gebäude errichten, Tiere betreuen oder Flugreisen auf Drachen oder in raumschiffen erleben können. Soziale Be-dürfnisse werden aufgegriffen, indem sich die Charaktere virtuell begegnen, zusammenwirken und schließlich zu im-mer verbindlicheren Gruppen (mit bezeichnenden Namen

Digitale Außenseiter GelegenheitsnutzerBerufsnutzer TrendnutzerDigitale Pro�s Digitale Avantgarde

5% (+2%)12% (-)

20% (+9%)

7% (-2%)

28% (-2%)

28% (-7%)

Quelle: Initiative D21 e.V. - Digitale Gesellschaft 2009

Digitale Gesellschaft (ab 14 J.) Nach Nutzertypen (Veränderung zu 2009)

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Führt das Internet zu Vereinsamung oder erleichtert es kontaktscheuen Menschen den Dialog mit der Umwelt?

Über lange zeit galt das Internet noch als Männerdomäne und bis heute weisen Männer auch in Deutschland einen etwas höheren Anteil und zeiteinsatz von onlinenutzern insgesamt auf. In weblogs, Diskussionsforen, einigen online-Spielen und wikipedia sind Frauen weiterhin deutlich unterrepräsen-tiert und geben auch in Befragungen durchschnittlich weniger Interesse an, eigene Texte online zu stellen. Als Hauptgrund dafür werden die Anonymität und der oft aggressive Ton in online-Diskussionen und öffentlich zugänglichen kommen-tarspalten genannt.

Mit der Berufung auf eine reihe neuerer Studien zum En-gagement in sozialen Netzwerken vertrat jedoch Aileen lee von der Investmentfirma kPCB die These, dass inzwischen „Frauen das Internet regieren“. Sie investierten nicht nur mehr zeit in sozialen Netzwerken, sondern dort auch durch-

schnittlich mehr kontakte pflegen. Frauen wiesen auf Twitter inzwischen mehr Tweets und in Facebook im Durchschnitt 8% mehr „Freunde“ als ihre männlichen Mitnutzer auf. Und aus wirtschaftlicher Sicht entscheidend: Sie würden viel stärker als Männer online-Einkaufsmöglichkeiten nutzen, einander Produkte empfehlen, aktiv Anbieter vergleichen und auch längerfristige Anschaffungen online planen. Männer seien im Technikbereich weiter führend, aber Frauen längst „die wei-chensteller und Verstärker des sozialen Netzes.“

Quellen: Astrid Herbold, Frauen im Netz - Sag doch auch mal was! zeit online 7.2.2011Aileen lee, why women rule The Internet. Techchrunch 20.3.2011

Verschiedene Zimmer im virtuellen Haus? Frau und Mann im Internet heute

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wie Teams, Clans oder Stämmen) zusammenschließen. Die Freude an Entdeckungen, Erfolgen, zugehörigkeit und Aner-kennung geht dabei dann zunehmend mit der Verpflichtung einher, genügend eigenen Spieleinsatz zu leisten und zu ver-abredeten Gemeinschaftsaufgaben auch „anwesend“ zu sein.

Schon 13% aller online-Nutzer in Deutschland, aber gar 31% der jungen Männer von 14 bis 29 Jahren sowie 18% der jun-gen Frauen nutzen onlinespiele mindestens wöchentlich. In Einzelfällen gehören Suchtverhalten und schwere Beein-trächtigungen der realen Sozialbeziehungen zu den Folgen. Dabei ist das technische und inhaltlich-soziale Potential von online-Spielen erst seit wenigen Jahren im Blickpunkt der Investoren und noch kaum ausgeschöpft.

Web-Communities von privaten Anbietern

So erfolgreich online-Spiele auch viele von uns anzuspre-chen vermögen, gehen sie doch einen Umweg: wir sind in ihnen über virtuelle Charaktere („Avatare“) präsent. Andere Anbieter sind längst dazu übergegangen, über von Unterneh-men betriebenen Netzwerken und Communities (deutsch: Gemeinschaften) Mitwirkende zur Selbst-Darstellung zu er-mutigen. wer dort auf „Profilseiten“ und in „Gruppen“ ei-gene Texte, Fotos und kontakt-Aktivitäten einbringt, wird dafür mit mehr „Freunden“, „Awards“ oder auch einfach Punkten (darunter „like it“ – „Mag ich“-Bekundungen) be-lohnt. Die Nutzer erzeugen so selbst die Inhalte und Sozial-strukturen, die die Seite wiederum für andere Nutzer, Spen-der und vor allem die werbeindustrie interessant machen.

waren 2007 gerade einmal 6% der deutschsprachigen online-Nutzer unter eigenem Namen in einer privaten Community mindestens einmal pro woche aktiv, so schoss dieser Anteil auf 34% in 2010 empor, wovon knapp die Hälfte bereits täglich „anwesend“ war. Dabei sind Frauen in diesen sozialen Netwer-ken über- und Männer unterdurchschnittlich aktiv.

Erfolgreiche Anbieter sozialer Netzwerke haben inzwischen begonnen, auch eigene Mail- und Blogfunktionen anzubie-ten, die den Informationsfluss innerhalb der Communities weiter befördern. Dadurch steigt jedoch auch der Druck auf bisherige Nicht-Teilnehmer, vor allem der jüngeren Gene-rationen, sich – ggf. auf Einladung – ebenfalls einzumelden. Eine Sonderform einer sozialen Community bildet Twitter, das auf dem Versand von online-kurzmitteilungen und Hin-weisen an Netzkontakte beruht und damit einen globalen und dezentralen Nachrichtenstrom generiert.

längst finden in den sozialen Netzwerken auch gesellschaft-liche und politische Diskussionen statt, pflegen beispiels-weise auch immer mehr Abgeordnete und kandidaten kontakte und Austausch mit Interessierten. Es wird jedoch kontrovers diskutiert, ob die Beschränkung auf „Freunde“-Netzwerke und die Belohnungen für Übereinstimmung eher dazu beitragen, dass (eher) Gleichgesinnte unter sich bleiben und die wirkliche Auseinandersetzung mit anderen Positionen entfällt. Gerade aber weil sie schwerer zu über-blicken und zu überwachen sind als öffentliche Angebote hatten und haben soziale "Netwerke", auch einen bemer-

Auch das große Interesse im Bereich von Bildung und wissen-schaft wird bislang nur von sehr wenigen Anbietern beantwor-tet. Dabei werden online zugängliche Berichte und Studien aus der wissenschaft sehr interessiert aufgenommen, diskutiert und vernetzt. Insbesondere in den USA haben inzwischen ers-te Universitäten begonnen, Aufzeichnungen von Vorlesungen, Podiumsdiskussionen und lesungen systematisch frei verfüg-bar zu stellen - mit teilweise enormer resonanz. Aber laut einer Studie des research Information Network in london nutzten zwar bereits 73% der 1200 befragten britischen wissenschaft-lerinnen und wissenschaftler die Suchmaschine Google und immerhin 69% wikipedia. Aber nur 12% waren ihrerseits in sozialen Netzwerken aktiv und sogar nur 5% präsentierten und diskutierten Forschungen in Blogs. Für Deutschland gibt es noch nicht einmal eine vergleichbar repräsentative Erhebung, die Beteiligung dürfte aber eher noch magerer sein.

Ein Grund für die schwache Präsenz von deutschsprachiger wissenschaft im web liegt in der prekären Situation der Nachwuchswissenschaftler, die oft in geteilten, befristeten und personal abhängigen Beschäftigungsverhältnissen stecken und wenig kreative Initiativen entfalten können. Mit dem „Templiner Manifest“ hat die Gewerkschaft Erziehung und wissenschaft (GEw) jedoch ihrerseits das Internet entdeckt, um die bislang völlig zersplitterten Beschäftigten im wissen-schaftlichen Mittelbau anzusprechen und zu organisieren. ob das Internet in der lage sein wird, auch Strukturen im wissen-schaftsbetrieb zu hinterfragen?

Quellen:Christine Baumgartner, weiter weg zum web 2.0, EPoC 03/2011, S. 76 - 80GEw, Templiner Manifest, http://www.gew.de/Templiner_Manifest.html

Wissenschaft im Web - Große Nachfrage, (zu) wenig Beitragende

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kenswert großen Anteil an der zivilgesellschaftlichen orga-nisation von Menschen in Diktaturen.

Das Mitmach-Web - Wikipedia & Blogs

Als der Softwareentwickler Tim o’reilly 2004 das Schlag-wort vom „web 2.0“ prägte, gerieten damit die neuen Mög-lichkeiten des direkten Informationsaustausches und des Mitmachens – der Partizipation – in den Blickpunkt. Über das Internet, so wurde und wird gehofft, entstünde eine breite, freiheitlich selbst organisierte Öffentlichkeit, die sich zunehmend mehr zugänge zu Informationen und Dis-kussionen erkämpft.

Im Bereich der wissensvermittlung beginnt sich diese Hoff-nung zu erfüllen: 2010 riefen bereits 58% der online-Nutzer über das Internet auch aktuelle Nachrichten auf, ein Plus von 11 Prozentpunkten gegenüber 2005. Auch Abrufe von Informationen aus wissenschaft, Forschung und Bildung leg-ten von bereits starken 44% in 2005 auf 48% in 2010 noch einmal zu. Im online-Abruf von Fernsehsendungen folgten Nachrichten (48%) und Sendungen zu kultur, wissen und Bildung (41%) sogar dicht auf Fernsehfilme und Serien (55%) sowie Shows und Unterhaltung (50%).

Neben wikipedia, das inzwischen fast allgemein genutzt wird, haben sich zudem blühende Szenen von wissen-

schaftsblogs gebildet, in denen kostenfrei wissen zugänglich gemacht wird, sich Fachleute und Interessierte über Fach- und ländergrenzen hinweg intensiv austauschen, Erkennt-nisse vernetzen, Bücher empfehlen u.v.m. Im Bereich der online-Bildung stieß der frühere Investmentbanker Salman khan mit kostenfreien Mathematik-lektionen auf YouTube für seine Cousine auf einen globalen Bedarf. Heute stehen in der von Spenden und Preisen finanzierten khan Academy bereits über 2000 lehrclips zu nahezu allen Schulfächern mit online-Aufgaben zur Verfügung, die auch kindern aus Ent-wicklungsländern und bildungsfernen Schichten kostenfreie und „coole“ Übungen erlauben und inzwischen auch von El-tern und lehrkräften in den USA, Indien, Indonesien und weiteren ländern millionenfach eingesetzt werden.

ob es freilich wie geplant gelingen wird, diese lehrangebo-te durch Freiwillige auch in andere Sprachen übersetzen zu lassen, muss sich noch erweisen. Denn inzwischen zeigt sich, dass ehrenamtliches Engagement auch im web nicht unbe-grenzt zur Verfügung steht. So geben nur 3% der Nutzerin-nen und Nutzer von wikipedia an, jemals eigene Beiträge zum online-lexikon geleistet zu haben - 97% beschränkten sich auf den Abruf von Informationen. Bei den leserinnen und lesern von weblogs leisteten immerhin 40% mindestens gelegentlich einen Beitrag als kommentatoren oder Blogau-toren. Aber insgesamt ist das Interesse am leisten eigener,

2010 riefen bereits 58% der Online-Nutzer über das Internet auch aktuelle Nachrichten auf.

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öffentlich sichtbarer Beiträge zuletzt sogar gesunken: Gaben 2008 noch 35% der deutschsprachigen online-Nutzer an, „et-was“ oder „sehr interessiert“ daran zu sein, so sank dieser wert auf nur noch 22% in 2010, bei Frauen gar auf 20%.

Die schwierige Entstehung einer Online-Öffentlichkeit

ob in einem offenen Mail- oder webforum oder einem Blog: In eine allgemeine, nicht sichtbare Öffentlichkeit hin-ein zu schreiben wird von vielen Nutzerinnen und Nutzern als anstrengend und beklemmend erfahren. Hinzu kommt, dass einmal geschriebene Beiträge oft unbegrenzt auffindbar bleiben – was die Vorsicht verstärkt, sich unter eingenem Namen zu äußern. Damit aber entfallen neben Stimme, Bli-cken und Gesten meist auch noch die Namen der Diskussi-onsteilnehmer – es entstehen anonyme und schnell reizbare Gesprächsatmosphären. wenigen extremen, unsachlichen und oft auch persönlich beleidigenden kommentatoren (ge-meinhin als „Trolle“ bezeichnet) fällt es dann leicht, die öf-fentlich zugänglichen Diskussionsbereiche zu stören – wie man an den öffentlichen kommentarspalten nahezu aller Medienanbieter ersehen kann. Menschen, die an sachlich-konstruktiven Diskussionen interessiert wären, ziehen sich aus entsprechend dominierten Bereichen wiederum zurück. So entstehen immer wieder Teufelskreise, die bereits zum inhaltlichen zusammenbruch und zur Aufgabe vieler öffent-licher online-Diskussionsräume geführt haben. Stattdessen

breiten sich geschlossene Diskussionsbereiche – etwa in so-zialen Netzwerken – aus, in denen dann häufiger Gleichge-sinnte einander bestätigen und sich gegen Außenstehende abgrenzen.

Die maßgeblich auch über das Internet organisierten Debat-ten und Demonstrationen in vielen noch autoritär regierten ländern haben die Erwartungen in eine politische online-Öffentlichkeit wieder verstärkt. Und auch in Deutschland hat sich eine lebendige Netzöffentlichkeit entwickelt, die sich beispielsweise erfolgreich gegen Gesetzesvorhaben mit Netzsperren gewehrt, Doktorarbeiten prominenter Politiker kritisch überprüft und neue Formen der Diskussion und Be-richterstattung etabliert hat. wird also doch noch alles gut?

Der bekannte deutsche Blogger Sascha lobo formulierte in einem Beitrag („Die Dagegen-Maschine“, Spiegel-online 30.03.2011) für Spiegel online ein Grundproblem der In-ternet-Selbstorganisation: Es sei sehr viel einfacher, online gemeinsame kritik zu organisieren als konstruktive Vorschlä-ge. Die Ablehnung eines Politikers, Gesetzesvorhabens oder Projektes könne schneller und breiter formuliert werden als die Erarbeitung und Verbreitung je besserer Alternativen. Entsprechend sei die entstehende webkultur derzeit durch-aus in der lage, kritik und Protest zu organisieren, werde aber noch nicht als ort von demokratischer Problemlösung

Neben orten der Information und des Dialoges haben sich im Internet der letzten Jahre zahlreiche geschlossene und offene Foren entwickelt, in denen sich Gleichgesinnte in der Geg-nerschaft gegen bestimmte Menschengruppen – etwa gegen Juden, Demokraten, US-Amerikaner, Frauen u.v.m. – treffen. Dabei gilt je als ausgemacht, dass die bestehenden, politischen Umgangsformen (die „political correctness“) und die „Main-stream-Medien“ die je attackierte Gruppe in unangemessener weise schonen würden, wogegen sich die Teilnehmer in ihrer Ablehnung gegenseitig bestärken, (nur) in die entsprechende weltdeutung passende Nachrichten verbreiten und schließ-lich gar eigene Sprachcodes entwickeln.

So haben sich online-Angebote wie PI-news oder gruene-pest.de auf islamfeindliche Mobilisierungen spezialisiert. Hier werden täglich Meldungen danach ausgewählt, ob sie etwa als „Moslem-Gewalt“ und „Mekka-Betrüger“ tituliert werden können und abwertende wortschöpfungen wie „Musel“, „Di-alüg“ oder „Passdeutsche“ verbreitet. widersprechende oder

differenzierende Stimmen sind ausdrücklich nicht erwünscht und werden bisweilen direkt gelöscht, stattdessen soll eine uniforme Dynamik und gegenseitige Bestärkung der Ableh-nung erfolgen. Gegen Gegner – etwa demokratische Politiker – werden online-Proteste etwa mit Angaben von Mailadressen organisiert und Nichtmuslime, die sich für ein Miteinander der kulturen und religionen engagieren, werden als „Islam-Versteher“, „Gutmenschen“ oder auch heimliche konvertiten geschmäht. ressentiments, Verschwörungstheorien und radi-kalisierungsprozesse bis hin zu Aufrufen zu Gewalt insbeson-dere gegen ethnische und religiöse Minderheiten werden so verstärkt, aber auch für Gesellschaft und wissenschaft sichtbar. Über Gegenblogs werden jedoch inzwischen auch Falschmel-dungen, diskursive Strategien und extremistische Verbindun-gen solcher Hass-Foren aufgedeckt.

Quelle: Thorsten Gerald Schneiders (Hrg.), Islamfeindlichkeit. wenn die Grenzen der kritik verschwimmen. wiesbaden 2009

Radikalisierung durch Vernetzung – Das Beispiel Islamfeindlichkeit

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wahrgenommen. lobo schließt mit einem Appell: „Die ent-stehende digitale Gesellschaft braucht – sehr schnell – ein parteiübergreifendes, politisches konzept für die digitale De-mokratie, inklusive geeigneter Plattformen und Technologi-en. Vor allem aber muss die Netzöffentlichkeit selbst endlich die kraft und den Mut aufbringen, die bequeme Standard-Gegnerschaft abzulegen. Aus der 'kritischen Bildungselite' muss die 'konstruktiv-kritische Bildungselite' werden.“

Wie werden wir unsere virtuelle Heimat gestalten?

Für einen schnell wachsenden Teil der Menschheit und hier-bei insbesondere der jüngeren Generationen ist das Internet längst ein bedeutender Teil des eigenen lebens geworden. Ein wachsender Teil der Arbeitszeit und Freizeit wird „on-line“ verbracht, die Pflege von Sozialbeziehungen und re-putation organisiert, Informationen und Mitsprache gesucht. Die Möglichkeiten des Internets sind dabei noch kaum aus-geschöpft – und auch der Verfasser dieses Artikels nutzt sie aktiv und mit Begeisterung.

zugleich sollte es uns aber nicht überraschen, dass gera-de in diesen Bereichen neuer und oft noch nicht definier-ter Freiheitsräume der Mensch mit all seinen Stärken und Schwächen zutage tritt. Anerkennende Beziehungspflege steht neben ruf-schädigendem Mobbing, gemeinschaftliche Solidarität neben rücksichtslosem Geltungsdrang, sachliche Diskussionen neben wüsten Beleidigungen, wertvolle Infor-mation neben extremistischen Verschwörungstheorien.

Seit einigen Jahrtausenden ist der Mensch aus der lebens-welt in vernetzten kleingruppen lebender wildbeuter in völlig neue lebenszusammenhänge getreten. Stets war dies mit grandiosen Chancen, aber auch unvorhersehbaren risi-ken verbunden. kulturelle Traditionen wuchsen und wach-sen in der Auseinandersetzung mit diesen Veränderungen und erlaubten unseren Vorfahren, sich in der Seßhaftigkeit, der Staatlichkeit, den Städten, der Markt- und Geldwirtschaft

usw. einzurichten. In der derzeit geschehenden „Besiede-lung“ der virtuellen welten ist es nicht anders: Es liegt an uns, ob und wie wir die entstehenden Netzkulturen prägen, ob wir konstruktive Ansätze fördern und Fehlentwicklungen entgegen treten, ob wir online-Angebote nur konsumieren oder aktiv zu ihnen beitragen. Neue Begriffe von zivilge-sellschaft sollten freiwilliges und konstruktives Engagement im Netz als das anerkennen, was es ist – bürgerschaftliches Ehrenamt für das globale Dorf, das längst zu einer unüber-schaubaren Stadt voller licht und Schatten anwächst. Über vielfältiges Ausprobieren, das manchmal schmerzhafte Sam-meln von Erfahrungen und das Finden und Vertreten von regeln kann es gelingen, unsere reale lebenswelt durch eine virtuelle und kreative Heimat zu ergänzen.

literaturhinweise:- ArD/zDF onlinestudien 1997 - 2010 - http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/- Die digitale Gesellschaft 2010 - http://www.initiatived21.de- Sarah Blaffer Hrdy, Mütter und Andere. wie uns die Evolution zu sozialen wesen gemacht hat. Berlin 2010- Mark Schaller, Ara Norenzayan, Toshio Yamagishi et al., Evolution, Culture and the Human Mind. New York 2009- Thea Bracht, Die digitale revolution ist nicht aufzuhalten, Stuttgarter zei-tung, 09.04.2011

Dr. Michael Blume ist leiter der Stabsstelle der Staatsrätin für interkulturellen und interreligiösen Dialog sowie gesell-schaftliche werteentwicklung. Als religionswissenschaftler bloggt und twittert er seit Jahren in deutsch und englisch, leistet jedoch noch immer widerstand gegen die Assimila-tion in soziale online-Netzwerke.

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Wenn es donnert im Internet: Bloggewitter als neue Form der Wissenschafts-kommunikation

Von Carsten Könneker

Ein Gewitter. Der Himmel ver-düstert sich, hier und da gehen Blitze nieder, es don-nert, es regnet. wenig später ist alles vorbei, aber die Erde hat sich durch den regen verändert.

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Ein Bloggewitter. Über ein webportal zieht ein The-ma hinweg. In einigen Blogs blitzt es auf, Perspektiven kra-chen aufeinander, eine zeit lang geht es hin und her. wer schreibt – und was, ist dem einzelnen Blogger überlassen. Allein Thema und zeitraum sind vorgegeben, wurden zuvor untereinander verabredet. Ist das Bloggewitter abgezogen, hat es eine deutliche Spur im Netz hinterlassen.

Jedes Bloggewitter hat einen Titel und ein logo, das alle Beiträge (Posts) der gemeinschaftlichen Aktion ziert und auf eine Übersichtsseite verlinkt. Dort sind sämtliche „Blitzein-schläge“ verzeichnet. Auf Scilogs.de gewitterte es bereits zu so unterschiedlichen Themen wie „Neuro-Enhancement“, „Bologna-reform“ oder „Ehrlichkeit in der wissenschaft“. Manche Gewitter wurden von redakteuren des Spektrum-Verlags initiiert, andere von den rund 70 Bloggern der Sci-logs, wiederum andere von externen Partnern.

Die Scilogs sind ein Netzwerk bloggender wissenschaftler und wissenschaftsjournalisten. Der Charme des Bloggewit-ters als mediale Form besteht darin, dass sich kommunika-tions- und meinungsfreudige Experten mit teils sehr ver-schiedenen fachlichen Hintergründen zur Diskussion eines gemeinsamen Themas zusammenfinden. Dies ist kein ein-faches Nebeneinander von Einzelstimmen, denn die Blog-ger kommentieren ihre Posts untereinander. So entsteht ein Mosaik von Beiträgen, das sich zwar nicht zu einem runden Gesamtbild fügt – aber gerade kontroverse Themen in ihrer Vielschichtigkeit so abbildet, dass die leser sich ein eigenes Urteil bilden, ja über die kommentarfunktion sogar selbst mitmischen können: das Bloggewitter als partizipatives For-mat der (wissenschafts-)kommunikation.

warum schätzen die bloggenden Doktoranden und Professo-ren der Scilogs dieses Format? weil die gemeinsame Sache mehr Gewicht hat. weil es spannend ist, die eigene Perspek-tive mit anderen zu messen. Und weil es schlicht Spaß macht, sich einem Thema im kollektiv zu nähern – jedes Mal ein Experiment mit offenem Ausgang. Die Scilogs brachten so-gar das kleine kunststück fertig, anlässlich der Fußball-wM 2010 in Südafrika in dem Monat vor dem Eröffnungsspiel Tag für Tag in vorab festgelegter reihenfolge die teilnehmen-den Nationen auf spannende wissenschaft hin abzuklopfen. „kick it like Einstein – 32 Forschungsreisen durch die länder der wM-Endrunde“ war das Bloggewitter betitelt. Von „Süd-afrika – Astro-Paradies unterm Südhimmel“ über „Elfenbein-küste – landwirtschaft gegen die Armut“ bis hin zu „Chile – das land der Astronomie“ wurde keine Nation in diesem Countdown ausgelassen.

Doch warum engagiert sich ein renommierter wissenschafts-verlag für Blogs und Bloggewitter? Das liegt an einer Be-sonderheit seiner Magazine. „Spektrum der wissenschaft“,

„Gehirn&Geist“, „Sterne und weltraum“ sowie „epoc“ präsen-tieren aktuelle Forschung, recherchiert und ausgewählt von redakteuren, verfasst jedoch überwiegend von führenden wissenschaftlern. Dieses in Deutschland einmalige redaktio-nelle Prinzip ist ein Erbe von „Scientific American“, als dessen deutsche Ausgabe „Spektrum der wissenschaft“ 1978 startete. Mehr als 70 Nobelpreisträger haben bis heute in dieser zeit-schrift über ihre Forschungen berichtet – die meisten lange bevor ihnen die größte Ehrung ihrer karriere zuteil wurde.

Scilogs ist die Übertragung dieser redaktionellen DNA vom Medium zeitschrift auf das Medium Blog. während in den gedruckten Magazinen (und ihren digitalen Varianten) Heft für Heft redaktionell durchkomponierte konzerte von Ex-pertenbeiträgen veröffentlicht werden, geben die bloggen-den Doktoranden, Postdocs und Professoren auf Scilogs.de individuell die rhythmen vor, hauen auf die Pauke oder stimmen nachdenkliche Töne an. Hier ist jeder sein eigener komponist, sein eigener Dirigent, sein eigener Solist.

Vor allem aber musiziert das Publikum auf Scilogs.de gehörig mit: Die Nutzer fragen nach, erheben widerspruch, feuern an. Auch hier zeigen sich deutliche Unterschiede zum Medi-um zeitschrift. zwar gibt es dort die altehrwürdige rubrik leserbriefe, aber für einen direkten Schlagabtausch, in Echt-zeit und im kollektiv, eignet sie sich nicht. Viele Blogposts hingegen sind bewusst auf Dialog getrimmt. So übt ein und derselbe Autor im Heft populären Frontalunterricht auf ho-hem wissenschaftlichen Niveau, in seinem Blog jedoch pos-tet er lediglich Gesprächseröffnungen – vollends entwickelt er seine Gedanken oftmals erst innerhalb des Dialogs mit seinen kommentatoren. Auch der Duktus ist anders: Blog-posts sind persönlich, in der Ich-Perspektive verfasst. Selbst Institutsdirektoren sind hier nur eine Nachfrage von ihren lesern entfernt, flachsen bisweilen, geben wissenschaft eine private Note, ja leihen ihr das eigene Gesicht. Im Heft hinge-gen wird in der dritten Person berichtet, sachlich-distanziert, druckreif. So haben beide Medien charakteristische Möglich-keiten und Grenzen, Stärken und Schwächen, erreichen un-terschiedliche Teilöffentlichkeiten.

Dr. Carsten könneker ist Chefredakteur von Spektrum der wissenschaft. 2007 initiierte er das Blogportal Scilogs.de, über das 2008 das erste „Bloggewitter“ hereinbrach.

Der Verlag Spektrum der wissenschaft (Heidelberg) gibt vier zeitschriften und zwei Internetpublikationen heraus: Spektrum der wissenschaft, Sterne und weltraum, Gehirn&Geist und epoc sowie spektrumdirekt.de und Scilogs.de. Gehirn&Geist, das Magazin für Psychologie und Hirnforschung, hat zahlrei-che internationale Tochtermagazine hervorgebracht, u. a. in den USA, in Brasilien, Frankreich, Spanien, den Niederlanden, Polen und Italien. Das Blogportal Scilogs.de ist ebenfalls auf internationalem Expansionskurs.

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Dokumentation des Bloggewitters – Vom Urwald ins Mondhabitat

Heimat im Netz? - die Idee für dieses Heft kam ur-sprünglich von einem Bloggewitter, das im September und oktober letzten Jahres durchgeführt wurde.

Dabei kamen Beiträge, Ideen und Meinungen zum Vorschein, die sich aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Per-spektiven mit dem Thema „Heimat und Identität“ auseinan-dersetzten. Da tauchten auf einmal Astronauten, Ureinwoh-

ner, wahlschwaben und Cyborgs auf und mit ihnen immer wieder neue Antworten (und Fragen) zum Thema. Das woll-ten wir einem breiteren leserkreis nicht vorenthalten und drucken im Folgenden Ausschnitte aus den einzelnen Blog-beiträgen ab. Alle Beiträge geben die Meinung der Autoren wieder. Die vollständigen Beiträge, literaturhinweise und die kommentare zu den einzelnen Blogs können im Internet unter www.heimatundidentitaet.de nachgelesen werden.

Die Heimat in zeiten der weltraumfahrt (S.32)

Das Bild, das alles veränderte (S.34)

Immer der Nase nach (S.27)Technosapiens und Cyborgs (S.35)

kompass im kopf (S.27)

Auf der Suche (S.32)

Mein Dialekt ist meine Burg (S.31)

Heimat & wahlheimat (S.21)

kinder unserer welt (S.29)

Fünf Überraschungen (S.20)

Der Heimatbegriff im Islam (S.30)

Meine Heimat - so stabil wie Plastik? (S.24)

Black Box Heimat (S.25)

Narudi Nyumbani (S.22)

Bestandsaufnahme eines trotzigen Begriffs (S.23)

Vom pfälzischen Fußballplatz (S.28)

Bedrohte Heimat wald (S.18)

Heimatrechte (S.19)

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Bedrohte Heimat waldvon Daniel lingenhöhl

"wohin ich auch gehe, trage ich den wald in meinem Herzen." Diesen Satz sprach Jane Goodall, die große alte Dame der Affenforschung, in ihrem Film "Jane's Journey". 300 Tage im Jahr ist sie in ihrer rolle als Naturschüt-zerin, UNo-Sonderbotschaf-terin, wissenschaftlerin und Autorin in aller welt unter-wegs, um mehr Verständnis für die Nöte unseres Planeten und unserer Mitbewohner auf der Erde zu wecken. In ihrem Herzen trägt sie dabei stets den wald von Gombe, wo sie vor 50 Jahren mit ihrer bald bahnbrechenden Verhaltensfor-schung an Schimpansen begann – heute ist dieser wald für sie die zweite Heimat, in die sie immer wieder zurückkehrt, um kraft zu tanken, wie sie im Film erzählt.

Jane Goodall weiß sich sicherlich eins mit vielen Völkern, die wälder zwingend benötigen, um ihre kultur, ihre Identität zu bewahren oder gar um zu überleben: Sie sind die einzige Heimat, die sie haben. "Unser land ist unser Erbe, ein Erbe, das uns beschützt", sagt beispielsweise Davi kopenawa, Scha-mane vom Volk der Yanomami, das im brasilianischen regen-wald lebt und von Goldsuchern und Viehzüchtern bedrängt wird. Sie bringen unbekannte, tödliche krankheiten ins

Gebiet der Indianer, verseuchen die Flüsse mit Quecksilber (mit dem das Gold extrahiert wird) oder zerstören die Jagd-gründe. "wenn wir all das, was uns der wald gibt, verlieren, werden wir sterben", erzählt der Penan Balai, dessen Volk von den sich ausweitenden Ölpalmenplantagen auf Borneo verdrängt wird. "ohne den wald sind wir nichts und haben keine Möglichkeit zu überleben", berichtet To'o vom Stamm

der Awá, der ebenfalls in Brasilien von Holzfällern und Viehzüchtern in die Enge getrieben wird. Und der Pygmäe Mbendjele

sagt: "Ein Pygmäe liebt den wald wie den eigenen körper." Sein Volk leidet unter rassismus, Holzfällerei, Übernutzung der wildtiere und krieg im kongo.

Mehr als 100 indigene Völker leben nach Angaben von Sur-vival International, die sich um das Schicksal dieser Men-schen kümmern, ohne kontakt zur so genannten Außenwelt – vor allem im Amazonasbecken, aber auch auf Neuguinea und den Andamanen-Inseln im Indischen ozean. Manche dieser Völker haben sich freiwillig zu diesem Schritt ent-schlossen, nachdem sie schlechte Erfahrungen mit Missiona-ren, Holzfällern, Jägern oder Soldaten und von diesen mit-gebrachten krankheiten gemacht haben. Sie gehören zu den verletzlichsten Bevölkerungsgruppen der welt, zumal sich nur wenige um ihr Schicksal kümmern oder gar von ihnen Notiz nehmen wollen.

"raubt man ihnen die Heimat, nimmt man ihnen in der regel auch die Identität [...]"

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raubt man ihnen die Heimat, nimmt man ihnen in der re-gel auch die Identität – wie ebenfalls eine Szene aus Jane Goodalls Film eindrücklich dokumentiert: Sie spielt im Pine-ridge-reservat in South Dakota, wo die lakota-Sioux ange-siedelt worden waren, die nun vielfach in resignation und Alkoholismus versinken. Ihre Suizidrate ist eine der höchsten weltweit, ihre lebenserwartung eine der niedrigsten in der westlichen Hemisphäre. Ein Schicksal, das sie mit vielen anderen Indigenen weltweit teilen, die ver-trieben von ihrem land zu oft in den Slums der Großstädte enden und dort kulturell zugrunde gehen.

Doch es gibt auch licht am Horizont – und das Internet hilft den Völkern, ihre Heimat und damit auch sich selbst zu bewahren: Mit Hilfe von Google Earth verfolgt das Volk der Surui aus dem brasilianischen Bundesstaat rondonia, ob un-erlaubterweise Goldsucher in ihr Territorium eindringen und dort nach dem Edelmetall schürfen. Entdecken sie verdäch-tige Stellen, melden sie dies an Google und bekommen von dort besser aufgelöste Satellitenaufnahmen – bestätigt sich der Verdacht, kontrollieren sie am Boden, ob dort Illegales vor sich geht. Die Surui wagen damit den Spagat zwischen ihrem traditionellen leben im wald und der Moderne, ohne dabei (zumindest momentan noch) ihre Identität aufzuge-ben. Anderen Völkern, die sich nach schlechten Erfahrungen mit der "modernen" welt freiwillig in die Isolation begeben haben, bieten sich diese Chancen dagegen nicht. Ihr Schick-sal liegt daher in der Hand einer weltgemeinschaft, die im zuge der Globalisierung zwar zunehmend wurzelloser, aber gleichzeitig immer informierter wird: Gerade das verpflichtet uns, dass die bedrohten Völker des waldes ihre Heimat be-halten dürfen und nicht zu Vertriebenen vom eigenen land werden.

Heimatrechte: weshalb Urein-wohner wale und robben jagen dürfen, aber nicht jedermannvon Björn lohmann

Der Protest gegen das robbenschlachten und die Jagd auf wale hat so manche Tierschutzorganisation groß gemacht. Auch heute zeigen die wenigsten Menschen Verständnis für das Treiben der kanadier, respektive der Japaner, Isländer und Norweger. Deutlich leiser fällt der widerspruch aus,

wenn Inuit auf die Jagd gehen; zurecht, denn dabei handelt es sich um Traditionen, nicht um kommerz – oder doch? weshalb regt sich im einen Fall der Protest, im anderen Fall jedoch nicht? Im wesentlichen dürfte es tatsächlich der Fak-tor „Heimat und Identität“ sein. Die Jagd gehört zur Tra-dition und damit zur Identität indigener Völker. Die Tiere leben in ihrer Heimat. Tier und Mensch sind gemeinsam Teil

eines Ökosystems, das sich im Gleichgewicht befindet. Eine ähnliche Situation fin-det man auch bei Urwäldern und ihren Bewohnern, wie Blognachbar Daniel lingen-höhl beschreibt.

Doch ist die Begründung hinreichend? Blickt man auf die realität der Gegenwart, findet man nämlich ein Bild, das vom nachhaltig lebenden Ureinwohner abweicht. während Greenpeace die kommer-zielle robbenjagd ablehnt, den Eigenbedarf der Inuit aber legitim findet, sind es ausgerechnet die Inuit, die sich gegen diese Position sperren – denn längst jagen auch sie kommer-ziell. Ist die Jagd noch Teil der historischen Identität, wenn sie kommerzialisiert wird? Und haben nicht auch Europäer eine Tradition als Jäger? Sollten wir das Treiben unserer Vor-fahren und heutiger europäischer Jäger nicht ebenso legitim finden wie das der Inuit? liegt es an den „unfairen“ waffen, daran, dass wir das kanu und den Speer gegen schwimmende Fabriken und Harpunen getauscht haben? oder daran, dass wir längst nicht mehr nur in unserer Heimat jagen – denn die haben wir schon ziemlich geplündert?

Fasst man die Faktoren zusammen, die den meisten Men-schen die Jagd auf niedliche oder bedrohte Tiere legitim er-scheinen lässt, landet man beim Modewort Nachhaltigkeit. Decken Menschen ihren Bedarf an bestimmten ressourcen durch die lebewesen in ihrer Heimat, ohne deren Bestand und damit auch die eigene lebensweise und Identität zu ge-fährden, ist das akzeptabel. So handhabt es die Menschheit seit Tausenden von Jahren. wer sich nicht dran hielt, ver-schwand oft selbst von der landkarte.

Doch wieder stellt die realität eine kniffelige Frage: kann man überhaupt noch von der Identität eines Volkes spre-chen, wenn sich dessen lebensweise stark gewandelt hat? Natürlich jagen die Inuit und andere indigene Völker noch immer die Tiere, die sie seit Ewigkeiten gejagt haben. Doch der lebensstandard hat sich gewandelt, robben dienen vor allem dem Gelderwerb, nicht so sehr als rohmaterial und Nahrung. Damit entfällt die natürliche Schwelle, die das Ausmaß der Jagd begrenzte. Man kann nur endlich viele Mäntel tragen und sich den Bauch nicht endlos vollstopfen. Geld ausgeben kann man hingegen unbegrenzt.

"Die Jagd gehört zur Tradition und damit zur Identität indigener Völker. Die Tiere le-ben in ihrer Heimat. Tier und Mensch sind gemeinsam Teil eines Ökosystems, das sich im Gleichgewicht befindet."

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Intelligente lösungen setzen daher auf Quoten, die indige-nen Völkern erlauben, auch bedrohte Tiere in dem Umfang zu jagen, der für ihre traditionelle lebensweise notwendig ist. Doch solange für Produkte aus diesen Tieren ein Markt besteht, bleibt die Gefahr des Missbrauchs der Quoten für kommerzielle zwecke. wünschenswert wäre, dass entspre-chende kontrollen innerhalb der betroffenen Völker statt-finden, denn der Missbrauch gefährdet auch die Bewahrung der Identität. werden rigorose Fangverbote nötig oder stirbt eine Art aus, ist es vorbei mit der Tradition. Und wo die lebensgrundlage fehlt, verlassen die jungen Menschen die Heimat.

Manchmal erfordert die Bewahrung von Heimat und Identi-tät daher auch den wandel. wer nicht traditionell, aber tra-ditionsbewusst leben will, muss neue wege finden. Ein sol-cher wäre der Ökotourismus. lebendige wale und robben können so manchen Besucher anziehen. Abenteuerurlaub im Iglu mit Naturbeobachtung. klingt doch reizvoll.

Der Heimat auf der Spur: fünf Überraschungenvon Simone D. wiedenhöft

1. Überraschung: Heimat?!?

zunächst einmal habe ich in mich hineingehorcht und fest-gestellt: Das wort Heimat gehört nicht zu meinem aktiven wortschatz. Ich würde nicht sagen "Hier ist meine Heimat" oder so etwas wie "Hier fühle ich mich heimisch". zu Hause, ja schon. Heimat eigentlich nicht. Ich habe keine Ahnung, warum das so ist. Aber offensichtlich scheint dieser Begriff für viele Menschen durchaus wichtigkeit zu besitzen. Also Grund genug, sich dessen mal ein wenig anzunehmen. 2. Überraschung: Heimat

als deutsche Idee

Es ist nicht nur bei leit-kultur, kindergarten oder Gemütlichkeit unmöglich, es geht auch nicht bei Tor-schlusspanik, katzenjammer und zeitgeist. Der Begriff Heimat gilt im Englischen ebenfalls als eigenständiges deut-sches konzept, was sich nicht ohne weiteres in andere Spra-chen übertragen lässt. zu sehr ist der Begriff mit der kul-turellen deutschen Identität verknüpft, wie Applegate in "A Nation of Provincials - The German Idea of Heimat" schreibt (1990, S. 4).

3. Überraschung: Das war ja mal ein Neutrum...

Bei der Frage, was denn nun Heimat bedeutet, lohnt sich ein Blick in die Herkunft des wortes. Heimat stammt wie Himmel und auch Hemd vom altdeutschen ham ab, was so viel wie "decken" bedeutet und letztlich in allen Fällen den Schutz von etwas wertvollem meint (Silberzahn-Jandt 2009). So weit so gut. Doch das Spannende an der Geschichte: Die Heimat war zunächst ein Das.

Im zuge der Industrialisierung machte das wort Heimat im alltäglichen Sprachgebrauch als Signifikant (zunächst) eine substantivische Geschlechtsumwandlung zum weiblichen durch; aus das Heimat wurde die Heimat. Damit verbun-den änderten und erweiterten sich auch seine Signifikanten: war die Natur noch eine Gefahrenquelle, vor der das Hei-mat als Schutz diente, so wurde Natur im zuge ihrer fort-schreitenden und hauptsächlich männlichen Beherrschung nunmehr Teil der neuen, weiblichen Heimat. Die Beherr-schung der Natur hatte zur Entfremdung von ihr geführt, und in der modernen bürgerlichen konzeption von Heimat – als das Gegenteil des Fremden – sollte diese Entfremdung wieder aufgehoben werden. Heimat wird zum Gegenpunkt von Moderne und Industrialisierung und „festgemacht an der unbeschädigten und friedlich-harmonischen Natur" (Bausinger 2000, S. 72 zit. n. Silberzahn-Jandt 2009, S. 2f. Bausinger ebd.) Und "friedlich-harmonisch" ist nun einmal angeblich typisch weiblich.

4. Überraschung: Auch Stuttgart 21 eine Frage der Heimat?

Immer wieder kommen sich politisch gewollte Großprojekte und Heimatgedanken in die Quere. So lassen sich dem So-ziologen ortwin renn nach auch die Proteste gegen Stuttgart 21 als eine Form der Angst vor Heimatverlust sehen (Faltin & reidt 2010). Dahinter steht eine interessante Frage: wie viel Veränderung verträgt die Heimat, damit es weiterhin eine Heimat bleibt? oder anders herum: Inwieweit darf sich Hei-

mat verändern und trotz-dem als Heimat bestehen bleiben?

Und welches recht ha-ben die Menschen, die Heimat Heimat nennen, eigentlich an dieser Hei-mat? Haben sie ein recht darauf, mitzuentschei-den, wie diese Heimat

gestaltet wird? wenn ja, in welcher Form? wenn nein, mit welcher Begründung?

Diese Fragen tauchen nicht nur im zusammenhang mit Stuttgart 21 auf. Ähnliche Schwierigkeiten ergeben sich auch bei der olympiabewerbung von München und auch in der

"Heimat ist also nicht etwas, was irgendwie mit uns geschieht. Heimat ist das Ergebnis eines ak-tiven Prozesses. Und diesen Prozess entwickeln wir in vielen Fällen gemeinsam mit anderen Menschen. Heimat ist in erster linie ein sozial-emotionales konstrukt. Und damit viel mehr als bloß ein ort."

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Atomdebatte spielt die Heimat eine rolle, zum Beispiel dann, wenn sich Anwohner gegen einstürzende Salzstollen und andere unsichere Endlager wehren.

5. Überraschung: Heimat – dies und das und noch

viel mehr

Und was ist das denn nun, die Heimat? Hab ich doch zunächst gedacht, dass das etwas mit einem ort zu tun haben muss - von dem man kommt, in dem man ist – sage ich jetzt: Das kann so sein. Muss aber nicht. Es können auch viele orte sein. oder es können ganz andere lebensbereiche sein: die religion, der Beruf, vielleicht sogar ein onlinespiel.

Denn: „Heimat ist ein lebensraum, in dem die Bedürfnisse nach Identität, Sicherheit, Aktivität und Stimulation erfüllt werden, ein raum, den sich die Menschen aktiv aneignen und gestalten, den sie zur Heimat machen und in dem sie sich einrichten können“ (langenbucher 1983, S. 257). le-bensraum kann hier viel weiter gefasst werden als die tatsächli-chen örtlichen Begebenheiten, in denen wir uns bewegen.

Und katja Schwab schreibt in ihrem Blogbeitrag: Psycho-logisch ist die Bezeichnung 'Heimat' assoziiert mit drei menschlichen Grundbedürfnissen: dem Bedürfnis nach so-zialer zugehörigkeit, Einbindung und Anerkennung (sense of community), dem Bedürfnis nach Beeinflussung, Gestal-tung und Handlungsmöglichkeit (sense of control) und dem Bedürfnis nach Sinnstiftung, Vertrautheit und einbettenden Erzählungen (sense of coherence).

Heimat ist also nicht etwas, was irgendwie mit uns geschieht. Heimat ist das Ergebnis eines aktiven Prozesses. Und diesen Prozess entwickeln wir in vielen Fällen gemeinsam mit an-deren Menschen. Heimat ist in erster linie ein sozial-emo-tionales konstrukt. Und damit viel mehr als bloß ein ort. oder, um es mit einem Tweet zu sagen, der mich letztens über Twitter erreichte: "Heimat ist da, wo du fehlst, wenn du nicht da bist."

Heimat und wahlheimat: Hei-mat als sozialer raumvon katja Schwab

Meine Großmutter wurde 1935 als zweites von vier kindern in einer Berliner Beamtenfamilie im wedding geboren. Ihre

kindheitserinnerungen sind schwarz-weiß-rot geflaggt. 1943 wird das achtjährige Mädchen mit ihrer Familie ins damali-ge ostpreußen, Nähe Tilsit, evakuiert. Die Flucht vor der roten Armee zwingt sie im Januar 1945 nach Irgendwo: zu fremden leuten, in fremde zimmer, Dörfer, Städte. Flücht-linge waren nicht sehr beliebt, es gab zu viele davon in je-

ner zeit. Ihre Eltern, fest verwurzelt in Berlin, werden ihr leben lang ihrer verlo-renen Heimat nachtrauern. Die endlose odyssee durch die Fremde endet im Harz-vorland, in Aschersleben. Mehrmals versucht die Fa-

milie in ihre Heimat zurückzukehren. ohne Erfolg.

Das Mädchen verbringt ihre Jugend in Aschersleben. Doch Ausbildung, Studium und Berufstätigkeit halten neue Sta-tionen für sie bereit. Erst mit ihrer Heirat 1957 stellt sich erstmals ein Gefühl von Sesshaftigkeit ein. Sie bekommt mit ihrem Mann drei kinder und lebt seit 50 Jahren in derselben Stadt. „oma“, frage ich, „was ist deine Heimat?“

Heimat ist für meine oma nicht die Stadt, in der sie seit Jahren lebt. Sie hat sie sich nicht ausgesucht. Sie könnte auch woan-ders leben. Für meine oma ist Heimat weniger ort, sondern vielmehr Gefühl: Heimat ist dort, wo sie die Geborgenheit in der Familie spürt, wo sie Spuren hinterlassen hat und wo sich Erinnerungen ranken. „Dort“ ist nicht mit „ort“ gleichzusetzen.

Psychologisch ist die Bezeichnung „Heimat“ assoziiert mit drei menschlichen Grundbedürfnissen: dem Bedürfnis nach sozialer zugehörigkeit, Einbindung und Anerkennung (sense of community), dem Bedürfnis nach Beeinflussung, Gestal-tung und Handlungsmöglichkeit (sense of control) und dem Bedürfnis nach Sinnstiftung, Vertrautheit und einbettenden Erzählungen (sense of coherence).

Diese drei Grundbedürfnisse zeigen sich heute weniger im Begriff der „Heimat“, sondern viel eher in der Bezeichnung „wahlheimat“. Ursprünglich beschreibt der Begriff Heimat das „an die Scholle gebunden sein“. Er ist heute immer noch eng mit dem Herkunftsort verbunden. Der Begriff „wahlhei-mat“ löst die kopplung zum Herkunftsort - genau so wie viele Menschen es tun. Der Herkunftsort hat uns geprägt, aber unsere Heimat ist dort, wo unsere Grundbedürfnisse befriedigt werden: wo wir uns wohl fühlen, wo unsere Fami-lie und unsere Arbeit ist, wo unsere Freunde sind. Heimat ist heute in erster linie ein sozialer raum, den Menschen in Übereinstimmung mit ihrer Person suchen und gestalten.

Damit ist unsere wahlheimat identitätsstiftend und Behei-matung ein aktiver Prozess.

"Der Begriff 'wahlheimat' löst die kopplung zum Herkunftsort - genau so, wie viele Menschen es tun [...] Heimat ist heute in erster linie ein sozi-aler raum, den Menschen in Übereinstimmung mit ihrer Person suchen und gestalten."

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Narudi Nyumbani (ich gehe nach Hause zurück)von Joe Dramiga

Heimat - ein ort, an den wir gerne zurückdenken, wenn wir dort eine glückliche kindheit verlebt haben. Die Betonung liegt auf wenn…denn man kann auch unter widrigen Umständen in ei-nem schmutzigen Armen-viertel mit hoher kriminali-tätsrate aufwachsen und von kindesbeinen an den wunsch hegen „hier wegzukommen“. Diese Heimat, dieses zuhause zu verlassen. wer seine Heimat verlässt, muss oft eine wahl-heimat finden, einen ort, den man sich (ersatzweise) als Hei-mat wählt.

Heimat ist ein komplexer Begriff, weil Heimat zwei Dimen-sionen hat: eine räumliche und eine soziale, die sich nicht überlappen müssen. In der räumlichen Dimension ist Heimat der Staat, dessen Bürger man ist. Die Stadt, in der man sich auskennt, weil dieser ort mit der eigenen lebensgeschichte, mit Erinnerungen verbunden ist. In der sozialen Dimension meint Heimat die eigene Familie, die Freunde, Menschen die unsere Muttersprache sprechen, die landsleute im Allge-meinen. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch betont die soziale Dimension und sagt: „Heimat ist der Mensch, dessen wesen wir vernehmen und erreichen.“

Der Begriff Heimat wurde in den letzten zwei Jahrzehnten immer öfter in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert und gewann an Bedeutung, weil immer mehr Menschen das land ihrer Geburt verließen und nach Deutschland kamen. Seit Mitte der 1950er Jahre ist Deutschland eines der wichtigsten europäischen zielländer von Migranten. Manche von ihnen finden in Deutschland ihre neue Heimat und manche nicht, die Gründe sind vielfältig und individuell mit der persönli-chen Migrationsgeschich-te verknüpft. In der post-modernen Gesellschaft ist daher besonders für Migranten der zweiten Generation, die ihr le-ben an verschiedenen orten verbracht haben, die Frage nach Heimat nicht einfach und endgültig zu be-antworten. Muss sie auch nicht, denn viele von Ihnen sehen sich mittlerweile als weltbürger. Der Brite Thomas Paine, ein Pionier der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung,

formulierte es einmal treffend so: „Die welt ist mein Vater-land und Gutes zu tun meine religion.“

Krieg ist eine der Hauptursachen der globalen Migration

Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Migration. Un-ter den Vorzeichen von zwei weltkriegen und einer zuneh-

menden ökonomischen, politischen und kulturel-len Globalisierung haben sich die Migrations- und Flüchtlingsprobleme im 20. Jahrhundert enorm verschärft. Eine der Hauptursachen der glo-balen Migration ist krieg.

Besonders in den letzten drei Dekaden gab es viele kriege. Ich kenne persönlich viele Menschen, die aufgrund dieser kriege nach Deutschland geflohen sind.

Asyl

Flucht heißt seine Heimat zu verlassen, sich von Familie und Freunden zu trennen und vielleicht nie zurückzukehren. Ein Aufbruch ins Ungewisse. oft endet diese Flucht in den rei-chen Industrienationen des westens mit der Bitte um Asyl.

Viele dieser Flüchtlinge tragen wunden in ihrer Seele, die noch nicht verheilt sind. Nicht immer sind diese wunden sichtbar, aber wer oft mit diesen Menschen zu tun hat, wird sie früher oder später wahrnehmen. Deshalb sollten wir uns folgenden lateinischen Spruch zu Eigen machen: Porta pas-tet, cor magis, „Die Tür steht offen, mehr noch das Herz.“ Mit diesem Spruch begrüßten die mittelalterlichen Mönche wanderer in ihren klöstern.

Meine Mutter floh vor dem Terrorregime Idi Amins nach Deutschland. Ich wurde in köln geboren. Mein Großvater mütterlicherseits (r.I.P.) gab mir den Acholi-Namen otim, das bedeutet: „Der in der Fremde geborene“. Beim Volk der Acholi beschreibt der Name des kindes oft die lebensum-stände, Probleme, Situationen der Mutter zur zeit der Geburt dieses kindes. So erzählen die Namen der kinder oft episo-

denartig die lebensgeschich-te ihrer Mutter. Sie wirken wie die zwischenüberschrif-ten dieser Geschichte. Sie-ben Jahre nach dem Ende der Amin-Diktatur brach im Norden Ugandas, wo mei-ne Eltern herkommen, ein

zweiter, besonders grausamer Bürgerkrieg aus, in dem viele kinder ermordet wurden. Dieser krieg, in der region Acho-li, dauerte über 20 Jahre. In dieser zeit wurde köln mein lebensmittelpunkt.

"In der postmodernen Gesellschaft ist daher be-sonders für Migranten der zweiten Generation, die ihr leben an verschiedenen orten verbracht haben, die Frage nach Heimat nicht einfach und endgültig zu beantworten."

"... man kann auch unter widrigen Umständen in einem schmutzigen Armenviertel mit hoher kri-minalitätsrate aufwachsen und von kindesbei-nen an den wunsch hegen, 'hier wegzukommen'. Diese Heimat, dieses zuhause zu verlassen."

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Feld der Träume

wie jeder Mensch habe ich mehrere Identitäten. obwohl ich ne kölsche Jung bin, wie der kölner sagt, fühle ich mich in erster linie als Ugander im Exil und habe immer noch eine starke soziale und kulturelle Bindung zu Uganda. Ich möchte die Gründe, die zu meiner Flucht aus Uganda führ-ten, beseitigen. Dazu muss ich nicht unbedingt in Uganda leben, aber mit dem land und seinen Menschen in kon-takt bleiben. Je länger ich in Deutschland lebe, desto stärker wird mein wunsch, die lebensbedingungen in Uganda zu verbessern: Möglichst viele Menschen in Uganda sollen den lebensstandard erreichen, den viele Menschen in Deutsch-land bereits haben.

Heimat finde ich im Schatten der Mangobäume, wenn ich mit den Händen einen leckeren Teller Ugali mit Erdnuss-soße und Hähnchen esse und dazu ein Glas klares wasser trinke. Umringt von Familien, Freunden führe ich interes-sante Gespräche, mache witze und lache viel. Dann fühle ich mich zu Hause.

Ich denke, dass kein Mensch im land seiner Geburt leben muss um eine Heimat zu haben/zu finden. Heimat kann man sich teilweise selber schaffen. Manche Menschen haben das Glück, die Heimat, die in ihrem Herzen und in ihrem kopf ist, bereits gefunden zu haben. Den Menschen, die noch auf der Suche nach ihrer Heimat sind, wünsche ich, dass sie ankommen.

Bestandsaufnahme eines trotzi-gen Begriffsvon Yoav Sapir

wahl-wGs, wahlfreunde, wahlklamotten oder wahlgeliebte gibt es nicht. wozu auch? Es versteht sich ja von selbst, dass man sich derlei aussuchen kann. Dafür haben wir im heuti-gen Neusprech die »wahlheimat«. Doch wozu dieses Präfix, wenn man die Heimat einfach wählen kann gleichsam einer schönen Banane im Supermarkt?

Heimat ist dort, wo du sie haben willst. Heimat ist dort, wo du sie zu ha-ben glaubst. Heimat ist, was dir gefällt. Heimat ist, oder auch nicht. wie du willst.

Postmoderne pur, wie man sie inzwischen bis zum Überdruss kennt, aber wenn man es so haben will, wenn die welt einem aus dieser Pers-

pektive gefällt, ist es auch gut so. Darüber braucht man dann keine Diskussion zu führen. wozu auch? Entweder gefällt dir dieser höchst elastische, alles und nichts bedeutende Neu-sprech, oder er gefällt dir nicht.

Mir nicht. Heimat ist eine nicht ausschließliche und dennoch richtungs-gebende, vornehmlich geographisch-örtliche Manifestation von Schicksal (nicht zu verwechseln mit persönlichem Glück, dessen Schmied nach altrömischer Meinung angeblich ein je-der ist). Heimat ist mithin etwas, was einem nicht wirklich zur Verfügung steht, sondern eher über einen hinausgeht und einen umfasst, an sich dynamisch (weil es sich ändert) und dennoch kaum veränderbar (weil du als Einzelperson norma-lerweile keinen so großen Einfluss auf sie ausüben kannst).

So steht's auch mit unserem anderen Stichwort, der Identität: was wir wirklich sind, ist, was wir nicht mehr ändern kön-nen, das Untauschbare an uns, das also, was wir zeitlebens rumschleppen müssten (oder, positiv formuliert, worauf wir von der kindheit bis ins Alter zurückgreifen können). was wir hingegen einfach gegen anderes tauschen können, das Verwechselbare, das Entbehrliche, das also, was kommt und genauso auch wieder verschwinden kann, sind wir nicht. Denn »Identität« ist von ihrer Beschaffenheit her alles andere als Beliebigkeit, als wohlgefühl und lust. Nicht unbedingt ist uns gegönnt, zu sein, was und wie wir sein möchten.

kein wunder: Die große Mühe, die sich viele zeitgenossen mit dem Heimatbegriff geben, rührt gerade daher, dass die Heimat ein Begriff ist, der – ebenfalls von seiner Beschaffung her - dem gegenwärtigen Trend von Globalisierung und Be-liebigkeit trotzt.

wer überall zuhause sein kann, wo er sich nur wohl fühlt/seinen laptop dabeihat/den Cappuccino genau so kriegt, wie er ihn mag, der ist, wenn auch ohne es richtig erkennen zu können, eigentlich nirgends zuhause. Ja, das ist freilich nur meine eigene Sicht der Dinge; und dennoch wird diese Sicht letzten Endes genauso viel oder genauso wenig wert sein wie jede andere Sicht. Es lebe die Beliebigkeit! ...und wo das

Gegenteil hiervon behauptet wird, können meine worte ja erst recht gehört werden.

Heimat, wie Familie, ist nur insofern Heimat, als sie selbst dann Heimat ist und bleibt, wenn man dort leidet und sie eigentlich gar nicht

ertragen kann. Man möchte fast sagen: Die Heimat kann in gewisser Hinsicht erst dann zur Heimat werden, ihre rolle

"Heimat, das ist geradezu das Gegenteil von Be-liebigkeit und der Fixierung aufs eigene wohl-befinden. Heimat bedeutet wurzeln, Schick-salhaftigkeit und eine Verbundenheit, die über Umstände von ort und ziel, über die zufällig-keiten des Alltags hinausgeht."

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als Heimat annehmen, wenn man sie (einstweilen oder für immer) verlässt bzw. verlassen will.

Heimat, das ist geradezu das Gegenteil von Beliebigkeit und der Fixierung aufs eigene wohlbefinden. Heimat bedeutet wurzeln, Schicksalhaftigkeit und eine Verbundenheit, die über Umstände von ort und zeit, über die zufälligkeiten des Alltags hinausgeht. Ja, Heimat steht für Treue, ein heut-zutage fast verpönt klingendes wort. Man kann sein ganzes leben lang außerhalb der eigenen Heimat sein, ohne auf die Heimat verzichten zu müssen. Man kann auch 2000 Jahre lang in fremden ländern weilen, wie es die Juden taten - mal hier, mal dort – ohne seine Heimat zu vergessen.

Den Fun & Fashion-Anhängern kann man getrost die ge-nauso bestandslose wie inhaltsarme »wahlheimat« überlas-sen; eine richtige Heimat aber ist, was unsere Persönlichkeit über die engen Umstände des eigenen Daseins erweitert und uns wissen lässt, dass wir, so wichtig man sich im Spiegel erscheint, doch nur Schritte sind auf langen wegen, die nicht unbedingt und nicht immer durch die Stationen führen, mit denen wir uns gerne identifizieren möchten.

Meine Heimat – so stabil wie Plastik?von Simone D. wiedenhöft

Meine Identität steckt in dem hinteren Einschubfach meines Portemonnaies, ist 10,4 cm breit, 7,4 cm hoch und etwa 0,1 cm tief. Ich trage sie immer bei mir.

So eine Identität ist eine stabile Angelegenheit. Ich trage sie schon seit mehr als sechs Jahren mit mir herum; damit sie auch noch weitere 3,5 Jahre durchhält, ist sie in Plastik einge-

schweißt. während ich so darüber nachdenke, kommen mir erste zweifel: wenn eine Identität doch so etwas Stabiles ist, warum hat sie dann ein Ablaufdatum? (Manche leute schaf-fen es, Ihre Identität in der waschmaschine zu zerstören. was das wohl über ihre Identität aussagt?) Auf der rückseite meiner Identität stapeln sich verschiedene Adressaufkleber, jeder wieder mit Plastik überklebt. Teile der Identität dürfen sich anscheinend auch ändern. Und überhaupt dieses Bild: Das soll wirklich ich sein??? Das Alter dieses Fotos übersteigt das meiner Identität bei weitem, ich hatte damals kein ande-res zur Hand. Es stammt aus einer zeit, an die ich mich nur mit Grausen erinnere. Und so grausig die zeit, so grausig das Bild. wer auch immer vorgibt, mich daran zu erkennen: Das ist eine grobe Beleidigung!

Mir und allen anderen Plastikkartenträgern ist natürlich völ-lig klar, dass wir alle, die wir die Dinger mit uns herum-tragen, viel mehr und etwas völlig anderes sind als diese Plastikkarten.

wenn wir also mehr sind als in zwei lagen kunststoff ein-geschweißte Daten, was sind wir dann? "Draw a distinction and a universe comes into being" soll schon George Spencer Brown gesagt haben. Ja, denke ich, jetzt kommen wir zu meinem eigenen Universum, zum kern meines echten und wahren Selbst, endlich werde ich in meiner ganzen Persön-lichkeit wahrgenommen. Pustekuchen. Und dieser Pusteku-chen fängt bei dem auf meiner Plastikkarte eingetragenen Vornamen an.

Mit Simone hab ich es noch recht gut getroffen, ein relativ neutraler Name, wie ich finde. Und wenn ich bedenke, dass Eltern ernsthaft überlegen, ihre kinder Pumuckl zu taufen, kann ich für diese Neutralität nur dankbar sein. Dumm an der Sache ist nur, dass dieser Name (wie wohl die meisten anderen auch) leider nicht neutral ist. oder zumindest nicht als solches wahrgenommen wird.

So wissen Forscher der TU Chemnitz Folgendes über mich zu berichten (rudolph et al. 2007): Ich bin vermutlich ein eher altmodischer Mensch und auch nicht sonderlich attrak-tiv. Hinter der Attraktivität einer lara oder katharina liege ich klar zurück. Heike teilt mein bedauerliches Schicksal, Pe-tra ist noch ein klein wenig schlechter dran. Auch bei der In-telligenz liege ich recht weit hinten, aber diesmal zumindest besser als Heike. Und auch kerstin schneidet zusammen mit einigen anderen hier schlechter ab als ich. Petra allerdings fängt an, mir leid zu tun. Immerhin: Ich bin – zwar auf einem recht niedrigen Niveau und relativ betrachtet – ein bisschen mehr schlau als hübsch.

Das, was Menschen angeblich mit meinem Namen verbin-den, stellt mich nicht in Frage. Mir geht es nicht wie Mandy,

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die allein aufgrund ihres Namens für blöd gehalten wird. Und auch nicht wie kevin, dem ein lehrer in einer wissenschaft-lichen Umfrage bescheinigt: "kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose" (Hartmann-wolff 2009). Von Akway-cam und Gülsen, Patrycja und ky-rylo, wladislaw und Bog-lárka und all den anderen haben wir hier noch gar nicht gesprochen.

ob es uns passt oder nicht, wir alle werden den lieben langen Tag mit solchen oder anderen zuschreibungen konfron-tiert. Um es mit Heinz Abels zu sagen: "Selbst wenn wir nicht explizit fragen, wer wir sind, müssen wir damit rechnen, ungefragt Antwort zu erhalten" (Abels 2010, S. 14). Und zwar Antworten, die un-ter Umständen überhaupt nichts mit uns als Person zu tun haben, sondern mit den Erwartungen, die andere Menschen an uns stellen.

Folgt man dem Soziologen George Herbert Mead (1973), so sind sie nicht nur irgendein Vorkommnis – meiner An-sicht nach manchmal schön und manchmal ärgerlich. Viel-mehr tragen Erwartungen – oder um genauer zu sein, unsere Vorstellungen von diesen Erwartungen – ganz entscheidend dazu bei, dass wir werden, wer wir sind. Und da gibt es eine Menge leute, die im laufe unseres lebens irgendetwas von uns erwarten. wir lernen, unsere eigenen Vorstellungen da-rüber auszubilden, wAS von uns erwartet wird; die hiermit gemachten Erfahrungen werden Teil unserer Identität. Es macht nun mal einen Unterschied, ob wir gerade Töchter oder Söhne, Vorgesetze, beste kumpel, Bürger, Väter oder Mütter, Partner, Mitschüler, Hobbysportler oder wissen-schaftler sind. Und das bedeutet: wir sind eigentlich ganz schön viele. Es ist das kennzeichen einer gelungenen Identi-tät, aus diesen sich auch widersprechenden Teilen ein gelun-genes Ganzes zu machen.

Unsere Identität entsteht aus dem, was war, aus dem, was ist, und aus dem, was wer-den soll. Neben dem, was schon die Plastikkarte verrät, natürlich unend-lich viel mehr: All das, was uns heute ausmacht. Unsere Erfahrungen, un-sere kompetenzen, Ansichten, Vorstellungen, Hoffnungen und wünsche. Und wer bitteschön kann jetzt aus diesem ganzen kuddelmuddel ein gelungenes Ganzes machen? Da unterscheidet sich unsere heutige sogenannte Postmoderne

wohl von anderen zeitaltern, denn das können, sollen und tun letztlich nur wir selbst. Noch einmal Herr Abels: "Iden-tität müssen wir selbst denken! (…)"Identität ist behauptete und geglaubte Identität" (ebd., S. 16).

Das mit der geglaubten Identität ist eine schwieri-ge Geschichte, schon allein deshalb, weil es meist nicht reicht, wenn wir selbst glau-ben, was wir da von uns behaupten. In vielen Fällen müssen das dummerwei-se auch diese Anderen tun, zum Beispiel dann, wenn wir in irgendeiner Form von ih-

nen abhängig sind. wenn wir George Herbert Mead folgen, ist Identität das ErGEBNIS von Interaktionen mit diesen Anderen, nicht die Vorbedingung. Dann ist Identität nicht etwas Starres, von vorneherein Bestimmtes – was wir gerne denken, wenn wir von Identität sprechen. Dann ist Identi-tät etwas, was wir mit diesen Anderen in jeder Situation im Prinzip jedes Mal neu aushandeln und jedes Mal gemeinsam feststellen. Erwartungen werden dann zu so etwas wie An-geboten.

In manchen Fällen kann es wahnsinnig viel Mut erfordern. Nämlich immer dann, wenn wir beschließen, jemand anderes zu sein als der, der von uns erwartet wird. wenn Mandy be-schließt, schlau zu sein und kevin etwas anderes sein möch-te als verhaltensgestört. wir müssen diese identitätsstiften-den Angebote nicht annehmen, die an uns herangetragen werden. Es ist möglich, Identitäten selbstbestimmt zu leben. Allerdings sage ich nicht, dass das einfach ist. Und vielleicht können Mandy und kevin, Akway-cam und Gülsen, Patrycja und kyrylo, wladislaw und Boglárka in dieser Hinsicht von uns ein wenig Unterstützung gut gebrauchen.

Black Box Heimatvon Susanne Plotz

wenn Sie mich als waschech-te Hamburger Deern fragen, was Heimat ist, was erwar-ten sie dann wohl zu lesen? oder was sollte ich darauf

schreiben? Dass Heimat ist, wenn man von der wohnung aus den Michel sieht (bei mir nicht der Fall)? oder wenn man einen Bummel über die reeperbahn macht (die für einen Hamburger, glauben Sie mir, ungefähr so wichtig ist wie für

"Dann ist Identität etwas, das wir mit diesen Anderen in jeder Situation im Prinzip jedes Mal neu aushandeln und jedes Mal gemeinsam feststellen. Erwartungen werden dann zu so et-was wie Angeboten. In manchen Fällen kann es wahnsinnig viel Mut erfordern. [...] wenn Man-dy beschließt, schlau zu sein und kevin etwas anderes sein möchte als verhaltensgestört."

"... für mich ist Heimat dort, wo mein Herz mir sagt, dass ich zuhause bin. Und wer behauptet, dass sich das im laufe eines lebens nicht auch einmal ändern kann?"

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China ein reissack)? wenn man am Hafen steht und auf die kräne und großen Dampfer und die Blohm und Voss werft blickt (kommt da nicht eher Fernweh auf?)? Ist es vielleicht Heimat, wenn das Hamburger Pflänzchen im Flugzeug mit Destination in die Hansestadt sitzt und ihm wohlige Gänse-schauer über die Haut laufen, wenn es mal wieder heißt: bit-te stellen Sie jetzt auch Ihre Sitzlehnen gerade und klappen Sie das Tischchen vor sich zurück – wir werden in kürze in Hamburg landen?

Was anderes als Hamburg sollte meine Heimat sein?

Bis sich die Deern entschied, auf großes Abenteuer zu ge-hen und sich für das letzte Jahr ihres Studiums einfach nach México absetzte. Aus dem einen Jahr wurden dann drei und die Hamburgerin wollte nicht mehr zurück. Bereits beim landeanflug auf die riesige Hauptstadt flossen Tränen der rührung und als die junge Frau ein paar Schritte auf mexica-nischem Boden gemacht hatte, überkam sie ein nie da gewe-senes Gefühl von: hier bin ich zuhause! Jedesmal, wenn die Deern aus Mexico auf „Heimaturlaub“ war, wünschte sie sich wieder zurück ins ferne México. Nur neulich nicht. Neulich war sie zwei Monate in México. Es war schön, es fühlte sich immer noch an wie Heimat.

Aber als sie dann im Flugzeug saß und der landeanflug auf Hamburg begann, da schlich sich zum allerersten Mal seit

einer rückkehr aus dem land der Azteken ein überwältigen-des Gefühl in ihr Herz und das sagte: guck mal, wie schön es hier ist. Hier bist Du zuhause!

wenn Sie mich fragen, verehrte leserschaft, so ist Heimat keine Stadt, kein Fleck Erde, vielleicht nicht einmal Men-schen oder Freunde oder Familie. Es hört sich kitschig an, fast wie aus einem Groschenroman abgeschaut, aber für mich ist Heimat dort, wo mein Herz mir sagt, dass ich zuhause bin. Und wer behauptet, dass sich das im laufe eines lebens nicht auch einmal ändern kann?

Vielleicht ist es mit der Heimat wie mit der Neuroanato-mie. wir wissen immer mehr über die Funktionsweise des Gehirns, können sogar schon Emotionen entsprechende Ur-sprungsorte im Gehirn zuweisen und sehen buchstäblich in die köpfe der Menschen hinein. Aber deshalb wissen wir noch lange nicht, warum jemand sich ausgerechnet jetzt freut oder ärgert oder wie er selbst dies empfindet.

Jeder Mensch ist anders, und vielleicht ist auch für jeden Menschen Heimat etwas anderes. Aber es bleibt dabei: Hei-mat ist mehr Gefühl als Fakt, ist mehr Intuition als absolute wahrheit. Heimat ist, wenn man Heimatgefühle hat. Egal wo immer auf der welt man auch sein mag.

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Virtual Tübingen – ein Ausschnitt aus der "Cyberstadt" des Max-Planck-Instituts

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kompass im kopfvon Stefanie reinberger

wo ist eigentlich Heimat? Ganz ehrlich: Ich weiß es nicht! Es fällt mir extrem schwer, einen ort zu benennen, den ich als meine Heimat bezeichnen kann, das zuhause, mit dem ich mich identifiziere. Ich bin so oft umgezogen, dass ich wohl ein bisschen den Überblick verloren habe. oder sollte ich besser sa-gen, die orientierung?

Irgendwie hat Heimat doch auch etwas damit zu tun, wo wir uns auskennen. oder fühlen Sie sich etwa heimisch, wenn Sie ständig nach dem weg fragen oder den Stadtplan zücken müssen?

Kartenpuzzle im Oberstübchen

worauf ich hinaus will: wo ich zu Hause bin, kenne ich mich auch aus. Heimat hat demnach mit orientierung zu tun. Und vielleicht liege ich mit diesem Eindruck gar nicht mal so falsch, denn zumindest sieht alles danach aus, dass wir uns in unserem Heimatort anders orientieren. Das haben wissen-schaftler vom Max-Planck-Institut für Biologische kyberne-tik in Tübingen herausgefunden.

Die Forscher aus der Abteilung wahrnehmung, kognition und Handlung interessieren sich dafür, wie sich Menschen im raum orientieren, wie sie also etwa ihren weg von A nach B finden. Dazu nutzen sie virtuelle realitäten und las-sen ihre Probanden durch Cyberstädte und computergene-rierte labyrinte spazieren, um unter laborbedingungen zu untersuchen, welche Strategien dabei helfen, sich eine be-stimmte Strecke einzuprägen.

Vieles aus dem Cyberlabor deutet darauf hin, dass wir die In-formationen über die Umgebung, die wir erkunden, nicht in einer umfassenden, großen landkarte abspeichern. Statt des-sen scheinen wir kleine Puzzlesteine derselben in unserem oberstübchen zu horten und setzen sie dann nach Bedarf zusammen. Daher helfen uns bei der orientierung vor allem lokale Informationen, also das wissen über den aktuellen Standort und darüber, wie der weg von hier aus aussieht.

Zu Hause zeigt die Kompassnadel nach Norden

Soweit zur fremden Umgebung. Doch zu Hause scheint al-les irgendwie anders zu sein. In einem weiteren Experiment teleportierten die Forscher ihre Probanden in eine fotore-alistische Simulation der Tübinger Altstadt. Sämtliche Ver-suchsteilnehmer lebten bereits seit mehr als zwei, im Schnitt sogar schon seit sieben Jahren in der Unistadt und kann-

ten sich bestens aus. Auch sie wurden gebeten, von ihrem Standpunkt aus in richtung markanter Punkte zu deuten, also etwa zu Sehenswürdigkeiten. Und hier lauerte die große Überraschung: Plötzlich kamen die Himmelsrichtungen ins Spiel! Tatsächlich gelang den Tübingern ihre Aufgabe besser, wenn sie sich dabei selbst nach Norden ausrichteten, also ganz so, wie sich die Altstadt auf einem Stadtplan darstel-

len würde. Die Probanden orientierten sich im Experi-ment also nicht an lokalen Bezugspunkten – welchen weg wähle ich normalerwei-se von dieser Stelle aus? – sondern an globalen.

Erste Hinweise mit Freiwilligen aus anderen orten deuten darauf hin, dass dieser Effekt nicht auf Tübingen beschränkt ist. Scheinbar gilt: wer seine Stadt kennt, orientiert sich be-vorzugt an der Himmelsrichtung Norden. Ganz offensicht-lich verinnerlichen wir mit der zeit nicht nur die Informati-on, die wir auf unseren täglichen wegen sammeln, sondern auch den Stadtplan. Für die Max-Plank-Forscher bedeutet das letztlich, dass das Gehirn in der lage ist, verschiedene Stra-tegien zur Navigation zu nutzen, wie der Psychologe Tobias Meillinger erklärt, der sich auf das Thema raumorientierung spezialisiert hat. wenn wir von einer bestimmten Umgebung kartenwissen besitzen, dann greifen wir auch darauf zurück.

Heimatfragen werden am Institut nicht erforscht. Trotzdem wäre es natürlich interessant, die Probanden der Tübinger MPI-Forscher zu fragen, ob sie sich in der schwäbischen Den-kerstadt nicht nur auskennen wie in ihrer westentasche, son-dern ob sie sich auch zu Hause fühlen, sie als ihre Heimat bezeichnen können.

Ich werde die Sache im Selbstversuch beobachten. Seit kurzem lebe ich nämlich in köln. Den weg ins Büro und zu meinem lieblingscafé habe ich bereits verinnerlicht, aber ansonsten gilt: Stadtplan fragen! Aber irgendwann vielleicht beginnen sich meine wege "einzunorden". Und dann werde ich mich fragen: Bin ich hier zu Hause? Ist das meine neue Heimat?

Immer der Nase nachvon Stefanie reinberger

Heimat ist ein ort, an dem man sich auskennt, habe ich erst kürzlich behauptet. Das sehe ich noch immer so, aber es reicht mir nicht. Schließlich kann ich mir durch eifriges Üben einen Stadtplan einprägen, aber angekommen bin ich deswegen noch lange nicht. Es fehlt das Vertraute, die Erinnerung, und ich vermisse den speziellen Duft, der mir sagt: Hier gehöre ich her.

"Ich werde die Sache im Selbstversuch beob-achten. [...] Irgendwann vielleicht beginnen sich meine wege 'einzunorden'. Und dann wer-de ich mich fragen: Bin ich hier zu Hause?"

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Duft der Erinnerung

Für den Menschen stecken hinter dem Duft der Heimat be-sonders vertraute Gerüche, die mit intensiven Erinnerun-gen verknüpft sind. Gerüche können Erinnerungen aus-lösen und umgekehrt. Das bewies eine Forschergrup-pe um Jay Gottfried vom University College london (Gottfried, JA (2004) Neu-ron 4, 687–695). Die wis-senschaftler zeigten ihren Probanden verschiedene objekte in Verbindung mit spezi-ellen Gerüchen, die allerdings nicht unbedingt ins Bild pass-ten. So war auf einem eine Ente abgebildet, es duftete dabei aber nach rosen. Die Versuchspersonen sollten sich eine Verknüpfung zwischen Bild und Geruch ausdenken, also etwa eine Ente, die durch einen rosengarten watschelt. Sa-hen die Versuchspersonen anschließend die objekte, ohne etwas zu riechen, so beobachteten die Forscher trotzdem eine Aktivierung im piriformen Cortex, dem zentrum für Geruchswahrnehmung. Bei unbekannten Bildern blieb die-se Hirnregion unbeeindruckt.

Natürlich können verschiedenerlei Erinnerungen – positi-ve wie negative – mit speziellen Gerüchen verknüpft sein.

Doch gerade der Gedanke an intensive erfreuliche Ereignisse vermag in uns eine starke Sehnsucht auszulösen. Eine Sehn-sucht nach Verbundenheit, nach zeiten, in denen wir uns

wohl gefühlt haben und eins waren mit unserer Umgebung. Und genau das ist Heimat: ein ort der Sehnsucht und der Erinnerung. Und eben auch ein ganz spezieller Duft, der uns zeigt, wo zu Hause ist.

Vom pfälzischen Fußballplatzvon Hussein Hamdan

„wo gehöre ich hin?“ Eine Frage, die sicherlich viele kinder von zuwanderern beschäftigt oder die ihnen zumindest häufig gestellt wird. Und auf diese Frage möchte ich heute eine klare Antwort geben, denn ich bin es leid, dass von allen Seiten versucht wird mir eine Identität oder eine Heimatdefinition aufzudrücken. wer kann das denn schon beantworten, wie ich mich fühle und wie ich mich selbst definiere, wo ich heimisch

"Ich kann mir durch eifriges Üben einen Stadt-plan einprägen, aber angekommen bin ich des-wegen noch lange nicht. Es fehlt das Vertraute, die Erinnnerung, und ich vermisse den spezi-ellen Duft, der mir sagt: Hier gehöre ich her."

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bin und mit was ich mich identifiziere? Und mit welchem recht versucht man eigentlich über mich zu urteilen?

Seitdem ich als 7-Jähriger vor 24 Jahren mit meiner Familie nach Deutschland gekommen bin, aber insbesondere in den letzten Jahren, habe ich mit den Urteilen anderer zu kämpfen. Im libanon werde ich, wenn ich alle paar Jahre im Urlaub bin, nicht selten als der Almani, also der Deutsche bezeichnet. Für die einen muss ich Araber bzw. libanese sein, denn da liegt mein Ursprung und den gibt man nicht so leicht her, für die anderen habe ich deutsch zu sein. Und wiederum andere fra-gen sich, ob denn ein Muslim überhaupt wirklich deutsch sein kann. Das passt doch eigentlich nicht zusammen, oder?

Doch, das passt zusammen, zumindest in meinem Fall! Ich möchte betonen, dass ich hier nur für mich spreche.

Ich bin Deutscher und ich bin es gerne. Und ich schätze unser land, genauso wie ich meinen Glauben, meine arabi-schen wurzeln und meinen libanesischen Migrationshinter-grund schätze.

Migrationshintergrund muss meiner Meinung nach kein Hin-dernis dafür sein, dass man Deutschland als Heimat betrach-tet. Unsere halbe Fußballnationalmannschaft besteht aus Deutschen mit ausländischem Hintergrund (drei unter ih-nen sind übrigens Muslime) und sie alle haben bei der wM für Deutschland und für die deutschen Fans alles gegeben und uns viel Freude bereitet.

Es gibt viele Erklärungen zum Begriff Heimat, doch ist es nicht so, dass jeder einzelne von uns das recht hat, sein eigenes Heimatmodell zu entwickeln? Und ist Heimat nicht auch ein emotionaler Begriff?

Ich meine doch. Erst letztes wochenende, als ich bei einem Familienbesuch in einem kleinen Städtchen in rheinland-Pfalz, in dem ich aufgewachsen bin, einen Spaziergang mach-te, überkamen mich, als ich an meinem alten Fußballplatz vorbeikam, auf dem ich viele Jahre spielte, unglaubliche Gefühle. Mir gingen nicht nur die schönen Erinnerungen (Freunde, Siege und Tore…) durch den kopf. Ich fühlte mich mit diesem Platz, mit die-sem ort so verbunden; ich fühlte mich geborgen und mir ist noch einmal bewusst geworden, dass er ein großes Stück mei-ner Heimat ist. Ich habe den Großteil meiner kindheit und meine ganze Jugend dort verbracht, die Schu-le besucht und meinen zivildienst absolviert; darf ich diesen ort dann nicht als meine Heimat betrachten?

kinder unserer weltvon Hermann Aichele

Ein vielleicht 8-jähriger Junge, den ich „doch von irgendwo her“ kennen hätte müssen, kam beim Einkaufen auf mich zu. Es war gegen Ende meiner Tätigkeit als Pfarrer in der früheren Gemeinde im zabergäu, Südrand des kreises Heilbronn. Er stellte sich mir fröhlich in den weg und grinste mich an: Ja, er kenne mich aus der Schule, aber sei nicht bei mir „in der reli-gion“ gewesen, denn er sei Türke. Mich kenne er aber. „Bist du froh, Türke zu sein?“, fragte ich ihn. Bei seinen vertrauensvoll strahlenden Augen meinte ich, ihm eine etwas selbstbewuss-te Äußerung entlocken zu können. „Nein“ kam es ziemlich unvermittelt heraus, „denn die Deutschen sind gegen mich, ich habe bei denen keinen Freund.“ „keinen Freund? Nun, so schlimm wird es nicht sein“, versuchte ich den Einwand abzuschwächen, „in der Schule; in eurer klasse macht ihr si-cher viel schöne Sachen miteinander.“ Aber die Trauer, die da plötzlich aus den vorher so strahlenden Augen herausbrach, war nicht zu übersehen, nicht mehr zu überspielen.

An ihn muss ich immer wieder denken, bei verschiedenen Diskussionen und Themen der letzten Jahre, ob karikatu-renstreit oder Sarrazin, Streit um Moscheebau in Vorderhin-tertupfingen, köln oder New York oder um Terrorismus

Weiter denken

So weit muss es nicht kommen. Aber genau deshalb braucht es leute, die weiter denken: wie wird dieses kind, aus dem die Trauer herausbricht, dass er „bei den Deutschen keinen Freund“ habe, dann als junger Mann – vielleicht in 10, 20 Jah-ren – mit seinen jetzt unbeantworteten Fragen und Enttäu-schungen umgehen? wird er noch mehr solcher Erfahrungen einsammeln oder mehr andere?

Jedenfalls müssen auch wir sehen, wie Menschen, deren wertvorstellungen durch so viele Veränderungen hindurch müssen, hier zurechtkommen. Da kann es nur gut sein, wenn auch in verschiedenen organisationen und Institutionen weiter gedacht wird, in die zukunft voraus gedacht. Die kir-chen können unabhängig von direkten politischen zwängen

ihren Beitrag leisten. Und sie tun es.

Im Kirchenbezirk Bracken-

heim

im kreis Heilbronn haben Pfarrer mit dem damaligen Dekan Dr. werner-Ulrich

Deetjen (vgl. „Heimat und Identität“ Nr. 01/10, Seite 20) länger schon das Gespräch mit Muslimen gesucht. zunächst hoch offiziell und mit vielerlei theologischen Grundsatzfra-

"Ich bin es leid, dass von allen Seiten versucht wird, mir eine Identität oder Heimatdefinition aufzudrücken. wer kann das denn schon beant-worten, wie ich mich fühle und wie ich mich selbst definiere?"

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gen, dafür aber zu selten, um einander wirklich im konkreten Alltag zu begegnen. Seit Januar 2006 intensiver, besonders mit Vertretern der Güglinger DITIB-Moschee. Und eben nicht mehr nur der Pfarrerschaft oder der „offiziellen“ auf türkischer Seite, sondern mit am Dialog interessierten Gemeindegliedern und mit leuten, die in der Öffent-lichkeit, in Jugend- und So-zialarbeit engagiert sind. Das ganze auch ökumenisch, d.h. gemeinsam mit der katholi-schen kirche organisiert.

Ein türkisch-deutscher Arbeitskreis wurde gebildet, der klei-nere kennenlern-runden und Begegnungen auf verschiede-nen Ebenen organisiert hat. Herausragende Beispiele sind Begegnungsfeste in einer kommunalen Mehrzweckhalle mit 200 bis 400 Teilnehmern, jeweils im Spätherbst. Aber es ging nie nur um Feste mit Essen und Trinken; sondern um die Förderung informeller und dann auch intensiverer Gesprä-che. Und da geschieht manches, besonders auf der zwische-nebene zwischen kommunalen Entscheidungsträgern und leuten, die etwas am sozialen klima machen können.

„Nur um einander zu sagen, dass wir einander „nett" finden, wollen wir nicht zusammenkommen“ sagte dazu ein Vertreter der türkischen Seite, „dafür wäre mir die zeit zu schade“. Und das stimmt auch: Es geht darum, einander so kennen zu lernen, dass man auch in konfliktsituationen weiß, dass und wie man diese gemeinsam bewältigen kann, anstatt sich gegeneinander ausspielen zu lassen. Etwa: Eure Jugendlichen haben sich ge-gen unsere verbündet – wir müssen deshalb einander nicht aus dem weg gehen, sondern die Sache miteinander angehen.

Überall und nirgends zu Hause: Der Heimatbegriff im Islamvon Max Heidelberger

wenn über die in Deutschland, bzw. in Europa im Allgemei-nen lebenden Muslime geredet wird, ist in der regel von ihren „Ursprungsländern“ die rede. Der zustand, zwi-schen einem Ursprungsland und dem land, in welches man eingewandert ist, hin- und hergerissen zu sein und vielleicht auch gewisse Prob-leme zu haben, das land, in welches man eingewandert ist, als seine „neue Heimat“ zu akzeptieren, beziehungsweise für

die zweite Generation, quasi „zwischen zwei kulturen“ zu leben, ist aber nicht ein speziell muslimisches Problem. Als in Deutschland geborener deutsch-Franzose (oder franzö-sisch-Deutscher?), kenne ich dieses „Problem“, wenn man

es überhaupt als ein sol-ches bezeichnen kann, zur Genüge aus eigener Erfahrung.

welche Bedeutung hat aber nun der Begriff „Heimat“ in der islami-

schen welt und was lässt sich in der religiösen Tradition des Islam hierzu finden?

In den meisten ländern der islamischen welt wird „Heimat“ durch das aus dem Arabischen stammende wort „watan“ (im Türkischen „vatan“ geschrieben) ausgedrückt. Dem „lisan al-Arab“ („die Sprache der Araber“; verfasst 1290 von Ibn Man-zur) genannten berühmtesten arabischen lexikon zufolge ist watan „…Der Niederlassungsort (manzil), an dem man sich aufhält“ – „Niederlassung“ ist hier im Sinne von „Sesshaft-werdung“ zu verstehen. In sprachlicher Hinsicht wird mit diesem ort also der ort bezeichnet, an dem man seinen wohnsitz hat; auch die orte, an dem eine Herde zu weiden pflegt, wird im Arabischen als ihr „watan“ bezeichnet.

zum Teil ist der Begriff „watan“ aber im lauf der jüngeren Geschichte, ähnlich wie der deutsche Heimatbegriff, poli-tisch stark aufgeladen und leider in einigen Fällen auch zu ideologischen zwecken missbraucht worden: so haben in der arabischen welt einige meist sozialistisch orientierte Parteien wie zum Beispiel die Ba’th-Partei diesen Begriff benutzt, um ihre Vorstellungen von der Arabischen Einheit zu untermalen. Im modernen Arabisch wird die arabische welt in ihrer Gesamtheit, also vom Irak bis nach Maureta-nien, deshalb auch als „al-watan al-Arabi“ („die arabische Heimat“ oder „das arabische Vaterland“) bezeichnet. Be-reits gegen Ende des osmanischen reiches und seit Atatürk wird dieser Begriff auch in der Türkei dazu benutzt, um das Verständnis von Nation zu untermauern. So lautet einer der Slogans, die von den Soldaten der türkischen Armee geru-fen werden: „her _ey vatan için“ („alles für das Vaterland“), was für deutsche ohren nicht gerade angenehme Assoziati-

onen hervorruft.

wie sieht es aber nun in religiöser Hinsicht mit dem Begriff der Heimat im Islam aus?

Im koran taucht das wort „watan“ nur an einer einzigen Stelle und in abgewandelter Form (mawatin – orte) in einem

"Die meisten Verse (im koran) in diesem zu-sammenhang nehmen darauf Bezug, was für ein gewaltiges Unrecht es darstellt, Menschen aus ihrer Heimat zu vertreiben."

"Jedenfalls müssen auch wir sehen, wie Men-schen, deren wertvorstellungen durch so viele Veränderungen hindurch müssen, hier zurecht-kommen."

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kontext auf, der mit „Heimat“ nicht besonders viel zu tun hat. Im koranischen kontext ist es eher der Begriff „diyar“ – Gefilde (vom wort „dar“ – Haus abgeleitet), welcher für diejenigen Dinge steht, die mit dem Begriff „Heimat“ zusam-menhängen. Die meisten Verse in diesem zusammenhang nehmen darauf Bezug, was für ein gewaltiges Unrecht es dar-stellt, Menschen aus ihrer Heimat zu vertreiben. Dies ist ganz besonders vor dem Hintergrund der Geschichte der ersten muslimischen Gemeinde in Mekka und der lebensgeschich-te des Propheten zu sehen, die der muslimischen Überliefe-rung zufolge aufgrund der Intoleranz und repressalien der heidnischen Mekkaner dazu gezwungen worden waren, ihre „diyar“, ihre Heimat zu verlassen. Diese Auswanderung (hi-djra) des Propheten Muhammad im Jahre 622 n. Chr. aus Mekka, um sich in Medina quasi eine „neue Heimat“ zu su-chen, war so prägend für die Geschichte des Islam, dass sie den Anfangspunkt der islamischen zeitrechnung bildet. Die Sehnsucht des Propheten und derjenigen seiner Gefährten, die mit ihm hatten auswandern müssen (muhadjirun – „Aus-wanderer“ genannt, im Gegensatz zu den ansar, den „Hel-fern“, welche sie bei sich in Medina aufnahmen) nach ihrer Heimatstadt Mekka ist eines der zentralsten leitmotive der islamischen Heilsgeschichte, deren Höhepunkt die zurück-eroberung Mekkas bildet. Interessant ist, dass der Prophet dennoch nicht endgültig in seine ursprüngliche Heimat zu-rückkehrte, sondern weiterhin bis zu seinem Tode in seiner neuen Heimat Medina ansässig war, wo er auch begraben ist. Es scheint, als habe sich der Prophet, trotz seiner großen Sehnsucht nach seiner Heimatstadt, so stark mit seiner neu-en Heimat identifiziert, dass er trotz einer Möglichkeit zur rückkehr dort blieb.

In den Aussprüchen des Propheten Muhammad und dem is-lamischen recht findet sich auch einiges darüber, ab wann man einen ort als „Heimat“ bezeichnen kann und inwiefern man sich seiner neuen Heimat anpassen soll. So lautet ein Ausspruch des Propheten:

„wer sich 40 Tage lang bei einem Volk (arab. qawm – Volk, oder auch eine Gruppe von Menschen) aufhält, gehört zu ihnen.“ Es ist zwar hiermit in erster linie gemeint, dass gute oder schlechte Absichten ei-ner Gruppe, mit der man Umgang hat, auf einen abfärben, doch weist die-ser Ausspruch auch da-rauf hin, dass einen die Gesellschaft, in der man sich aufhält, verändert und man sich quasi auch unbewusst seiner „neuen Heimat“ anpasst und schließlich „dazugehört“.

recht häufig ist in Predigten in der arabischen welt und in der Türkei auch das arabische Sprichwort: „Die liebe zur Heimat gehört zum Glauben“ zu hören. Meistens dürfte mit diesem Ausspruch der ort, an dem man geboren und auf-gewachsen ist, beabsichtigt sein, was auch in theologischer Hinsicht Sinn macht: wenn jemand glaubt, dass Gott für ei-nen bestimmt hat, an einem bestimmten ort zur welt zu kommen und aufzuwachsen, wird es ihm als eine respekt-losigkeit Gott gegenüber erscheinen, seinen Ursprung und seine wurzeln zu verleugnen.

In der islamischen Tradition findet sich aber auch ein an-deres, dem bisher geschilderten scheinbar entgegengesetz-tes Motiv: das Jenseits oder die göttliche Gegenwart als die „wahre Heimat“ der Gläubigen, und das diesseitige leben als eine karawanserai in der man auf der Durchreise kurz rast macht. So soll Muhammad gesagt haben: Sei in dieser welt wie ein Fremder oder einer, der auf der Durchreise ist.

In gewisser weise ist im islamischen Verständnis der Gläubi-ge also überall und nirgends zuhause.

Sprachliche Heimaten: Mein Dialekt ist meine Burgvon Anatol Stefanowitsch

Nichts ist so wichtig für unser Gefühl von Heimat und Iden-tität, wie die Sprache, mit der wir aufwachsen. wer schon einmal längere zeit in einem fremden land gelebt hat, kennt das Gefühl der Vertrautheit, das man in der Fremde fast au-tomatisch jedem entgegenbringt, der einen in der eigenen Sprache anspricht. Als ich vor vielen Jahren zum Promo-vieren nach Texas gegangen bin, standen gleich am zweiten Abend nach meiner Ankunft drei österreichische kommi-litoninnen vor der Tür meines wohnheimzimmers und lu-den mich ein, Mitglied des österreichischen Stammtisches zu werden -- dass ich Hamburger war und österreichisches

Brauchtum nur aus „Der dritte Mann“ und den wie-derholungen von „zeit im Bild“ auf 3sat kannte, störte dabei ebenso wenig wie die Tatsache, dass ich Sprachwis-senschaftler war, während der rest des Stammtisches aus Mathematiker/innen und

Naturwissenschaftler/innen bestand. Die drei wussten ja ohnehin nichts über mich, außer eben, dass ich ihre Spra-

"Und wenn wir eines Tages in weltraumha-bitats mit Außerirdischen zusammenleben, werden wir vermutlich auch eine uns fremde menschliche Sprache positiver bewerten als die Tonfolgen, Pheromonstöße oder leuchtzei-chen, mit denen die Aliens kommunizieren."

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che (bzw. eine ihrer Sprache ähnliche Sprache) sprach. Der Stammtisch wurde für mich ein wichtiger rückzugsort, bei dem ich den andauernden texanischen kulturschock be-kämpfen und Heimatgefühl – mit wiener und Salzburger Akzent – tanken konnte.

wäre ich zum Promovieren nach wien gegangen (was ich übrigens sofort getan hätte, wenn ich ein entsprechendes Angebot bekommen hätte), wäre man mir dort vermutlich zwar ebenfalls freundlich, aber doch deutlich wienerisch di-stanzierter begegnet. Denn sprachliches Heimatgefühl lässt sich fast beliebig nach oben und nach unten skalieren.

In der Soziolinguistik und der Sozialpsychologie untersucht man die Einstellung gegenüber Sprachen und Dialekten, indem man Versuchspersonen Tonaufnahmen unterschied-licher Sprecher/innen vorspielt und sie auffordert, diese nach kriterien wie Intelligenz, beruflichem Erfolg, Ausse-hen, Vertrauenswürdigkeit, Freundlichkeit, u.ä. zu bewerten. Der Trick dabei: zwei der Aufnahmen stammen von dersel-ben Person, die aber jeweils eine unterschiedliche sprach-liche Varietät verwendet (z.B. zwei verschiedene regionale Dialekte oder einmal einen regionalen Dialekt und einmal eine standardsprachliche Varietät). zwischen den anderen Aufnahmen fällt den Versuchspersonen das nicht auf, wenn man aber die Bewertung der beiden ansonsten identischen Aufnahmen vergleicht, kann man sehen, wie die jeweilige Varietät wahrgenommen wird.

Ein Ergebnis dieser Forschung ist, dass regionale Dialekte für ihre Sprecher die Heimat der Gefühle sind: Sprecher des ei-genen Dialekts werden als attraktiver, freundlicher, liebens-werter und vertrauenswürdiger wahrgenommen, als Sprecher der Standardsprache (oder „Hochsprache“). letztere werden dafür häufig für intelligenter, beruflich erfolgreicher und füh-rungsstärker gehalten.

lässt man die Standardsprache außen vor und vergleicht zwei Dialekte direkt miteinander, so wird der eigene Dialekt auf ganzer linie positiver bewertet als der fremde, auch wenn es sich bei letzterem nur um den Dialekt der nächstgelegenen Stadt handelt, der für Außenseiter vom eigenen nicht zu un-terscheiden ist.

lässt man dagegen die Dialekte außen vor und vergleicht zwei Standardsprachen miteinander (in Gesellschaften, in de-nen ein gewisser Grad an zweisprachigkeit normal ist, etwa in kanada oder Israel), so wird die eigene Sprache durchweg positiver bewertet, bekommt also den Stellenwert der gefühl-ten Heimat, der vorher dem eigenen Dialekt vorbehalten war.

Und wenn wir eines Tages in weltraumhabitats mit Außer-irdischen zusammenleben, werden wir vermutlich auch eine

uns fremde menschliche Sprache positiver bewerten als die Tonfolgen, Pheromonstöße oder leuchtzeichen, mit denen die Aliens kommunizieren.

Auf der Suchevon Carolin liefke

Seit mehr als einem halben Jahr wohne ich nun in Heidel-berg. Ein hübsches kleines Städtchen mit schmucker Alt-stadt, schön gelegen inmitten von odenwald, Neckartal und rheinebene. Ich kann guten Gewissens sagen: Es gefällt mir hier. Aber ist Heidelberg damit zu meiner Heimat geworden? Da muß ich dann sagen: Ich weiß es nicht. Noch nicht.

Genau hinschauen, oder besser gesagt hinhören lohnt sich. Daran merke ich nämlich, daß irgendetwas fremd ist. Man nehme zwei ältere Damen, die sich im Bus unterhalten. Der Dialekt, mit dem sie sprechen, klingt in meinen ohren noch immer ungewohnt, jede Menge sch-laute, wo nach meinem Sprachgefühl keine hingehören. Hört man aber nochmal ge-nauer hin, dann stellt man fest: Sie unterhalten sich über dieselben Dinge, über die sich auch zwei entsprechende Da-men aus dem hohen Norden austauschen würden. So groß ist die welt dann also doch wieder nicht.

Ich merke außerdem, wie meine Sprachgepflogenheiten an-fangen, sich den Sprechern um mich herum anzupassen. Auf-gefallen ist mir das insbesondere daran, daß ich mir anschei-nend eine hier weit verbreitete Satzkonstruktion angewöhnt habe, nämlich auf das wörtchen "weil" einen Hauptsatz fol-gen zu lassen. Und wer weiß, vielleicht kommt das mit den sch-lauten auch noch.

Die Heimat in zeiten der welt-raumfahrtvon Michael khan

In ihrer nun schon Tausende Generationen währenden Ge-schichte hat sich die Menschheit über die ganze Erde aus-gebreitet. Migrationsbewegungen erfolgen meist in wellen. wahrscheinlich migrieren Menschen dann in großer zahl, wenn sie es müssen, weil es nicht anders geht, aufgrund von klimawechseln und damit verringerten ressourcen. Das legt nahe, dass Menschen von Natur aus eher heimatverbunde-ne wesen sind, die ihr angestammtes Siedlungsgebiet nicht verlassen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Aber selbst wenn es dann doch sein muss - man findet auch auf der Erde

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eben doch wieder ein Plätzchen, das der eigenen Vorstel-lung von Heimat entspricht. So groß, wild und divers uns kleinen Erdenwesen unser Heimatplanet vorkommen mag - er ist im Grunde genommen doch ein erstaunlich homoge-nes, zahmes, wohlwollen-des, aber vor allem auch kleines Ausnahmegebiet im unvorstellbar großen, wilden und diversen weltall. wie fremd uns eine Gegend auch vor-kommen mag, die anders ist als die vertraute Hei-mat, und wie viel Aufhebens wir um minimale Unterschiede auch machen - objektiv ist "die Fremde" auf der Erde doch der Heimat sehr ähnlich. Umso mehr, als wir Menschen un-sere Siedlungszonen vorwiegend auf die moderaten klima-zonen beschränken.

Die erste wirkliche Grenzüberschreitung

Mit Anbruch des raumfahrtzeitalters eröffnete sich für die Menschen erstmalig die Perspektive, den eigenen wirkungs-kreis über die dünne Schale der irdischen Biosphäre hinaus auszudehnen. wir sind die erste Generation, die sich ernst-haft mit dieser Möglichkeit befasst. Dies kann aber auch zu einer völligen Neudefinition des Begriffs "Heimat" führen

- weg von der einer mehr oder weniger unaufregenden Va-riante des altbekannten Themas "terrestrische Biosphäre", hin zu vollkommen neuen, mehr oder minder (meist mehr) menschengemachten Habitaten, die zunächst einmal nicht

viel mehr miteinander zu tun haben, als dass sie das menschliche Überleben und optional auch noch einen ge-wissen Grad von wohlbefin-den gewährleisten.

Die ersten Menschen, die sich enthusiastisch auf diese

option stürzten - zumindest gedanklich - waren Science-Fic-tion-Autoren und -Filmemacher. Ihrer überbordenden Fanta-sie entsprangen Ideen für Habitate fast überall, wo es nicht vollkommen ausgeschlossen erscheint. Unterirdische Städte in Mondkratern. Schwebende Städte in 50 km Höhe in der Atmosphäre der Venus (weil in der Höhe Druck und Tem-peratur ungefähr so sind wie auf der Erdoberfläche und die Schwerkraft etwa gleich der der Erde ist). kuppeln auf dem Mars. Ausgehöhlte Asteroiden. Feenzarte Strukturen auf dem Saturnmond Titan, wo Eis so hart wie Stahl gefriert und die lokale wirtschaft auf der Basis des Abbaus des dort massen-haft vorkommenden rohstoffs Methan funktionieren würde. Aber was wäre denn, wenn ein Mensch beispielsweise sein

"[...] zu einer Heimat, die Menschen als solche akzeptieren, gehört eben mehr als eine aufwän-dig mit einem gewissen komfort ausgestattete zone inmitten einer lebensfeindlichen Umwelt [...] Heimat ohne Freiheit ist ein Gefängnis."

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komfortables Habitat auf dem Mond auch nur für eine Se-kunde ungeschützt verlassen wollte? Das Vakuum würde ihm schlagartig die luft aus den lungen saugen, Dampfblasen in Gewebe und Blut würden schnell zum Herzstillstand führen und der siedend heiße oder schneidend kalte regolith (je nachdem, ob er den Mondtag oder die Mondnacht für sei-nen Ausbruch gewählt hat) brät oder shockgefriert die zu Boden sinkende leiche.

Dazu schreiben die Fan-tasten in der regel nichts. Fantastische Ideen gibt's im Dutzend billiger, aber überstehen sie auch den simpelsten Stresstest? Ähnliche Ideen gab es früher auch für die Erde: riesige Städte unter dem Meer, über den wolken schwebend oder in der Antarktis. Das eine oder andere könnte man sogar realisieren, aber will das jemand? wohl nicht – denn zu einer Heimat, die Menschen als solche akzeptieren, gehört eben mehr als eine aufwändig mit einem gewissen komfort ausge-stattete zone inmitten einer lebensfeindlichen Umwelt. Für mich gehört dazu auch das wissen, dass ich, wann immer ich es will, aus meiner Heimat heraus und anderswohin gehen kann. Auch wenn ich diese Freiheit gar nicht in Anspruch nehme, ich brauche die Gewissheit, dass ich es könnte. Hei-mat ohne Freiheit ist ein Gefängnis. In diesen Fällen sperrt die lebensfeindliche Umwelt die Insassen zuverlässiger ein als noch so hohe Mauern.

Ich vermute, nicht nur ich sehe das so. Deswegen werden besagte Fantasien auf der Erde Fantasien bleiben, und die Fantasien zu vergleichbaren Habitaten auf anderen Himmels-körpern ebenso. Das heißt nicht, dass dort keine Menschen sein werden. Auch heute leben ja Menschen auf Bohrinseln, auf leuchttürmen und auf Forschungsstationen. Aber sie sind wenige, sie sind dort nur vorübergehend, und sie wol-len dort nicht heimisch werden. Sie haben dort einfach nur einen Job zu erledigen.

Das Bild, das alles verändertevon Michael khan

weihnachten 1968. Die NASA hatte zu einem ungeheuer kühnen Schlag ausgeholt. Man lieferte sich gerade mit dem wettrennen ins weltall ein gewaltiges Duell mit der Super-macht UdSSr. Auch wenn das nicht alle verstanden hatten: Dies sollte der welt Anlass zur Hoffnung geben. Erstmals hatten die Menschen etwas gefunden, was sie noch mehr fas-zinierte als kriegsführung.

So entschloss sich die NASA 1968, schon die zweite bemann-te Apollo-Mission Apollo 8 zum Mond zu schicken und sie auch gleich den Trabanten umkreisen zu lassen.

Apollo 8 war in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Bis dato waren Menschen allen-falls einige Hundert ki-lometer weit von der Erde geflogen. Der re-kord stand seit Gemini 11 (1966) bei 1370 km. Apollo 8 hob die lat-te auf rund 400,000 km. Jawohl, Vier-Hundert-

Tausend! Erstmals begaben sich Menschen an einen ort, wo das Schwerefeld eines anderen Himmelskörpers das der Erde überwog. Erstmals verschwanden Menschen während der Mission hinter einem anderen Himmelskörper und waren so-mit, egal, was ihnen zustoßen mochte, unsichtbar und uner-reichbar. Nie war eine reise weltweit aufmerksamer verfolgt worden. Erst Apollo 11, ein halbes Jahr später, zog ein noch größeres Interesse auf sich.

Der wirklich bemerkenswerteste Beitrag der Mission Apollo 8 war jedoch auf den ersten Blick eher unscheinbar: Es han-delte sich einfach um einige Fotografien. Unter den vielfa-chen wissenschaftlichen und technischen Daten, Bildern der Mondoberfläche und Pr-Events (darunter eine Bibellesung am weihnachtstag) stachen diese Fotografien besonders her-vor. Auf ihnen war die Erde zu sehen, wie sie klein, zer-brechlich und unbeschreiblich schön über der unwirtlichen, fremdartigen Mondoberfläche aufging (Es war wohlgemerkt nur ein scheinbarer Erdaufgang, bewirkt durch die Bewegung des raumschiffs auf seiner Bahn um den Mond). Der wirkung dieses Bildes kann man sich einfach nicht ent-ziehen. So etwas hatte buchstäblich die welt noch nicht ge-sehen. Vor dem raumfahrtzeitalter war gewissermaßen die Erdoberfläche oder allenfalls einige kilometer darüber und einige Hundert Meter darunter unser Universum. weiter reichte unser wirkungskreis nicht. wie sehr wir von kräf-ten aus dem weltall beeinflusst und bedroht werden, war entweder komplett unbekannt oder nicht Bestandteil des allgemeinen Bewusstseins. Und nun sahen wir Menschen plötzlich unser vermeintliches Universum als nichts mehr als eine kleine blau-weiße Eierschale über der oberfläche einer fremden welt. Ein Eindruck, der uns vollkommen unvorbe-reitet überfiel und nach dem nichts mehr so war wie davor.

Ein Bild unserer Heimat, das unser Selbstverständnis, unse-re Identität vollkommen neu definierte. Der Beginn einer neuen Ära.

"Und nun sahen wir Menschen plötzlich un-ser vermeintliches Universum als nichts mehr als eine kleine blau-weiße Eierschale über der oberfläche einer fremden welt. [...] Ein Bild unserer Heimat, das unser Selbstverständnis, unsere Identität vollkommen neu definierte."

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Elektronische Identität: Tech-nosapiens und Cyborgsvon wolfgang Achtner

Das Internet mit seinen vielfältigen Informationsressourcen und Foren aller Art wird immer mehr für viele Menschen zur zweiten Heimat – zur virtuellen Heimat. Manche legen sich im Internet auch eine zweite oder gar mehrere neue Identi-täten zu, bis hin zu einem vollständig virtuellen leben wie in Second life. Ist das Internet damit der ort, an dem neue Heimaten, neue Identitäten generiert werden?

Noch sind der Mensch und das Internet mit seiner elekt-ronischen Basis der Informationsverarbeitung ja getrennte Entitäten. was aber ist, wenn es zu einer Verschmelzung zwischen der biologischen Basis von Informationsverarbei-tung im menschlichen Gehirn und der elektronischen des Internet kommt? Noch muss via Tastatur ein Gedanke, ein Gefühl, eine schlichte Information mühsam eingetippt wer-den. Viel zu umständlich! Der Tag wird kommen, and dem es über das Abgreifen von Hirn-potenzialen möglich sein wird, die Texte, die man schreiben will, wie von Geisterhand ge-führt auf den Bildschirm zu bannen. Der Tag wird kommen, an dem solche abgegriffenen Hirnpotenziale – und die damit korrespondierenden Ideen, Gedanken, Gefühle und Empfindungen direkt ins Internet

"Sind wir auf dem weg in eine Gesellschaft mit graduell verschieden abgestuften Cyborgs? welche Identität werden sie haben und wo wird ihre Heimat sein?"

zu einem potenziellen kommunikationspartner eingespeist werden. Eine instantane Begegnung von Seele zu Seele, Geist und Geist, bei der die leibliche Vermittlung ausgeschaltet sein wird. Eine neue Heimat für die Seelen und Geister? Und eine neue Identität?

Vielleicht ist dieser Tag gar nicht mehr so weit entfernt. Denn die Symbiose zwischen Mensch und Technik hat im medizinischen Bereich schon lange begonnen. Angefangen vom künstlichen Hüftgelenk, über künstliche Nieren und Herzen, Cochleaimplantate, Siliziumchips im Auge bis hin zu Hirnschrittmachern. Diese Tendenz zur Technisierung des menschlichen leibes hat seit der Philosophie von rené Descartes und dem frivolen und seinerzeit gotteslästerlichen Buch „l’homme machine“ von la Mettrie unaufhaltsam zugenommen und dringt in immer tiefere Strukturen des menschlichen leibes vor – die Verschmelzung von Elektro-nik und dem zentralnervensystem steht bevor.

Die Frage stellt sich daher, welche Auswirkungen eine solche Verschmelzung von Bios und Elektronik auf die menschliche

Identität hat. Inwie-weit ist Identität an ein biologisches Substrat gebunden? Als ich vor einigen Jahren den briti-schen kybernetiker ke-vin warwick in london

besuchte, der sich selbst als den ersten Cyborg der welt be-zeichnet, weil er sich einen Siliziumchip in den Arm implan-tiert hatte, mit dem er sein zNS (zentrales Nervenssystem)

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direkt mit IP mit dem Internet verknüpft hatte, war meine erste Frage, ob er dabei neue Gefühle empfunden habe. Er bejahte dies, konnte diese Gefühle aber nicht genauer mit den uns bekannten Gefühlen beschreiben – sie waren eben neu!

Inwieweit kann Elektronik mit dem Bios kommunizieren, die biologische Grundlage des Menschen ersetzen, ergän-zen, mit ihr verschmelzen oder sie gar verbessern, ohne die menschliche Identität zu verändern? oder wird es ganz neue Identitäten auf bioelektronischer Grundlage geben, mit ganz neuen Qualitäten, Qualia des Empfindens, Erlebens oder gar Denkens? Sind wir auf dem weg in ein Gruselkabinett bio-elektronischer Monster, wird der homo sapiens dereinst zu einer Subspezies des Technosapiens herabgestuft? oder wird sich zeigen, dass die Symbiose zwischen Soma und Technik aus prinzipiellen Gründen an unübersteigbare Grenzen sto-ßen wird? letztlich erscheint hier die philosophische Frage nach dem zusammenhang zwischen Geist, Seele und leib in einem neuen, technischen zusammenhang, der von un-mittelbarer lebensrelevanz ist. Aber er ist auch von großer erkenntnistheoretischer relevanz. Denn durch die techni-sche Dimension könnte die philosphische Diskussion um die Erklärungsmodelle für das Verhältnis von Geist und leib – Emergenztheorien, Dualismus, Epiphänomenalismus, etc. – in den rang empirisch entscheidbarer Alternativen aufrü-cken. Sind wir auf dem weg in eine Gesellschaft mit graduell verschieden abgestuften Cyborgs? welche Identität werden sie haben und wo wird ihre Heimat sein?

literaturnachweise Bloggewitter- Abels, Heinz (2010): Identität. lehrbuch (2. überarb. und erw. Auf-lage), wiesbaden.- Abrams, Dominic und Michael A. Hogg (1987): language attitudes, frames of reference, and social identity. A Scottish dimension, Journal of language and Social Psychology 6.3-4, 201-213.- Applegate, Celia (1990): A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley.- Bausinger, Hermann (2000): Typisch Deutsch. wie deutsch sind die Deutschen, München.- Benaroya, Haym (2010): Turning Dust to Gold. Building a Future on the Moon and Mars, Springer Praxis Books.- Falck, oliver; Stephan Helbich; Alfred lamelli, Jens Südekum (2010): Dialects, cultural identity, and economic exchange. Beiträge zur Jah-restagung des Vereins für Socialpolitik 2010: Ökonomie der Familie. Session: Cultural Influences on Economic Behaviour C13-V1.- Faltin, Thomas und Erik reidt (2010): Die Angst vor dem Heimatver-lust. Interview mit Prof. Dr. ortwin renn, Stuttgarter zeitung online vom 06.03.2010. - Hartmann-wolff, Elke (2009): Diagnose: kevinismus, Fokus Magazin Nr. 40, 2009. - Heppenheimer, T.A. (1977): Colonies in Space, online abrufbar auf www.nss.org. - landis, Geoffrey A. (2003): Colonization of Venus, NASA Glenn re-search Centre, Cleveland.- langenbucher, wolfgang r. (1983): kulturpolitisches wörterbuch. Br Deutschland / DDr im Vergleich, Stuttgart.- Mead, George Herbert (1973): Geist, Identität und Gesellschaft (15. Auflage), Frankfurt.- Mitzscherlich, Beate (1997): Heimat ist etwas, was ich mache. Eine psychologische Untersuchung zum individuellen Prozess von Behei-matung, Pfaffenweiler.- rudolph, Udo et al. (2007): Ein Vorname sagt mehr als 1000 worte. zur sozialen wahrnehmung von Vornamen, Chemnitz.

Mein Kommentar:

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Wolfgang Achtner ist u.a. Hochschulpfarrer und Pri-vatdozent für Systematische Theologie. Er bloggt un-ter dem Motto „Theologie im Dialog - Naturwissen-schaft, kultur, religion“.

Hermann Aichele ist evangelischer Theologe im ru-hestand. Er bloggt unter dem Motto „Hintergründe: Denk-Geschichte(n) des Glaubens“.

Joe Dramiga ist Neurogenetiker. Er bloggt unter dem Motto „Die Sankoré Schriften - Die welt ist vol-ler rätsel“.

Hussein Hamdan ist Islam- und religionswissen-schaftler. Er bloggt unter dem Motto „Der Islam - Ge-schichte und Gegenwart“.

Max Heidelberger ist orientwissenschaftler und Doktorand an der Universität Tübingen.

Michael Khan ist luft- und raumfahrtingenieur. Er bloggt unter dem Motto „Go for launch - raumfahrt aus der Froschperspektive“.

Carolin Liefke ist Astrophysikerin. Sie bloggt unter dem Motto „Astronomers do it at night … und auch tagsüber“.

Daniel Lingenhöhl ist Geowissenschaftler und ar-beitet als wissenschaftsjournalist und Buchautor. Er bloggt unter dem Motto „walden - (Über)leben in den wäldern“.

Björn Lohmann ist freier wissenschaftsjournalist. Er bloggt unter dem Motto „Öko-logisch? Umwelt sind Du und ich“.

Susanne Plotz ist Ärztin und Medizinjournalistin. Sie bloggt unter dem Motto „Sprechstunde - Neuigkeiten aus der welt der Medizin“.

Simone D. Wiedenhöft ist Diplom-Psychologin und Beraterin für kommunikation in nachhaltiger Form. Sie bloggt unter dem Motto „Sustain o’Brain - nach-haltig nachdenken in psychologischen Tiefen“.

Stefanie Reinberger ist freie Journalistin. Sie bloggt unter dem Motto „Science and the City - Vom leben und Überleben im Alltag”.

Yoav Sapir ist freiberuflich und unter anderem als referent im christlich- und deutsch-jüdischen Dia-log tätig. Er bloggt unter dem Motto „Un/zugehörig - wien, Heidelberg, Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland“.

Katja Schwab ist Diplom-Psychologin, kommunika-tions- und Verhaltenstrainerin. Sie bloggt unter dem Motto „Psychologie des Alltags - Das menschliche Miteinander auf der Couch“.

Anatol Stefanowitsch ist Professor für anglistische Sprachwissenschaft an der Universität Hamburg. Er bloggt unter dem Motto „Sprachlog - alle Sprachge-walt geht vom Volke aus“.

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Familienbande Alte Netzwerke im neuen Gewand?Ein Interview mit Mahha El-Faddagh

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sind auch einige deutsche Freunde in facebook, mit de-nen ich kontakt halte. Interessanterweise ist meine

deutsche Familie (mütterlicherseits) weniger in facebook vertreten, mein Vater ist aus dem

gleichen Grund wie ich dabei. Ich habe ihm auch anfangs gezeigt, wie man das nutzen kann.

Im Durchschnitt verbringen Deutsche drei Stun-den pro Woche in sozialen Netzwerken. Wie häu-

fig nutzen Sie facebook? Und was machen Sie da eigentlich genau?

Eine weile habe ich facebook täglich ungefähr eine Stunde genutzt, zur zeit eher unregelmäßig einmal

pro woche. Ich lese die Einträge, schaue mir eingestellte Fo-tos an (hauptsächlich Familie), spiele auch (mit meinen Ver-wandten) und informiere mich über Veranstaltungstermine.

Für welche Kontakte nutzen Sie facebook? Freunde, Familie und/ oder Beruf?

Familie und Freunde, beruflich gar nicht. Von den deutschen Freunden nutzt auch nur ein Teil facebook, vor allem dieje-nigen, die auch schon im Ausland gelebt haben oder leben oder viele internationale kontakte haben. kontaktanfragen von ehemaligen Mitschülern, mit denen ich nichts mehr zu tun habe, kommen auch; das finde ich aber eher seltsam, wenn ich mit denen früher in der Schule auch nicht viel zu tun hatte.

Hat sich durch den Kontakt über das soziale Netzwerk das Verhältnis zu Ihrer Familie verändert?

Ja definitiv. Ich habe so wieder kontakt zu meinen arabi-schen Cousinen, Nichten und Neffen bekommen, kann ein wenig an ihrem leben teilhaben über die links, Fotos und Videos, die eingestellt werden. zum Beispiel waren meine Eltern letztes Jahr zu Besuch in Bahrain und haben viele Verwandte getroffen, die wiederum Bilder davon eingestellt haben. So konnte ich alle paar Tage sehen, was sie so ge-macht haben, wen sie getroffen haben. Dabei nutze ich auch die Funktionen „kommentieren“ oder „gefällt mir“.

Welche Informationen geben Sie selbst über facebook weiter?

Ich gebe nicht sehr viele Infos über mich heraus, da mir der Datenschutz nicht gut genug ist. Ich hatte zu Beginn auch lange zeit kein Foto von mir eingestellt, habe dann eins mit Sonnenbrille genommen. Ich schreibe zum Beispiel Geburts-tags- und Feiertagsgrüße oder wenn ich aus dem Urlaub zu-rückkomme, wo ich war und wie es war; Ansonsten auch

Soziale Netzwerke sind aus dem kommunikationsalltag nicht mehr wegzudenken. Facebook hat sich da-bei in den letzten Jahren als „das“ soziale Netzwerk etabliert. Es entstand im Jahr 2004 zunächst als exklusives Portal für Studenten der Harvard-Universität in den USA und hat sich seitdem rasant um den Globus verbreitet. Über 600 Millionen Menschen weltweit sind in-zwischen bei dem sozialen Netzwerk registriert, davon 18 Millionen allein in Deutschland. Sich als Freunde auf face-book zu „adden“ ist im Begriff, dem Aus-tausch von Telefonnummern oder Emailadres-sen den rang abzulaufen. Das nivelliert aber auch den Unterschied zwischen Bekannten und Freunden, oft auch zwischen familiären, privaten und beruflichen kontakten.

Die negativen Seiten dieser neuen Sichtbarkeit sind ein be-liebtes Medienthema geworden. Datenschützer und Psycho-logen schlagen Alarm, denn die reise geht offensichtlich in richtung des gläsernen Nutzers, der obendrein anfängt, die Anzahl der virtuellen Bekannten mit den sozialen Bindun-gen der realität zu verwechseln.

Und trotzdem: Millionen Menschen nutzen soziale Netzwer-ke, erzählen von sich, und lesen über andere. Meist trivia-le Dinge, Alltagsdinge, die man sich auch erzählen würde, wenn man am Gartenzaun steht oder kurz mal anruft, Din-ge, die man vom anderen sehen würde, wenn er da wäre und sichtbar macht, indem man es auf seine Seite schreibt („mhmm, ich trinke gerade kaffee in der Sonne“).

Und das verbindet nicht nur Freunde und scheinbar-Freun-de, sondern auch Familien, die weit voneinander entfernt ihren Alltag leben.

wir haben uns mit Mahha El-Faddagh aus karlsruhe unter-halten. Die kinder- und Jugendpsychiaterin hält über das on-line-Netzwerk facebook regelmäßigen kontakt zu ihrer weit über den Globus verstreuten Familie. Im Interview erzählt sie, wie das online-Netzwerk die Distanz zur Heimat verringert.

Warum sind sie Mitglied bei einer sozialen Onlineplattform geworden?

Ich habe mich zunächst bei wkw ("wer kennt wen") an-gemeldet, aber das ist natürlich nicht international. Da mei-ne arabische Familie (väterlicherseits) sehr technikaffin ist, habe ich mich dann bei facebook angemeldet, um kontakte wiederherzustellen bzw. auch neu zu knüpfen, da ich längst nicht alle Verwandten persönlich kenne. Da sie weit ver-streut sind über die arabischen länder, Europa und die USA ist es auch kaum möglich, sie alle zu besuchen. Inzwischen

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direkte Nachrichten an einzelne Personen (Verwandte wie Freunde).

Welche Vor- und Nachteile sehen Sie persönlich bei der Nutzung von sozialen Netzwerken im Internet?

weltweite kontakte sind viel einfacher geworden. Nachteile sehe ich keine für mich, aber bei kindern und Jugendlichen bekomme ich beruflich als kinder- und Jugendpsychiaterin mit, dass sie zum Teil sehr viele Informationen über sich ge-ben ohne darüber nachzudenken, wer das alles lesen kann. Sogenanntes „cybermobbing“ habe ich eher bei Schüler-Vz mitbekommen, aber das liegt am aktuellen Verbreitungsgrad der jeweiligen Plattform.

Über soziale Onlineportale wird in den Medien oft sehr kritisch berichtet. Hat das Einfluss auf Ihren Umgang damit?

Nein, mich interessiert nur, wenn es Neuigkeiten zum Da-tenschutz gibt. Da kann man ja selbst ein bisschen einstel-len, wer was sehen kann. Und was ich schreibe, bestimme ja immer noch ich selbst. Schwierig wird es natürlich, wenn jemand anderes von mir Fotos einstellt, aber da das nur mei-ne Verwandten machen, stellen die auch keine komischen Sachen ein.

Welchen Einfluss hat facebook auf Ihren Alltag?

Als ich es täglich genutzt habe, hat es schon viel zeit gekos-tet, aber eher anderes, wie Fernsehen oder Telefon, ersetzt. Was ist für Sie Heimat?

Meine Heimat ist überwiegend Deutschland, da ich hier mit der deutschen Sprache und kultur aufgewachsen bin (meine Mutter ist Deutsche); auch der Irak ist Teil meiner Heimat, aber da habe ich nie gelebt, das habe ich hauptsächlich über meinen Vater, seine Erzählungen, die Art und weise zu den-ken und zu handeln mitbekommen. Die Großfamilie stellt auch einen Teil Heimat dar, auch wenn sie (z.T. infolge der kriege) weit verstreut ist.

Hat das virtuelle Netzwerk eine Auswirkung auf Ihr Verständnis von Heimat?

Nein, das Verständnis hat sich nicht geändert, sondern die Distanz zu Teilen meiner Heimat deutlich verringert.

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Das Interview führten lisa Stengel und Yonca Yazıcı, Mitarbeiterinnen der Stabsstelle für interkulturellen und interreligiösen Dialog sowie gesellschaftliche wer-teentwicklung.

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wer heute einen Account bei Facebook eröffnet, der verhält sich ähnlich, als zöge er an einen neuen ort. Der echtweltli-che Neuankömmling richtet sich eine wohnung ein, in der ihn Menschen besuchen können, die aber auch ein bisschen zeigt, was er für einer ist. Dann begibt er sich an orte, an denen er mit Menschen kommuniziert: kneipe, Vernissage, Fußballspiel. Er tritt in Clubs oder Vereine ein und vernetzt sich so. Er versucht, für ihn wichtige leute zu treffen, die ihn auch beruflich weiterbringen. Bei all diesen Aktivitäten zeigt er sein Gesicht, stellt sich selbst dar, verteilt Visitenkarten, macht Smalltalk über seine Hobbies, findet irgendwann viel-leicht auch einen Partner. Und dann ist er plötzlich heimisch an diesem ort, freut sich, wenn er nach einer langen reise die wohnungstür aufschließt, und vielleicht grüßt ihn jetzt auch die Bäckersfrau wie einen alten Freund.

wer bei Facebook einzieht – es ist derzeit ein besonders pro-minentes soziales Netzwerk mit starkem Heimatpotenzial – geht ganz ähnlich vor: Er sucht sich ein Plätzchen, richtet es angenehm ein, stellt sich selbst dar und geht auf kontakt-suche. Diese Suche kann großstädtisch-frei sein, indem der Neuankömmling nur kontakt mit leuten aufnimmt, mit de-nen er tatsächlich zu tun haben will. Die anderen übersieht er, und niemand fühlt sich übersehen, sondern auf angeneh-me weise in ruhe gelassen und zufrieden.

Manchmal kommen die kontakte aber auch auf dörfliche weise über ihn. Dann stehen seine neuen Nachbarn grin-send in der Tür und überreichen ein willkommensbrot. Es wäre unhöflich, sie nicht hereinzubitten. Auch das passiert bei Facebook: Eine kontaktanfrage schneit herein, irgendwie ist das ja auch nett, man sagt zu. Und wenn es sogar die Bür-germeisterin ist, die an die Tür klopft, ist man ein bisschen stolz auf sich und die welt.

Die sozialen Beziehungen im Netz sind also ähnlich wie in der offline-welt, und auch das Heimatgefühl ist es. So viel ändert sich gar nicht beim Übertritt ins Digitale. Man ist

irgendwann zu Hause in seinen Netzwerken, schlendert ein wenig darin herum und badet wohlig im Geschnatter der an-deren. Dann gibt man selbst auch noch ein paar Geschichten zum Besten, brüstet sich mit kuriosen Fundstücken, lästert ein wenig, und ganz nebenbei tauscht man hochwichtige Informationen aus (wo die Umgehungsstraße gebaut wird oder wo der neueste Trend im digitalen Journalismus lau-ert). Heimat ist auch immer der ort des relevanten Infor-mationsflusses: Dort, wo ich erfahre, was mich wirklich und täglich betrifft.

Auch die subkutanen regeln sind ähnlich, die, über die man nicht spricht. Denn Heimat besteht bei näherem Hinsehen nicht nur aus dem Hier-gehöre-ich-hin-Gefühl. Ja, es duf-tet wie zuhause, die Menschen reden im vertrauten zun-genschlag, man kennt sich. Aber Heimat ist noch mehr: Es gibt regeln, wer in die Gemeinschaft aufgenommen wird und wer nicht, wer drinnen ist, wer immer draußen bleiben wird. Und das Drinnen ist hierarchisiert: Es gibt Tonange-bende und Stille, Entscheider und Hinnehmer. Heimat ist der Eigenort von Menschen, und ein ort wird zur Heimat, wenn er ein schwierig in worte zu fassendes, aber deutlich vorhandenes zugehörigkeitsgefühl erzeugt. Doch eigentlich sind Heimaten sehr komplexe soziale Gefüge. So komplex wie digitale Netzwerke.

Heimatgefühle können auch oder vielleicht gerade in wahl-heimaten entstehen. Digitale Netze sind solche wahlheima-ten. Es wohnt ihnen ganz am Anfang etwas willentliches inne: Ich entscheide mich bewusst für sie. Das gibt der neu-en Heimat etwas Freies. Ich wähle also zunächst eine Platt-form und eine Vernetzungsform. Soll es beruflich sein, oder lieber privat? Überwiegt die Selbstdarstellung oder will ich einfach nur wissen, wie es den Freunden so geht? Doch spä-ter verselbstständigt sich mein Netz, neue Verknüpfungen ergeben sich, ein berufliches Netz bekommt private Aspekte und umgekehrt. Und irgendwann merke ich, dass ich gerne nach Hause gehe, in meine Netzheimat, und sehe, dass Britta

NetzheimatenVon Annette leßmöllmann

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heute Geburtstag feiert, Matthias am Abend im Netzradio Afrikanisches auflegen wird und lars einen bissigen Artikel veröffentlicht hat.

Auch weblogs können meine Heimat werden: Mein weblog als meine private Agora, mein Marktplätzchen, auf dem ich worte und Bilder bereithalte, und wer mag, kann sie lesen, be-trachten und kommentieren, er kann sich darüber streiten und schlimmstenfalls muss ich kampfhähne trennen. Auch hier stelle ich mich dar und vernetze mich mit anderen. Mein Pub-likum ist herzlich eingeladen, sich bei mir zu Hause zu fühlen.

Das willentliche und Bewusste als Startmotivation für die Netzwerkheimat ist wichtig. Denn irgendwann kommt der zeitpunkt, an dem man sich unbedingt an diesen Anfang er-innern muss. Dem Anfang, dem bekanntlich immer ein zau-ber innewohnt, an den wir uns erinnern können und uns bewusst machen, wieso die Dinge so gekommen sind – auch wenn die Heimat später erdrückend und anstrengend gewor-den ist. Dann können wir uns zurückpfeifen und sagen: Du hattest es einmal anders gewollt, erinnerst du dich?

Auch soziale Netzwerke können erdrückend sein. Sie bom-bardieren uns mit Informationen; kaum habe ich das eine

Ein virtuelles Heim?

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verdaut, ist das nächste schon da, es wirkt so, als rase eine wildgewordene Schar von Selbstdarstellern an mir vorbei. Dieses Gefühl ist furchtbar unheimatlich, und es erzeugt Fluchtgedanken. Dann muss man ausziehen. oder, viel bes-ser, die Heimat neu sortieren. Mehr schlendern, weniger ra-sen. Sich vielleicht auch mal ein paar Tage nicht sehen lassen, mal sehen, ob es überhaupt jemand merkt. Auf das relevante konzentrieren, Anfragen ignorieren, Beziehungen auch mal kappen. Das ist das Besondere an der digitalen Heimat: Man kann etwas einfacher in ihr herum sortieren. Vielleicht auch ein bisschen experimentieren. Und wenn etwas schiefgeht, gibt es ja noch die echte Heimat, die uns auffängt.

Und umgekehrt.

Prof. Dr. Annette leßmöllmann lehrt Journalistik mit dem Schwerpunkt wissenschaftsjournalismus an der Hochschu-le Darmstadt. Sie bloggt unter anderem bei „Nette an Ste-ve“ auf www.brainlogs.com und ist auch auf Facebook und Twitter aktiv.

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Das leben in der "world of warcraft"Von Christian Hoffstadt

Computer- und Videospiele gewinnen in der heutigen zeit immer mehr an Bedeutung; da mittlerweile schon einige Ge-nerationen mit ihnen sozialisiert worden sind, sind sie kaum noch aus der Populärkultur wegzudenken. Neben dem kurz-weiligen zeitvertreib und der Unterhaltung, die einige Spiele bieten mögen, besteht aber zugleich auch ein enormes Interes-se an so genannten virtuellen welten, in denen der Benutzer bzw. der Spieler sprichwörtlich eine andere Identität anneh-men kann und in eine andere welt einzutauchen scheint. In den vergangenen Jahren stand zum Beispiel "Second life"1 im Mittelpunkt des Medieninteresses, das es dem Benutzer so-gar erlaubt, die virtuelle welt mitzukonstruieren. Damit stellt sich generell die Frage, wie es dem Menschen möglich ist, sich in diese „neuen welten“ hineinzuversetzen, wie der Mensch virtuelle Figuren bzw. Spielfiguren „verkörpern“ kann2 und wie sich dies ggf. auf seine „realität“ und seine „reale Persön-lichkeit“ auswirkt. Um dieser vermeintlichen Frage nach der Identität der Person zwischen realer, sichtbarer, begreifbarer welt und unsichtbarer, magischer Vorstellungswelt nachzuge-hen, werde ich ein besonders erfolgreiches Spiel in den Mit-telpunkt meiner Überlegungen stellen.

Eine der erfolgreichsten virtuellen welten ist zurzeit die World of Warcraft3 (abgekürzt „wow“, dt. „welt der kriegskunst“), ein so genanntes Massive Multiplayer Online Roleplaying Game (kurz: MMorPG), das mittlerweile ca. 12 Millionen Spieler4 weltweit zählt, ca. 2 Millionen davon in Europa. In einer ar-chaischen Fantasywelt lenkt der Spieler eine von vielen Spiel-figuren und besteht Abenteuer und kämpfe in einer comic-artig dargestellten Umgebung. Er besteht Abenteuer, handelt, sammelt, erkundet Unerforschtes und gewinnt Erfahrung, Gegenstände und virtuelle kameraden bzw. „Freunde“. Der Spieler ist dabei in der welt sowohl von computergesteuerten Figuren umgeben als auch von anderen Figuren, die von Spie-lern gesteuert werden.5 Der Spieler interagiert also in einer „anderen welt“, die jedoch keine wirkungslose Scheinwelt ist. wie das lateinische wort virtualis – übersetzt: „als kraft vor-handen“ – schon andeutet, sind virtuelle räume nicht phy-sisch vorhanden, ihre „Auswirkungen und Funktionen aber

durchaus real“6. Virtuelle räume, körper und Handlungen sind also in einem gewissen Sinne mit unserer realität ver-bunden, zugleich werden sie aber auch als irreal bzw. „ma-gisch“ betrachtet.7 wer einmal mit einem Helden in einem Hollywoodfilm mitgefiebert hat und in die Handlung „ein-getaucht“ ist, wird nachvollziehen können, dass sich durch die Interaktion des Spielers mit dem Medium der Effekt des Eintauchens noch verstärken kann.

Die Beziehung des Spielers zu seiner Spielfigur ist komplex. obwohl Spieler meist von sich selbst sagen, dass sie in „ein Spiel eintauchen“ bzw. „Teil des Spiels werden“, was häufig als so genannter Immersions-Effekt bezeichnet wird, ist dies nur eine sehr ungenaue Beschreibung der Beziehung von Spieler zu Spiel-Charakter. Nehmen wir an, ein Spieler beginnt neu mit „world of warcraft“: Er erstellt einen Charakter8, d. h. er legt zu Beginn des Spiels Aussehen, rasse (Nachtelf, Mensch, Untoter etc.), klasse (Priester, Jäger, Magier etc.) und ande-re Details fest – hier zeigt sich schon aus wissenschaftlichen Untersuchungen, dass die Spieler gerne in eine andere rolle schlüpfen und ihren Charakter gerne so wählen, wie sie in der „realität“ nicht sind. Das heißt man schlüpft nicht nur in die rolle eines Magiers, der imposante zauber sprechen kann, man wählt gegebenenfalls auch ein anderes Geschlecht oder eine exotische „rasse“ für die eigene Spielfigur. Auch die wahl der „Seite“, d. h. grob gesagt, ob man einen rechtschaf-fenen oder einen bösen Charakter spielt, liegt beim Spieler selbst – natürlich im rahmen dessen, was das Spiel vorgibt und ermöglicht.

Moderne onlinespiele funktionieren häufig nach dem Prin-zip, dass man sie schnell erlernen kann, um dann möglichst lange motiviert zu sein, sie weiterzuspielen. Daher werden Spieler nach anfänglich einfachen Solo-Aufgaben in WoW relativ schnell dazu gebracht, Gruppenaufgaben, für die sie sich mit anderen Spielern zusammenschließen müssen, an-zunehmen, um im Spiel weiterzukommen. Dadurch, dass der Spieler für die erledigten Aufgaben zeitnah belohnt wird, er-gibt sich eine relativ große Motivation weiterzumachen – das

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hinter WoW stehende Abonnement-System sorgt dabei dafür, dass der Hersteller dabei Geld verdient und die Spieler den bezahlten monatlichen Preis auch möglichst ausnutzen wol-len. Durch die für den Spielerfolg notwendige soziale Interak-tion zwischen den Spielern ergibt sich damit eine spannende Grundkonstellation: Jeder spielt eine rolle, die er mit leben füllen kann; jeder Spieler muss mehr oder weniger mit ande-ren interagieren, sei es freundlich oder feindlich. Dies wird auch dadurch bedingt, welchen Servertyp man zu Beginn des Spiels gewählt hat; denn die „World of Warcraft“ ist eigentlich nicht eine welt, sie ist aufgeteilt in viele Server-welten, die grundlegend identisch sind, die sich aber im Spieltyp unter-scheiden: es gibt eher rollenspiellastige Server, auf denen das Spielen der rolle im Vordergrund stehen soll, und andere, zum Beispiel kompetitive Spielarten, bei denen vor allem die Spieler gegen andere Spieler kämpfen.9 Je nachdem, welche Serverart man zu Beginn gewählt hat, wird man auf Spieler treffen, denen das Spielen einer fremden rolle wichtig ist – oder auf Spieler, denen daran gelegen ist, die Spielaufgaben zu erledigen. Insofern kann es sein, dass man auf rollenspie-ler trifft, die einen mit „Darf ich Euch helfen, edle Magie-rin? Möge Elune mit Euch sein!“ ansprechen – aber auch sehr pragmatische Naturen, die mit Alltagssprache und Abkürzun-gen effizient Partner zum Aufgaben erledigen suchen.10

Im Schnitt verbringen WoW-Spieler recht viel zeit mit dem Spiel. Da man die Spielfigur immer weiterentwickeln kann11,

tausende von Abenteuern warten und das Spieldesign so an-gelegt ist, dass man immer wieder motiviert wird, noch eine weitere Aufgabe zu erledigen, verwundert es kaum, dass es viele Spieler gibt, die auf das Jahr gerechnet Tage und gan-ze wochen im Spiel verbringen – viele Aufgaben lassen sich auch nur erledigen, wenn mehrere Stunden ununterbrochen gespielt wird. Dies nimmt natürlich darauf Einfluss, wie „hei-misch“ sich der Spieler in der Spielwelt fühlt. Viele Spieler treten früh einer Gilde bei, das heißt einer sozialen Gemein-schaft im Spiel, die dafür sorgt, dass Gruppenaufgaben ge-ordneter ablaufen. Sie dienen aber auch dem „Sozialleben“ im Spiel, es gibt nämlich durchaus rollenspieler, die über die eigentlichen Spielaufgaben hinaus die welt mit leben füllen wollen: Prominent sind Beispiele von Hochzeiten von WoW-Spielfiguren, das heißt sozialer Beziehungen, die nicht unbedingt etwas mit dem „real life“ (dt. „wahres leben“) zu tun haben müssen. Das bedeutet, dass die Spieler durchaus in der Spielwelt „leben“ und dort in einer sozialen Umgebung interagieren, obwohl es nicht dem Spielziel dient. Auch die „Freundeskreise“ im Spiel decken sich häufig nicht mit denen im realen leben.

zusätzlich zur kommunikation innerhalb des Spiels mit sei-nen vielzähligen Spielmechanismen und komplexen Sozial-strukturen kommt es häufig vor, dass die Spieler auch auf anderem wege miteinander kommunizieren. So ist es für schwierige Aufgaben durchaus sinnvoll, parallel per Voice-

Eine der erfolgreichsten virtuellen Welten ist die Wolrd of Warcraft, ein so genanntes Massive Multiplayer Online Roleplaying Game.

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Chat o. ä. miteinander zu kommunizieren. Viele Spieler kom-munizieren auf mehrerlei Ebenen miteinander: in Spielforen, Gildenwebseiten oder Blogs, was dazu führt, dass sich die Spieler auf mehrerlei Ebenen miteinander austauschen. Im Spiel interagieren sichtlich eine Magierin und ein krieger, die ihre rolle glaubhaft spielen – im Voice-Chat zeigt sich jedoch, dass die Magierin von einem Mann Mitte 40 gespielt wird und der krieger von einer 22-jährigen Frau.

Die Spieler können mit diesem Pendeln zwischen den ver-meintlich entgegengesetzten Identitäten normalerweise sehr gut umgehen; man kann nicht sagen, dass Spieler sich kom-plett von der fantastischen Spielwelt umgarnen lassen und gänzlich in eine andere rolle schlüpfen: vielmehr bietet WoW die Möglichkeit, mit Identität zu spielen, und dies auf man-nigfaltige weise.12 Viele der Spieler haben zudem nicht nur eine Spielfigur, sondern spielen abwechselnd mehrere. WoW bietet also durchaus die Möglichkeit, mit Identität zu spie-len und der Alltagsrealität zu entkommen – wenn auch auf eine durch das Spiel und das Medium eingeschränkte Art und weise. Nichtsdestotrotz sollte man nicht unterschlagen, dass es Spieler gibt, die die realität zugunsten der Spielwelt ver-nachlässigen und „süchtig“ nach WoW werden.13 Dadurch, dass das Spiel erreichbare ziele setzt und Erreichtes unmittelbar entlohnt, ist es vordergründig motivierender als so manche Situation im wahren leben, in der man häufig nicht für gute leistungen entlohnt wird.

Interessant ist, dass es mittlerweile eine ganze wissenschafts-sparte gibt, die sich mit der Erforschung von Spielen und ihrer wechselwirkung mit Mensch und Gesellschaft beschäftigen: Die so genannten Game Studies. Mittlerweile gibt es einige Forschergruppen, zum Beispiel am amerikanischen MIT, die im Spiel eigene Doktorandengilden haben – entsprechend wächst auch die wissenschaftliche literatur, darunter span-nende soziologische Selbststudien.14 Denn wie die „reale“ welt hat auch diese virtuelle welt verschiedene kulturen, gesellschaftliche Schichten, eine Geschichte, aber auch eine sich ständig verändernde Struktur und spannende Entwick-lung, die auf dem sozialen wechselspiel der Figuren basiert. Dies bietet auch für die zukunft Stoff für philosophische, so-zialwissenschaftliche und andere Auseinandersetzungen mit einer „anderen welt“.15

Fußnoten: 1 "Second life" (linden lab, 2003, keine USk-klassifizierung) ist eine virtu-elle welt, die zwischen Simulation und Spiel angesiedelt ist und die in den Medien als Medienrevolution gefeiert wurde, da sie dem Benutzer relativ viel Freiheit gibt.2 Serjoscha wiemer: körpergrenzen: zum Verhältnis von Spieler und Bild in Videospielen. In: Neitzel, Britta/Nohr, rolf F. (Hg.), Das Spiel mit dem Medi-um. Partizipation – Immersion – Interaktion, Marburg 2006, S. 244-260.

Die Spieler können mit diesem Pendeln zwischen den vermeintlich entgegengesetzen Identitäten normalerweise sehr gut umgehen.

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Dr. Christian Hoffstadt ist promovierter Philosoph und be-schäftigt sich unter anderem mit Film/Game Studies und tem-porärer kultur. Momentan arbeitet er in der Nachwuchsför-derung am karlsruhe House of Young Scientists, karlsruher Institut für Technologie (kIT).

3 world of warcraft (Blizzard, 2004, USk ab 12)4 Stand Ende 2010, Eigenaussage des Herstellers. 5 Man unterscheidet in PCs (Player Characters) und NPCs (Non-Player Cha-racters).6 Schmidt, Florian A., Parallel realitäten, Sulgen/zürich 2006, S. 34.7 Die Frage ist, wie der Spieler „im“ virtuellen raum sein kann. Der Spieler kann in die Spielwelt „eingreifen“ und dort eine rolle spielen, aber es gibt eine Grenze der Illusion, in der Spielwelt zu sein. Professionelle Spieler se-hen ein eher abstraktes Spielfeld und konzentrieren sich auf das komplexe Spiel-Interface, Gelegenheitsspieler werden sich mehr „in“ der welt befinden und beispielsweise die Grafik genießen. So können Spiele dem Spieler so real erscheinen, dass z. B. eine virtuelle klippe eine Art Höhenangst auslöst. Der Forscher Michael Nitsche unterscheidet dabei zwei Termini, zum einen den der „personal presence“, d. h. den Grad des Gefühls, sich tatsächlich in der virtuellen welt zu befinden; zum anderen verweist er auf den Begriff der „social presence“, d. h. den Grad des Gefühls, dass andere lebewesen (com-puter- oder spielergesteuert) auch in der welt existieren und auf den Spieler reagieren. Michael Nitsche: Video Game Spaces. Image, Play, and structure in 3D worlds, Camebridge (MA)/london 2008, S. 203ff.8 Charakter, Spielfigur und auch das gebräuchliche „Avatar“ werden hier syn-onym verwendet. 9 world of warcraft schließt damit zum Teil an eine längere Tradition der nicht-digitalen rollenspiele an. 10 z. B. steht „lfg“ für „looking for group“ (dt. “Suche Gruppe“), gefolgt vom ort, an dem die Aufgabe wartet.11 wie im rollenspiel üblich erhalten die Figuren Erfahrungspunkte für erle-digte Aufgaben und besiegte Gegner. Durch Erhalt einer bestimmten Anzahl von Erfahrungspunkten kann der Charakter eine Stufe aufsteigen und damit seine Fähigkeiten verbessern. Je höher die Figur in der Stufe steigt, desto mehr Erfahrungspunkte werden zum Aufstieg nötig. Dadurch ergibt sich, dass man zum Erreichen des Höchstlevels in wow momentan hunderte, wenn nicht tausende Stunden benötigt (abhängig von Spielweise, -erfahrung und Grup-penzusammenspiel). 12 Forscher wie Paul James Gee unterscheiden drei Formen der Identitätsstif-tung, zwischen denen graduell vermittelt wird: Virtual Identity, real Identi-ty und Projective Identity. Die virtual identity beschreibt die Identität des Charakters in der Spielwelt, welche die Handlungsoptionen und die Aussicht auf den Erfolg einer Handlung des Charakters festlegt. Diese ist von der real identity des Spielers zu unterscheiden, welcher sich in seinen Handlungs-möglichkeiten und seinem Selbstbild in vielerlei Hinsicht von dem Charakter unterscheiden mag und dessen reale Beschränkungen (z. B. der senso-moto-rischen Fähigkeiten) zu berücksichtigen sind. Die real identity ist auch der entscheidende Faktor dafür, welches Spiel mit welchem Charakter wie gespielt

wird. Für das erfolgreiche Spiel ist dann die projective identity entscheidend, welche zwischen der realen Identität und der virtuellen Identität ausgehandelt werden muss. Dieses dreiwertige Modell ermöglicht es, viele verschiedene Ar-ten der projective identity zwischen der realen und der virtuellen Identität auszumachen, zwischen denen diese vermittelt bzw. pendelt. D. h. es gibt un-terschiedliche Grade der Identifikation des Spielers mit dem Charakter, die nicht einseitig beschreibbar sind. Vgl. James Paul Gee: what Video Games have to teach us about learning and literacy, New York 2003., S. 54ff. Die Grenzziehung zwischen realer und fikti-onaler welt ist heute ein großer Diskussionspunkt in den so genannten Game Studies. Jesper Juul beschreibt beispielsweise die Grenze zwischen realer welt und fiktionaler Spielwelt in Anlehnung an den bekannten Spieltheoretiker Huizinga als „magic circle“. Vgl. Jesper Juul: Half-real. Video Games between real rules and Fictional worlds, Cambridge (MA)/london 2005, S. 164f.13 Es ist umstritten, ob Spiele- und onlinesucht wirklich einem medizinischen Begriff von Sucht gerecht werden. weiterführend hierzu: GAME oVEr!DoSE. world of warcraft und Sucht. In: An den Grenzen der Sucht – on the edge of addiction – Aux confins de la dependance, hg. von Christian Hoffstadt/remo Bernasconi, Bochum/Freiburg 2009, S. 151-158. [reihe Aspekte der Medizin-philosophie, Bd. 8]14 Vgl. william Sims Bainbridge: The warcraft Civilization. Social Science in a virtual world, Cambridge (MA)/london 2010.Vgl. auch Celia Pearce/Artemesia: Communities of Play. Emergent Cultures in Multiplayer Games and Virtual worlds, Cambridge (MA)/london 2009. Man beachte, dass die Autorin sowohl ihren realen wie auch ihren virtuellen Avatar-Namen verwendet!15 Für weitere Aspekte vgl. Christian Hoffstadt/Michael Nagenborg: Game Developers, Gods and Surveillance. In: luke Cuddy/John Nordlinger (eds.): world of warcraft and Philosophy, Chicago 2009, pp. 195-202. Siehe auch Christian Hoffstadt/Michael Nagenborg: The Concept of war in the world of warcraft. In: Conference Proceedings of the Philosophy of Computer Games 2008, Potsdam 2009, S. 126-141.

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Staatsministerium Baden-württembergStaatsrätin für interkulturellen und interreligiösen Dialog sowie gesellschaftliche werteentwicklung

REDAKTION

Prof. Dr. regina Ammicht Quinn Dr. Michael Blume lisa StengelYonca Yazıcı

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www.heimatundidentitaet.de

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KONZEpTION & GESTALTUNG

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Druckhaus - Stil, Stuttgart

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