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Helden des Holocaust: Polen, das Warschauer Ghetto und Jeschua Dr. Mitch Glaser, Präsident Chosen People Ministries The Lausanne Consultation on Jewish Evangelism North America 5. - 7. März 2012 Einleitung Viele Jahre glaubte ich, dass für den heute Forschenden kaum Informationen verfügbar seien, die die Lage der jüdischen Gläubigen (messianische Juden, hebräische Christen usw.) im Warschauer Ghetto beschreiben. Rabbi Dan Cohn-Sherboks kurze Aussage in seinem Buch Messianic Judaism (Messianisches Judentum) fasst meine Forschungsergebnisse genauso zusammen. Nach dem Holocaust konnten die Missionswerke ihre Arbeit unter dem jüdischen Volk in den Städten, in denen die jüdische Bevölkerung weitestgehend eliminiert worden war, nicht mehr weiterführen. In Warschau zum Beispiel überlebten nur einige hundert Juden den Krieg; die meisten der dort ansässigen Mitarbeiter flohen vor Ausbruch des Krieges, während andere im Warschauer Ghetto oder in einem der zahlreichen Konzentrationslager starben. 1 Aber, ist dies wirklich alles, was wir wissen können? Die Antwort ist: ja und nein. Es ist immer noch sehr wenig bekannt über das Leben und das Zeugnis der jüdischen Gläubigen im Warschauer Ghetto - insbesondere jener, die sich nicht mit der Katholischen Kirche identifizierten. Dennoch ist mehr als ich dachte verfügbar, was in Betracht zu ziehen ist, besonders wenn wir die katholischen jüdischen Christen in unsere Studie miteinbeziehen. Als persönliche Bemerkung möchte ich erwähnen, dass ich meine Doktoral-Dissertation zum Thema 'Mission unter Juden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts' geschrieben habe und dass diese einen beträchtlichen Teil Holocaust-bezogener Studien beinhaltet. Allerdings begrenzte ich meine Forschung auf die protestantischen Judenmissionen und studierte weder die katholischen Judenmissionen noch die Aktivitäten verschiedener Pfarrgemeinden, Priester und jüdischer Katholiken in dieser Zeit. Seitdem ist mir aber klar geworden, dass die katholische Stimme gehört werden muss, wenn wir die Leiden der an Jesus gläubigen Juden innerhalb des Warschauer Ghettos verstehen wollen, da vieles von dem Material und den Aufzeichnungen, die uns heute zur Verfügung stehen, aus katholischen Quellen stammen. Es ist gerade dieses Material das uns hilft, die an Jesus gläubigen Juden, die die Tragödie des Warschauer Ghettos durchmachten, besser zu verstehen - sowohl katholische als auch nicht katholische Gläubige. Die Bedenken, die viele evangelische Gläubige und messianische Juden vielleicht haben wenn es darum geht, Katholiken miteinzubeziehen, gehen über die Fragen der Glaubenslehre hinaus hin zu dem Problem des weite Kreise betreffenden Namenschristentums, wodurch das Bild des 1 Dan Cohn-Sherbok, Messianic Judaism, (London: Continuum, 2000), 46. 1

Helden im Holocaust: Polen, das Warschauer Ghetto und … · Holocaust-Studien in Yad Vashem ... 8 Emanuel Ringelblum, Notes from the Warsaw Ghetto: The Journal of Emanuel Ringelblum.,

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Helden des Holocaust: Polen, das Warschauer Ghetto und Jeschua

Dr. Mitch Glaser, Präsident Chosen People Ministries

The Lausanne Consultation on Jewish Evangelism North America

5. - 7. März 2012

Einleitung

Viele Jahre glaubte ich, dass für den heute Forschenden kaum Informationen verfügbar seien,die die Lage der jüdischen Gläubigen (messianische Juden, hebräische Christen usw.) imWarschauer Ghetto beschreiben. Rabbi Dan Cohn-Sherboks kurze Aussage in seinem BuchMessianic Judaism (Messianisches Judentum) fasst meine Forschungsergebnisse genausozusammen.

Nach dem Holocaust konnten die Missionswerke ihre Arbeit unter dem jüdischen Volk in denStädten, in denen die jüdische Bevölkerung weitestgehend eliminiert worden war, nicht mehrweiterführen. In Warschau zum Beispiel überlebten nur einige hundert Juden den Krieg; diemeisten der dort ansässigen Mitarbeiter flohen vor Ausbruch des Krieges, während andere imWarschauer Ghetto oder in einem der zahlreichen Konzentrationslager starben.1

Aber, ist dies wirklich alles, was wir wissen können? Die Antwort ist: ja und nein. Es ist immernoch sehr wenig bekannt über das Leben und das Zeugnis der jüdischen Gläubigen imWarschauer Ghetto - insbesondere jener, die sich nicht mit der Katholischen Kircheidentifizierten. Dennoch ist mehr als ich dachte verfügbar, was in Betracht zu ziehen ist,besonders wenn wir die katholischen jüdischen Christen in unsere Studie miteinbeziehen.

Als persönliche Bemerkung möchte ich erwähnen, dass ich meine Doktoral-Dissertation zumThema 'Mission unter Juden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts' geschrieben habe unddass diese einen beträchtlichen Teil Holocaust-bezogener Studien beinhaltet. Allerdingsbegrenzte ich meine Forschung auf die protestantischen Judenmissionen und studierte weder diekatholischen Judenmissionen noch die Aktivitäten verschiedener Pfarrgemeinden, Priester undjüdischer Katholiken in dieser Zeit. Seitdem ist mir aber klar geworden, dass die katholischeStimme gehört werden muss, wenn wir die Leiden der an Jesus gläubigen Juden innerhalb desWarschauer Ghettos verstehen wollen, da vieles von dem Material und den Aufzeichnungen,die uns heute zur Verfügung stehen, aus katholischen Quellen stammen. Es ist gerade diesesMaterial das uns hilft, die an Jesus gläubigen Juden, die die Tragödie des Warschauer Ghettosdurchmachten, besser zu verstehen - sowohl katholische als auch nicht katholische Gläubige.

Die Bedenken, die viele evangelische Gläubige und messianische Juden vielleicht haben wennes darum geht, Katholiken miteinzubeziehen, gehen über die Fragen der Glaubenslehre hinaushin zu dem Problem des weite Kreise betreffenden Namenschristentums, wodurch das Bild des

1 Dan Cohn-Sherbok, Messianic Judaism, (London: Continuum, 2000), 46.

1

messianischen Glaubens im Ghetto verzerrt wird. Wenn man verstanden hat, dass es sicherlichFälle von Namenschristentum gab, von synkretistischem religiösem Nationalismus und vonGläubigen der soundsovielten Generation, die vielleicht nie eine „Bekehrungserfahrung“ alsErwachsene hatten, dann ist das katholische Zeugnis dennoch glaubwürdig und wichtig; dazukommt die Tatsache, dass viele der Katholiken einen echten Glauben an Jesus hatten. Wirmüssen auch daran denken, dass es auch unter jüdischen protestantischen Gläubigen viele Fällevon Namenschristentum gab, insbesondere unter Kindern, die durch örtliche evangelischeKirchen oder sogar durch Judenmissionen zum Glauben gekommen waren, obwohl in diesenFällen ein Namenschristentum von Erwachsenen nur selten vorgekommen sein dürfte.2

Das Ziel dieses Aufsatzes ist es, die heutige messianische Bewegung mit den jüdischenGläubigen des Warschauer Ghettos bekannt zu machen und mit ihrem einzigartigen Zeugnisund ihren Beiträgen sowohl zum jüdischen Leben als auch zum christlichen Gemeindeleben.Diese messianischen Juden waren unerwartet und unfreiwillig Helden. Sie sind jedoch eindynamischer Teil unseres Erbes, von dem eine neue Generation messianischer Juden sichinspirieren lassen und einige entscheidend wichtige Lektionen lernen könnte, wenn sie es besserkennen und verstehen würde.

Die Auswirkung des Holocaust auf die Evangelisation unter den Juden

Der Holocaust war die größte Bedrohung für das Überleben des jüdischen Volkes seit derBabylonischen Gefangenschaft. Eine Vielzahl anderer Bedrohungen formte die jüdischeGemeinschaft um, darunter die Kreuzzüge, Vertreibungen, Pogrome und die bis heuteandauernden Konflikte im Zusammenhang mit der Errichtung des modernen Staates Israel.Jedoch ist die durch den Holocaust hervorgerufene Dezimierung der jüdischen Bevölkerungund die Zerstörung jüdischen Lebens nicht zu vergleichen mit irgendeinem anderen heutigenTrauma, das über das jüdische Volk gebracht wurde.

Die Auswirkung dieser Tragödie auf die allgemeine jüdische Bevölkerung war massiv, wieauch die Auswirkung auf die Gemeinschaft der jüdischen Nachfolger Jesu, die sich in den vomHolocaust betroffenen Ländern an einer florierenden Gemeinschaft hatten erfreuen können. DieAnzahl jüdischer Gläubiger, die in Europa vor dem Holocaust lebte, ging in die Hundert-tausende, und die meisten wurden entweder umgebracht oder sie zogen in andere Länder derErde. Dies bewirkte eine mehr als zwanzig Jahre dauernde Schwächung der messianischenBewegung.3 Die hierauf folgende Verlagerung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur vonEuropa nach Nordamerika war nur ein weiteres Beispiel dafür, welche Auswirkungen der

2 Siehe Mitchell Glaser, A Survey of Missions to the Jews in Continental Europe 1900-1950, (Ph.D.Dissertation,1998), 25-56

3 Einige bezweifeln, ob die Bewegung jüdischer Gläubiger in Europa als messianisch betrachtet werden sollte odernicht, da sie scheinbar mehr an die heidenchristliche Kirche und deren Ausdruck des Glaubens angegliedert war.Dies ist eine Studie außerhalb des Betrachtungsbereichs von diesem Kapitel, trotzdem sollte angemerkt werden,dass sich diese jüdischen Gläubigen in ihren eigenen Gemeinschaften und Bibelstudienkreisen trafen und ihreGottesdienste vorrangig auf Jiddisch oder Ladino gehalten wurden. Wenn jemand ein eher soziologisches undethnisches Verständnis jüdischer Identität annimmt (wie Hitler es tat), dann war diese Bewegung in ihrer Art undWeise ganz klar sehr jüdisch.

2

Holocaust auf messianisch-jüdisches Leben hatte, und dies hat eine neue und veränderteIdentität der Gemeinschaft geformt.4

Wir leben noch immer im Schatten des Holocaust, und die heutige messianische Bewegung unddie Bewegungen innerhalb der Judenmission können nicht verstanden werden, wenn keintiefergehendes Verständnis von dem entwickelt wird, was sich unter unseren geistlichenVorvätern vor, während und nach dem Holocaust ereignet hat.

Seit vielen Jahren hören wir leidenschaftliche und aufrichtige Fürsprecher der heutigenmessianischen Bewegung, deren Anfänge wir in die späten 1960er Jahre datieren können, dieunsere Bewegung als den lange erwarteten Beginn der „Endzeit“ verkünden, und dass es jetztmehr messianische Juden gäbe als jemals zuvor in der Geschichte - das erste Jahrhunderteingeschlossen.

Ich möchte nicht über Zahlen diskutieren (obwohl ich vermute, dass es in den Jahrenunmittelbar vor dem Holocaust mehr an Jesus gläubige Juden gegeben haben könnte als heute),sondern mehr die dramatische Bedeutung dessen betonen, was Gott durch die jüdischenGläubigen, die den Holocaust durchlebten, und - in seltenen Fällen - überlebten, vollbracht hat.

Die Errungenschaften und das Zeugnis jüdischer Gläubiger während des Holocaust, undbesonders im Warschauer Ghetto, sind den meisten zur Zeit lebenden jüdischen Gläubigen imwesentlichen unbekannt. Wir stehen auf den Schultern dieser Helden des Holocaust – denjüdischen Gläubigen des Warschauer Ghettos – und ihre Geschichte muss erzählt werden, wieviel oder wie wenig wir auch darüber wissen.

Die Informationsquellen

Ich bin besonders dankbar für das umfangreiche und informative Buch von Peter F. Dembowskimit dem Titel Christians in the Warsaw Ghetto (Christen im Warschauer Ghetto), welchesvielleicht die beste englischsprachige Informationsquelle bezüglich der jüdischen Gläubigen imWarschauer Ghetto ist.5 Ganz offensichtlich handelte es sich hier bei Dembowski, der dieseschrecklichen Ereignisse selbst durchlebte, um einen hingebungsvollen Liebesdienst.6

4 Diese messianische Bewegung wandelt sich gerade wieder, da die russisch-messianische Bewegung weiterexpandiert, Institutionen entstehen und die Hauptausrichtung der modernen messianischen Bewegung sich dahinverschiebt, mehr Israel-zentriert zu werden.

5 Peter Dembowski, Christians in the Warsaw Ghetto: An Epitaph for the Unremembered, (Notre Dame:University of Notre Dame Press, 2005).

6 Ausgezeichneter emeritierter Professor für romanische Sprachen und Literatur an der Universität Chicago.Dembowski, geboren und aufgewachsen in Warschau, Polen, war in den Untergrundaktivitäten der PolnischenHeimatarmee involviert und nahm am Polnischen Aufstand teil. Er war zweimal Gefangener der Deutschen –zuerst in dem verrufenen Gefängnis, bekannt als Pawiak, wo Kameraden korrupte Gestapo-Leute bestachen, umseine Freiheit zu erreichen, und später im Stalag XB Sandbostel, wo er bis zur Befreiung des Lagers durch dieBriten blieb. Nach der Befreiung trat Dembowski in die Polnischen Streitkräfte im Westen ein. Für seinenKriegsdienst wurde er zweimal ausgezeichnet: mit dem Polnischen Tapferkeitskreuz und dem SilbernenVerdienstkreuz mit Schwertern.

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Laut Dembowski gibt es sehr wenige Primärquellen, um die Rolle der jüdischen Christen imWarschauer Ghetto zu studieren, und auch Sekundärquellen gibt es kaum. Er erwähnt einenArtikel der zeitgenössischen jüdischen Historikerin Havi Ben-Sasson, in dem sie die Heraus-forderung, verfügbare Studienquellen zu finden, zusammenfasst. Dembowski sagt,

Bis zu Havi Ben-Sassons kürzlich erschienenem Artikel – „Christians in the Ghetto“(„Christen im Ghetto“) – einer informativen und bibliografisch reichhaltigen,einführenden Studie, geschrieben von einer Mitarbeiterin der Internationalen Schule fürHolocaust-Studien in Yad Vashem – gab es keine Werke in englischer Sprache, dieinsbesondere das Vorhandensein christlicher Juden im Warschauer Ghetto behandeln.“7

Einige andere Quellen beziehen Dr. Todd M. Endelman ein, den William Haber ProfessorModerner Jüdischer Geschichte an der Universität von Michigan. Er hat sehr ausführlich überdas Thema der zum Christentum „konvertierten Juden“ geschrieben und veröffentlichte einenArtikel im Jahr 1997 mit dem Titel „Jewish Converts in Nineteenth-Century Warsaw: AQuantitative Analysis“ („Jüdische Konvertiten im Warschau des Neunzehnten Jahrhunderts:Eine quantitative Analyse“) im Journal for Jewish Social Studies (Journal für JüdischeSozialstudien), New Series, Vol. 4, No. 1 (Autumn, 1997), pp. 28-59. Er ist auch der ehemaligeDirektor des Jean & Samuel Frankel Zentrums für Judäische Studien und schreibt eher aus demBlickwinkel des jüdischen „Mainstream“.

Emanuel Ringelblum schrieb in seiner Rolle als der leitende Historiker des Ghettos das„Togbukh fun varsherver geto“ (Tagebuch vom Warschauer Ghetto). Ringelblum versteckte dasTagebuch mit begleitenden Quellendokumenten vor den Nazis in Milchkannen, die 1948entdeckt wurden. Als sozialistischer Hardliner und jemand, der die traditionellen europäischenVorurteile gegen jüdische Nachfolger Jesu verkörperte, nahm er grundsätzlich eine ehernegative und harsche Sichtweise bezüglich der jüdischen Gläubigen ein.8

7 Ben-Sasson, Havi. 2003. „Christians in the Ghetto: All Saints Church, Birth of the Holy Virgin Church and theJews of the Warsaw Ghetto.“ Yad Vashem Studies 31:153-73. Dembowski empfiehlt auch die folgendenzusätzlichen Quellen: Marian Malowist, „Assimilationists and Neophytes in the Time of War - Operations in theClosed Jewish Quarter“,( Assimilationisten und Neophyten in der Zeit des Krieges - Tätigkeiten im geschlos-senen Jüdischen Viertel) geschrieben in polnischer Sprache und kurz vor dem Sommer 1942 von einemjüdischen Gläubigen zusammengestellt, der später Professor für Geschichte an der Universität von Warschauwurde. Er übersetzte seinen Aufsatz und dieser ist in einer Sammlung von Dokumenten enthalten, die denRingelblum-Archiven entnommen wurden. Er führt weitere Arbeiten auf, die nach dem Krieg in polnischerSprache geschrieben wurden; Iwona Stefanczyk „Christliche Juden im Warschauer Ghetto“ (1997), RutaSakowska „Die Christen im Ghetto“, (1993), S. 138-140, Barbara Engelking und Jacek Leociak „KatholischeJuden im Warschauer Ghetto“ (2001), S. 620-624 und Marian Fuks „Christen im Warschauer Ghetto“,enthalten in From the History of the Great Catastrophe of the Jewish People (1996), S. 63-67 (Von derGeschichte der großen Katastrophe des jüdischen Volkes). Fuks ist, nach Dembowski, ein Nachkomme„getaufter Juden“. Dembowski fügt hinzu, dass es einige Dokumente in englischer und polnischer Sprache gibt,von denen viele im Jüdischen Historischen Institut und in Warschau erhalten sind. Viele dieser Dokumente,geschrieben in polnischem Jiddisch oder häufig in jiddischer Sprache, wurden ins Polnische übersetzt, editiertund mit wichtigen Kommentaren und Anmerkungen veröffentlicht, aber einige von ihnen sind immer nochunveröffentlicht. Einige Dokumente aus der Warschauer Kriegszeit enthalten spezifische Information überchristliche Juden, die auch relativ oft in der umfangreichen polnischen Nachkriegsliteratur erwähnt werden unddie das Retten und Verstecken der Juden betreffen, welche es geschafft hatten, sich außerhalb des Ghettoswiederzufinden. Ein Großteil dieser Informationen ist in der jüdischen und nichtjüdischen Literatur verstreut.

8 Emanuel Ringelblum, Notes from the Warsaw Ghetto: The Journal of Emanuel Ringelblum., ed. and trans. JacobSloan (New York: IPicturebooks, 2010).

4

Eine weitere Schlüsselquelle für Informationen über jüdische Gläubige, und im Besonderen diekatholischen Juden, kann in dem Buch mit dem Titel The Story of One Life (Die Geschichteeines Lebens) gefunden werden, von Dr. Ludwik Hirszfeld geschrieben und 2010 in englischerSprache veröffentlicht, übersetzt durch Marta A. Balinska.9 Dieser Band, auch Historiagenannt, wurde 1943-1944 während der Zeit niedergeschrieben, als Hirszfeld sich auf demLand in Polen versteckte, nachdem er direkt vor der Aktion aus dem Ghetto geflüchtet war. LautDembowski sind die bedeutendsten Kapitel in diesem Buch jene, welche das Leben desAutoren als einen christlichen Juden im Ghetto beschreiben. Es ist einzigartig, da es ein seltenesbiographisches Werk eines jüdischen Christen ist.10

Ich schätze Dembowskis Werk sehr, allerdings schreibt er innerhalb eines engenBezugsrahmens, der sich aus seiner katholischen Ausrichtung ergibt, und es fehlt ihm dieVertrautheit mit der Gemeinschaft der Werke für Judenmission und anderen protestantischenGemeinschaften. Neben den oben genannten Büchern und Tagebüchern erwähnt er fünf weitereInformationsquellen, die Schlüssel für ein besseres Verstehen der jüdischen Gläubigen imWarschauer Ghetto sein könnten. Diese fünf sind: deutsche Dokumente, persönlicheTagebücher, Dokumente, die im Ghetto geschrieben wurden und noch nicht zusammengestelltsind, Memoiren Überlebender, die nach den Ereignissen geschrieben wurden und kritischeKommentare, geschrieben von Historikern, welche die oben genannten Materialien nutzen.11

Leider zieht er nicht die „Journals of the Jewish Mission Agencies“ oder die Dokumente desInternational Missionary Council’s Committee on the Christian Approach to the Jews inBetracht. Diese Gesellschaften hielten während jener Zeit mehrere Treffen ab, und es gibt eineAnzahl weiterer Artikel, Biographien und vielfältige Materialien, die die Unternehmungen derjüdischen Gläubigen beschreiben, die entweder Protestanten waren oder die mit denGesellschaften für Judenmission verbunden waren, die zu der Zeit in Warschau arbeiteten.12

Und dabei liegt er vollkommen richtig, wenn es um Dokumente aus Primärquellen geht. Es gibtnur sehr wenige davon, und die meisten Missionsberichte waren Sekundärmaterialien, diegeschrieben wurden, nachdem das Ghetto zerstört worden war. Ein wichtiges Ergebnis desSchreibens dieses Aufsatzes ist die Feststellung, dass ein weiteres Sichten der missionarischenund protestantischen Unterlagen durchgeführt werden muss, um weitere Informationen über dieRolle und Aktivitäten der nicht-katholischen jüdischen Gläubigen des Ghettos zu sammeln.

9 Ludwik Hirszfeld, The Story of One Life, ed. and trans. Marta A. Balinska, ed. William Schneider, (Rochester:University of Rochester Press, 2010).

10 http://www.amazon.com/Ludwik-Hirszfeld-Rochester-Studies-Medical/dp/158046338X

11 Dembowski, 41.

12 Tagebücher der British Jews Society, der Church's Ministry Among the Jews, des American Board of Missionsto the Jews und die Aufzeichnungen der polnischen Baptisten, der reformierten und presbyterianischen Kirchen,um nur einige zu nennen.

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Die Nazi-Invasion und die Errichtung des Warschauer Ghetto

Dr. Todd Endelman gibt uns eine gute Beschreibung des Wachstums der jüdischenGemeinschaft Warschaus:

Obwohl die russische Kontrolle die Entwicklung eines modernen politischen Systems in Polenhemmte, wurde die polnische Hauptstadt dennoch ein dynamisches, industrielles Handels-zentrum. Dies, zusammen mit der Lockerung der Restriktionen in Bezug auf jüdischeAnsiedlung, ermutigte jüdische Einwanderung in eine Stadt, welche vormals von geringerBedeutung im polnisch-jüdischen Leben war. Die jüdische Bevölkerung wuchs von 16.000 imJahr 1816 auf 41.000 im Jahr 1856 und schoss bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges hoch auf337.000. Um die Mitte des Jahrhunderts war die jüdische Bevölkerung Warschaus sogar diegrößte der Welt. Wegen ihrer sowohl ökonomischen als auch religiös-kulturellen Unterteilungwar sie einem vielfältigen Druck von Säkularisierung und Anpasssung ausgesetzt, der ähnlich,aber nicht identisch war mit dem, der die Gemeinschaften weiter westlich beeinflusste.13

Die Nazis fielen 1939 in Polen ein und innerhalb kurzer Zeit wurden antijüdischeVerordnungen bekanntgegeben und durchgeführt, welche zu der Errichtung dessen führten, wasals das Warschauer Ghetto bekannt werden sollte. Auch in anderen polnischen Städten mit einerzahlreichen jüdischen Bevölkerung, wie Lodz und Vilna, errichteten die Nazis Ghettos.14

Der folgende Abschnitt des Web-basierenden Teachers Guide to the Holocaust (Leitfaden fürLehrer zum Holocaust), bietet einen kurzen Überblick über die grundlegenden Tatsachen, diedas Warschauer Ghetto betreffen.15

Es wurde im November 1940 errichtet, war von einer Mauer umgeben und umfasste nahezu500.000 Juden.16 Ungefähr 45.000 Juden starben dort allein im Jahr 1941 wegen Überfüllung,harter Arbeit, fehlender sanitärer Einrichtungen, mangelnder Nahrung, Hunger und Krankheit.Im Laufe des Jahres 1942 wurden die meisten der Ghettobewohner nach Treblinka deportiert,ungefähr 60.000 Juden blieben im Ghetto zurück.17 Im April 1943 fand ein Aufstand statt, als dieDeutschen, kommandiert von General Jürgen Stroop, versuchten, das Ghetto aufzulösen und dieübriggeblieben Bewohner nach Treblinka zu deportieren.18 Die Verteidigungskräfte, komman-

13 Todd M. Endelman, „Jewish Converts in Nineteenth-Century Warsaw: A Quantitative Analysis,“ in JewishSocial Studies, New Series, vol. 4. no. 1 (Autumn, 1997), 30.

14 http://fcit.usf.edu/holocaust/timeline/ghettos.htm

15 http://fcit.usf.edu/holocaust/timeline/ghettos.htm

16 http://fcit.usf.edu/holocaust/resource/gallery/G1941W1.htm#22058http://fcit.usf.edu/holocaust/resource/gallery/G1941W2.htm

17 http://fcit.usf.edu/holocaust/timeline/ghettos.htm

18 http://fcit.usf.edu/holocaust/resource/gallery/G1941WGU.HTMhttp://fcit.usf.edu/holocaust/resource/gallery/WGU2.htm

6

diert von Mordecai Anielewicz, umfasste alle jüdischen politischen Parteien. Der erbitterteKampf dauerte achtundzwanzig Tage und endete mit der Zerstörung des Ghettos.19

Die folgende Zusammenfassung der vier Hauptabschnitte des Warschauer Ghettos könntenützlich sein:

1. Oktober 1939 - November 1940: die stufenweise Isolation und Sammlung der jüdischenBevölkerung.

2. November 1940 - Juli 1942: das Ghetto wurde zu der „Anderen Seite“ abgeriegelt.

3. 22. Juli 1942 - 15. September 1942: die „Umsiedlung“, auf die sich ebenso die deutschesprachliche Verhüllung, die Aktion, bezieht, der Transport in ein Vernichtungslagerund die Liquidierung von mehr als 300.000 jüdischen Menschen.

4. Oktober 1942 - 1943: Der Aufstand des jüdischen Widerstands durch die verbleibendejüdische Bevölkerung im Ghetto, gefolgt von der totalen Zerstörung des Ghettos.20

Emanuel Ringelblum beschreibt in seinen Notes from the Warsaw Ghetto (Notizen aus demWarschauer Ghetto) einen detaillierteren zeitlichen Ablauf des Ghettos.21 Es gibt vieleWebseiten und Bücher, welche ebenfalls die Errichtung, das Leben und die Bedingungen unddie letztendliche Zerstörung des Ghettos und des polnischen Judentums im Einzelnenbehandeln.22

Überblick über die Werke für Judenmission in Polen vor dem Krieg

Martin Parsons, ein nicht-jüdischer und ordinierter Missionar für das jüdische Volk bei TheChurch's Ministry among Jewish People (CMJ, gegründet im Jahr 1809) gibt einen Umrissbezüglich der Werke für Judenmission in Warschau. Der folgende Auszug wurde 1937 in Wien,zwei Jahre vor der Invasion der Nazis, auf einem Treffen der International Missionary Council'sCommittee on the Christian Approach to the Jews (ein Vorläufer der LCJE) präsentiert.

Das American Board of Missions (heute: Chosen People Ministries) hat ein Zentrum inWarschau auf der Ostseite des Flusses. Neben der allgemeinen evangelistischen Arbeit haben siePlatz für Ratsuchende. Die Mildmay Mission (heute: Messianisches Zeugnis) hat einen Saal imjüdischen Viertel in Warschau und ihre Arbeit dient hauptsächlich ärmeren Juden. Die AmericanEuropean Fellowship ist in Warschau und arbeitet im Besonderen unter Kindern. Sie haben eine

19 http://fcit.usf.edu/holocaust/timeline/ghettos.htm

20 Dembowski, 43.

21 Ringelblum, 348-360. Siehe auch http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Ringelblum_Emanuel

22 Siehe Bibliographie

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Villa bei Radoso, die im Sommer für die Kinderarbeit genutzt wird. Die Bethel Mission in Lodzhat ein evangelistisches Zentrum und ein Freizeitlager. Außerdem gibt es in Polen einenpfingstlerischen Evangelisten, ein Mitglied von den Offenen Brüdern, ein Mitglied derGeschlossenen Brüder und einige private Evangelisten, die aus dem Glauben leben. Die vierDienste in Warschau arbeiten eng zusammen.23

CMJ erbaute im Jahr 1927 die Emmanuel Halle, welches ein Vorzeigeobjekt für messianischeGläubige in Warschau wurde. Insbesondere drei jüdische Gläubige waren überragende Leiterfür die Bemühungen des CMJ in Polen: H. C. Carpenter, Paul Levertoff und J. L. Landsmann.Martin Parsons übernahm 1927 die Leitung, nachdem Carpenter in den Ruhestand gegangenwar, und führte das Werk bis zur Invasion der Nazis weiter.24 Viele erfolgreiche Missionaredienten CMJ während dieses Zeitraums, unter ihnen nicht zuletzt Bazyli Jocz, Vater vonJakób.25

Überblick über die Werke für Judenmission in Polen während des 2. Weltkrieges

Als die Nazis 1939 in Polen einfielen, herrschten bereits schreckliche Bedingungen unter denJuden. Aber nach der Invasion erreichte die Endlösung Polen wie ein rasender Höllensturm.Juden und Missionare für die Juden wurden zusammengetrieben, in Konzentrationslagergebracht oder umgebracht. Die allgegenwärtigen Bombardierungen Polens fügten dem Landebenso großen Schaden zu. Überall war Chaos und die Arbeit der Missionswerke kam zumvölligen Stillstand, von dem sie sich nie wieder erholen sollte.

Gemäß einem frühen Bericht des International Missionary Council's Committee on theChristian Approach to the Jews (IMCCAJ):

Tausende Hinrichtungen werden berichtet. Hunderttausende sind in Konzentrationslagernund Zwangsarbeitslagern. Dreieinhalb Millionen Juden sind der schlimmsten Rachsucht derNazis ausgesetzt. Weitere zweihunderttausend aus allen Teilen des Reiches bilden einschreckliches Ghetto bei Lublin, in dem zu ihrem Leiden noch Elend und Seuchehinzukommen.

Viele einheimische Missionare sind hier durch den Krieg abgeschnitten und die Arbeit allerbritischen Gesellschaften kann nicht fortgesetzt werden. Die Arbeit der dänischen Missionin Lvov ist auch beendet worden. Es ist nicht bekannt, ob das American Board nocharbeitsfähig ist. Einige Missionare aus den kleinen baltischen Staaten sind ebenfalls unterden Flüchtlingen.

Alle missionarischen Tätigkeiten in den deutschen Gebieten, die früher von britischenGesellschaften getragen wurden, sind mutmaßlich am Ende. Die umfangreiche Arbeit inPolen ist eingestellt worden, einschließlich die der Church Mission to the Jews, der British

23 IMCCAJ Wiener Konferenz 1937

24 http://www.parsonsfamily.co.uk/martin_autobiography/poland.php

25 http://www.ha-gefen.org.il/len/aalphabetic%20presentation/c13760/159845.php http://www.thefreelibrary.com/The+legacy+of+Jakob+Jocz.-a014377469

8

Society for the Propagation of the Gospel Among the Jews, der Mildmay Mission to theJews und der Barbican Mission.26

Auch das Warschauer Gebäude des CMJ wurde bei einem Bombenangriff der Nazis zerstört:

Vier Bomben fielen auf die Missionsgebäude der Church's Mission among Jewish People inWarschau, welche zusammen mit den Unterkünften der Missionare zerstört wurden.Eigentum im Wert von £20.000 ging verloren. R. Allison, der Missionar in Lvov, flüchtetegerade noch vor dem Einmarsch der Russen nach Rumänien und es findet dort keineorganisierte Missionsarbeit mehr statt.27

Die Werke für Judenmission in Polen starben zusammen mit mehr als 800.000 jüdischenMenschen. Das größte der offenen und aktiven Arbeitsfelder unter dem jüdischen Volk um desEvangeliums Willen war vorbei; der Krieg kennzeichnete das Ende eines Volkes und das Endeeiner Ära.

Die Anzahl jüdischer Gläubiger im Warschauer Ghetto

Es gab zwei Hauptgruppen jüdischer Gläubiger im Warschauer Ghetto: Katholiken undProtestanten. Ich bin mir bewusst, dass diese Beschreibung für moderne und eher „messianischeOhren“ hart klingt. Wir wünschten, wir könnten die jüdischen Gläubigen in Katholiken,Protestanten und messianische Juden unterteilen, aber zum größten Teil würde die Gruppe, diewir messianisch nennen würden, sich als Protestanten identifizieren. Du warst entwederKatholik oder nicht, es sei denn du warst jüdisch und eingebunden in einem der Missionswerke;und doch gab es eine kleine Bewegung in Polen, die eine „mehr authentische“ jüdischeAusdrucksweise des Glaubens suchte. Das Ghetto würde jeden einschließen!

Es ist keine Frage, dass die jüdischen Menschen, die mit den Werken für Judenmission in Polenund Warschau verbunden waren - und das können Tausende gewesen sein - gezwungenwurden, in das Ghetto zu gehen. Es spielte keine Rolle, ob du als Jude Sozialist, Katholik,Protestant oder mit einem der Werke für Judenmission verbunden warst – keine jüdische Personwurde von den Schrecken des Ghettos und der darauffolgenden Todesfahrt nach Treblinkaausgenommen – falls sie lange genug lebte, um dahin zu kommen.

Die Diskussion um die jüdische Identität, die für die polnischen jüdischen Gläubigen vor demKrieg wichtig war, war beendet, da das Leben im Ghetto zu ihrer jüdischen Identität wurde.

Dembowski erklärt, wie er die Anzahl der jüdischen Gläubigen bestimmte, die in derHochphase im Warschauer Ghetto lebten, und er vermutet, dass die Anzahl der jüdischenChristen – von denen die Mehrheit Katholiken waren, zwischen 5.000 und 6.000 gewesen seinmag. Er erwähnt einen Bericht im Jüdischen Anzeiger (die als eine von den Nazis kontrollierteVeröffentlichung betrachtet wird), der aussagt, die Menge wäre etwa um 2000 – beruhend aufeiner Zählung von 1939. Wie auch immer, dies würde bedeuten, dass viele der jüdischen

26 IMCCAJ 1940:1

27 IMCCAJ 1940:1

9

Christen, die nach 1939 in das Ghetto beordert wurden, nicht gezählt worden sind und dass diejüdischen Gläubigen sich als protestantisch oder katholisch angesehen haben. Die Anzahl wareindeutig höher – vielleicht sogar höher als die Zahl 5 - 6.000.

Die zuverlässigste Zahl, so Dembowski, kann der Untersuchung der zeitgenössischen römisch-katholischen Historiker Zdzislaw Kroll und Tadeusz Karolak entnommen werden, die dieAnzahl mit ungefähr 5.000 bestimmten.28

Dembowski stellt fest, „da waren 5.200 Christen im Ghetto, die meisten von ihnen römisch-katholisch.“29 Diese Zahl, so scheint es, basiert zuallererst auf mündlicher Überlieferung undden Registraturen der drei Pfarreien im Ghetto, obwohl deren Dokumente vernichtet wordenwaren und nach dem Krieg wiederhergestellt werden mussten. Die hoch angesehenen MaryBerg und der Priester im Ghetto, Rev. Antoni Czarnecki, bestätigen ebenfalls Zahlen in diesenGrößenordnungen.30 Außerdem hat Philip Friedman, ein jüdischer Historiker des WarschauerGhettos, in dieser Studie, die erstmals 1957 veröffentlicht wurde, versichert, „in Warschauwurde mehr als 6.000 getauften Juden von den Nazis befohlen, in das Ghetto umzuziehen, wosie ihre eigenen Kirchen gründeten. Lebensmittelpakete wurden ihnen von der Caritaszugeschickt und einige Priester zogen in das Ghetto, um ihren geistlichen Bedürfnissen zudienen.“ 31

Durch eine kurze Aussage von Rachmiel Frydland sind wir in der Lage, Einblick in Bezug aufdie mögliche Anzahl jüdischer Gläubiger im Ghetto zu erhalten. Seine anekdotenhafteSchilderung ist hilfreich, obwohl sein Blickwinkel auf die Anzahl jüdischer Menschen imGhetto auf den ersten Blick nicht überzeugend ist. Er bezieht sich auf das Jahr 1944, und zudiesem Zeitpunkt war das Ghetto bereits zerstört. Es ist möglich, dass er dabei von jüdischenGläubigen im Ghetto spricht. Dies würde die von anderen genannten Zahlen bestätigen.Frydland schreibt:

Da ich mich auf Friedhöfen, in verlassenen Kirchen und den Häusern angsterfüllter Freundehatte verstecken können, war ich spät im Jahre 1944 einer der wenigen überlebenden Judenin Warschau außerhalb des Ghettos. In dieser Enklave waren 5.000 Juden, die letzten vonWarschaus ursprünglich 500.000. Durch Gottes Befähigung schlüpfte ich heimlich in dasGhetto und war in der Lage, einigen der noch lebenden jüdischen Gläubigen Trostzuzusprechen. Andere jüdische Brüder hörten die Botschaft und glaubten an den MessiasJesus. Meine Freunde im Ghetto bestanden darauf, dass ich wieder gehe. Sie sagten, dass,falls Gott mich so weit bewahrt hätte, ich ein Zeugnis der Leiden sein würde, die sie jetzterfahren. Bei Kriegsende könnte ich die Geschichte ihres Leidens erzählen. Ich warmöglicherweise einer der Letzten, die das Ghetto verlassen sollten. Es war kurz danach, dassdie Deutschen das ganze jüdische Gebiet auslöschten.32

28 Dembowski, 66.

29 Dembowski, 68.

30 Dembowski, 145. The Diary of Mary Berg: Growing up in the Warsaw Ghetto

31 Dembowski, 146. Phillip Friedman, Their Brothers' Keepers.

32 http://www.messianicassociation.org/bio-frydland.htm

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Frydland war einer der bekanntesten messianischen jüdischen Überlebenden des Holocaust,dessen Zeugnis aus erster Hand Informationen über das Leben der jüdischen Gläubigen inWarschau vor und, bis zu einem gewissen Grad, während des Krieges lieferte. Frydland reisteschließlich nach England, Israel und danach in die Vereinigten Staaten von Amerika, um demMessias auf verschiedene Art und Weise zu dienen.

Endelman zeigt auf, dass viele Tausende jüdischer Menschen – obwohl immer noch eineMinderheit – vom späten 19. Jahrhundert bis zum Warschauer Ghetto zum Christentum„konvertierten“.33 Er zeigt, dass „Konvertierung“, besonders in Polen, die vielfältigen Schichtenjüdischen Lebens durchdrang, vom Ärmsten bis zum Wohlhabendsten und vom gemeinenArbeiter bis zum ausgebildeten Fachmann.

Seine Forschungsarbeit ist in der Tat eine Antwort auf einen andern polnischen Gelehrten,Teodor Jeske-Choinski, den er als antisemitisch erachtete, obwohl er glaubt, dass dessenUntersuchung die genaue Anzahl jüdischer Gläubiger im Detail aufführt: für das 19. und frühe20. Jahrhundert, so wie ihr Geschlecht, Alter und Beruf.34

Trotzdem bestätigt Endelman immer noch, dass die Anzahl jener, die zum Katholizismus,Protestantismus oder durch die Arbeit der Werke für Judenmission in Polen konvertierten,ungefähr 2.000 Menschen waren.35 Das ist mehr als Jeske-Choinski nahelegt.

Endelman fügt hinzu:

Kein Kritiker hat jemals behauptet, dass er Fälle von Konvertierung oder ihre Einzelheitenerfunden hätte. Tatsächlich liegt das Problem im Gegenteil: die Anzahl von Konver-tierungen in Warschau war größer als die Anzahl, die er aufschrieb. Zusätzlich zu jenen, dieer wegen fehlerhafter Aufzeichnungen unabsichtlich ausließ und jenen, für derenAuslassung er bezahlt wurde, scheint es, dass er jene nicht einschloss, die durchanglikanische Missionare, Beauftragte der London Society for Promoting ChristianityAmong the Jews, getauft wurden, wahrscheinlich, weil er keinen Zugang zu ihrenAufzeichnungen hatte.36

33 Endelman, „Jewish Converts“, 32

34 Endelman, „Jewish Converts“, 38. http://en.wikipedia.org/wiki/Teodor_Jeske-Choinski

35 Endelman, „Memories of Jewishness: Jewish Convents and their Jewish Pasts“, in Jewish History and JewishMemory: Essays in Honor of Yosef Hayim Yerushalmi, ed. Elisheva Carlebach, John M. Efron, and David N.Meyers, (Hanover: University Press of New England, 1998), 316. Nationalisten unternahmen Schritte, Familienjüdischen Ursprungs zu “enttarnen”, und gründeten damit seiner Zeit eine Tradition polnischer Politik. 1904 hatder Kritiker, Editor und Novellist Teodor Jeski-Choinski ein Buch veröffentlicht, in dem er alle Juden auflistet,die in Warschau zwischen 1819 und 1903 getauft wurden. Seine Motive waren sowohl ideologisch als auchgewinnsüchtig: einige wohlhabende Konvertiten und Kinder von Konvertiten gaben Schweigegeld und baten,ihre Namen aus den Aufzeichnungen zu entfernen, während andere bemüht waren diese zu kaufen und dieKopien vernichteten. Trotzdem erlitten hunderte polnischer Familien Schmerz und Beschämung.

36 Endelman, „Jewish Converts“, 32.

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Wir sollten auch nicht einfach annehmen, dass die Mehrheit der Gläubigen katholisch war.Endelman, die Jeske-Choinski-Untersuchung reflektierend, welche sich mit der jüdischenBevölkerung Warschaus zum Übergang ins 20. Jahrhundert beschäftigte, bestätigt, dass dieMehrheit jüdischer „Konvertiten“ zum Christentum Protestanten wurden.

Drittens und abschließend, unterstreicht die Wahl der Konfession auch die pragmatischeNatur von Konvertierungen im Warschau des 19. Jahrhunderts. Entgegen der Erwartungwurden die meisten Juden, die Christen wurden, nicht römisch-katholisch. Tatsächlichwurden nur 39% Katholiken, der gleiche Anteil, die Calvinisten wurde. Die verbleibenden22% wurden als Lutheraner getauft. In den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts wurdenkonvertierende Juden immer weniger zu Katholiken. In den 1820er Jahren wählten 79% derKonvertiten den Katholizismus; in der nächsten Dekade fiel der katholische Anteil auf 47%.Aber die Abnahme zum Ende des Jahrhunderts war sogar noch dramatischer: nur 16% derKonvertiten wählte in den 1880er Jahren den Katholizismus, 24% in den 1890ern und 24%auch in den Jahren 1900-1903.37

Endelman unterstellt einige Gründe für die größere Zahl jüdischer Menschen, die sich einernicht-katholischen Ausdrucksweise des Christentums zuwendeten.

Das Paradoxon, dass Juden, die in einem überwiegend katholischen Milieu Protestantenwerden, wird weniger paradox, wenn ihr Religionswechsel mehr als eine Entscheidungbetrachtet wird, der Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinschaft und deren auferlegtenEinschränkungen und Nachteilen zu entfliehen, und weniger als eine Entscheidung, dasChristentum und Polentum anzunehmen. Juden, die Christen wurden, wählten denProtestantismus öfter als den Katholizismus, weil er für sie als Säkularisten und Opferreligiöser Intoleranz weniger anstößig war. Römischer Katholizismus erschiengötzendienerisch und ritualistisch, während Protestantismus, im Vergleich dazu, aufgeklärtund rational erschien.38

In einem indirekten Kompliment für die Wirksamkeit der zu den Protestanten gezählten Werkefür Judenmission, vermutet er als einer der Gründe, dass Juden Protestanten wurden, weil dieProtestanten eifriger waren die Juden zu konvertieren und diesen Prozess schnell durchführten.

Es gab einen weiteren, vielleicht wichtigeren Grund, das Protestantentum vorzuziehen: derKonvertierungsprozess selbst war weniger lästig. Katholische Priester verlangten einelängere Vorbereitungszeit und eine strengere Prüfung vor der Taufe als ihre protestantischenAmtskollegen. Jeske-Choinski bemerkte, dass, wenn ein Jude ein Taufzertifikat kurzfristigbenötigte, um einen Vertrag von der Regierung oder einen Posten zu erhalten, er zu einemprotestantischen Geistlichen ging und nicht zu einem katholischen Priester, der einigeWochen Vorbereitung verlangte.39

Er verdeutlicht diesen Punkt indem er auf den Erfolg der CMJ unter polnischen Juden imVerlauf des 19. Jahrhunderts verweist.

37 Endelman, 47.

38 Endelman, 47.

39 Endelman, 48

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Man sollte sich erinnern, dass über 900 Konvertierungen im Warschau des 19. Jahrhunderts dermilitant agierenden Protestant London Society for Promoting Christianity Among the Jews(Protestantische Londoner Gesellschaft zur Förderung des Christentums unter Juden)zuzuschreiben waren40

Dies ist wichtig wenn es darum geht, die Zahlen jüdischer Gläubiger im Ghetto zu ermitteln,insbesondere die Anzahl derer, die möglicherweise nicht mit den zwei großen katholischenPfarreien verbunden waren, da es innerhalb der Mauern im Ghetto keine protestantische Kirchegab. Möglicherweise haben sich die jüdischen Gläubigen, die mit den Werken für Judenmissionverbunden waren, privat getroffen, so dass wir keine Aufzeichnungen ihrer Aktivitäten haben,oder sie entschieden sich einfach, in den katholischen Kirchen anzubeten, obwohl sie keineKatholiken waren. Frydlands Besuch im Ghetto deutet darauf hin, dass es so war, und obwohles möglich ist, dass einige jüdische Gläubige, die den Werken für Judenmission oderprotestantischen Kirchen angehörten, vor der Errichtung des Ghettos fliehen konnten, kann eskaum Zweifel geben, dass es viele dieser nicht-katholischen jüdischen Gläubigen im Ghettogab, in Anbetracht der Zahlen der bereits länger dem Glauben angehörenden jüdischenGläubigen, und unter der Annahme, dass deren Kinder, zumindest bis zu einem gewissen Grad,ihren Eltern im Glauben folgten.

Wie andere Juden im Warschauer Ghetto die jüdischen Gläubigen sahen

In einem der aufschlussreichsten Kapitel in Dembowskis Buch betrachtet er die jüdischenChristen aus der Sicht der jüdischen Gemeinschaft. Innerhalb der jüdischen Gemeinschaft imGhetto gab es orthodoxe Juden, assimilierte oder assimilationistische Juden, und auch diejüdischen Christen, die oft mit dem jiddischen Begriff mekhes bezeichnet wurden.

Hierzu schreibt Endelman:

Im späten 19. Jahrhundert fand ein neues, aus dem Judentum stammendes, Schmähwort -mekhes - Eingang in die polnische Sprache. Der Begriff, der anscheinend von demhebräischen Wort mekhes (Zoll, Steuer, Abgabe) herstammt und sich auf die metaphorische'Gebühr' der Taufe bezieht, die Juden entrichten müssen, um Eingang in die polnischeGesellschaft zu finden, wurde sowohl von Juden als auch von Polen als Schmähwortgebraucht..41

Endelman zufolge beherrschte ein assimilierter Jude die polnische Sprache und fühlte sich inder polnischen Kultur zu Hause, hielt aber die Verbindung zur jüdischen Gemeinschaftaufrecht. Ein solcher Jude wäre vergleichbar mit einem heutigen säkularen/kulturellen Juden,der nicht religiös ist, sich aber dennoch mit der jüdischen Gemeinschaft im weiteren Sinnidentifiziert. Der Assimilationist hingegen fühlte sich zwar ebenfalls in der polnischen Spracheund Kultur zu Hause, hatte aber eine Beziehung zur jüdischen Gemeinschaft verworfen. Einemsolchen Menschen fiel es durchaus nicht schwer, sich mit der polnischen Nationalreligion, demKatholizismus, zu identifizieren, aber nicht unbedingt und nicht in jedem Fall.

40 Endelman, “Jewish Converts,” 48.

41 Endelman, “Memories of Jewishness,” 316.

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Der jüdische Christ andererseits, der als mekhes bezeichnet wurde, identifizierte sichgewöhnlich mit den Assimilationisten und wurde als jemand betrachtet, der seine Verbindungzur jüdischen Gemeinschaft verworfen hatte.

Es gibt unter Historikern kaum Zweifel daran, dass die jüdischen Christen eine wohlbekannteGruppe sowohl innerhalb der polnisch-jüdischen Gesellschaft als auch innerhalb desWarschauer Ghettos waren. Aus einer Reihe von Gründen nahmen jüdische Christen im Ghettomitunter wichtige Positionen ein. Czerniakow, der Leiter des Judenrates, selbst ein säkularerJude, stellte einige jüdische Christen an, da diese oft Erfahrung in verschiedenen Positionenhatten, die nicht-konvertierte Juden in der polnischen Gesellschaft nicht haben konnten.

Czerniakow wurde mitunter vorgeworfen, er gebe den jüdischen Christen bessere Positionen,aber er rechtfertigte sich damit, dass es ihm gleichgültig sei, ob die mekhes Christen oder Judenseien, dass es vielmehr darum ginge, dass sie produktive Mitglieder der Ghetto-Gemeinschaftwären und dass es seine Aufgabe sei, diejenigen Menschen zu finden, die die Arbeit, die getanwerden musste, am effektivsten bewältigen könnten. Gegenstand zahlreicher Diskussionen sinddie jüdischen Männer, die unter dem berüchtigten jüdischen Polizeichef Jozef Szerynskidienten, den viele beschuldigten, ein Antisemit zu sein. Über den Glauben des Polizeichefsselbst wissen wir nicht viel, aber wir wissen, dass er schon vor längerer Zeit zum katholischenGlauben übergetreten war.

In ihrem Klassisker über den Holocaust The War Against The Jews: 1933-1945 (Der Krieggegen die Juden: 1933-1945) schreibt die bekannte jüdische Holocaust-Historikerin Lucy S.Dawidowicz über diese Zeit:

Einige Polizeichefs und Polizisten waren Außenseiter in Bezug auf die Gemeinschaften, indenen sie dienten; es waren Flüchtlinge oder Evakuierte, die Gunst bei den Deutschenfanden und von denen sie dann eingesetzt wurden. Einige unter ihnen waren Abtrünnige. InWarschau war der oberste Polizeichef Andrzej Szerynski, ein ehemaliger Oberst in derpolnischen Polizei, ein Konvertit zum katholischen Glauben, von dem es hieß, er sei einAntisemit. Zweifelsohne rekrutierte er Polizisten aus seinem Freundeskreis vonAbtrünnigen. (Im Warschauer Ghetto gab es eine große Bevölkerungsgruppe vonKonvertiten zum katholischen Glauben, die unter den deutschen Rassengesetzen als Judengalten. Sie besuchen die beiden Kirchen innerhalb des Ghettos). Am 18 März 1941 stellteRingelblum fest, dass einhundert Abtrünnige in sichtbaren Positionen in der Polizei tätigwaren. Wie er hinzufügte, hatte man einen von ihnen in der Kirche rufen hören: "Nieder mitden Juden".42

Dennoch behaupten einige Historiker, dass diese Menschen als Brücke zwischen der polnischenBevölkerung außerhalb des Ghettos und der jüdischen Bevölkerung innerhalb des Ghettosfungierten. Sozialistische Hardliner wie Ringelblum, wie auch die orthodoxen Juden, führtendiese jüdischen Polizisten als Beispiel an, um zu belegen, wie Juden, die Christen werden, demjüdischen Volk den Rücken kehren. Wiederum, dies mag auf einige zugetroffen haben - abernicht auf alle. In den Fällen, wo dies zuträfe, müsste die Echtheit ihres Glaubens in Fragegestellt werden.

42 Lucy S. Dawidowicz, The War Against the Jews: 1933–1945, (New York: Rinehart and Winston, 1975).

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Weiterhin wurden die jüdischen Gläubigen beschuldigt, im besonderen die Katholiken, imVergleich zu anderen im Ghetto Vorteile zu genießen, wie zum Beispiel die Möglichkeit, dieGärten der beiden größten Pfarreien innerhalb des Ghettos zu nutzen, mitunter inGemeindehäusern wohnen zu können, ihre Kinder in katholische Schulen schicken zu könnenund Hilfe von dem katholischen Wohltätigkeitsverband, der CARITAS, zu bekommen43. Wenndie jüdischen Gläubigen derlei Privilegien mutmaßlich in Anspruch nahmen, wurden die "nicht-christlichen" jüdischen Ghettobewohner daraufhin noch wütender auf die jüdischen Christen alssie es bereits vorher schon aus den üblichen historischen und religiösen Gründen gewesen sind.Es gibt Berichte, denen zufolge sich mitunter aufgebrachte Mengen religiöser Judenzusammenrotteten, um gegen die Anwesenheit der mekhes im Ghetto zu protestieren.

Besonders die religiösen Juden beklagten sich über die mekhes, denen vom Judenrat leitendePositionen zugewiesen wurden. Hierzu schreibt Dembowski:

In seinen Memoiren führt Adler einige dieser wichtigen "christlichen" Funktionäre auf:Oberst Jozef Szerynski, Chef der Polizei und einige weitere von ihm ausgesuchte Helfer,wie Ettinger; Ludwik Hirszfeld, Vorsitzender des Gesundheitsrates für Infektions-krankheiten; Dr. Mieczyslaw Kon, Direktor der Gesundheitsabteilung; Major Dr. TedeuszGanz, Sanitätsoffizier in der polnischen Armee, beauftragt, die Seuchenbekämpfung zuleiten; Gomulinski, Direktor des Versorgungsbüros; Czarnecki, einer der Direktoren derTreibstoffkommission; Hauptmann Jerry Landau, Direktor des Gesundheitszentrums; Dr.Joszeph Stein, Direktor des Czyste Krankenhauses; Dr. Wilhelm Szenwic, Abteilungsleiterim Czyste Krankenhaus und Dr. Stanislaw Tylbor, Stellvertretender Direktor des General-sekretariats, "sowie zahllos weitere Posten, die von den Neophyten besetzt wurden."44

Zusammenfassend ist zu sagen, dass obwohl jüdische Christen entscheidend wichtigePositionen in der Leitung des Ghettos innehatten, sie dennoch sowohl von Seiten der religiösenals auch der sozialistischen Ideologen mit Verachtung angesehen wurden. Zu Letzteren zählteauch Ringelblum, der Marian Malowist, ein Mitglied seines Oneg Shabbat (geheimerCodename für seine Schriftsteller- und Forschergruppe), damit beauftragte, die "Konvertiten"zu "erforschen". Dembowski schreibt dazu:

Malowist beschreibt die geschichtliche Entwicklung vor dem Krieg und unterstreicht dabeidie Tatsache, dass die assimilationistischen und christlichen Juden nur selten die Sache desjüdischen Volkes unterstützten. Wie die meisten der im Ghetto schreibenden Juden, stellt erdie Taufe als eine materialistisch oder sozio-politisch motivierte Entscheidung dar. Erberücksichtigt schlicht und einfach nicht die Frage des religiösen Glaubens. Im weiterenklassifiziert er die Assimilationisten und Neophyten entsprechend ihrer Haltung gegenüberden Juden.45

43 Die Pfarrkirche zur Geburt der Seligen Jungfrau Maria an der Lezsnostraße. Diese barocke Kirche wurdezwischen 1638 und 1731 erbaut und wurde während der Teilungen Polens als politisches Gefängnis genutzt.Innerhalb des Ghettos gelegen, wurde sie die Pfarrkirche für die zum katholischen Glauben konvertierten Judendie im Ghetto eingesperrt waren. Es heißt, dass die Kirche durch Tunnel mit der Außenwelt verbunden war unddass diese benutzt wurden, um Lebensmittel hinein- und Juden herauszuschmuggeln. Die andere war dieAllerheiligen-Kirche am Grzybowskiplatz.

44 Dembowski, 90.

45 Dembowski, 94.

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Endelman stimmt dem zu und beschreibt die Gemeinschaft der "Konvertiten" als eine Gruppe,die aufgrund ihrer Konvertierung sich zu einem gewissen Grad als Gemeinschaft erfreuenkonnte und sozial privilegiert war.

Unter den 445.000 Juden, die in der Hochphase im Warschauer Ghetto zusammengepferchtwaren, befanden sich zweitausend Christen jüdischer Herkunft. In der hastig errichtetenWelt des Ghettos nahmen sie eine ungewöhnlichen Nischenplatz ein. Nach dem Rasse-standard der deutschen Besatzer waren sie natürlich Juden wie die anderen Ghettobewohnerauch und teilten letzten Endes deren Schicksal. Trotzdem genossen sie in der Zeit, bevor das"normale" Leben im Ghetto durch die Massendeportationen im Sommer 1942 beendetwurde, eine privilegierte soziale Stellung. Sie waren im Großen und Ganzen wohlhabenderund gebildeter als die meisten Warschauer Juden und nahmen rasch hochrangige Posten inder Ghettoverwaltung ein. Der prominenteste unter ihnen war Jozef Szerynski (wirklicherName Sheinkman), vor dem Krieg Oberst in der polnischen Polizei, den Adam Czerniakowzum ersten Befehlshaber der Polizeikräfte im Ghetto ernannte. Szerynski seinerseits umgabsich mit anderen Konvertiten. Getaufte Juden fielen auch als Direktoren von Kranken-häusern, Leitern von Kliniken und anderen Einrichtungen des öffentlichen Gesundheits-wesens auf.46

Weiterhin erwähnt er, dass die Kinder der „Konvertiten“ in den Gärten der zwei großenkatholischen Kirchen innerhalb des Ghettos spielen und die von ihnen gesponserten Suppen-küchen sowie andere Hilfsangebote in Anspruch nehmen durften.47 Er berichtet, dass dieMehrheit der Juden die „Konvertiten“ mit Misstrauen und Eifersucht ansahen, weil sie sie fürabtrünnige Juden hielten, die sich „verkauften“, um Vorteile aus dem Christsein zu erlangen.

Allgemein gesprochen: die mekhes, seien es Katholiken oder Protestanten, wurden von derMehrheit der Gemeinschaft der Juden im Ghetto negativ betrachtet. Im Übrigen konnte diesozialistische Leiterschaft, die eine eher dominierende Stellung im Ghetto einnahm und die vonihrer philosophischen Ausrichtung her Materialisten waren, in einer geistlichen Konvertierungkeine Plausibilität oder Validität erkennen.

Bedeutende jüdische Gläubige im Ghetto und ihre Beiträge

Eines der bewegendsten Kapitel in Dembowskis Buch trägt den Titel „Christian Voices“(„Christliche Stimmen“), in dem er das Leben und Zeugnisse von - meist katholischen -Gläubigen nachzeichnet, die den Schrecken des Warschauer Ghettos ganz oder teilweisedurchlebten. Er erwähnt zahlreiche Menschen, deren Hingabe zum Evangelium das Lebenanderer im Ghetto beeinflusste.

Die bedeutendste Stimme war die des bereits erwähnten Dr. Ludwik Hirszfeld, dem Autor desBuches The Story of One Life, auf welches manchmal als die Historia Bezug genommen wird.Dembowski sagt, „Hirszfeld ist der sachkundigste Informant über das Ghetto und die vielenAspekte des täglichen Lebens der Ghettobewohner.“ 48

46 Endelman, “Jewish Converts” 28.

47 Endelman, “Jewish Converts” 29.

48 Dembowski, 114

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Das Buch ist eine Autobiographie, die kurz nach seiner Flucht aus dem Ghetto geschriebenwurde. Es enthält eine detaillierte Beschreibung seines eigenen Lebens und der Leben anderer,sowie das Zeugnis seines Glaubens. Er war ein angesehener Wissenschaftler, der als Arzt in derpolnischen Armee in Jugoslawien diente, wo er sein Lebenswerk begann: die Bestimmung undBeschreibung von Blutgruppen. Die meisten Wissenschaftler würden zustimmen, dass er derVerantwortliche war, der den Blutgruppen die Namen gab, wie sie auch heute noch imAllgemeinen verwendet werden. Als assimilierter Jude, wie er sich selbst bezeichnete, undbekannter Wissenschaftler war er daran gewohnt, mit Respekt und Ehre behandelt zu werden;daher war das Ghetto eine schroffe Erinnerung an sein Erbe.

Endelman würde zustimmen, dass der bekannte Medizinforscher und katholische KonvertitLudwik Hirszfeld eine Ausnahme von der Regel war, ebenso wie einige andere. 49 Er schreibt:

Einige wenige wurden Christen aus Überzeugung. Der Bakteriologe Ludwik Hirszfeld, dervor dem Krieg konvertierte, erinnerte sich an einige seiner jüdischen Studenten, die ihnbaten, als Pate bei ihrer Taufe zu fungieren. Er fragte sich, was sie dazu bewogen habenkönnte, denn das Wechseln der Religion veränderte keinesfalls ihre rechtliche Stellung.Seine Antwort, mag sie richtig sein oder nicht, war, dass der Reiz der Religion der Liebe siegezogen hat, die Religion der Nation, zu der sie sich dazugehörig fühlten.50

Er fügt hinzu:

Im Fall von Tadeusz Endelman, einem jungen Juristen und Freund Hirszfelds, der im Juli1942 getauft wurde, wissend, dass die Deportation ihn erwartete, ist es klar, dass religiöserTrost sein einziges Ziel war.51

Hirszfeld begann das, was zur ersten zweijährigen medizinischen Schulausbildung im Ghettoführte, wobei er sich jedoch auf die Ausrottung von Typhus konzentrierte, an dem viele imGhetto starben. Seine bedeutende Rolle im Ghetto wurde aber auch von vielen in Frage gestellt,wie aus dem folgenden Bericht über seine erste Vorlesung hervorgeht.

49 Ludwik Hirszfeld (1884-1954), einer der bekanntesten Serologen des 20. Jahrhunderts, der die Fachbezeich-nungen und Vererbung von Blutgruppen begründete und das Gebiet der menschlichen Bevölkerungsgenetikeröffnete. Er führte auch bahnbrechende Forschungen in Bezug auf Krankheitsgenetik und Immunologie durch.Nach dem 2. Weltkrieg gründete er das erste Polnische Institut der Immunologie in Wroclaw (Breslau), welchesnun seinen Namen trägt. Seine autobiographischen Memoiren, The Story of One Life, 1946 erstmals in Polenveröffentlicht, wurden sofort ein Bestseller und wurden seitdem mehrfach neu herausgegeben. Es ist einaußergewöhnlicher Bericht eines Holocaust-Überlebenden und Literaten, der die Einzigartigkeit und dieTragödie unzähliger Menschen schildert, die in dem Albtraum von 1939-1945 gefangen waren. Er erinnert sichan die Zeit von 1915 als Arzt in der serbischen Armee und seine Erfüllung, Polen nach dem Vertrag vonVersailles, als einer der wissenschaftlichen Elite, wiederaufgebaut zu haben; so steht die Welt vor und die Weltnach dem 2. Weltkrieg in einem völligen Gegensatz. Hirszfeld floh 1943 aus dem Warschauer Ghetto; er hattedas Manuskript für das Buch versteckt und es erst nach dem Krieg zurückgeholt.

http://www.yivoencyclopedia.org/article.aspx/Hirszfeld_Ludwik

http://www.google.de/search?q=Ludwik+Hirszfeld&btnG=Nach+B%C3%BCchern+suchen&tbm=bks&tbo=1&hl=de

50 Endelman, „Jewish Converts“ , 30

51 Endelman, „Jewish Converts“ , 30

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Der Vorsitzende (Czerniakow) ist anwesend, offensichtlich um jegliche gegen michgerichtete Kundgebung von Seiten der jüdischen Nationalisten zu verhindern. An der Türfordert eine Ärztin, eine jüdische Nationalistin, zum Boykott meiner Vorlesung auf. Meineersten Worte sind ein Aufruf, die Würde zu bewahren. Unser Feind versucht, uns, Polen wieJuden, alles was Wissenschaft oder Kunst darstellt, vorzuenthalten. Es ist möglich, dass wirumkommen werden, aber lasst uns mit Würde umkommen. 52

Es steht außer Frage, dass Hirszfeld sich selbst als Pole betrachtete und sich mit der nationalenReligion Polens - dem Katholizismus - identifizierte und die Gräueltaten im Warschauer Ghettovoll und ganz den Nazis anlastete. Er tat sich schwer damit, offenen und fortlaufendenAntisemitismus den Polen zuzuschreiben. Deshalb stellte sein Glaube eine Art Vermengungvon religiösem Nationalismus, verwurzelt und gegründet in jüdischer Volkszugehörigkeit, dar.Wirklich sehr kompliziert!

Auf der anderen Seite unterschied Hirszfeld sehr wohl zwischen solchen, die ausGlaubensgründen Christen waren und solchen, die eher dem Namen nach Christen waren undkonvertierten, um zu überleben. Dies wird deutlich an der Art und Weise wie er zwischen denGetauften differenzierte:

Am Sonntag gingen alle Christen, nicht nur die Katholiken, zur Messe. Alle waren dortanzutreffen: Ärzte, Rechtsanwälte, die, deren Taufe ein Ausdruck des Glaubens war, solche,für die es ein polnisches Nationalsymbol war und solche die irgendwann in ihrem Lebenihre Taufe um eigener Vorteile willen angenommen hatten. Ungeachtet dessen hatten alledas Bedürfnis, sich mindestens einmal wöchentlich zu versammeln und am Gottesdienstteilzunehmen.53

Dembowski verweist auf eine Betrachtung Hirszfelds bezüglich der Motivation eines seinerMit-Christen, die diesen dazu bewegt hatte, die Taufe zu empfangen. Er schreibt:

Viele Menschen wurden im Viertel getauft - alte und junge, manchmal ganze Familien.Einige meiner Studenten waren unter ihnen, sowohl Männer als auch Frauen, und ich wurdeoft gebeten, Pate zu sein. Welche Motive bewegten sie zur Taufe? Sie erlangten dadurch nieirgendwelche Vorteile. Der Glaubenswechsel bewirkte keine Änderung in ihrem rechtlichenStatus. Nein, das was sie anzog war die Anziehungskraft einer Religion der Liebe. Sie warenhingezogen zu der Religion des Volkes zu dem sie sich zugehörig fühlten. Sie warenhingezogen zu der Religion, in der es keinen Raum für Hass gab, oder in der es zumindestkeinen geben sollte. Sind die Juden der Atmosphäre universeller Antipathie dermaßenüberdrüssig?54

Dembowski bringt ein wunderschönes Beispiel aus den Schriften Hirszfelds, um uns Einblick indie Seele eines Mannes zu gewähren und uns zu helfen, den Kern seines Glaubens zu verstehen.

Gloria in Excelsis Deo. Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden und den Menschen einWohlgefallen. Der Grzybowskiplatz und die Twardastraße verschwinden. Die aufgeregte

52 Hirszfeld, 295.

53 Hirszfeld, 362-363. Zitiert in Dembowski, 126-127.

54 Hirszfeld, 364. Zitiert in Dembowski, 129.

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und fiebernde Menge der Armen verschwindet ebenfalls. Wir sind eingetaucht in die Kühleund die Atmosphäre des Ortes der Anbetung. Wir sind eine Schar, die in ihren Gebetenvertieft ist. Wir können die Mörder und die Hasser nicht mehr sehen - wir sind in derGemeinschaft der Entrückten. Wir sind vereint im Gefühl höherer Gemeinschaft. 55

Hirszfeld kommentiert auch die Worte aus dem Vaterunser wo es heißt: "Vergib uns unsereSchuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern". In seiner Autobiographie deutet er diesePassage als „eine an Gott gerichtete Frage, gefolgt von Gottes Antwort“:

Was stimmt nicht mit dir, mein Sohn? - Warum sollte ich jene abscheulichen Menschenlieben? - Aus gar keinem Grund. Liebe ist ein Zustand des Geistes. Jeder besitzt sie, abermanchmal ist sie verdunkelt und verhüllt. Sie ist aber trotzdem ebenso sehr ein Instinkt wieder Hunger nach Leben, wie die Lebensfreude. Die Liebe ist eine Wonne wie das Entzückenin der Stille unter dem funkelnden Sternenhimmel und wie die überwältigende Freude dertanzenden Sterne. Hier gibt es keine Kleinigkeiten - alles geht aus dem Geist hervor. Einehimmlische Musik ist zu hören. Und in dieser Harmonie beugt sich die Seele nieder,schluchzend in Demut. Taumelnd umarmt sie die Welt, schwebt in seligem Vergessen.Grässliche Menschen, abscheuliche Dinge verschwinden - alles ist in Resonanz mit derGroßen Harmonie. 56

Er fügt hinzu: "Die Messe ist vorüber. Wir beenden den Gottesdienst und kehren zurück zurErde, aber unsere Seelen wurden durch die Kühle der Leben gebenden Quellen erquickt."57

Man muss jene aufrichtigen Christen ehren, die in einer überaus schwierigen Zeit den Judenhalfen und Gottes Liebe auf sehr praktische Weise zeigten. Es war durch ihr gutes Zeugnis,angetrieben von einer aufrichtige Liebe zum Herrn, das Gläubigen wie Hirszfeld half, nah beimHerrn zu bleiben und den Blick auf Seine Gnade zu richten.

Das Beispiel von Irena Sendler, einer polnischen katholischen Sozialarbeiterin, die tausendenjüdischen Kindern das Leben rettete, indem sie sie aus dem Ghetto schmuggelte, zeigteebenfalls die Liebe einiger nicht-jüdischer Christen für das jüdische Volk.58 Das Werkpolnischer Christen, die Juden retteten und versteckten, wird ebenfalls detailliert in dem Buchvon Nechama Tec unter dem Titel When Light pierced the Darkness (Als Licht die Dunkelheitdurchdrang) beschrieben. 59

55 Dembowski, 127.

56 Hirszfeld, 364–365. Zitiert in Dembowsky, 128.

57 Hirszfeld, 364 Zitiert in Dembowsky, 128

58 Siehe Mother of the Children of the Holocaust: The Irena Sendler Story, von Anna Mieszkowska, und dergleichnamige Film unter der Regie von John Kent Harrison

59 Nechama Tec, Christian Rescue of Jews in Nazi-Occupied Poland. When Light Pierced the Darkness, (NewYork: Oxford University Press), 1986.

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Die Frage der Authentizität

Wir müssen uns abschließend fragen „wie“ christlich und jüdisch die jüdischen Gläubigen imWarschauer Ghetto waren, da sie auf tragische Weise sowohl für ihre Rasse als auch ihrenGlauben litten.

Endelmann behauptet, dass der Beweggrund für die Bekehrung keineswegs geistlich war unddass die, die Christen wurden, dies taten, um der Verfolgung zu entgehen und um zu einembesseren Leben zu gelangen.60

Aber gemäß den Aufzeichnungen der verschiedenen Werke für Judenmission und Kirchen gabes viele „Konvertierungen“ in der Zeit direkt vor dem Holocaust, und dies geschahfortwährend in der ganzen Zeit von 1939 bis 1941 und der Zerstörung des Ghettos. Warschauwar in der Tat ein Nährboden messianischer Aktivitäten und in dieser Stadt waren vor demKrieg mehr als ein dutzend Werke für Judenmission aktiv.

Ringelblum weist in seinem Tagebuch darauf hin, dass der Lebensstil der jüdischen„Konvertiten“ klar die unaufrichtigen Motive ihrer „Konvertierung“ aufzeige.61 Daswiderspiegelt die allgemeine jüdische Meinung gegenüber den jüdischen Jesus-Gläubigen. Esist jedoch wichtig zu verstehen, dass er als Sozialist und philosophischer Materialist in seinerWeltanschauung ohnehin keinen Platz für Glauben hatte, sei dieser jüdisch, christlich oderjüdisch-christlich. Seine Einstellungen geben die vorherrschende Ansicht der Ghettobewohnerüber die jüdischen Jesus-Gläubigen wieder, unabhängig davon, ob sie in ihrer Spiritualitätauthentisch waren, ob protestantisch, katholisch oder einem Werk für Judenmissionzugehörend.

Also, waren die Gläubigen authentische Gläubige? Es wäre hilfreich, drei Gruppen vonjüdischen Gläubigen zu bilden. Solche, die ihren Glauben an Jesus in den Jahren vor derInvasion der Nazis bekannten, diejenigen, die Gläubige innerhalb weniger Jahre nach demEreignis wurden, und dann jene, die erst im Ghetto Christen wurden. Doch auch mit diesen dreiKategorien wäre ein Urteil unklar. Es wächst immer Unkraut inmitten des Weizens! Diejenigen,die seit langem Christen jüdischen Ursprungs waren, konnten sehr wohl aus Familien stammen,in denen die Entscheidung, gläubig zu werden, durch wahre geistliche Überzeugung motiviertwar. Das träfe sicherlich auf einige zu. Da wir aber wissen, dass der Herr keine Enkelkinder hat,gibt es natürlich die Möglichkeit, dass das, was als authentisch begann, nach einigenGenerationen nominal wurde und die jüdische Identität dieser Familien nur noch minimal war.Hirszfeld wurde in den zwanziger Jahren seines Lebens gläubig und die Vitalität seines

60 Endelmann, „Jewish Converts“ 53. Beispiele des Abfalls vom Glauben machen die Tiefe der Verzweiflung unddes Verzagens sichtbar, der Verlust der Hoffnung auf eine bessere Zukunft zusammen mit der Verbreitung vonGleichgültigkeit und Entfremdung von traditionellen Gebräuchen und Bündnistreue. Solche Beispiele weisenauch auf die in der Gemeinschaft, auf denen Diskriminierung und Ausschluss am schwersten lastete, was unsdaran erinnert, dass Antisemitismus, wie sehr es auch der rhetorische Spielball von Politikern und Publizistensein mag, das Leben von Juden aus Fleisch und Blut verbitterte, und das ganz konkret gemäß ihrem sozialenStatus.

61 Ringelblum, 140

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Glaubens, obwohl vermischt mit Nationalismus, kommt in seinen geschriebenen Werken und inseinem Verhalten zum Ausdruck.

Die Frage, ob die später gläubig Gewordenen (oft wird der katholische Ausdruck Neophytgebraucht) von einem ernst gemeinten Glauben an Jesus bewegt wurden oder nicht, darfebenfalls bezweifelt werden. Vielleicht versuchten einige dies auszunutzen, oder hofften, dasssie durch „Konvertierung“ einen Vorteil gewinnen würden, aber die meisten erkannten, dasses in der Tat wenig materiellen Nutzen zu gewinnen gab, nachdem sie einige Zeit im Ghettowaren, und die Verachtung der Gemeinschaft mag ihrer Entscheidung geholfen haben, dieLinie zum Christentum nicht zu überschreiten.

Die Gläubigen, mit denen Frydland sprach und die vor und während des Ghettos durch Werkefür Judenmission und evangelische Kirchen zum Glauben kamen, werden, wie auch viele derKatholiken, den zu zahlenden Preis gekannt haben. Diese wahren Gläubigen werden durchden Messias Trost in ihrer Bedrängnis gefunden haben. Wir wissen, dass diese Gläubigen dortwaren, aber leider haben wir von ihren Stimmen nicht viele Aufzeichnungen.

Aber eines Tages werden wir ihre Geschichten des Martyriums und Leidens hören, wenn ihreStimmen mit den unseren erhoben werden im Lobpreis und in der Anbetung des Einen, derfür uns litt und im Triumph auferstanden ist; der den Tod und das Böse überwältigt und jedenFeind Gottes und Seines erwählten Volkes besiegt hat. Der Schrecken des Ghettos wird eineTräne sein, die durch die Gnade unseres Messias und Herrn weggewischt wird.

Schlussfolgerung

Ich war im Besonderen bewegt von einem Zitat, welches uns Dembowski berichtet, das aus denletzten Predigten von Rev. Antoni Czarnecki im Juli 1942 stammt, direkt vor der Aktion. DieserPastor blieb bis zum allerletzten Augenblick im Ghetto und macht in seiner letzten Predigt diefolgenden Kommentare:

Dies nun ist mein letzter Tag im Ghetto und die letzte Sonntagsmesse in der Kirche: es wareine sehr große Menschenmenge, so groß wie sie noch nie zuvor in der Kirche gesehenworden war. Ich begann die Heilige Messe ohne Gesang und ohne Orgelspiel. Ich las ausdem Lukas Evangelium 19, 41-44, was für den 9. Sonntag nach Pfingsten vorgeschriebenist: „Und als Jesus nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenndoch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinenAugen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde umdich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen und werden dichdem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andernlassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.“ Nurschwer konnte ich diese Vision von der Zerstörung Jerusalems lesen. Da war so viel Weinenund Schreien in der Kirche, so dass ich nicht predigen musste, selbst wenn ich gekonnthätte. Jesus selbst hatte persönlich, bewegend und mächtig gesprochen.62

Am Ende erzählt Dembowski eine Geschichte, die für diese kurze Reise in dieses Ghetto des Wahnsinns und der Schmerzen einen passenden Schluss bietet.

62 Dembowski, 131, 145

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Man findet nichts mehr über die Christen im Warschauer Ghetto nach der großen Aktion.Ein richtiges Ende dieser traurigen Geschichte der zwei römisch-katholischen Pfarreienfindet sich nicht nur in der teilnahmsvollen Verabschiedung von einem jüdischen Freund,sondern auch in dem poetischen Ausdruck der Nachkriegsschriftstellerin Hanna Krall.

In ihrer polnischen Kurzgeschichte „Heil“ (oder: „Errettung“) lesen wir: „Als die Deutschenalle christlichen Juden aus der Kirche herausgeholt hatten, blieb nur ein Jude von der Kircheübrig: der gekreuzigte Jesus... Jesus stieg vom Kreuz herab und rief zu (dem Gemälde)seiner Mutter: 'Mame, kim...' Das heißt auf jiddisch: 'Mama, komm.' Sie (kam herab und)ging zum Umschlagplatz.“63

Interessant ist, dass Dembowski zu einen Vermerk zu ihrem Buch meint: „Krall, die selbstnicht religiös war, zitiert diese Zeilen als eine der zahlreichen, bissig-ergreifenden jüdisch-christlichen Anekdoten, die im Ghetto erzählt wurden.“64

63 Dembowski, 133

64 Dembowski, 148

http://www.yadvashem.org/odot_pdf/Microsoft%20Word%20-%205896.pdf

https://www.youtube.com/watch?v=8O4gO4OhoAI&feature=related

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ANMERKUNG: Für eine ausführliche Liste von Artikeln über den Aufstand im Warschauer Ghetto: Edelheit,Abraham J. und Hershel Edelheit. Bibliography on Holocaust Literature.

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