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Hermann Hesse - Die Morgenlandfahrt

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SV

Band I der Bibliothek Suhrkamp 

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HERMANN HESSE

DIE MORGENLANDFAHRT

EINE ERZÄHLUNG

SUHRKAMP VERLAG 

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Die Veröffentlichung der Zeichnungen von Alfred Kubinauf Seite 3 und Seite 6 erfolgt mit freundlicher Genehmi-gung des Verlages Heinrich Ellermann, München.

Scanned by Doc Gonzo  

21. Auflage 1990 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main

© Copyright by Hermann Hesse, Montagnola 1959Alle Rechte vorbehalten 

Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-BadenPrinted in Germany

 

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 Den Freunden  Hans C. Bodmer und seiner Frau Elsy

gewidmet 

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I

DA ES MIR BESCHIEDEN WAR, ETWASGROSSESmitzuerleben, da ich das Glück gehabt habe,dem »Bunde« anzugehören und einer der Teil-

nehmer jener einzigartigen Reise sein zu dürfen,deren Wunder damals wie ein Meteor aufstrahlteund die nachher so wunderlich rasch in Vergessen-heit, ja in Verruf geriet, habe ich mich entschlos-sen, den Versuch einer kurzen Beschreibung dieserunerhörten Reise zu wagen: einer Reise, wie sie

seit den Tagen Hüons und des Rasenden Rolandvon Menschen nicht mehr gewagt worden war bisin unsre merkwürdige Zeit: die trübe, verzweifelteund doch so fruchtbare Zeit nach dem großenKriege. Über die Schwierigkeiten meines Versuchesglaube ich mich keiner Täuschung hinzugeben; siesind sehr groß, und sie sind nicht nur subjektiverNatur, obwohl schon diese beträchtlich genug wä-ren. Denn nicht nur besitze ich heute aus der Zeitder Reise keinerlei Erinnerungsstücke mehr, keineAndenken, keine Dokumente, keine Tagebücher -nein, es ist mir in den seither verflossenen schweren

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Jahren des Mißgeschicks, der Krankheit und tiefenHeimsuchung auch ein großer Teil der Erinnerungenverlorengegangen; infolge von Schicksalsschlägenund immer neuen Entmutigungen ist sowohl meinGedächtnis selbst wie auch mein Vertrauen in diesfrüher so treue Gedächtnis beschämend schwach

geworden. Aber, von diesen rein persönlichenNöten abgesehen, sind mir zum Teil auch durchmein einstiges Bundesgelübde die Hände gebun-den; denn dies Gelübde erlaubt mir zwar dieschrankenlose Mitteilung meiner persönlichen Er-lebnisse, verbietet aber jede Enthüllung über das

Bundesgeheimnis selbst. Und wenn auch seit Jahrund Tag der Bund keine sichtbare Existenz mehrzu haben scheint und ich keines seiner Mitgliederwiedergesehen habe, so würde doch keine Ver-lockung und keine Bedrohung der Welt mich dazubringen können, das Gelübde zu brechen. Im Ge-genteil: würde ich heut oder morgen vor ein Kriegs-gericht und vor die Wahl gestellt, mich töten zulassen oder das Geheimnis des Bundes zu verraten,o mit welch glühender Freude würde ich meinBundesgelübde durch den Tod besiegeln!Es sei hier nebenbei bemerkt: Seit dem Reisetage-

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buch des Grafen Keyserling sind mehrmals Büchererschienen, deren Autoren teils unbewußt, teilsaber auch mit Absicht den Anschein erweckten,als seien sie Bundesbrüder und hätten an der Mor-genlandreise teilgenommen. Sogar die abenteuer-lichen Reiseberichte von Ossendowski gerieten ge-

legentlich in diesen ehrenden Verdacht. Aber siealle haben mit dem Bunde und mit unsrer Morgen-landfahrt nicht das mindeste zu tun, oder dochim besten Falle nicht mehr, als die Prediger klei-ner pietistischer Sekten mit dem Heiland, denAposteln und dem Heiligen Geiste zu tun haben,

auf deren spezielle Gunst und Mitgliedschaft siesich berufen. Mag Graf Keyserling wirklich mitKomfort die Welt umschifft und mag Ossen-dowski wirklich die von ihm beschriebenen Län-der durchquert haben, so waren ihre Reisen dochkeine Wunder und haben keine neuen Gebieteentdeckt, während gewisse Etappen unsrer Mor-genlandfahrt, indem sie auf alle die banalen Hilfs-mittel moderner Dutzendreisen, auf Eisenbahnen,Dampfschiffe, Telegraph, Auto, Flugzeug und soweiter verzichteten, wirklich ins Heroische undMagische durchgestoßen sind. Es war ja damals

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kurz nach dem Weltkriege, und namentlich fürdas Denken der besiegten Völker, ein außer-ordentlicher Zustand von Unwirklichkeit, von Be-reitschaft für das Überwirkliche gegeben, wenn auchnur an ganz wenigen Punkten tatsächlich Grenzendurchbrochen und Vorstöße in das Reich einer

kommenden Psychokratie getan wurden. UnsreFahrt damals durch das Mondmeer nach Famagu-sta, unter der Führung Albertus des Großen, oderetwa dieEntdeckung der Schmetterlingsinsel, zwölf Linien hinter Zipangu, oder die erhabene Bundes-feier am Grabe Rüdigers - das sind Taten und Er-

lebnisse, wie sie Menschen unserer Zeit und Zonenur dies eine Mal vergönnt waren.Schon hier, wie ich sehe, stoße ich auf eins dergrößten Hindernisse meines Berichtes. Es wäredie Ebene, auf welcher unsere Taten sich vollzogen,es wäre die seelische Erlebnisschicht, welcher sie an-gehören, dem Leser verhältnismäßig leicht zugäng-lich zu machen, wenn es erlaubt wäre, ihn ins Inne-re des Bundesgeheimnisses zu führen. So aber wirdvieles, wird vielleicht alles ihm unglaublich scheinenund unfaßbar bleiben. Allein das Paradoxe mußimmer wieder gewagt, das an sich Unmögliche muß

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immer neu unternommen werden. Ich halte es mitSiddhartha, unsrem weisen Freund aus dem Osten,der einmal gesagt hat: »Die Worte tun dem ge-heimen Sinn nicht gut, es wird immer alles gleichein wenig anders, ein wenig verfälscht, ein wenignärrisch - ja, und auch das ist gut, auch damit bin

ich einverstanden, daß das, was eines MenschenSchatz und Weisheit ist, dem ändern immer wieNarrheit klingt.« Auch haben schon vor Jahrhun-derten die Mitglieder und die Geschichtsschreiberunsres Bundes diese Schwierigkeit gekannt und ihrtapfer die Stirn geboten, und einer von ihnen, einer

der Größten, hat sich in einem unsterblichen Verseso darüber geäußert:

Wer weit gereist, wird oftmals Dinge schauen,Sehr fern von dem, was er für Wahrheit hielt.Erzählt er's dann in seiner Heimat Auen,So wird ihm oft als Lügner mitgespielt.Denn das verstockte Volk will ihm nicht trauen,Wenn es nicht sieht und klar und deutlich fühlt.Die Unerfahrenheit, ich kann mir's denken,Wird meinem Sänge wenig Glauben schenken.

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Diese »Unerfahrenheit« hat es denn auch zustandegebracht, daß heute in der Öffentlichkeit unsreReise, welche einst Tausende bis zur Ekstase erregthat, nicht nur vergessen, sondern daß ihr Gedächt-nis mit einem richtigen Tabu belegt ist. Nun, dieGeschichte ist ja reich an Beispielen ähnlicher Art.

Die ganze Weltgeschichte scheint mir oft nichtsandres zu sein als ein Bilderbuch, das die heftigsteund blindeste Sehnsucht der Menschen spiegelt:die Sehnsucht nach Vergessen. Tilgt da nicht jedeGeneration mit den Mitteln des Verbotes, des Tot-schweigens, des Spottes immer gerade das aus,

was der vorigen Generation das Wichtigste schien?Haben wir es nicht eben erst erlebt, daß ein unge-heurer, jahrelanger, grauenhafter Krieg von gan-zen Völkern jahrelang vergessen, geleugnet, ver-drängt und weggezaubert worden ist und daßdiese Völker jetzt, wo sie sich ein klein wenigausgeruht haben, mit Hilfe spannender Kriegs-romane sich dessen wieder zu erinnern suchen,was sie vor einigen Jahren selber angerichtet underlitten haben? So wird auch für die Taten undLeiden unsres Bundes, welche heut vergessen oderder Welt ein Gelächter sind, der Tag der Wieder-

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entdeckung kommen, und meine Aufzeichnungensollen dazu ein weniges beitragen.

Zu den Besonderheiten der Morgenlandfahrt ge-hörte unter ändern auch diese, daß zwar der Bundmit dieser Reise ganz bestimmte, sehr hohe Ziele

anstrebte (sie gehören der Zone des Geheimnissesan, sind also nicht mitteilbar), daß aber jeder ein-zelne Teilnehmer auch seine privaten Reisezielehaben konnte, ja haben mußte, denn es wurdekeiner mitgenommen, den nicht solche privatenZiele antrieben, und jeder einzelne von uns, wäh-

rend er gemeinsamen Idealen und Zielen zu fol-gen und unter einer gemeinsamen Fahne zu kämp-fen schien, trug als innerste Kraft und letztenTrost seinen eigenen, törichten Kindertraum imHerzen mit sich. Was nun mein eigenes Reisezielbetrifft, um das ich vor meiner Aufnahme in denBund vom Hohen Stuhl befragt wurde, so wares ein einfaches, während manche andre Bundes-brüder sich Ziele gesetzt hatten, welche ich zwarwohl zu achten, nicht aber ganz zu begreifen ver-mochte. Einer zum Beispiel war Schatzsucher undhatte nichts andres im Sinn als die Gewinnung

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eines hohen Schatzes, den er »Tao« nannte, einandrer aber hatte sich gar in den Kopf gesetzt,eine gewisse Schlange fangen zu wollen, welcherer Zauberkräfte zuschrieb und die er Kundalininannte. Mein eigenes Reise- und Lebensziel hinge-gen, das mir schon seit den späteren Knabenjah-

ren in Träumen vorgeschwebt hatte, war dieses:die schöne Prinzessin Fatme zu sehen und womög-lich ihre Liebe zu gewinnen.Zu jener Zeit, da ich dem Bunde beitreten zu dür-fen das Glück hatte, nämlich unmittelbar nachdem Ende des großen Krieges, war unser Land

voll von Heilanden, Propheten und Jüngerschaf-ten, von Ahnungen des Weltendes oder Hoffnun-gen auf den Anbruch eines Dritten Reiches. Er-schüttert vom Kriege, verzweifelt durch Not undHunger, tief enttäuscht durch die anscheinendeNutzlosigkeit all der geleisteten Opfer an Blutund Gut, war unser Volk damals manchen Hirn-gespinsten, aber auch manchen echten Erhebungender Seele zugänglich, es gab bacchantische Tanz-gemeinden und wiedertäuferische Kampfgruppen,es gab dies und jenes, was nach dem Jenseits undnach dem Wunder hinzuweisen schien; auch eine

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Hinneigung zu indischen, altpersischen und ande-ren östlichen Geheimnissen und Kulten war da-mals weitverbreitet, und all dies hat dazu geführt,daß auch unser Bund, der uralte, den meisten alseines der vielen hastig aufgeblühten Modege-wächse erschien und daß er nach einigen Jahren

mit ihnen teils in Vergessenheit, teils in Verach-tung und Verruf geraten ist. Die Treugebliebenenunter seinen Jüngern kann dies nicht anfechten.Wie wohl erinnere ich mich der Stunde, da ichnach Ablauf meines Probejahres mich dem HohenStuhl vorstellte, vom Sprecher in den Plan der

Morgenlandfahrt eingeweiht und, als ich michdiesem Plane mit Leib und Leben zur Verfügungstellte, freundlich danach befragt wurde, was esdenn sei, das ich mir von dieser Fahrt ins Mär-chenreich verspreche! Errötend zwar, aber frei-mütig und ohne Zögern bekannte ich mich vorden versammelten Oberen zu meinem Herzens-wunsche, die Prinzessin Fatme mit meinen Augensehen zu dürfen. Und der Sprecher, die Gebärdeder Verhüllten dolmetschend, legte mir gütig dieHand auf den Scheitel, segnete mich und sprachdie Formel, welche meine Aufnahme als Bruder

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des Bundes bekräftigte. »Anima pia«, redete ermich an und ermahnte mich zur Treue im Glau-ben, zum Heldenmut in Gefahr, zur brüderlichenLiebe. Während des Probejahres wohlvorbereitet,leistete ich den Eid, schwor der Welt und ihremIrrglauben ab und bekam den Bundesring an den

Finger gesteckt, mit jenen Ringworten aus einemder schönsten Kapitel unsrer Bundesgeschichte:

In Erd’ und Luft, in Wasser und in FeuerSind ihm die Geister Untertan;Sein Anblick schreckt und zähmt die wildsten

Ungeheuer,Und selbst der Antichrist muß zitternd sich ihm

nah'n...und so weiter.

Es wurde mir auch zu meiner Freude gleich beider Aufnahme eine der Erleuchtungen zuteil, wiesie uns Novizen in Aussicht gestellt waren. Kaumnämlich hatte ich, den Weisungen der Oberen fol-gend, mich einer der Zehnergruppen angeschlos-sen, welche überall im Lande unterwegs waren,um zum Bundeszuge zu stoßen, so wurde eins der

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Inzwischen hatte unsre Gruppe die Wanderungangetreten, bald trafen wir mit anderen Gruppenzusammen, und es erfüllte und beglückte uns mehrund mehr das Gefühl der Einigkeit und des ge-meinsamen Zieles. Den Vorschriften getreu, leb-ten wir als Pilger und machten von keiner jener

Einrichtungen Gebrauch, welche einer von Geld,Zahl und Zeit betörten Welt entstammen und dasLeben seines Inhaltes entleeren; vor allem gehör-ten dazu Maschinen, wie Eisenbahnen, Uhren unddergleichen. Ein andrer unsrer einmütig einge-haltenen Grundsätze gebot uns, alle Stätten und

Erinnerungen aufzusuchen und zu verehren, wel-che mit der uralten Geschichte unsres Bundes undseines Glaubens zusammenhingen. Alle frommenOrte und Denkmäler, Kirchen, ehrwürdige Grab-stätten, welche irgend am Wege lagen, wurdenbesucht und gefeiert, die Kapellen und Altäre mitBlumen geschmückt, die Ruinen mit Liedern oderstiller Betrachtung geehrt, der Toten mit Musikund Gebeten gedacht. Nicht selten wurden wirdabei von den Ungläubigen verspottet und ge-stört, aber es geschah auch häufig genug, daß Prie-ster uns segneten und zu Gaste luden, daß Kinder

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sich uns begeistert anschlössen, unsre Lieder lern-ten, uns nur mit Tränen weiterziehen sahen, daßein alter Mann uns vergessene Denkmale der Ver-gangenheit zeigte oder eine Sage seiner Gegendberichtete, daß Jünglinge eine Strecke Weges mituns gingen und in den Bund aufgenommen zu

werden begehrten. Diesen wurde Rat erteilt unddie ersten Gebräuche und Übungen des Noviziatesmitgeteilt. Es geschahen die ersten Wunder, teilsvor unsern sehenden Augen, teils waren Berichteund Legenden von ihnen plötzlich da. Eines Tages,ich war noch ganz Neuling, sprach urplötzlich

 jedermann davon, daß im Zelt unsrer Führer derRiese Agramant zu Gaste sei und die Führer zuüberreden suche, den Weg über Afrika zu nehmen,um dort einige Bundesbrüder aus maurischer Ge-fangenschaft zu befreien. Ein andres Mal wurdedas Hutzelmännlein gesehen, der Pechschwitzer,der Tröster, und man vermutete, unsre Wande-rung werde sich gegen den Blautopf richten. Dieerste wunderhafte Erscheinung aber, die ich miteigenen Augen sah, war diese: Wir hatten beieiner halbverfallenen Kapelle im Oberamt Spai-chendorf Andacht und Rast gehalten, an die

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einzige unbeschädigte Mauer der Kapelle war einriesengroßer heiliger Christoffer gemalt, auf sei-ner Schulter saß klein und vor Alter halbvergan-gen das Erlöserkind. Die Führer, wie sie es zuwei-len taten, schlugen nicht einfach den Weg ein, deruns weiterführen sollte, sondern forderten uns

alle auf, unsre Meinung darüber zu sagen, denndie Kapelle lag an einem dreifachen Kreuzweg,und wir hatten die Wahl. Nur wenige von unsäußerten einen Wunsch oder Rat, einer aber deu-tete nach links hinüber und forderte uns eindring-lich auf, diesen Weg zu wählen. Wir schwiegen

nun und warteten auf den Entscheid der Führer,da hob der heilige Christoffer an der Wand seinenArm mit dem langen groben Stabe und deutetedorthin, nach links, wohin unser Bruder strebte.Wir sahen es alle, schweigend, und schweigend wen-deten die Führer sich nach links und gingen diesenWeg, und wir folgten mit der innigsten Freude.Wir waren noch nicht lange in Schwaben unter-wegs, da machte sich eine Macht bemerkbar, anwelche wir nicht gedacht hatten und deren Ein-fluß wir längere Zeit stark zu spüren bekamen,ohne doch zu wissen, ob diese Macht eine freund-

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liche oder feindliche bedeute. Es war die Machtder Kronenwächter, welche in jenem Lande seitalters das Andenken und Erbe der Hohenstauferbewahren. Ich weiß nicht, ob unsre Führer mehrdarüber wußten und Weisungen hatten. Ich weißnur, daß uns von jener Seite mehrmals Ermunte-

rungen oder Warnungen zugekommen sind, soauf jenem Hügel am Wege nach Bopfingen, woein eisgrauer Geharnischter uns entgegentrat, beigeschlossenen Augen den greisen Kopf schüttelteund alsbald ohne Spur wieder verschwunden war.Unsre Führer nahmen die Warnung an, wir kehr-

ten auf der Stelle um und haben Bopfingen nichtzu sehen bekommen. Dagegen geschah es in derNähe von Urach, daß ein Abgesandter der Kro-nenwächter, wie aus dem Boden gewachsen, mittenim Führerzelt erschien und die Führer mit Ver-sprechungen und Drohungen bestimmen wollte,unsern Zug in den Dienst der Staufer zu stellenund namentlich die Eroberung Siziliens vorzu-bereiten. Er soll, als die Führer sich dieser Ge-folgschaft entschieden weigerten, über den Bundund über unsre Heerfahrt einen furchtbaren Fluchgesprochen haben. Doch berichte ich da nur, was

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eben unter uns darüber geflüstert worden ist; dieFührer selbst haben kein Wort darüber geäußert.Immerhin scheint es möglich, daß unsre schwan-kenden Beziehungen zu den Kronenwächtern eswaren, welche damals unsren Bund eine Zeitlang inden unverdienten Ruf brachten, ein Geheimbund

zur Wiederaufrichtung der Monarchie zu sein.Einmal habe ich es auch miterleben müssen, daßeiner meiner Kameraden reuig wurde, sein Ge-lübde mit Füßen trat und in den Unglauben zu-rückfiel. Es war ein junger Mensch, den ich rechtgern gemocht hatte. Der persönliche Grund, war-

um er mit nach dem Morgenlande zog, war seinWunsch, den Sarg des Propheten Mohammed zusehen, von welchem er hatte sagen hören, daß erdurch Zauber frei in der Luft schwebe. In einem

 jener schwäbischen oder alemannischen Städtchen,wo wir uns einige Tage aufhielten, weil eine Op-position von Saturn und Mond unsern Weiter-marsch hemmte, traf dieser Unglückliche, derschon seit einer Weile traurig und unfrei aussah,einen seiner ehemaligen Lehrer an, dem er vonseinen Schuljahren her anhänglich geblieben war;und diesem Lehrer gelang es, den Jüngling unsere

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Sache wieder in jenem Lichte sehen zu lassen, inwelchem sie den Ungläubigen erscheint. Der armeMensch kam von einem Besuche bei diesem Lehrerzurück zu unsrem Lager, in schrecklicher Erregung,mit verzerrtem Gesicht, er schlug Lärm vor demFührerzelt, und als der Sprecher heraustrat, schrie

er diesen zornig an: er habe es satt, diesen Nar-renzug mitzumachen, der uns niemals nach demOrient bringen werde, er habe es satt, wegen dum-mer astrologischer Bedenken tagelang die Reisezu unterbrechen, er habe den Müßiggang, die kin-dischen Umzüge, die Blumenfeste, die Wichtig-

tuerei mit Magie, das Durcheinanderwerfen vonLeben und Dichtung - all das habe er übersatt,er werfe den Führern seinen Ring vor die Füßeund nehme Abschied, um mit der bewährten Eisen-bahn in seine Heimat und an seine nützliche Ar-beit zurückzukehren. Es war ein häßlicher undkläglicher Anblick, uns zog sich das Herz zusam-men vor Scham und zugleich vor Mitleid mitdem Verblendeten. Der Sprecher hörte ihn freund-lich an und bückte sich lächelnd nach dem weg-geworfenen Ring und sagte mit einer Stimme,deren heitere Ruhe den Stürmer beschämen

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mußte: »Du hast Abschied genommen von uns undwirst also zur Eisenbahn, zur Vernunft und zurnützlichen Arbeit zurückkehren. Du hast Abschiedgenommen vom Bund, Abschied vom Zuge nachOsten, Abschied von der Magie, von den Blumen-festen, von der Poesie. Du bist frei, du bist von

deinem Gelübde entbunden.«»Auch von der Schweigepflicht?« rief heftig derAbtrünnige.»Auch von der Schweigepflicht«, gab der SprecherAntwort. »Erinnere dich: du hast geschworen,über das Geheimnis des Bundes vor den Ungläu-

bigen zu schweigen. Da du, wie wir sehen, dasGeheimnis vergessen hast, wirst du es niemandmitteilen können.«»Vergessen hätte ich etwas? Ich habe nichts ver-gessen!« rief der Jüngling, war aber unsicher ge-worden, und als der Sprecher ihm den Rückenkehrte und sich ins Zelt zurückzog, lief er plötz-lich rasch davon.Er tat uns leid, doch waren jene Tage so gedrängtvoll von Erlebnissen, daß ich ihn merkwürdigschnell vergaß. Nun aber geschah es eine Weilespäter, als wohl schon keiner von uns mehr an ihn

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dachte, daß wir in mehreren Dörfern und Städ-ten, durch die wir zogen, die Einwohner vonebendiesem Jüngling erzählen hörten. Es sei ein

 junger Mensch dagewesen (und sie beschriebenihn genau und nannten seinen Namen), der seiüberall auf der Suche nach uns. Erst habe er er-

zählt, er gehöre zu uns und sei auf dem Marschzurückgeblieben und verirrt, dann aber habe erzu weinen begonnen und habe berichtet, er seiuns untreu geworden und entlaufen, jetzt abersehe er, daß er außerhalb des Bundes nicht mehrleben könne, er wolle und müsse uns rinden, um

den Führern zu Füßen zu fallen und ihre Ver-zeihung zu erflehen. Da und dort und immer wie-der wurde uns diese Geschichte erzählt; wo wirhinkamen, da war der Arme eben gewesen. Wirfragten den Sprecher, was er davon halte und wasdaraus werden solle. »Ich glaube nicht, daß eruns finden wird«, sagte der Sprecher kurz. Und erfand uns nicht, wir sahen ihn nicht wieder.Einst, als einer der Führer mich in ein vertrau-liches Gespräch gezogen hatte, faßte ich Mut undfragte ihn, wie das nun mit diesem abtrünnigenBruder sei. Er sei doch reuig und sei auf der Suche

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nach uns, sagte ich, man müsse ihm doch helfen,seinen Fehler wieder gutzumachen, gewiß werdeer künftig der treueste Bundesbruder sein. DerFührer meinte: »Es wird uns eine Freude sein,wenn er zurückfindet. Erleichtern können wir esihm nicht. Er hat es sich schwer gemacht, den

Glauben wiederzufinden, er wird, so fürchte ich,uns nicht sehen und erkennen, auch wenn wirdicht an ihm vorüberziehen. Er ist blind gewor-den. Die Reue allein hilft nichts, man kann dieGnade nicht durch Reue erkaufen, man kann sieüberhaupt nicht erkaufen. Es ist schon vielen ähn-

lich gegangen, große und berühmte Männer sindSchicksalsbrüder dieses Jünglings gewesen. Ein-mal in der Jungend hat das Licht ihnen geleuchtet,einmal wurden sie sehend und folgten dem Stern,aber es kam die Vernunft und der Spott der Welt,es kam Kleinmut, es kamen scheinbare Mißer-folge, es kam Müdigkeit und Enttäuschung, undso haben sie sich wieder verloren, sind wiederblind geworden. Manche haben zeitlebens immerund immer wieder nach uns gesucht, uns abernicht mehr finden können, und haben dann in derWelt gelehrt, unser Bund sei nur eine hübsche

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Sage, durch welche man sich nicht dürfe verführenlassen. Andre sind heftige Feinde geworden undhaben dem Bund jede Schmähung und jeden Scha-den angetan, der ihnen möglich war.«Wunderbar festliche Tage waren es jedesmal,wenn wir auf unsrem Zuge mit ändern Teilen des

Bundesheeres zusammentrafen, wir bildeten dannzuweilen ein Heerlager von Hunderten, ja vonTausenden. Der Zug nämlich verlief nicht in einerfesten Ordnung, so daß alle Teilnehmer in mehroder weniger geschlossenen Heersäulen, alle ingleicher Richtung, gezogen wären. Vielmehr waren

zahllose Gruppen gleichzeitig unterwegs, jede ih-ren Führern und ihren Sternen folgend, jede stetsbereit, sich in eine größere Einheit aufzulösen undeine Weile ihr anzugehören, aber nicht minderbereit, stets wieder vereinzelt weiterzuziehen.Mancher zog auch ganz allein seines Weges, auchich bin zuzeiten allein marschiert, wenn irgendeinZeichen oder Ruf mich auf eigene Wege lockte.Ich erinnere mich einer auserlesenen kleinen Grup-pe, mit welcher wir einige Tage gemeinsam mar-schierten und lagerten; diese Gruppe hatte es auf sich genommen, die in Afrika gefangenliegenden

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Bundesbrüder und die Prinzessin Isabella aus denHänden der Mauren zu befreien. Von ihnen hießes, sie besäßen das Hörn des Hüon, und unterihnen waren der mir befreundete Dichter Lau-scher, der Maler Klingsor und der Maler Paul Klee;sie sprachen von nichts als von Afrika und der ge-

fangenen Prinzessin, und ihre Bibel war das Buchvon den Taten Don Quixotes, dem zu Ehren sieihren Weg über Spanien zu nehmen dachten.Schön war es jedesmal, einer solchen Freundes-gruppe zu begegnen, ihren Festen und Andachtenbeizuwohnen, sie zu den unseren einzuladen, ihre

Taten und Pläne zu hören, sie beim Abschied zusegnen und zu wissen: sie zogen ihren Weg, wiewir den unsern, es hatte jeder einzelne von ihnenseinen Traum, seinen Wunsch, sein heimlichesSpiel im Herzen, und doch flössen sie alle mitim großen Strom und gehörten alle zusammen,trugen dieselbe Ehrfurcht im Herzen, denselbenGlauben, hatten alle dasselbe Gelübde abgelegt!Ich traf Jup, den Magier, der das Glück seinesLebens in Kaschmir zu pflücken gedachte, ich traf Collofino, den Rauchzauberer, seine Lieblings-stelle aus dem Abenteuerlichen Simplizissimus

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zitierend, ich traf Louis den Grausamen, dessenTraum es war, im Heiligen Lande einen ölgar-ten zu pflanzen und Sklaven zu halten, Arm inArm ging er mit Anselm, der die blaue Irisblumeseiner Kindheit suchen ging. Ich traf und liebteNinon, als »die Ausländerin« bekannt, dunkel

blickten ihre Augen unter schwarzen Haaren, siewar eifersüchtig auf Fatme, die Prinzessin meinesTraumes, und war ja doch wahrscheinlich selberFatme, ohne es zu wissen. So wie wir dahinge-zogen, so waren einst Pilger, Kaiser und Kreuzrittergezogen, um das Grab des Heilands zu befreien

oder um arabische Magie zu studieren, spanischeRitter waren diesen Weg gepilgert und deutsche Ge-lehrte, irische Mönche und französische Dichter.Mir, der ich von Beruf eigentlich nur Violinspielerund Märchenleser war, lag es ob, in unsrer Gruppefür die Musik zu sorgen, und ich erfuhr es damals,wie eine große Zeit den kleinen Einzelnen hebtund seine Kräfte steigert. Ich spielte nicht nur dieVioline und leitete unsre Chöre, ich sammelte auchalte Lieder und Choräle, schrieb sechs- und acht-stimmige Motetten und Madrigale und studiertesie ein. Doch nicht davon will ich berichten.

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Viele unter meinen Kameraden und Vorgesetztenwurden mir sehr lieb. Aber kaum einer hat, wäh-rend er damals scheinbar wenig beachtet wurde,nachher meine Erinnerung so viel beschäftigt wieLeo. Leo war einer unsrer Diener (welche natür-lich Freiwillige waren wie wir), er half beim Ge-

päcktragen und war häufig dem persönlichenDienst beim Sprecher zugeteilt. Dieser unschein-bare Mann hatte etwas so Gefälliges, unaufdring-lich Gewinnendes an sich, daß wir alle ihn liebten.Er tat seine Arbeit fröhlich, sang oder pfiff mei-stens vor sich hin, war nie zu sehen, als wenn man

ihn brauchte, ein idealer Diener. Außerdem hin-gen alle Tiere ihm an, beinahe immer hatten wirirgendeinen Hund bei uns, der Leos wegen mit-gelaufen war; er konnte Vögel zahm machen undSchmetterlinge an sich locken. Was ihn nach demMorgenlande zog, war sein Wunsch, nach salomo-nischem Schlüssel die Sprachen der Vögel verste-hen zu lernen. Neben manchen Gestalten unsresBundes, welche unbeschadet ihres Wertes und ihrerBundestreue doch vielleicht irgend etwas Über-steigertes, etwas Absonderliches, Feierliches oderPhantastisches an sich hatten, wirkte dieser Diener

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Leo einfach und natürlich, so rotbäckig gesundund freundlich anspruchslos.Was mir die Erzählung besonders erschwert, dasist die große Verschiedenheit meiner einzelnen Er-innerungsbilder. Ich sagte ja schon, daß wir baldnur als kleine Gruppe marschierten, bald eine

Schar oder gar ein Heer bildeten, zuweilen bliebich aber auch nur mit einem einzigen Kameraden,oder auch ganz allein, in irgendeiner Gegend zu-rück, ohne Zelte, ohne Führer, ohne Sprecher.Schwierig wird das Erzählen ferner dadurch, daßwir ja nicht nur durch Räume wanderten, sondern

ganz ebenso durch Zeiten. Wir zogen nach Mor-genland, wir zogen aber auch ins Mittelalter oderins goldne Zeitalter, wir streiften Italien oder dieSchweiz, wir nächtigten aber auch zuweilen imzehnten Jahrhundert und wohnten bei den Patri-archen oder bei Feen. In den Zeiten meines Allein-bleibens fand ich häufig Gegenden und Menschenmeiner eigenen Vergangenheit wieder, wander-te mit meiner gewesenen Braut an den Wald-ufern des oberen Rheins, zechte mit Jugendfreun-den in Tübingen, in Basel oder Florenz, oder warein Knabe und zog mit den Kameraden meiner

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Schulzeit aus, um Schmetterlinge zu fangen odereinen Fischotter zu belauschen, oder meine Ge-sellschaft bestand aus den Lieblingsfiguren meinerBücher, es ritten Almansor und Parzival, Witikooder Goldmund neben mir, oder Sancho Pansa,oder wir waren bei den Barmekiden zu Gast.

Fand ich mich dann in irgendwelchem Tale wie-der zu unsrer Gruppe zurück, hörte die Bundes-lieder und lagerte dem Führerzelt gegenüber, soward mir alsbald klar, daß mein Weg in die Kind-heit oder mein Ritt mit Sancho notwendig mit zudieser Reise gehörten; denn unser Ziel war ja nicht

nur das Morgenland, oder vielmehr: unser Mor-genland war ja nicht nur ein Land und etwas Geo-graphisches, sondern es war die Heimat und Ju-gend der Seele, es war das Überall und Nirgends,war das Einswerden aller Zeiten. Doch wurdemir dies nur je und je für einen Augenblick be-wußt, und darin eben bestand das große Glück,das ich damals genoß. Denn später, sobald diesGlück mir wieder verlorengegangen war, sah ichdiese Zusammenhänge deutlich ein, ohne doch denmindesten Nutzen oder Trost davon zu haben.Wenn etwas Köstliches und Unwiederbringliches

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dahin ist, dann haben wir wohl das Gefühl, auseinem Traum erwacht zu sein. In meinem Falleist dies Gefühl unheimlich richtig. Denn meinGlück bestand tatsächlich aus dem gleichen Ge-heimnis wie das Glück der Träume, es bestandaus der Freiheit, alles irgend Erdenkliche gleich-

zeitig zu erleben, Außen und Innen spielend zuvertauschen, Zeit und Raum wie Kulissen zu ver-schieben. So wie wir Bundesbrüder ohne Autooder Schiff die Welt durchreisten, wie wir die vomKriege erschütterte Welt durch unsern Glaubenbezwangen und zum Paradiese machten, so riefen

wir das Gewesene, das Zukünftige, das Erdichteteschöpferisch in den gegenwärtigen Augenblick.Und immer wieder, in Schwaben, am Bodensee,in der Schweiz und überall, begegneten uns Men-schen, die uns verstanden oder die uns doch auf irgendeine Weise dafür dankbar waren, daß esuns und unsern Bund und unsre Morgendlandfahrtgab. Wir haben, mitten zwischen den Trambah-nen und Bankhäusern von Zürich, die Arche Noahangetroffen, bewacht von mehreren alten Hun-den, welche alle den gleichen Rufnamen hatten,und tapfer durch die Untiefen einer nüchternen

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Zeit gesteuert von Hans C., dem Nachkommender Noachide, dem Freund der Künste, und wirwaren in Winterthur, eine Treppe tief unterStoecklins Zauberkabinett, im chinesischen Tem-pel zu Gast, wo unter der bronzenen Maja dieRäucherstäbchen glühten und zum bebenden Ton

des Tempelgongs der schwarze König zart dieFlöte blies. Und am Fuße des Sonnenbergs stie-ßen wir auf Suon Mali, eine Kolonie des Königsvon Siam, wo wir zwischen den steinernen undehernen Buddhas, dankbare Gäste, unsre Trank-und Rauchopfer darbrachten.

Eines der schönsten Erlebnisse war die Bundes-feier in Bremgarten, dicht war da der magischeKreis um uns geschlossen. Von den SchloßherrenMax und Tilli empfangen, hörten wir Othmar imhohen Saale auf dem Flügel Mozart spielen, fan-den den Park von Papageien und ändern sprechen-den Tieren bevölkert, hörten am Springbrunnendie Fee Armida singen, und mit wehender Lockenickte das schwarze Haupt des Sterndeuters Lon-gus neben dem lieben Antlitz Heinrichs von Ofter-dingen. Im Garten schrien die Pfauen, und Louisunterhielt sich auf Spanisch mit dem gestiefelten

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Kater, während Hans Resom, erschüttert durchseine Einblicke in das Maskenspiel des Lebens,eine Wallfahrt an das Grab Karls des Großengelobte. Es war eine der Triumphzeiten unsrerFahrt: wir hatten die Zauberwelle mitgebracht,sie spülte alles fort, die Eingeborenen huldigten

auf Knien der Schönheit, der Schloßherr trug einGedicht vor, das von unsern Abendtaten handelte,dicht gedrängt um die Schloßmauern lauschten dieTiere des Waldes, und im Flusse bewegten sichblinkend in feierlichen Zügen die Fische und wur-den mit Backwerk und Wein bewirtet.

Gerade diese besten Erlebnisse lassen sich eigent-lich nur dem erzählen, welcher selbst von ihremGeist berührt war; sie klingen in meiner Darstel-lung arm und vielleicht töricht; aber jeder, der dieTage von Bremgarten miterlebt und gefeiert hat,wird mir jede Einzelheit bestätigen und durchhundert schönere ergänzen. Wie beim Mondauf-gang aus den hohen Bäumen die Schweife derPfauen schimmerten, und am beschatteten Uferzwischen den Felsen die emportauchenden Was-serfrauen süß und silbern glänzten, und einsamunterm Kastanienbaume beim Brunnen der hagere

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Don Quixote stand und die erste Nachtwachehielt, indessen überm Schloßturm die letztenLeuchtkugeln des Feuerwerks so sanft in die Mond-nacht sanken, und mein Kollege Pablo, mit Rosenbekränzt, vor den Mädchen die persische Rohr-flöte spielte, wird mir immer im Gedächtnis blei-

ben. Oh, wer von uns hätte gedacht, daß der Zau-berkreis so bald zerbrechen, daß fast alle von uns- und auch ich, auch ich! — uns wieder in dieklanglosen Öden der abgestempelten Wirklichkeitverirren würden, so wie Beamte und Ladendienernach einem Gelage oder Sonntagsausflug sich ernüch-

tert wieder in den Alltag der Geschäfte ducken!In jenen Tagen war keiner von uns solcher Ge-danken fähig. Im Schloßturm von Bremgartenduftete mir der Flieder ins Schlafzimmer, durchdie Bäume hindurch hörte ich den Fluß rauschen,durchs Fenster stieg ich in tiefer Nacht, von Glückund Sehnsucht trunken, schlich am wachenden Rit-ter und an eingeschlafenen Zechern vorüber zumUfer hinab, zu den rauschenden Wassern, zu denweißen leuchtenden Meerjungfern, und sie nah-men mich mit sich hinab in die mondkühle Kri-stallwelt ihrer Heimat, wo sie unerlöst und träu-

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merisdi mit den Kronen und Goldketten ihrerSchatzkammern spielen. Monate schienen mir inder funkelnden Tiefe zu vergehen, und als ichemportauchte und tief durchkühlt ans Uferschwamm, da klang noch immer Pablos Rohrflötefern aus den Gärten, und noch immer stand hoch

am Himmel der Mond. Ich sah Leo mit zwei wei-ßen Pudeln spielen, sein kluges Knabengesichtstrahlte vor Freude. Ich fand Longus im Gehölzesitzen, ein pergamentenes Buch auf den Knien,in das er griechische und hebräische Zeichenschrieb: Worte, aus deren Buchstaben Drachen

flogen und farbige Schlangen sich bäumten. Er sahmich nicht, er malte versunken seine bunte Schlan-genschrift, lange blickte ich über seine gebeugtenSchultern in das Buch, sah die Schlangen und Dra-chen aus den Zeilen quellen, sich wälzen, sich laut-los ins nächtliche Gebüsch verlieren. »Longus«,sagte ich leise, »lieber Freund!« Er hörte michnicht, meine Welt war ihm fern, er war versun-ken. Und abseits unter den Mondbäumen wan-delte Anselm, eine Schwertlilie in der Hand, ver-loren starrte er und lächelnd in den violettenKelch der Blüte.

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Etwas, was ich schon mehrmals auf unsrer Fahrtbeobachtet hatte, ohne doch richtig darüber nach-gedacht zu haben, fiel mir in den BremgartnerTagen wieder auf, wunderlich und ein wenigschmerzlich. Es waren unter uns viele Künstler,viele Maler, Musikanten, Dichter, es war der glü-

hende Klingsor da und der unstete Hugo Wolf,der wortkarge Lauscher und der glänzende Bren-tano — aber mochten auch diese Künstler, odereinige von ihnen, sehr lebendig und liebenswerteGestalten sein, so waren die von ihnen erdachtenFiguren doch ohne Ausnahme viel lebendiger,

schöner, froher und gewissermaßen richtiger undwirklicher als die Dichter und Schöpfer selber.Pablo saß da in entzückender Unschuld und Le-benslust mit seiner Flöte, sein Dichter aber schlichschattenhaft, vom Mond halb durchschienen, amUfer hin und suchte Einsamkeit. Flackernd undziemlich betrunken lief Hoffmann zwischen denGästen hin und wider, viel sprechend, klein, ko-boldisch, und auch er war, wie sie alle, an Gestaltnur halbwirklich, nur halbvorhanden, nicht ganzdicht, nicht ganz echt, während der Archivar Lind-horst, zum Spaße den Drachen spielend, mit jedem

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Atemzug Feuer schnob und Kraft aushauchte wieein Automobil. Ich fragte den Diener Leo, warumdas wohl so sei, daß die Künstler manchmal nurwie halbe Menschen erschienen, während ihreBilder so unwiderleglich lebendig aussähen. Leosah mich an, verwundert über meine Frage. Dann

ließ er den Pudel los, den er auf dem Arm getra-gen hatte, und sagte: »Bei den Müttern ist es auchso. Wenn sie die Kinder geboren und ihnen ihreMilch und ihre Schönheit und Kraft mitgegebenhaben, dann werden sie selber unscheinbar, undes fragt niemand mehr nach ihnen.«

»Das ist aber traurig«, sagte ich, ohne eigentlichviel dabei zu denken.»Ich denke, es ist nicht trauriger als alles andreauch«, sagte Leo, »es ist vielleicht traurig, und esist auch schön. Das Gesetz will es so.«»Das Gesetz?« fragte ich neugierig. »Was ist dasfür ein Gesetz, Leo?«»Es ist das Gesetz vom Dienen. Was lange lebenwill, muß dienen. Was aber herrschen will, daslebt nicht lange.«»Warum streben dann so viele nach Herrschaft?«»Weil sie es nicht wissen. Es gibt wenige, die zum

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II

WAS ES WAR, DAS UNSERN TREUEN LEObestimmte, uns mitten in der gefährlichenSchlucht von Morbio Inferiore plötzlich zu ver-lassen, darüber hat wohl jeder Teilnehmer an die-

ser unvergeßlichen Reise sich seine Gedanken ge-macht, und erst sehr viel später begann ich diewahren Hergänge und tieferen Zusammenhängedieses Ereignisses einigermaßen zu ahnen und zuüberblicken, und es zeigte sich, daß auch diesesscheinbar nebensächliche, in Wirklichkeit tief ein-

schneidende Abenteuer, das Verschwinden Leos,keineswegs ein Zufall, sondern ein Glied in jenerKette von Verfolgungen war, durch welche derErbfeind unser Unternehmen zum Scheitern zubringen suchte. An jenem kühlen Herbstmorgen,als das Fehlen unsres Dieners Leo entdeckt wurdeund alles Forschen nach seinem Verbleib erfolglosblieb, war ich gewiß nicht der einzige, der zumerstenmal etwas wie eine Ahnung von Unheil unddrohendem Verhängnis im Herzen spürte.Genug, für den Augenblick war die Lage diese:

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Wir lagerten, nachdem wir in kühnem Zuge halbEuropa und einen Teil des Mittelalters durch-quert hatten, in einem tiefeingeschnittenen Felsen-tal, einer wilden Bergschlucht an der italienischenGrenze, und suchten nach dem unerklärlicher-weise verlorengegangenen Diener Leo, und je län-

ger wir ihn suchten und je mehr im Laufe des Tagesunsre Hoffnung schwand, ihn wieder aufzufin-den, desto mehr fühlte sich jeder von uns von dembeklemmenden Gefühl durchdrungen, es sei danicht nur ein beliebter und angenehmer Mannaus unsrer Dienerschaft entweder verunglückt oder

entlaufen oder uns durch Feinde geraubt worden,sondern es sei dies der Beginn eines Kampfes, daserste Anzeichen eines Sturmes, der über uns herein-brechen werde. Den ganzen Tag bis in die tiefeDämmerung verwandten wir auf die Nachfor-schungen nach Leo, die ganze Schlucht wurde ab-gesucht, und während diese Bemühungen uns er-müdeten und eine Stimmung von Erfolglosigkeitund Vergeblichkeit in uns allen wuchs, war eswunderlich und unheimlich, wie von Stunde zuStunde der verlorengegangene Diener an Wich-tigkeit, unser Verlust an Schwere zuzunehmen

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wieder enttäuscht zu werden und ratlosen Ge-sichtern gegenüberzustehen, jetzt spürte ich zumerstenmal im Herzen etwas wie Traurigkeit undZweifel, und je mehr diese Gefühle in mir starkwurden, desto deutlicher auch fühlte ich, daß esnicht bloß das Wiederfinden Leos war, woran

ich den Glauben verlor, sondern es schien alles jetzt unzuverlässig und zweifelhaft zu werden,es drohte alles seinen Wert, seinen Sinn zu ver-lieren: unsre Kameradschaft, unser Glaube, unserSchwur, unsre Morgenlandfahrt, unser ganzesLeben.

Und sollte ich mich auch täuschen, wenn ich dieseGefühle bei uns allen voraussetze, ja sollte ichnachträglich mich über meine eigenen Gefühle undinneren Erlebnisse täuschen und vieles, was inWirklichkeit erst viel später erlebt wurde, irrtüm-lich auf jenen Tag zurückverlegen - so bleibt dochtrotz allem die wunderliche Tatsache mit LeosReisegepäck bestehen! Das war nun in der Tat,über alle persönlichen Stimmungen hinaus, etwasSonderbares, Phantastisches und zunehmend Be-ängstigendes: noch während dieses Tages in derSchlucht von Morbio, noch während unsres eifrigen

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Suchens nach dem Verschwundenen vermißte balddieser, bald jener von uns irgend etwas Wichtiges,etwas Unentbehrliches im Gepäck, und nichts da-von war aufzufinden, und bei jedem vermißtenStück stellte sich heraus, es müsse sich in Leos Ge-päck befunden haben, und obwohl Leo, gleich allen

unsern Leuten, nur den üblichen leinenen Träger-sack auf dem Rücken gehabt hatte, einen einzigenSack unter damals wohl dreißig ändern Säcken,schienen doch in diesem einen, nun verlorengegan-genen Sack sich alle wahrhaft wichtigen Dinge be-funden zu haben, die wir auf unsrer Reise mit uns

führten! Und wenn es nun auch eine bekanntemenschliche Schwäche ist, daß uns ein Gegenstandim Augenblick, wo wir ihn vermissen, übertriebenwertvoll und weniger entbehrlich scheint als jeder,den wir in Händen halten, und obwohl in der Tatmancher von jenen Gegenständen, deren Verlustuns damals in der Schlucht von Morbio so sehrbeängstigte, entweder nachher doch wieder zumVorschein kam oder sich am Ende eben als garnicht so unentbehrlich erwies - trotz alledem istes eben doch leider wahr, daß wir damals, mitdurchaus berechtigter Beunruhigung, den Verlust

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einer ganzen Reihe von höchst wichtigen Dingenfeststellen mußten.Außerordentlich und unheimlich war ferner dies:Die vermißten Gegenstände, einerlei ob sie sichspäter wieder vorfanden oder nicht, bildeten ihrerWichtigkeit nach eine Stufenfolge, und es fand

nach und nach von dem Verlorengeglaubten immergerade das sich wieder in unsern Vorräten vor, waswir mit Unrecht so schwer vermißt und über des-sen Wert wir uns sehr getäuscht hatten. Ja, um dasEigentliche und ganz Unerklärbare schon hier ganzklar auszusprechen: Es stellten sich im Lauf der

weiteren Reise zu unsrer Beschämung sämtliche inVerlust geratenen Werkzeuge, Kostbarkeiten, Kar-ten und Dokumente als entbehrlich heraus, ja esschien geradezu, als habe damals jeder von unsseine ganze Phantasie angestrengt, um sich unwie-derbringliche furchtbare Verluste einzureden, alshabe jeder sich bemüht, das ihm am wichtigstenErscheinende als verloren hinzustellen und zubeweinen: einer die Reisepässe, einer die Land-karten, einer den Kreditbrief an den Kalifen, einerdies, einer jenes. Und am Ende, als Stück um Stückvon dem Verlorengeglaubten entweder als gar

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nicht verloren oder als unwichtig und entbehrlicherkannt war, blieb eigentlich nur eine einzigeKostbarkeit übrig, ein unschätzbar wichtiges undschlechterdings grundlegendes und unentbehrlichesDokument allerdings, das tatsächlich und endgül-tig verloren war,- aber nun gingen die Meinungen

darüber, ob dies mit dem Diener Leo verschwun-dene Dokument sich überhaupt bei unsrem Gepäckbefunden habe, hoffnungslos auseinander. Bestandauch völlige Übereinstimmung über den hohenWert dieses Dokumentes und über die Unersetz-lichkeit seines Verlustes, so wagten doch nur wenige

von uns (darunter ich selbst) mit Bestimmtheit zubehaupten, dies Dokument sei von uns mit auf dieReise genommen worden. Der eine versicherte, wirhätten etwas Ähnliches zwar in Leos Leinensackmitgeführt, dies sei aber keineswegs das Original-dokument gewesen, sondern natürlich nur eineAbschrift; andre glaubten darauf schwören zu kön-nen, daß niemals daran gedacht worden sei, wederdas Dokument selbst noch eine Kopie mit auf dieReise zu nehmen, ja daß dies dem ganzen Sinnunsrer Reise Hohn gesprochen haben würde. Hit-zige Auseinandersetzungen schlössen sich hieran,

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und weiterhin zeigte sich, daß auch über den Ver-bleib des Originals (einerlei ob wir nun die Kopiemöchten besessen und verloren haben oder nicht)vielfache, einander durchaus widersprechende Mei-nungen herrschten. Das Dokument, so wurde be-hauptet, sei bei der Regierung im Kyffhäuser

deponiert worden. Nein, sagten andre, es liegemitbeigesetzt in jener Urne, welche die Asche uns-res verstorbenen Meisters enthält. Unsinn, hieß esdann wieder, der Bundesbrief sei ja vom Meisterin der nur ihm allein bekannten Urbildschrift ab-gefaßt, und er sei mit dem Leichnam des Meisters

auf dessen Befehl verbrannt worden, und die Fragenach diesem Urbriefe sei ohne jede Bedeutung, weiler nach des Meisters Tod für kein Menschenaugelesbar gewesen wäre; wohl aber sei es unbedingtnotwendig festzustellen, wo sich die vier (andresagten: sechs) Übersetzungen des Urbriefs befän-den, die noch zu des Meisters Lebzeiten und unterseiner Aufsicht seien hergestellt worden. Eine chi-nesische, hieß es, eine griechische, eine hebräischeund eine lateinische Übersetzung habe existiert,und sie seien niedergelegt in den vier alten Haupt-städten. Noch viele Behauptungen und Ansichten

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tauchten auf, manche bestanden hartnäckig auf den ihren, andre ließen sich bald von diesem,bald von jenem gegnerischen Argument über-zeugen, um dann auch die neue Ansicht bald wie-der zu wechseln. Kurz, es bestand von damals ankeine Sicherheit und Einigkeit mehr in unsrer Ge-

meinschaft, obwohl die große Idee uns noch immerbeisammenhielt.Ach, wie gut erinnere ich mich jener ersten Streitig-keiten! Sie waren etwas so Neues und Unerhörtesin unsrem bisher unzerstörbar einigen Bunde. Siewurden mit Achtung und Höflichkeit geführt, we-

nigstens anfänglich, sie führten zunächst weder zuHandgreiflichkeiten noch zu persönlichen Vorwür-fen oder Beleidigungen; vorerst waren wir nochder ganzen Welt gegenüber eine untrennbar ver-einigte Brüderschaft. Ich höre die Stimmen noch,ich sehe noch unsern Lagerplatz, an dem die erstedieser Debatten geführt wurde, ich sehe zwischenden ungewohnt ernsten Gesichtern hier und dortdie goldenen Herbstblätter niederschweben, seheeins auf einem Knie, eins auf einem Hute liegen-bleiben. Ach, und ich hörte zu, fühlte mich mehrund mehr bedrückt und eingeschüchtert, und war

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inmitten all der Meinungsäußerungen im Herzennoch völlig meines Glaubens sicher, traurig sicher:daß nämlich im Sacke Leos das Original, der echtealte Bundesbrief enthalten gewesen, und daß ermit ihm verschwunden und verloren sei. So betrü-bend dieser Glaube sein mochte, er war aber doch

ein Glaube, er stand fest und gab eine Sicherheit.Damals freilich dachte ich, daß ich diesen Glaubennur allzu gerne gegen einen hoffnungsvolleren ver-tauschen würde. Erst später, als ich diesen traurigenGlauben verloren hatte und allen möglichen Mei-nungen zugänglich geworden war, sah ich ein, was

ich an meinem Glauben besessen hatte.Aber ich sehe, die Sache läßt sich auf diese Weisenicht erzählen. Aber auf welche Weise wohl ließesie sich erzählen, diese Geschichte einer einzig-artigen Seelengemeinschaft, eines so wunderbarerhöhten und beseelten Lebens? Ich möchte sogerne, als einer der letzten Überlebenden unsrerKameradschaft, etwas vom Andenken unsrer gro-ßen Sache retten; ich erscheine mir wie der über-lebende alte Diener etwa eines der Paladine Karlsdes Großen, welcher in seinem Gedächtnis einestrahlende Reihe von Taten und Wundern be-

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wahrt, deren Bild und Andenken mit ihm dahin-schwindet, wenn es ihm nicht gelingt, etwas davondurch Wort oder Bild, durch Bericht oder Lied andie Nachwelt weiterzuleiten. Aber wie nur, durchwelchen Kunstgriff wäre es zu ermöglichen, wiewäre die Geschichte unsrerMorgenlandfahrt irgend

erzählbar zu machen? Ich weiß es nicht. Schondieser erste Anfang, dieser in bester Absicht be-gonnene Versuch führt mich ins Uferlose und Un-verständliche. Ich wollte einfach aufzuzeichnenversuchen, was mir vom Verlauf und den einzelnenBegebenheiten unsrer Morgenlandfahrt im Ge-

dächtnis geblieben ist, nichts schien einfacher zusein. Und nun, da ich noch kaum etwas habe er-zählen können, bin ich an einer einzigen kleinenEpisode, an die ich ursprünglich gar nicht gedachthatte, bin ich an der Episode von Leos Verschwin-den hängengeblieben und halte statt eines Gewebesein Bündel von tausend verknoteten Fäden in Hän-den, welche zu schlichten und zu entwirren hundertHände für Jahre beschäftigen würde, auch wennnicht jedes einzelne Fadenstück, sobald man es an-faßt und leise daran ziehen will, so furchtbar sprödewäre und einem zwischen den Fingern abbräche.

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Ich kann mir denken, daß es jedem Geschichtschrei-ber ähnlich geht, wenn er die Ereignisse irgendeinesZeitlaufs aufzuschreiben beginnt und es mit derWahrheit ernst meint. Wo ist eine Mitte der Ereig-nisse, ein Gemeinsames, etwas, worauf sie sich be-ziehen und was sie zusammenhält? Damit etwas

wie Zusammenhang, etwas wie Kausalität, etwaswie Sinn entstehe, damit überhaupt irgend etwasauf Erden erzählbar werde, muß der Geschicht-schreiber Einheiten erfinden: einen Helden, einVolk, eine Idee, und muß das, was in Wirklichkeitim Namenlosen passiert ist, dieser erfundenen

Einheit geschehen lassen.Aber wenn schon dies so schwierig ist, eine Anzahlwirklich geschehener und beglaubigter Ereignissezusammenhängend zu erzählen, so ist es in meinemFall noch viel schwieriger, denn alles wird zwei-felhaft, sobald ich es recht genau betrachten will,alles entwischt und löst sich auf, so wie unsre Ge-meinschaft, das Stärkste auf der Welt, sich hat auf-lösen können. Nirgends ist eine Einheit, eine Mitte,ein Punkt, um den das Rad sich dreht.Unsre Fahrt nach Morgenland und die ihr zu-grunde liegende Gemeinschaft, unser Bund, ist das

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Wichtigste, das einzig Wichtige in meinem Lebengewesen, etwas,woneben meine eigene Person voll-kommen nichtig erschien. Und jetzt, wo ich diesWichtigste, oder doch etwas davon, aufzeichnenund festhalten will, ist alles nur eine auseinander-scherbende Masse von Bildern, die sich in einem

Etwas gespiegelt haben, und dieses Etwas ist meineigenes Ich, und dieses Ich, dieser Spiegel erweistsich überall,wo ich ihn befragen will, als ein Nichts,als die oberste Haut einer Glasfläche. Ich lege mei-ne Feder fort, zwar mit der Absicht und Hoffnung,morgen oder ein andresmal fortzufahren, vielmehr

nochmals neu zu beginnen, aber hinter der Absichtund Hoffnung, hinter meinem ganzen unbändigenDrang nach dem Erzählen unsrer Geschichte stehtein tödlicher Zweifel. Es ist jener Zweifel, der auf der Suche nach Leo im Tal von Morbio begonnenhat. Dieser Zweifel stellt nicht nur die Frage: Istdeine Geschichte denn erzählbar? Er stellt auchnoch die Frage: War sie denn erlebbar? Wir erin-nern uns an Beispiele, daß sogar die Kämpfer desWeltkrieges, denen es doch wahrlich an Tatsachen-berichten, an beglaubigter Geschichte nicht fehlt,zuweilen diese Zweifel haben kennenlernen müssen.

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III

ICH HABE, SEIT ICH DAS VORIGE SCHRIEB, MEINVorhaben nochmals und abermals in Gedankenumkreist und ihm beizukommen versucht. Eine

Lösung habe ich nicht gefunden, ich stehe noch im-mer dem Chaos gegenüber. Aber ich habe mir dasWort gegeben, nicht nachzulassen, und im Augen-blick, da ich dies Gelübde ablegte, überflog michwie ein Sonnenstrahl eine glückliche Erinnerung.Ähnlich nämlich, so fiel mir ein, ganz ähnlich wie

 jetzt empfand ich damals in meinem Herzen, alswir unsere Heerfahrt angetreten haben: auch daunternahmen wir etwas anscheinend Unmögliches,auch da gingen wir scheinbar im Dunkel und rich-tungslos und hatten nicht die mindeste Aussicht,und doch strahlte in unsern Herzen, stärker als

 jede Wirklichkeit oder Wahrscheinlichkeit, derGlaube an den Sinn und die Notwendigkeit unsresTuns. Wie ein Schauer lief mir der Nachklang

 jener Empfindung übers Herz, und für den Augen-blick dieses seligen Schauers war alles erhellt,schien alles wieder möglich.

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Mag es nun gehen, wie es wolle: ich habe beschlos-sen, meinen Willen durchzusetzen. Auch wenn ichmeine unerzählbare Geschichte zehnmal, hundert-mal von vorn beginnen muß und immer an den-selben Abgrund gerate, ich werde eben hundert-mal neu beginnen; ich werde, wenn ich schon

die Bilder nicht wieder in ein sinnvolles Ganzebringe, jedes einzelne Bildbruchstück so treu wiemöglich festhalten. Und ich werde, soweit diesheute noch irgend möglich ist, dabei des erstenGrundsatzes unsrer großen Zeit eingedenk sein:niemals zu rechnen, niemals mich durch Vernunft-

gründe verblüffen zu lassen, stets den Glaubenstärker zu wissen als die sogenannte Wirklich-keit.Einen Versuch, das muß ich freilich bekennen,habe ich inzwischen gemacht, meinem Ziel auf praktische und vernünftige Art näherzukommen.Ich habe einen Jugendfreund aufgesucht, der hierin der Stadt lebt und eine Zeitung redigiert, erheißt Lukas; er hat den Weltkrieg mitgemachtund ein Buch darüber verfaßt, das viel gelesenwird. Lukas empfing mich freundlich, ja er hattesichtlich einp Freude daran, einen einstigen Schul-

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kameraden wiederzusehen. Ich habe zwei längereUnterredungen mit ihm gehabt.Ich versuchte ihm begreiflich zu machen, um wases mir gehe. Ich verschmähte dabei alle Umwege.Offen sagte ich ihm, ich sei einer der Teilnehmeran jener großen Unternehmung, von welcher ja

auch er gehört haben müsse, an der sogenannten»Morgenlandfahrt« oder dem Bundesheerzug,oder wie immer die große Sache damals in derÖffentlichkeit bezeichnet werden mochte. O ja,lächelte er mit freundlicher Ironie, gewiß erinnereer sich dieser Sache, in seinem Freundeskreise

nenne man jene eigentümliche Episode, vielleichtein wenig allzu respektlos, meistens den »Kinder-kreuzzug«. Man habe in seinen Kreisen diese Be-wegung nicht ganz ernst genommen, man habe sieetwa einer theosophischen Bewegung oder irgend-einer Völkerverbrüderungsunternehmung gleich-gestellt, immerhin sei man über einzelne Erfolgeunsrer Unternehmung sehr erstaunt gewesen, manhabe mit Ergriffenheit von der todesmutigenDurchquerung Oberschwabens, von dem Triumphin Bremgarten, von der Übergabe des TessinerMontags-Dorfes gelesen und habe zeitweise den

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daß unser Bund keineswegs eine Erscheinung derNachkriegsjahre ist, sondern durch die ganzeWeltgeschichte in einer zwar manchmal unterirdi-schen, nie aber unterbrochnen Linie läuft, daßauch gewisse Phasen des Weltkrieges nichts andresgewesen sind als Etappen unsrer Bundesgeschichte,

ferner daß Zoroaster, Lao Tse, Platon, Xeno-phon, Pythagoras, Albertus Magnus, Don Qui-xote, Tristram Shandy, Novalis, Baudelaire Mit-begründer und Brüder unsres Bundes gewesensind. Er lächelte dazu genau das Lächeln, das icherwartet hatte.

»Schön«, sagte ich, »ich bin nicht gekommen, umSie zu belehren, sondern um bei Ihnen zu lernen.Es ist mein sehnlichstes Verlangen, nicht etwa eineGeschichte des Bundes zu schreiben (dazu wäreauch ein ganzes Heer von wohlausgerüsteten Ge-lehrten nicht imstande), wohl aber ganz schlichtdie Geschichte unsrer Reise zu erzählen. Es willmir aber durchaus nicht gelingen, auch nur an dieSache heranzukommen. Es liegt nicht an der lite-rarischen Fähigkeit, diese glaube ich zu besitzen,bin übrigens hierin ohne allen Ehrgeiz. Nein, eshandelt sich um folgendes: Die Wirklichkeit,

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welche ich samt meinen Kameraden einst erlebthabe, ist nicht mehr vorhanden, und obwohl dieErinnerungen daran das Wertvollste und Leben-digste sind, was ich besitze, scheinen sie doch sofern, sind so sehr aus einem anderen Stoff, alswären sie auf anderen Sternen in anderen Jahr-

tausenden geschehen, oder als wären sie Fieber-träume gewesen.«»Das kenne ich!« rief Lukas lebhaft, jetzt erst be-gann unser Gespräch ihn zu interessieren. »O wiegut kenne ich das! Sehen Sie, genau ebenso ist esmir mit dem Erlebnis des Krieges gegangen. Ich

glaubte ihn gut und scharf erlebt zu haben, ich warzum Bersten voll von Bildern, die Filmrolle inmeinem Gehirn schien tausend Kilometer lang zusein - aber als ich am Schreibtisch saß, auf einemStuhl, an einem Tisch, unter einem Dach, eineFeder in der Hand, da waren die wegrasiertenDörfer und Wälder, das Erdbebenzittern imTrommelfeuer, das Geknäuel von Dreck undGröße, von Angst und Heldentum, von zerfetz-ten Bäuchen und Köpfen, von Todesfurcht undGalgenhumor - da war das alles ganz unsäglichweit fort, war nur geträumt, hatte zu nichts

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lieh«, sagte er, »weil es notwendig war. Ich mußteentweder das Buch schreiben oder verzweifeln, eswar die einzige Möglichkeit meiner Rettung vordem Nichts, vor dem Chaos, vor dem Selbstmord.Unter diesem Druck ist das Buch geschrieben, undes hat mir die erwartete Rettung gebracht, einfach

weil es geschrieben ist, einerlei wie gut oder wieschlecht. Das war das eine, die Hauptsache. Unddann: beim Schreiben durfte ich nicht einen Augen-blick an andere Leser denken als an mich selberoder höchstens hie und da an einen nahen Kriegs-kameraden, und zwar dachte ich dann nie an

Überlebende, sondern immer an solche, die imKrieg umgekommen waren. Ich war während desSchreibens ein Fieberkranker oder Irrsinniger,umgeben von drei, vier Toten mit verstümmeltenLeibern - so ist das Buch entstanden.«Und plötzlich sagte er — es war der Schluß uns-rer ersten Unterredung: »Entschuldigen Sie, ichkann nicht mehr darüber sagen. Nein, kein Wort,kein einziges Wort. Ich kann nicht, ich will nicht.Auf Wiedersehen!«Er schob mich hinaus.Bei der zweiten Zusammenkunft war er wieder

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ruhig und kühl, hatte wieder das leicht ironischeLächeln und schien doch mein Anliegen ernst zunehmen und recht gut zu begreifen. Er gab mireinige wenige Ratschläge, die mir auch ein klein we-nig genützt haben. Und am Ende dieser zweitenund letzten Unterredung sagte er wie nebenbei:

»Hören Sie, Sie kommen immer und immer wie-der auf die Episode mit jenem Diener Leo zurück,das gefällt mir nicht, dort scheint eine Klippe fürSie zu liegen. Machen Sie sich frei, werfen Sie Leoüber Bord, er scheint eine fixe Idee werden zuwollen.«

Ich wollte erwidern, daß man ohne fixe Ideenkeine Bücher schreiben könne, aber er hörte nichtauf mich. Statt dessen erschreckte er mich mit derganz unerwarteten Frage: »Hieß er denn wirk-lich Leo?«Mir stand der Schweiß auf der Stirn.»Aber ja«, sagte ich, »gewiß hieß er Leo.«»Mit Vornamen?«Ich stutzte.»Nein, mit Vornamen hieß er - - er hieß - ichweiß nicht mehr, ich habe es vergessen. Leo war seinGeschlechtsname, wir alle nannten ihn nie anders.«

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Während ich noch sprach, hatte Lukas ein dickesBuch von seinem Schreibtisch gegriffen und blät-terte darin. Mit fabelhafter Schnelligkeit hatte ergefunden und hielt den Finger auf eine Stelle deraufgeschlagenen Buchseite gedrückt. Es war einAdreßbuch, und da, wo sein Finger auflag, stand

der Name Leo.»Sehen Sie«, lachte er, »da haben wir schon einenLeo. Leo, Andreas, Seilergraben 69 a. Der Nameist selten, vielleicht weiß der Mann etwas überIhren Leo. Gehen Sie zu ihm, er kann Ihnen viel-leicht das sagen, was Sie brauchen. Ich kann es

Ihnen nicht sagen. Meine Zeit ist knapp, entschul-digen Sie, es hat mich sehr gefreut.«Ich taumelte vor Verblüfftheit und Erregung, alsich seine Tür hinter mir zumachte. Er hatte recht,ich hatte nichts mehr bei ihm zu suchen.Noch am selben Tage ging ich in den Seilergraben,suchte das Haus und erkundigte mich nach HerrnAndreas Leo. Er bewohnte ein Zimmer im drittenStockwerk, abends und am Sonntag sei er manch-mal zu Hause, tagsüber gehe er auf Arbeit. Ichfragte nach seinem Beruf. Er treibe dies und jenes,hieß es, er verstehe sich auf Nägelschneiden, Fuß-

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pflege und Massage, mache auch Heilsalben undKräuterkuren; in schlechten Zeiten, wo wenig zutun sei, gebe er sich auch zuweilen damit ab,Hunde zu dressieren und zu scheren. Ich ging wie-der fort und kam zu dem Entschluß, diesen Mannlieber nicht aufzusuchen oder doch ihm nichts von

meinen Absichten zu sagen. Wohl aber fühlte ichgroße Neugierde, ihn zu sehen. Darum beobach-tete ich das Haus in den nächsten Tagen auf häufigen Spaziergängen und werde auch heutewieder hingehen, denn bisher ist es mir nochnicht geglückt, Andreas Leo zu Gesicht zu be-

kommen.Ach, die ganze Sache treibt mich bis zur Verzweif-lung um und macht mich dabei auch glücklich,oder doch erregt, gespannt, sie macht mir michund mein Leben wieder wichtig, und daran hattees sehr gefehlt.Es ist möglich, daß jene Praktiker und Psycholo-gen recht haben, die alles menschliche Tun ausegoistischen Trieben ableiten. Ich kann zwar nichtganz einsehen, warum ein Mensch, der sein Lebenlang einer Sache dient, der sein Vergnügen undWohlergehen vernachlässigt und sich für irgend

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etwas opfert, damit wirklich das gleiche tun sollwie ein Mensch, der mit Sklaven oder mit Muni-tion handelt und die Erträge mit Wohlleben durch-bringt; aber ohne Zweifel würde ich im Wort-gefecht mit einem solchen Psychologen sofort denkürzeren ziehen und überführt werden, denn Psy-

chologen sind ja Menschen, welche stets den länge-ren ziehen. Meinetwegen, mögen sie recht haben.Dann ist eben auch alles das, was ich für gut undschön hielt und wofür ich Opfer brachte, nur einegoistisches Wunschziel von mir gewesen. Bei mei-nem Plan, so etwas wie eine Geschichte der Mor-

genlandfahrt zu schreiben, sehe ich allerdings denEgoismus mit jedem Tage deutlicher: zuerst schienmir, als unternähme ich da eine mühevolle Arbeitim Dienst einer edlen Sache, aber mehr und mehrsehe ich, daß ich mit meiner Reisebeschreibungnichts andres anstrebe als Herr Lukas mit seinemKriegsbuch: nämlich mir das Leben zu retten, in-dem ich ihm wieder einen Sinn gebe.Wenn ich nur den Weg sähe! Wenn es nur eineneinzigen Schritt vorwärts ginge!»Werfen Sie Leo über Bord, befreien Sie sich vonLeo!« hat Lukas mir gesagt. Ebensogut könnte ich

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meinen Kopf oder meinen Magen über Bord wer-fen und mich von ihm befreien!Lieber Gott, hilf mir ein wenig!

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IV

JETZT SIEHT WIEDER ALLES ANDERS AUS, UNDich weiß noch nicht, ist meine Sache dadurcheigentlich gefördert worden oder nicht, aber ich

habe etwas erlebt, es ist mir etwas begegnet, wasich niemals erwartet - - - oder nein, hatte iches nicht dennoch erwartet, hatte ich es nicht vorge-fühlt, gehofft und ebensosehr gefürchtet? Ja, dashatte ich. Und doch bleibt es wunderbar und un-wahrscheinlich genug.Ich war manche Male, zwanzigmal oder mehr, zuden mir günstig scheinenden Stunden durch denSeilergraben gegangen und viele Male am HausNr. 69 a vorübergeschlendert, die letzten Maleimmer mit dem Gedanken: »Jetzt probiere ich esnoch ein einziges Mal, und wenn es nichts ist,komme ich nie wieder.« Nun, ich kam dennochimmer wieder, und vorgestern abend ist meinWunsch in Erfüllung gegangen. Oh, und wie ister in Erfüllung gegangen!Als ich mich dem Hause näherte, in dessen grau-grünem Bewurf ich nun schon jeden Sprung und

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Spalt kannte, hörte ich aus einem der oberen Fen-ster die Melodie eines kleinen Liedes oder Tanzes,eines Gassenhauers, mit den Lippen gepfiffen. Idiwußte noch nichts, aber ich horchte auf, die Tönemahnten mich, und irgendeine Erinnerung begannsich in mir aus dem Schlaf zu arbeiten. Es war

eine banale Musik, aber es waren wunderbar süße,leicht und anmutig geatmete Töne, welche dieserPfeifer mit seinen Lippen hervorbrachte, unge-mein reinlich, wohlig und naturhaft anzuhörenwie Vogeltöne. Ich stand und horchte, bezaubertund zugleich von innen her sonderbar bedrängt,

ohne aber irgendeinen Gedanken dabei zu haben.Oder wenn ich doch einen hatte, war es etwa der,das müsse ein sehr glücklicher und sehr liebens-werter Mensch sein, der auf diese Art zu pfeifenwisse. Manche Minuten stand ich gebannt auf derGasse still und lauschte. Ein alter Mann ging vor-bei, mit einem eingesunkenen Krankengesicht,der sah mich so stehen, horchte ebenfalls, nur einenAugenblick, dann lächelte er mir im Weitergehenverstehend zu, sein schöner weitsichtiger Greisen-blick sagte etwa: »Bleib du nur stehen, Mann, sohört man nicht alle Tage pfeifen.« Der Blick des

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Alten hatte mir das Gemüt erhellt, es tat mir leid,daß er weiterging. Zugleich aber merkte ich indieser Sekunde, daß ja dieses Pfeifen die Erfül-lung all meiner Wünsche sei, daß der PfeifendeLeo sein müsse.Es dämmerte schon, doch brannte noch in keinem

Fenster Licht. Die Melodie mit ihren naiven Va-riationen war zu Ende, es wurde still. »Jetzt wirder oben Licht machen«, dachte ich, es blieb jedochalles dunkel. Und jetzt hörte ich oben eine Türgehen und hörte bald auch Schritte im Treppen-haus, das Haustor ging sachte auf, und es kam je-

mand herausgegangen, und sein Gang war vonder gleichen Art wie vorher sein Pfeifen: leicht,spielerisch, aber straff, gesund und jugendlich. Eswar ein nicht großer, aber sehr schlanker Mannmit bloßem Kopf, der da ging, und jetzt erkannteihn mein Gefühl mit Sicherheit: es war Leo, nichtnur der Leo vom Adreßbuch, es war Leo selber,unser lieber Reisekamerad und Diener Leo, derdamals, vor zehn oder mehr Jahren, uns durchsein Verlorengehen so sehr in Betrübnis und Ver-legenheit gebracht hatte. Beinahe hätte ich imAugenblick der ersten Freude und Überraschung

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ihn angerufen. Und nun erinnerte ich mich auch, jetzt erst, daß ich sein Pfeifen ja auch damals, auf der Morgenlandfahrt, so viele Male gehört hatte.Es waren die Töne von damals, und wie wunder-lich anders klangen sie mir doch! Ein Wehgefühlging mir wie ein Schnitt durchs Herz: O wie an-

ders war alles seit damals geworden, der Himmel,die Luft, die Jahreszeiten, die Träume, der Schlaf,der Tag und die Nacht! Wie tief und wie schreck-lich hatte sich alles für mich verändert, wenn michder Ton eines Pfeifenden, der Takt eines bekann-ten Schrittes, nur durch die Erinnerung an das ver-

lorene Einstmals, so im Innersten treffen, mir sowohl und so weh tun konnte!Der Mann ging nahe an mir vorbei, elastisch undheiter trug er seinen bloßen Kopf auf bloßemHalse, der aus einem offenen blauen Hemd her-auskam, hübsch und fröhlich wehte die Gestalt dieabendliche Gasse hinab, kaum hörbar, auf dünnenSandalen oder Turnschuhen. Ich folgte ihm, ohneirgendeine Absicht, wie hätte ich ihm nicht folgensollen! Er ging die Gasse hinab, und wenn seinSchritt auch leicht und mühelos und jugendlichwar, er war doch abendlich, er war vom selben

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Klang wie die Dämmerung, er war befreundet undeins mit der Stunde, mit den gedämpften Lautenvom Stadtinnern her, mit dem Halblicht der erstenLaternen, welche eben zu leuchten begannen.In die kleinen Anlagen beim St.-Pauls-Tor bog erein, verschwand zwischen den hohen runden Ge-

büschen, und ich beeilte mich, daß er mir nicht ver-lorengehe. Da war er wieder, langsam schlenderteer unter den Fliederbüschen und Akazien hin. DerWeg schlängelte sich in zwei Schleifen durch daskleine Gehölz, ein paar Bänke stehen da am Randdes Rasens. Hier unter den Bäumen war es schon

recht dunkel. Leo ging an der ersten Bank vorbei,es saß ein Liebespaar auf ihr, die nächste Bank warleer, hier setzte er sich, lehnte sich an, ließ denKopf nach hinten hängen und schaute eine Weilein das Laub und zu den Wolken hinauf. Dannholte er aus einer Rocktasche eine kleine rundeDose heraus, eine Dose aus weißem Metall, stelltesie neben sich auf die Bank, schraubte den Deckelab und begann langsam irgend etwas aus der Doseherauszufingern, das er in den Mund steckte undmit Behagen aß. Ich war indessen am Eingangdes Gehölzes hin und her gegangen; jetzt näherte

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ich mich seiner Bank und setzte mich ans andereEnde. Er schaute auf, sah mir aus hellen grauenAugen ins Gesicht und aß weiter. Es waren ge-trocknete Früchte, ein paar Pflaumen und halbeAprikosen. Er nahm sie eine um die andere mitzwei Fingern, drückte und tastete ein wenig an

 jeder, steckte sie in den Mund und kaute lange undgenießend. Es dauerte eine ganze Weile, bis er dieletzte genommen und verzehrt hatte. Jetzt machteer die Dose wieder zu und steckte sie ein, lehntesich zurück und streckte die Beine lang aus; ich sah

 jetzt, seine Stoffschuhe hatten Sohlen aus Seil-

geflecht.»Heute nacht wird es Regen geben«, sagte erplötzlich, ich wußte nicht ob zu mir oder zu sichselber.»Es kann schon sein«, sagte ich etwas befangen,denn wenn er mich schon an Gestalt und Gangbisher nicht erkannt hatte, so konnte es dochsein, vielmehr ich erwartete es beinahe bestimmt,daß er mich jetzt an der Stimme wiedererkennenwerde.Aber nein, er erkannte mich keineswegs, auch nichtan der Stimme, und obwohl das meinem anfäng-

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liehen Wunsch entsprach, empfand ich dabei docheine tiefe Enttäuschung. Er erkannte mich nicht.Während er selbst in zehn Jahren der gleiche ge-blieben und anscheinend gar nicht gealtert war,stand es mit mir anders, traurig anders.»Sie können so schön pfeifen«, sagte ich, »ich habe

es vorher gehört, drüben am Seilergraben. Es hatmir sehr gefallen. Ich bin nämlich früher Musikergewesen.«»Musiker?« sagte er freundlich. »Das ist ein schö-ner Beruf. Haben Sie ihn denn aufgegeben?«»Ja, zeitweilig. Ich habe sogar meine Violine ver-

kauft.«»So? Das ist schade. Sind Sie in Not? Ich meine:sind Sie am Ende hungrig? Ich habe noch Essenzu Hause, ich habe auch ein paar Mark in derTasche.«»Ach nein«, sagte ich schnell, »so war es nicht ge-meint. Ich bin in ganz guten Verhältnissen, ichhabe mehr, als ich brauche. Aber ich danke schön,es ist sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mich ein-laden wollten. Man trifft nicht so oft auf freund-liche Menschen.«»Meinen Sie? Nun, es mag sein. Die Menschen sind

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verschieden, oft sind sie recht sonderbar. Auch Siesind sonderbar.«»Ich? Warum denn?«»Nun, wenn Sie Geld genug haben und doch IhreGeige verkaufen! Haben Sie denn keine Freudemehr an der Musik?«

»O ja. Aber es kommt doch zuweilen vor, daß einMensch die Freude an etwas verliert, was ihm vor-her lieb war. Es kommt vor, daß ein Musiker seineGeige verkauft oder an die Wand wirft, oder daßein Maler alle seine Bilder eines Tages verbrennt.Haben Sie nie von so etwas gehört?«

»Ja, schon. Es ist dann aus Verzweiflung. Daskommt vor. Ich habe auch zwei gekannt, die sichselber umgebracht haben. Dumme Menschen gibtes, sie können einem leid tun. Manchen kann maneben nicht helfen. — Aber was tun Sie denn jetzt,wenn Sie Ihre Geige nicht mehr haben?«»Ach, dies und jenes. Ich tue eigentlich nicht viel,ich bin nicht mehr jung, und ich bin auch oft krank.Warum sprechen Sie denn immer von dieserGeige? Es ist doch nicht so wichtig.«»Von der Geige? Da habe ich an den König Davidgedacht.«

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»Wie? An den König David? Was hat denn derdamit zu tun?«»Er ist auch Musiker gewesen. Als er ganz jungwar, hat er dem König Saul Musik gemacht undhat ihm manchmal seine böse Laune weggespielt.Und nachher ist er selber König geworden, so ein

großer sorgenvoller König mit allerlei Launenund Plagen. Er hat eine Krone getragen und hatKriege geführt und alles das, und manche richtigeGemeinheiten hat er auch begangen, und ist sehrberühmt geworden. Aber wenn ich an seine Ge-schichte denke, dann ist das Schönste von allem

der junge David mit seiner Harfe, und wie er demarmen Saul Musik gemacht hat, und ich finde esschade, daß er nachher König geworden ist. Erwar viel glücklicher und hübscher, als er noch Mu-sikant war.«»Gewiß«, rief ich, etwas eifrig. »Gewiß war erdamals jünger und hübscher und glücklicher. Aberder Mensch bleibt nicht ewig jung, und Ihr Davidwäre mit der Zeit älter und häßlicher und sorgen-voller geworden, auch wenn er Musikant geblie-ben wäre. Und dafür ist er der große David ge-worden, er hat seine Taten getan und hat seine

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Psalmen gedichtet. Das Leben ist doch nicht bloßein Spiel!«Leo erhob sich jetzt und grüßte.»Es wird Nacht«, sagte er, »und es wird bald reg-nen. Ich weiß nicht mehr viel von den Taten, dieDavid getan hat, und ob sie eigentlich groß wa-

ren. Und auch von seinen Psalmen weiß ich, offengestanden, nicht mehr sehr viel. Ich möchte niditsgegen sie sagen. Aber daß das Leben nicht bloß einSpiel sei, das beweist mir kein David. Gerade dasist es ja, das Leben, wenn es schön und glücklichist: ein Spiel! Natürlich kann man auch alles mög-

liche andere aus ihm machen, eine Pflicht odereinen Krieg oder ein Gefängnis, aber es wird da-durch nicht hübscher. Auf Wiedersehen, es hatmich gefreut.«Mit seinem leichten, sorgfältigen, wohlwollendenGange setzte er sich in Bewegung, der wunderlicheliebe Mensch, und war im Begriff zu verschwin-den, da fiel vollends alle Haltung und Selbstbe-herrschung in mir zusammen. Verzweifelt lief ichihm nach und rief aus flehendem Herzen: »Leo!Leo! Sie sind doch Leo. Kennen Sie mich dennnicht mehr? Wir sind doch Bundesbrüder gewesen,

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und sollten es noch immer sein. Wir sind doch beidemit auf die Fahrt ins Morgenland gezogen. HabenSie mich denn wirklich vergessen, Leo? WissenSie wirklich nichts mehr von den Kronenwächtern,von Klingsor und von Goldmund, vom Fest inBremgarten, von der Schlucht bei Morbio Inferiore?

Leo, erbarmen Sie sich!«Er lief nicht davon, wie ich gefürchtet hatte, dochkehrte er auch nicht um; er schritt gemächlich wei-ter, als habe er nichts gehört, ließ mir aber Zeit,ihn einzuholen, und schien nichts dagegen zu ha-ben, daß ich mich ihm anschloß.

»Sie sind so betrübt und so hastig«, sagte er be-gütigend, »das ist nicht hübsch. Es entstellt dasGesicht, und man wird krank davon. Wir wollenganz langsam gehen, das beruhigt so schön. Unddie paar Regentropfen - wunderbar, nicht? Siekommen wie Kölnischwasser aus der Luft.«»Leo«, flehte ich, »haben Sie Mitleid! Sagen Siemir ein einziges Wort: Kennen Sie mich noch?«»So«, sagte er begütigend und sprach noch immerwie zu einem Kranken oder Betrunkenen, »jetztgibt sich das schon wieder, es war nur Aufregung.Sie meinen: ob ich Sie kenne? Ja, welcher Mensch

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kennt je den ändern oder auch bloß sich selber?Und ich, sehen Sie, ich bin nun gar kein Menschen-kenner. Es interessiert mich nicht. Hunde, ja, diekenne ich ganz gut, auch Vögel und auch Katzen.Aber Sie kenne ich wirklich nicht, Herr.«»Aber Sie gehören doch zum Bunde? Sie sind dodi

damals mit auf der Fahrt gewesen?«»Ich bin immer auf der Fahrt, Herr, und ich ge-höre immer zum Bund. Da kommen und gehen somanche, man kennt sich und kennt sich doch nicht.Mit den Hunden ist das viel einfacher. Passen Sieauf, bleiben Sie einen Augenblick stehen!«

Er hob ermahnend den Finger. Wir standen auf der nächtlichen Gartenstraße, die sich mehr undmehr mit dünn niedersinkender Feuchtigkeit be-schlug. Leo spitzte die Lippen und ließ einen ge-dehnten, vibrierenden, leisen Pfiff ertönen, war-tete eine Weile, pfiff noch einmal, und ich schrakein wenig zusammen, als plötzlich dicht vor uns,hinter dem Gitterzaun, an dem wir standen, eingroßer Wolfshund aus dem Gebüsch sprang undsich freudig winselnd ans Gitter drängte, um vonLeos Fingern zwischen den Stangen und Drähtenhindurch gestreichelt zu werden. Hellgrün leuch-

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teten die Augen des starken Tiers, und sooft seinBlick mich traf, knurrte es tief in seiner Kehle,wie ferner Donner, kaum hörbar.»Dies ist der Wolfshund Necker«, sagte Leo vor-stellend, »wir sind sehr gute Freunde. Necker, dieshier ist ein ehemaliger Violinspieler, du darfst

ihm nichts tun, auch nicht bellen.«Wir standen, und Leo kraute durchs Gitter hin-durch zärtlich das feuchte Hundefell. Es wareigentlich eine hübsche Szene, es gefiel mir eigent-lich sehr, wie er mit dem Tier befreundet war undihm die Freude dieser nächtlichen Begrüßung

machte; aber zugleich war es mir kläglich undschien mir kaum zu ertragen, wie Leo da mit die-sem Wolfshund und wahrscheinlich mit vielen,vielleicht mit allen Hunden der Gegend in so ver-traulicher Freundschaft stand, während ihn vonmir eine Welt von Fremdheit trennte. Die Freund-schaft und das Vertrauen, um die ich flehend unddemütigend mich bewarb, schien nicht nur diesemHunde Necker, sie schien jedem Tier, jedem Re-gentropfen, jedem Fleck Erdboden zu gehören,den Leo betrat, er schien beständig sich hinzuge-ben, immerzu in fließender, wogender Beziehung

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und Gemeinschaft mit seiner Umgebung zu stehen,alles zu kennen, von allen gekannt und geliebt zusein, - nur zu mir, der ich ihn so sehr liebte undseiner so sehr bedurfte, führte ihn kein Weg, nurmich allein trennte er ab, betrachtete mich fremdund kühl, ließ mich nicht in sein Herz, hatte mich

aus seinem Gedächtnis gestrichen.Wir gingen langsam weiter, mit leisen wohligenLauten der Zuneigung und Freude begleitete ihn

 jenseits des Zaunes der Wolfshund, ohne dochmeine lästige Gegenwart zu vergessen, denn nochmehrmals unterdrückte er Leo zuliebe den grol-

lenden Ton von Abwehr und Feindschaft in sei-ner Kehle.»Verzeihen Sie mir«, fing ich wieder an, »ichhänge mich da an Sie und nehme Ihre Zeit in An-spruch, und Sie wollen natürlich nach Hause undins Bett.«»Oh, warum denn?« lächelte er, »ich habe nichtsdagegen, eine Nacht hindurch so zu schlendern, esfehlt mir weder an Zeit dazu noch an Lust, fallses Ihnen nicht zuviel wird.«Er hatte es so hingesagt, sehr freundlich und ge-wiß ohne jede Nebenabsicht. Aber kaum waren

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die Worte gefallen, so spürte ich plötzlich imKopf und tief in allen Gelenken, wie furchtbarmüde ich war, wie schwer mir jeder Schritt diesernutzlosen und für mich so beschämenden Nacht-wanderung fiel.»Es ist wahr«, sagte ich geschlagen, »ich bin sehr

müde, erst jetzt merke ich es. Es hat ja auch kei-nen Sinn, so des Nachts im Regen herumzulaufenund ändern Leuten zur Last zu fallen.«»Wie Sie meinen«, sagte er höflich.»Ach, Herr Leo, damals auf der Bundesfahrt insMorgenland haben Sie nicht so mit mir gespro-

chen. Haben Sie denn wirklich das alles verges-sen? ... Nun, es nützt nichts, lassen Sie sich nichtweiter aufhalten. Gute Nacht.«Schnell war er in der finstern Nacht verschwun-den, ich blieb allein zurück, dumm, vor den Kopf geschlagen, ich hatte das Spiel verloren. Er kanntemich nicht, wollte mich nicht kennen, er machtesich über mich lustig.Ich ging den Weg zurück, hinterm Gitterzaunbellte wütend der Hund Necker. Mitten in derfeuchten Wärme der Sommernacht fror ich vorMüdigkeit, Trauer und Alleinsein.

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Auch in früheren Jahren schon hatte ich ähnlicheStunden ausgekostet. Damals war jede solcheVerzweiflung mir so erschienen, als sei ich, ver-irrter Pilger, am äußersten Rande der Welt ange-langt, und es sei jetzt nichts mehr zu tun, als derletzten Sehnsucht zu folgen: sich vom Rande der

Welt ins Leere fallen zu lassen, in den Tod. Mitder Zeit war die Verzweiflung zwar oftmals wie-dergekehrt, der heftige Drang zum Selbstmordaber hatte sich verwandelt und war beinahe er-loschen. Es war mir der »Tod« kein Nichts mehr,keine Leere, keine Negation. Es war auch vieles

andre anders geworden. Die Stunden der Ver-zweiflung nahm ich jetzt so, wie man starke kör-perliche Schmerzen nimmt: man erduldet sie, kla-gend oder trotzig, man fühlt, wie sie schwellenund zunehmen, und spürt eine bald wütende, baldspöttische Neugierde, wie weit das noch gehen,wie hoch der Schmerz sich noch steigern könne.Aller Verdruß meines enttäuschten Lebens, dasseit meiner einsamen Rückkehr von der mißlun-genen Morgenlandfahrt immer wertloser undmutloser geworden war, aller Unglaube an michselber und meine Fähigkeiten, alle neidisch-reuige

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Sehnsucht nach den guten und großen Zeiten, dieich einst erlebt hatte, wuchsen als Schmerz in miran, wuchsen hoch wie ein Baum, wie ein Berg,dehnten mich, und bezogen sich alle auf meine der-zeitige Aufgabe, auf meine begonnene Geschichteder Morgenlandfahrt und des Bundes. Es schien

mir jetzt nicht mehr die Leistung selbst wünschens-wert oder wertvoll. Wertvoll schien mir nur nochdie eine Hoffnung: durch meine Arbeit, durchmeinen Dienst am Gedächtnis jener hohen Zeitmich selbst etwas zu reinigen und zu erlösen, michwieder in Verbindung mit dem Bund und dem

Erlebten zu bringen.Zu Hause machte ich Licht, setzte mich in dennassen Kleidern, den Hut auf dem Kopf, an denSchreibtisch und schrieb einen Brief, schrieb zehn,zwölf, zwanzig Seiten der Klage, der Reue, derflehentlichen Bitte an Leo. Ich schilderte ihm mei-ne Not, ich beschwor in ihm die Bilder des ge-meinsam Erlebten, der gemeinsamen Freunde voneinst, ich klagte ihm die unendlichen, teuflischenSchwierigkeiten, an welchen mein edles Unterneh-men scheiterte. Verflogen war die Müdigkeit derStunde, glühend saß ich und schrieb. Trotz allen

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Schwierigkeiten, schrieb ich, würde ich lieber dasSchlimmste erdulden, als ein einziges von denBundesgeheimnissen verraten. Und ich würdenicht nachlassen, trotz allem, mein Werk zu voll-enden, zum Gedächtnis der Morgenlandfahrt,zur Verherrlichung des Bundes. Wie im Fieber

malte ich Seite um Seite voll eiliger Buchstaben,ohne Besinnung, ohne Glauben, die Klagen, An-klagen, Selbstanklagen stürzten aus mir herauswie Wasser aus einem brechenden Krug, ohneHoffnung auf Antwort, nur aus Drang nach Ent-ladung. Noch in der Nacht brachte ich den kon-

fusen, dicken Brief zum nächsten Postkasten.Dann endlich, es war schon beinahe Morgen,drehte ich mein Licht aus, ging in die kleine Schlaf-mansarde neben meinem Wohnzimmer und legtemich zu Bett. Ich schlief sofort ein und schlief sehrschwer und lange.

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  V

ANDERNTAGS, ALS ICH, NACH MEHRMALIGEMErwachen und Wiedereinschlummern, mit

Kopfschmerzen, aber ausgeruht wieder zu mirkam, fand ich im Wohnzimmer zu meiner unend-lichen Überraschung, Freude und auch Verlegen-heit Leo sitzen. Auf der Kante eines Stuhles saßer und sah aus, als warte er schon recht lange.»Leo«, rief ich, »sind Sie gekommen?«»Man hat mich nach Ihnen geschickt«, sagte er.»Es ist vom Bunde. Sie haben mir ja einen Brief deswegen geschrieben, ich habe ihn den Oberen ge-geben. Sie werden vom Hohen Stuhl erwartet.Können wir gehen?«Bestürzt beeilte ich mich, meine Schuhe anzuzie-hen. Der unaufgeräumte Schreibtisch hatte vonder Nacht her noch etwas Verstörtes und Wüstes,im Augenblick wußte ich kaum mehr, was ich vorStunden dort so angstvoll und heftig hingeschrie-ben hatte. Immerhin, es schien nicht umsonst ge-wesen zu sein. Es war etwas geschehen, Leo wargekommen.

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Und plötzlich begriff ich erst den Inhalt seinerWorte. Also es gab noch einen »Bund«, von demich nichts mehr wußte, der ohne mich existierteund mich nicht mehr als zugehörig betrachtethatte! Es gab noch den Bund, den Hohen Stuhl,es gab die Oberen, sie hatten nach mir geschickt!

Heiß und kalt überlief es mich bei der Nachricht.Da hatte ich Monate und Wochen in dieser Stadtgelebt, beschäftigt mit meinen Aufzeichnungenüber den Bund und unsre Fahrt, hatte nicht ge-wußt, ob und wo etwa noch Reste dieses Bundesbestünden, ob nicht vielleicht ich sein letztes Über-

bleibsel sei; ja, offen gestanden war ich zu gewis-sen Stunden nicht einmal dessen sicher gewesen,ob der Bund und meine Zugehörigkeit zu ihm je-mals Wirklichkeit gewesen seien. Und jetzt standda Leo, abgesandt vom Bund, um mich zu holen.Man erinnerte sich meiner, man rief mich, manwollte mich anhören, mich vielleicht zur Rechen-schaft ziehen. Gut, ich war bereit. Ich war bereitzu zeigen, daß ich dem Bunde nicht untreu gewor-den sei, ich war bereit zu gehorchen. Mochten dieOberen mich nun strafen oder mir verzeihen,ich war im voraus bereit, alles anzunehmen,

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mir endlos schien, vor dem alten Rathause stehenund erzählte mir von dessen Gründung im fünf-zehnten Jahrhundert durch ein berühmtes Mit-glied des Bundes, und so sehr sein Gang beflissen,diensteifrig und zielbewußt zu sein schien, mirwurde doch ganz wirr vor den Umwegen, Ein-

kreisungen und Zickzackgängen, mit denen er sichseinem Ziel näherte. Man hätte den Weg, der unsden ganzen Vormittag kostete, recht wohl in einerViertelstunde zurücklegen können.Endlich führte er mich in eine verschlafene Vor-stadtgasse und in ein sehr großes stilles Gebäude,

von außen sah es wie ein ausgedehntes Amtsge-bäude oder Museum aus. Da war zunächst weitund breit kein Mensch, Korridore und Treppen-häuser gähnten leer und dröhnten von unsernSchritten. Leo begann in den Gängen, Treppenund Vorsälen zu suchen. Einmal öffnete er behut-sam eine hohe Tür, durch die blickte man in einvollgestopftes Maleratelier hinein, vor einer Staf-felei stand in Hemdärmeln der Maler Klingsör -o wie viele Jahre hatte ich dies geliebte Gesichtnicht mehr gesehen! Aber ich wagte ihn nicht zubegrüßen, dazu war noch nicht die Zeit, ich war

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erwartet, ich war vorgeladen. Klingsör achtetenicht eben sehr auf uns; er nickte Leo zu, mich sahoder erkannte er nicht, und wies uns freundlich,aber entschieden hinaus, schweigend, keine Sü>rung seiner Arbeit ertragend.Schließlich zuoberst in dem unendlichen Gebäude

kamen wir in ein Dachgeschoß, wo es nach Papierund Karton roch und wo die Wände entlang, vieleHunderte von Metern, Schranktüren, Bücher-rücken und Aktenbündel starrten: ein riesiges Ar-chiv, eine gewaltige Kanzlei. Niemand kümmertesich um uns, alles war lautlos beschäftigt; mir kam

es vor, als werde von hier aus die ganze Welt samtdem Sternhimmel regiert oder doch registriert undbewacht. Lange standen wir und warteten, umuns her eilten lautlos, mit Katalogzetteln undNummern in den Händen, viele Archiv- und Bi-bliotheksbeamte, Leitern wurden angelegt und be-stiegen, Aufzüge und kleine Rollwagen bewegtensich zart und leise. Endlich fing Leo zu singen an.Ergriffen hörte ich die Töne, einst waren sie mirso vertraut gewesen, es war die Melodie einesunsrer Bundeslieder.Auf den Gesang hin kam alsbald alles in Bewe-

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gung. Die Beamten zogen sich zurück, der Saalverlängerte sich in verdämmernde Fernen, kleinund unwirklich in den riesigen Archivlandschaftender Hintergründe arbeiteten die fleißigen Men-schen, die Nähe aber wurde weit und leer, feier-lich dehnte sich der Saal, in seiner Mitte streng ge-

ordnet standen viele Sessel, und es kamen teilsaus den Hintergründen, teils aus den zahlreichenTüren des Raumes viele Obere, welche lässig auf die Sessel zugingen und allmählich auf ihnen Platznahmen. Eine Sesselreihe um die andere füllte sichlangsam, in allmählicher Steigung erhob sich der

Aufbau und gipfelte in einem hohen Throne, wel-cher noch nicht besetzt war. Bis zum Throne hinfüllte sich das feierliche Synedrion. Leo sah michan, mit einem Blick der Mahnung zu Geduld, zuSchweigen und Ehrfurcht, und verschwand zwi-schen den vielen, unversehens war er weg, und ichkonnte ihn nicht mehr entdecken. Wohl aber sahich da und dort zwischen den Oberen, die sich zumHohen Stuhl versammelten, bekannte Gestaltenernst oder lächelnd erscheinen, sah die Gestalt desAlbertus Magnus, des Fährmanns Vasudeva, desMalers Klingsor und andre.

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Endlich war es still geworden, und es trat derSprecher vor. Allein und klein stand ich dem Ho-hen Stuhle gegenüber, auf alles gefaßt, voll tieferAngst, aber ebenso voll tiefen Einverständnissesmit dem, was hier geschehen und beschlossen wer-den würde.

Hell und ruhig klang die Stimme des Sprechersdurch den Saal. »Selbstanklage eines entlaufenenBundesbruders«, hörte ich ihn ankündigen. Mirzitterten die Knie. Es ging mir ans Leben. Aberes war gut so, es mußte nun alles in Ordnung kom-men. Der Sprecher fuhr fort.

»Sie heißen H. H.? Waren mit beim Marsch durchOberschwaben, beim Fest in Bremgarten? Habenkurz nach Morbio Inferiore Fahnenflucht began-gen? Sind geständig, eine Geschichte der Morgen-landfahrt schreiben zu wollen? Halten sich darinfür gehindert durch Ihr Gelübde des Schweigensüber Bundesgeheimnisse?«Frage um Frage beantwortete ich mit Ja, auch diemir unverständlichen und entsetzlichen.Eine kleine Weile verständigten sich die Oberendurch Flüstern und Gebärden untereinander, danntrat aufs neue der Sprecher vor und verkündete:

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unergründliche Schatzkammer, so schien die Auf-gabe mir größer und ehrenvoller als je.Je mehr ich jedoch in den Seiten meiner Hand-schrift las, desto weniger gefiel mir das Manu-skript, ja es war mir auch in den verzweifeltstenStunden bisher noch nie so unnütz und verkehrt

erschienen wie jetzt. Alles schien so konfus undkopflos, die klarsten Zusammenhänge entstellt,das Selbstverständlichste vergessen, lauter Neben-sächliches und Belangloses in den Vordergrund ge-drängt! Da mußte ganz von vorn begonnen wer-den. Wie ich das Manuskript so durchlas, mußte

ich Satz um Satz durchstreichen, und indem ichihn durchstrich, verkrümelte er sich auf dem Pa-pier, und die klaren spitzen Buchstaben fielenauseinander zu spielerischen Formfragmenten, zuStrichen und Punkten, zu Kreisen, Blümchen,Sternchen, und die Seiten bedeckten sich wie Ta-peten mit anmutig sinnlosem Ornamentgewirke.Bald war nichts mehr da von meinem Text, da-gegen blieb viel unbeschriebenes Papier für meineArbeit übrig. Ich nahm mich zusammen. Ich mach-te mir klar: Natürlich war mir früher eine unbe-fangene und klare Darstellung nicht möglich ge-

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wesen, weil doch alles von Geheimnissen handelte,deren Mitteilung mir durch den Bundeseid ver-boten war. Wohl hatte ich den Ausweg gesucht,von einer objektiven Geschichtsdarstellung abzu-sehen und ohne Rücksicht auf die höheren Zu-sammenhänge, Ziele und Absichten mich einfach

auf das von mir persönlich Erlebte zu beschrän-ken. Aber man hatte ja gesehen, wohin das führte.Jetzt hingegen gab es keine Schweigepflicht undkeine Beschränkungen mehr, ich war ganz offi-ziell ermächtigt, und dazu stand das unerschöpf-liche Archiv mir offen.

Es war klar: Auch wenn meine bisherige Arbeitsich nicht in Ornamentik aufgelöst hätte, mußteich das Ganze völlig neu beginnen, neu begründen,neu aufbauen. Ich beschloß, es mit einer kurzge-faßten Geschichte des Bundes, seiner Gründungund Verfassung zu eröffnen. Die kilometerlan-gen, endlosen, riesigen Zettelkataloge auf allenTischen, die sich hinten weit in Ferne und Däm-merung verloren, mußten mir ja auf jede FrageAntwort geben.Vorerst beschloß ich, das Archiv durch einige Stich-proben zu befragen, ich mußte ja mit diesem unge-

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heuren Apparat arbeiten lernen. Natürlich suchteich vor allem ändern nach dem Bundesbrief.»Bundesbrief«, sagte der Zettelkatalog, »sieheFach Chrysostomos, Zyklus V, Strophe 39, 8.« -Richtig, ich fand das Fach, den Zyklus, die Strophewie von selber, das Archiv war ganz wunderbar

geordnet. Und nun hielt ich den Bundesbrief inHänden! Daß ich ihn wohl nicht würde lesen kön-nen, darauf mußte ich gefaßt sein. In der Tat, ichkonnte ihn nicht lesen. Er war mit griechischenBuchstaben geschrieben, wie mir schien, und Grie-chisch verstand ich einigermaßen; aber teils war

es eine höchst altertümliche, fremdartige Schrift,deren Zeichen trotz scheinbarer Deutlichkeit mirgroßenteils unlesbar blieben, teils schien der Textin einem Dialekt oder in einer geheimen Adepten-sprache abgefaßt, von der ich nur selten ein Wortwie von ferne her, nach Anklängen und Analo-gien, verstand. Aber noch war ich nicht entmutigt.Blieb auch der Brief unlesbar, so stiegen mir dochaus seinen Zeichen starke Erinnerungsbilder vondamals auf, namentlich sah ich wieder zum Grei-fen deutlich meinen Freund Longus, wie er imnächtlichen Garten griechische und hebräische

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Zeichen schrieb, und die Zeichen verloren sich alsVögel, Drachen und Schlangen in die Nacht.Im Kataloge blätternd, schauerte ich vor der Fülledessen, was hier auf mich wartete. Ich stieß auf manches vertraute Wort, auf manchen wohlbekann-ten Namen. Ich stieß, zusammenzuckend, auch auf 

meinen eigenen Namen, aber ich wagte es nicht,über ihn das Archiv zu befragen — wer würde esertragen, den Spruch eines allwissenden Gerichts-hofes über sich selbst zu vernehmen? Dagegen fandich zum Beispiel den Namen des Malers Paul Klee,den ich von der Fahrt her kannte und der mit

Klingsor befreundet war. Ich suchte seine Nummerim Archive auf. Dort fand ich ein Plättchen email-liertes Gold, anscheinend uralt, darauf war gemaltoder eingebrannt ein Klee, von dessen drei Blät-tern stellte das eine ein blaues Schiffchen mit Segeldar, das zweite einen buntgeschuppten Fisch, dasdritte aber sah aus wie ein Telegrammformular,darauf stand geschrieben:

So blau wie Schnee,So Paul wie Klee.

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Es machte mir eine wehmütige Freude, auch überKlingsor, über Longus, über Max und Tilli nach-zulesen, auch widerstand ich dem Gelüste nicht,Näheres über Leo zu erfahren. Auf Leos Katalog-zettel stand:

Cave!Archiepisc. XIX. Diacon. D. VII.cornu Ammon. 6

Cave!

Die zweimalige Warnung »Cave« machte mir Ein-

druck, ich brachte es nicht über mich, in dies Ge-heimnis zu dringen. Mit jedem neuen Versuche aberbegann ich mehr und mehr einzusehen, welche un-erhörte Fülle an Material, an Wissen, an magischenFormulierungen dieses Archiv enthalte. Es enthielt,so schien mir, schlechthin die ganze Welt.Nach beglückenden oder verwirrenden Ausflügenin viele Wissensgebiete kehrte ich mehrmals zu demKatalogzettel »Leo« zurück, mit einer immer hef-tiger wachsenden Neugierde. Jedesmal schrecktedas doppelte »Cave« mich zurück. Dafür fiel mir,beim Herumfingern in einem anderen Zettelkasten,das Wort »Fatme« in die Augen, mit dem Hinweis:

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princ. Orient.2noct. mill. 983hort, delic. 07

Ich suchte und fand die Stelle im Archiv. Es lag

dort ein winziges Medaillon, das sich öffnen ließund ein Miniaturbildnis enthielt, ein entzückendschönes Prinzessinnenbildnis, das mich im Augen-blick an alle tausendundeine Nächte, an alleMärchen meiner Jünglingszeit, an alle Träume undWünsche jener großen Zeit erinnerte, als ich, um

zu Fatme in den Orient zu fahren, mein Noviziatabgedient und mich zur Aufnahme in den Bundgemeldet hatte. Eingehüllt war das Medaillon inein spinnwebfeines violettes Seidentüchlein, ich rochdaran, es duftete unsäglich fern und zart traumhaftnach Prinzessin und Morgenland. Und indem ichdiesen fernen dünnen Zauberduft einatmete, über-fiel mich plötzlich und übermächtig die Einsicht:in welchen holden Zauber gehüllt ich damals diePilgerschaft nach dem Osten angetreten, wie diePilgerschaft an heimtückischen und im Grunde un-bekannten Hindernissen gescheitert, wie der Zauberdann mehr und mehr verflogen und welche Öde,

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Nüchternheit und kahle Verzweiflung sei thermeineAtemluft, mein Brot, mein Trank gewesen war!Ich konnte weder Tuch noch Bild mehr sehen, sodicht war der Schleier der Tränen, die aus meinenAugen rannen. Ach, heute, das fühlte ich, würdedas Bild der arabischen Prinzessin nicht mehr

genügen, mich gegen Welt und Hölle zu feien undzum Ritter und Kreuzfahrer zu machen, es würdeheute andrer, stärkerer Zauber bedürfen. Aber wiesüß, wie unschuldig, wie heilig war jener Traumgewesen, dem meine Jugend nachgezogen war, dermich zum Märchenleser, zum Musikanten, zum

Novizen gemacht und bis nach Morbio geführthatte!Geräusch weckte mich aus der Versunkenheit, un-heimlich blickte von allen Seiten die unendlicheRaumtiefe des Archivs mich an. Ein neuer Ge-danke, ein neuer Schmerz zuckte durch mich hinwie ein Blitzstrahl: Die Geschichte dieses Bundeshatte ich Einfältiger schreiben wollen, ich, der ichvon diesen Millionen Schriften, Büchern, Bildern,Zeichen des Archivs kein Tausendstel zu entzif-fern oder gar zu begreifen vermochte! Vernichtet,namenlos töricht, namenlos lächerlich, mich selber

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nicht begreifend, zu einem Stäubchen eingedorrt,sah ich mich inmitten dieser Dinge stehen, mitwelchen man mir ein wenig zu spielen erlaubthatte, um mich fühlen zu lassen, was der Bund sei,und was ich selbst.Herein kamen durch die vielen Türen die Oberen

in unendlicher Zahl; manche konnte ich, nochdurch Tränen hindurch, erkennen. Ich erkannteJup den Magier, erkannte den Archivar Lindhorst,den als Pablo verkleideten Mozart. In den vielenSesselreihen baute sich die erlauchte Versammlungauf, in Sesselreihen, welche nach hinten anstiegen

und immer schmäler wurden; über dem hohenThron, der die Spitze bildete, sah ich einen gol-denen Baldachin funkeln.Der Sprecher trat vor und verkündete: »DerBundist bereit, durch seine Oberen Recht zu sprechenüber den Selbstankläger H., der sich berufen fühlte,Bundesgeheimnisse zu verschweigen, und der nuneingesehen hat, wie wunderlich und blasphemischseine Absicht war, die Geschichte einer Fahrt zuschreiben, der er nicht gewachsen war, und dieGeschichte eines Bundes, an dessen Dasein er nichtmehr glaubte, und dem er untreu geworden war.«

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Er wandte sich an mich und rief mit seiner klarenHeroldstimme: »Bist du, Selbstankläger H., damiteinverstanden, den Gerichtshof anzuerkennen unddich seinem Urteil zu unterwerfen?«»Ja«, gab ich zur Antwort.»Bist du, Selbstankläger H.«, fuhr er fort, »damit

einverstanden, daß der Gerichtshof der Oberenohne den Vorsitz des Obersten der Obern überdich urteile, oder verlangst du, daß der Obersteder Obern selbst über dich urteile?«»Ich bin einverstanden«, sagte ich, »mit demUrteil der Oberen, ob es mit oder ohne den Vorsitz

des Obersten der Obern erfolge.«Der Sprecher wollte erwidern. Da klang aus derhintersten Tiefe des Saales eine sanfte Stimme: '»Der Oberste ist bereit, das Urteil selbst zusprechen.«Wunderliche Schauer weckte der Klang diesersanften Stimme in mir. Tief aus der Ferne des Rau-mes her, aus den Wüstenhorizonten des Archivs,kam ein Mann geschritten, leise und friedlich warsein Gang, sein Kleid funkelte von Gold, und erkam unterm Schweigen der Versammlung näher,und ich erkannte seinen Gang, erkannte seine

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Bewegungen, erkannte zuletzt auch sein Gesicht. Eswar Leo. In einem feierlichen und prachtvollenOrnat wie ein Papst stieg er durch die Reihender Oberen zum Hohen Stuhl hinan. Wie eineprächtige fremde Blume trug er den Glanz seinesSchmuckes die Stufen empor, grüßend erhob sich

 jede Reihe von Oberen, an der er vorüberkam.Sorgfältig, demütig, dienend trug er seine strah-lende Würde, demütig, wie ein frommer Papst oderPatriarch Insignien trägt.Ich war tief gebannt und durchdrungen von derErwartung meines Urteils, das ich demütig hin-

zunehmen bereit war, ob es nun Strafe oder Be-gnadigung bringe; ich war nicht minder tief davongerührt und ergriffen, daß es Leo war, der einstigeGepäckträger und Diener, der nun an der Spitzedes ganzen Bundes stand und bereit war, über michzu urteilen. Aber noch viel mehr ergriffen, betrof-fen, bestürzt und beglückt war ich von der großenEntdeckung dieses Tages: daß der Bund vollkom-men unerschüttert und mächtig wie je bestehe, daßnicht Leo und nicht der Bund es war, die michverlassen und enttäuscht hatten, sondern daß nurich so schwach und so töricht gewesen war, meine

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eigenen Erlebnisse mißdeutend, am Bund zu zwei-feln, die Fahrt ins Morgenland als mißglückt zubetrachten und mich für den Überlebenden undChronisten einer erledigten und im Sande ver-ronnenen Geschichte zu halten, während ich nichtswar als ein Davongelaufener, untreu Gewordener,

ein Deserteur. Entsetzen und Beglückung lagen indieser Erkenntnis. Klein stand ich und demütigzu Füßen des Hohen Stuhles, von dem ich einstals Bruder in den Bund aufgenommen wordenwar, von dem ich einst die Novizenweihe und denBundesring erhalten hatte und gleich dem Diener

Leo auf die Fahrt geschickt worden war. Undmitten in dem allem fiel eine neue Sünde, ein neuesunerklärliches Versäumnis, eine neue Schande miraufs Herz: ich besaß den Bundesring nicht mehr,ich hatte ihn verloren, und ich wußte nicht einmal,wann und wo, hatte ihn bis heute nicht einmalvermißt!Mittlerweile begann der Oberste der Obern, be-gann der golden geschmückte Leo mit schöner,sanfter Stimme zu sprechen, sanft und beglückendflössen seine Worte zu mir herab, sanft und be-glückend wie Sonnenschein.

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»DerSelbstankläger«, sprach esvom hohen Throne,»hat Gelegenheit gehabt, sich von einigen seinerIrrtümer zu befreien. Vieles spricht gegen ihn. Esmag begreiflich und sehr entschuldbar sein, daßer dem Bunde untreu wurde, daß er seine eigeneSchuld und Torheit dem Bunde vorwarf, daß er

an dessen Fortbestand zweifelte, daß er den wun-derlichen Ehrgeiz besaß, zum Geschichtschreiberdes Bundes werden zu wollen. Dies alles wiegt janicht schwer. Es sind, der Selbstankläger gestattemir das Wort, lediglich Novizendummheiten. Sieerledigen sich dadurch, daß wir über sie lächeln.«

Hoch atmete ich auf, und die ganze erhabeneVersammlung überflog ein leichtes Lächeln. Daßdie schwersten meiner Sünden, sogar mein Wahn,daß der Bund nicht mehr bestehe und daß ich dereinzige Treugebliebene sei,vom Obersten der Obernnur als »Dummheiten«, als Kindereien betrachtetwurden, war eine ungeheure Erleichterung undwies mich zugleich aufs strengste in meine Schran-ken zurück.»Aber«, fuhr Leo fort, und jetzt wurde seine sanfteStimme betrübt und ernst -, »aber es sind demAngeklagten noch andere, viel ernstere Sünden

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nachgewiesen, und das Schlimmste daran ist, daßer für diese Sünden nicht als Selbstankläger da-steht, sondern von diesen Sünden gar nichts zuwissen scheint. Er bedauert tief, dem Bunde in Ge-danken Unrecht getan zu haben, er kann sich nichtverzeihen, daß er in dem Diener Leo nicht den

obersten Stuhlherrn Leo zu sehen vermocht hat,und ist nahe daran, den Umfang seiner Untreueam Bunde einzusehen. Aber während er diese Ge-dankensünden und Torheiten allzu ernst nahmund in diesem Augenblick erst erleichtert einsieht,daß sie durch Lächeln abgetan werden können,

vergißt er hartnäckig seine tatsächlichen Ver-schuldungen, deren Zahl Legion und deren jedeeinzelne schwer genug ist, um hohe Strafe zuverdienen.«Angstvoll flatterte das Herz in meiner Brust. Leowandte sich mir zu: »Angeklagter H., Sie werdenspäter Einblick in Ihre Verfehlungen bekommen,und es wird Ihnen auch der Weg gezeigt werden,sie künftig zu vermeiden. Nur um Ihnen zu zeigen,wie wenig Verständnis Sie noch für Ihre Lagehaben,frage ich Sie nun: Erinnern Sie sich an IhrenGang durch die Stadt in Begleitung des Dieners

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Leo, der Sie als Bote vor den Hohen Stuhl zu brin-gen hatte? - Ja, Sie erinnern sich. Und erinnernSie sich, wie wir am Rathause, an der Paulskirche,am Dom vorüberkamen, und wie der Diener Leoin den Dom eintrat, um ein wenig zu knien undAndacht zu üben, und wie Sie selbst nicht bloß

darauf verzichteten, mit einzutreten und Andachtzu verrichten, entgegen dem vierten Satz IhresBundesgelübdes, sondern wie Sie ungeduldig undgelangweilt draußen stehenblieben, um die lästigeZeremonie abzuwarten, die Ihnen so entbehrlichschien, die für Sie nichts war als eine widerwärtige

Prüfung Ihrer egoistischen Ungeduld? - Ja, Sieerinnern sich. Sie haben, allein schon durch IhrVerhalten vor dem Tor des Domes, alle grund-legenden Forderungen und Sitten des Bundes mitFüßen getreten, Sie haben die Religion mißachtet,haben einen Bundesbruder verachtet, haben derGelegenheit und Aufforderung zu Andacht undVersenkung sich unwillig entzogen. Die Sündewäre unverzeihlich, sprächen nicht besondre mil-dernde Umstände für Sie.«Jetzt hatte er mich getroffen. Jetzt kam alles zurSprache, nicht mehr die Nebensachen, nicht mehr

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die bloßen Dummheiten. Er hatte mehr als recht.Er traf mich ins Herz.»Wir wollen«, fuhr der Oberste der Obern fort,»die Verfehlungen des Angeklagten nicht alleaufzählen, er soll ja nicht nach dem Buchstabengerichtet werden, und wir wissen wohl, daß es nur

unsrer Mahnung bedarf, um das Gewissen des An-geklagten zu wecken und ihn zum reuigen Selbst-ankläger zu machen.Immerhin, Selbstankläger H., muß ich Ihnen raten,auch noch einige andre Ihrer Taten vor das GerichtIhres Gewissens zu ziehen. Muß ich Sie an den

Abend erinnern, an dem Sie den Diener Leo auf-suchten und von ihm als Bundesbruder wieder-erkannt zu werden wünschten, obwohl dies un-möglich war, da Sie selbst sich als Bundesbruder sounkenntlich gemacht hatten? Muß ich Sie an Dingeerinnern, die Sie selbst dem Diener Leo erzählthaben? An den Verkauf Ihrer Violine? An Ihrverzweifeltes, dummes, engstirniges, selbstmörderi-sches Leben, das Sie seit Jahren geführt haben?Und noch eines, Bundesbruder H., darf ich nichtverschweigen. Es ist ja recht wohl möglich, daßan jenem Abend der Diener Leo Ihnen in seinen

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Gedanken Unrecht getan hat. Nehmen wir an, essei so. Der Diener Leo war vielleicht etwas zustreng, etwas zu vernünftiger hatte vielleicht nichtgenug Nachsicht und Humor für Sie und IhrenZustand. Aber es gibt höhere Instanzen und un-trüglichere Richter als den Diener Leo. Wie lautete

das Urteil der Kreatur über Sie, Angeklagter?Erinnern Sie sich des Hundes Necker? ErinnernSie sich der Ablehnung und Verurteilung, die erüber Sie verhängte? Er ist unbestechlich, er ist nichtPartei, er ist nicht Bundesbruder.«Er machte eine Pause. Ja, der Wolfshund Necker!

Gewiß, der hatte mich abgelehnt und verurteilt.Ich sagte ja. Das Urteil war mir gesprochen, schonvom Wolfshund, schon von mir selber.»Selbstankläger H.«, hob Leo wieder an, und jetztklang aus dem Goldglanz seines Ornates und seinesBaldachins hervor seine Stimme so kühl und hellund durchdringend wie die Stimme des Komturs,wenn er im letzten Akt vor Don Jüans Tür er-scheint. »Selbstankläger H., Sie haben mich ange-hört, Sie haben ja gesagt. Sie haben, so vermutenwir, sich selbst schon das Urteil gesprochen.«»Ja«, sagte ich mit leiser Stimme, »ja.«

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»Es ist, so vermuten wir, ein verdammendes Urteil,das Sie über sich selbst gesprochen haben?«»Ja«, flüsterte ich.Nun erhob sich Leo auf dem Throne und breitetesanft die Arme aus.»Ich wende mich nun an euch, ihr Oberen. Ihr habet

gehört. Ihr wisset, wie es dem Bundesbruder H.gegangen ist. Es ist ein Schicksal, das euch nichtfremd ist, mancher von euch hat es an sich selbsterleben müssen. Der Angeklagte wußte bis zurStunde noch nicht, oder vermochte doch nicht rechtdaran zu glauben, daß sein Abfall und seine Ver-

irrung eine Prüfung war. Er hat lange nicht nach-gegeben. Er hat es jahrelang ertragen, nichts mehrvom Bund zu wissen, allein zu bleiben und alleszerstört zu sehen, woran er geglaubt hatte. Endlichvermochte er sich aber doch nicht länger zu ver-bergen und zu drücken, sein Leid wurde zu groß,und ihr wisset, sobald das Leid groß genug ist, gehtes vorwärts. Bruder H. ist durch seine Prüfung bisin die Verzweiflung geführt worden, und Verzweif-lung ist das Ergebnis jedes ernstlichen Versuches,das Menschenleben zu begreifen und zu rechtfer-tigen. Verzweiflung ist das Ergebnis eines jeden

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ernstlichen Versuches, das Leben mit der Tugend,mit der Gerechtigkeit, mit der Vernunft zu be-stehen und seine Forderungen zu erfüllen. Diesseitsdieser Verzweiflung leben die Kinder, jenseits dieErwachten. Angeklagter H. ist nicht mehr Kindund ist noch nicht ganz erwacht. Er ist noch mitten

in der Verzweiflung. Er wird sie durchschreitenund wird damit sein zweites Noviziat leisten. Wirheißen ihn aufs neue im Bund willkommen, dessenSinn zu verstehen er sich jetzt nicht mehr anmaßt.Wir geben ihm seinen verlorenen Ring zurück, dender Diener Leo für ihn aufbewahrt hat.«

Schon brachte der Sprecher den Ring, küßte michauf die Wange und steckte mir den Ring an denFinger. Kaum hatte ich den Ring erblickt, kaumseine metallne Kühle an meinem Finger verspürt,so fielen mir tausend Dinge, tausend unbegreiflicheVersäumnisse ein. Es fiel mir vor allem ein, daß derRing in gleichen Abständen vier Steine trägt unddaß es Bundesgesetz ist und zum Gelübde gehört,mindestens einmal an jedem Tage den Ring lang-sam am Finger zu drehen und sich bei jedem der vierSteine eine der vier grundlegenden Vorschriftendes Gelübdes zu vergegenwärtigen. Ich hatte nicht

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nur den Ring verloren und ihn nicht einmal ver-mißt, ich hatte auch alle diese schrecklichen Jahrehindurch niemals mehr die vier Grundvorschriftenhergesagt und mich ihrer erinnert. Alsbald suchteich sie mir innerlich wieder vorzusagen. Ich ahntesie, sie lagen noch in mir, sie gehörten mir so,

wie einem ein Name gehört, auf den man sich imnächsten Moment besinnen wird, der aber imAugenblick sich nicht finden lassen will. Nein, esblieb still in mir, ich konnte die Regeln nicht her-sagen, ich hatte den Wortlaut vergessen. Ich hattesie vergessen, hatte viele Jahre sie nicht mehr repe-

tiert, hatte viele Jahre sie nicht mehr befolgt undheilig gehalten - und hatte mich dennoch für einentreuen Bundesbruder halten können!Beruhigend klopfte mir der Sprecher auf den Arm,als er meine Bestürzung und tiefe Beschämung sah.Und schon hörte ich auch den Obersten der Obernwieder sprechen.»Angeklagter und Selbstankläger H., Sie sind frei-gesprochen. Es muß Ihnen noch mitgeteilt werden,daß der in einem solchen Prozeß freigesprocheneBruder die Pflicht hat, in die Schar der Obereneinzutreten und einen ihrer Sitze einzunehmen,

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Mir wurde es kalt, und der Atem wollte mir stocken.Aber ich hatte begriffen: Frage um Frage würdeschwerer und schwerer werden, es gab kein Ent-rinnen als in das noch Schlimmere. Tiefatmendstand ich und sagte ja.Der Sprecher führte mich zu den Tischen, wo die

Hunderte von Zettelkästen standen, ich suchte undfand den Buchstaben H., fand meinen Namen,undzwar zuerst meinen Vorfahren Eoban, der vorvierhundert Jahren ebenfalls Mitglied des Bundesgewesen ist, dann kam mein eigener Name, mitdem Hinweise:

Chattorum r. gest. XC.civ. Calv.infid.49

Das Blatt zitterte mir in der Hand. Indessen erho-ben sich die Oberen einer um den ändern von ihrenSesseln, reichten mir die Hand, blickten mir in dieAugen, danach ging jeder davon, es leerte sich derHohe Stuhl, als letzter kam der Oberste der Obernvom Thron herab, reichte mir die Hand, blicktemir in die Augen, lächelte sein frommes dienendesBischofslächeln und verschwand als letzter aus dem

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Saale. Allein blieb ich zurück, den Zettel in derLinken, an den Bescheid des Archivs verwiesen.Ich brachte es nicht über mich, sofort den Schritt zutun und das Archiv über mich zu befragen. Zögerndstand ich im leeren Saal und sah weithin die Kä-sten, Schränke, Nischen und Kabinette sich dehnen,

die Aufhäufung alles Wissenswerten, das er fürmich irgend geben konnte. Aus Furcht ebensosehrvor meinem eigenen Zettel wie aus brennendemWissensdurst erlaubte ich mir, mit meiner eigenenAngelegenheit noch ein wenig zu warten und erstnoch dies oder jenes in Erfahrung zu bringen, was

für mich und für meine Geschichte der Morgen-landfahrt wichtig war. Freilich wußte ich im Grun-de längst, daß diese meine Geschichte schon verur-teilt und begraben war und daß ich sie nie zu Endeschreiben würde. Aber neugierig war ich doch sehr.Aus einem der Zettelkästen sah ich einen schlechteingelegten Zettel schräg aus den ändern herausra-gen. Ich ging hin, zog den Zettel heraus, er lautete:

Morbio Inferiore.

Kein anderes Schlagwort hätte den innersten Kernmeiner Neugierde kürzer und genauer bezeichnen

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können. Mit leichtem Herzklopfen suchte ich imArchiv die Stelle auf. Es war ein Archivfach, mitziemlich vielen Papieren angefüllt. Obenauf lagdie Kopie einer Beschreibung der Schlucht vonMorbio aus einem alten italienischen Buch. Dannein Quartblatt mit kurzen Nachrichten über die

Rolle, welche Morbio in der Bundesgeschichte ge-spielt hat. Sämtliche Nachrichten bezogen sich auf die Morgenlandfahrt, und zwar auf die Etappeund Gruppe, zu der ich gehört hatte. Unsre Grup-pe, so war es hier verzeichnet, war auf ihrer Fahrtbis Morbio gekommen, dort aber einer Prüfung

ausgesetzt worden, die sie nicht bestand: dem Ver-schwinden Leos. Obgleich uns die Bundesregelnhätten führen sollen, und obgleich sogar für denFall, daß eine Bundesgruppe führerlos bleibensollte, Vorschriften bestanden und uns beim Antrittder Fahrt eingeschärft worden war, hatte doch unsreganze Gruppe vom Augenblick an, wo wir LeosFehlen entdeckten, den Kopf und den Glaubenverloren, war ins Zweifeln und unnütze Debattie-ren geraten, und am Ende hatte sich die ganzeGruppe, jedem Bundesgeiste zuwider, in Parteienzerspalten und war auseinander gelaufen. Diese

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uns ohne die tiefste Reue und Beschämung denken.Kaum hatte Leo uns verlassen, so waren Glaubeund Einmütigkeit unter uns zu Ende; es war, alsliefe aus unsichtbarer Wunde das rote Blut desLebens aus unsrer Gruppe fort. Es brachen erstMeinungsverschiedenheiten, dann offene Streitig-

keiten aus um die unnützesten und lächerlichstenFragen. Ich erinnere mich zum Beispiel, daß unserso beliebter und verdienstvoller Kapellmeister, derViolinspieler H. H., plötzlich die Behauptung auf-stellte, der entlaufene Leo habe in seinem Träger-sack unter ändern Wertgegenständen auch den

uralten heiligen Bundesbrief, die Urhandschrift desMeisters, mitgenommen! Es wurde über diese Frageallen Ernstes tagelang gestritten. Symbolisch ge-nommen war H.s absurde Behauptung freilichmerkwürdig sinnvoll: in der Tat war es, als sei mitdem Abgang Leos unsrer kleinen Heeresgruppe derSegen des Bundes, der Zusammenhang mit demGanzen, völlig verlorengegangen. Ein traurigesBeispiel war ebenjener Musiker H. H. Bis zumTag von Morbio Inferiore einer der treuesten undgläubigsten Bundesbrüder, außerdem als Künstlerbeliebt und trotz mancher Charakterschwächen

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eins unsrer lebendigsten Mitglieder, verfiel er jetztin Grübelei, Depression und Mißtrauen, wurde inseinem Amt mehr als nachlässig, begann unver-träglich, nervös, streitsüchtig zu werden. Als erschließlich eines Tages auf dem Marsche zurück-blieb und sich nicht wieder einfand, kam niemand

auf den Gedanken, seinetwegen haltzumachen undnach ihm zu forschen, die Fahnenflucht war evi-dent. Leider war er nicht der einzige, und amEnde ist von unsrer kleinen Fahrtgruppe nichtsübriggeblieben...«Bei dem ändern Historiker fand ich diese Stelle:

»Wie mit Cäsars Tode das alte Rom oder wie mitWilsons Fahnenflucht der demokratische Welt-gedanke, so brach mit dem unseligen Tag vonMorbio unser Bund zusammen. Soweit hier vonSchuld und Verantwortungen gesprochen werdendarf, waren schuldig an diesem Zusammenbruchzwei anscheinend harmlose Mitbrüder: Der Musi-ker H. H. und Leo, einer der Diener. Diese beiden,bis dahin beliebte und treue Anhänger des Bundes,wennschon ohne Verständnis für dessen weltge-schichtliche Bedeutung, diese beiden waren einesTages spurlos verschwunden, nicht ohne manche

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auch noch über mich selbst, über meine eigenePerson und Geschichte, die Wissenschaft diesesArchives erfahren würde?Ich mußte auf alles gefaßt sein. Und plötzlich er-trug ich die Ungewißheit und Erwartungsangstnicht mehr, ich eilte nach der Abteilung Chattorum

res gestae, suchte meine Unterabteilung und Num-mer und stand vor dem mit meinem Namen be-zeichneten Fach. Es war eine Nische, und sie ent-hielt, als ich den dünnen Vorhang vor ihr wegzog,nichts Schriftliches. Sie enthielt nichts als eine Figur,eine alt und mitgenommen aussehende Plastik aus

Holz oder Wachs, mit blassen Farben, eine ArtGötze oder barbarisches Idol schien sie zu sein, siewar für meinen ersten Blick vollkommen unver-ständlich. Es war eine Figur, welche eigentlich auszweien bestand, sie hatten einen gemeinsamenRücken. Ich starrte eine Weile enttäuscht und ver-wundert. Da fiel eine Kerze mir auf, die an derNischenwand in metallenem Leuchter befestigtwar. Feuerzeug lag da, ich zündete die Kerze an,hell stand nun die seltsame Doppelfigur beleuchtet.Langsam nur enthüllte sie sich mir. Langsam undallmählich nur begann ich zu ahnen und dann zu

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erkennen, was sie darstellen wolle. Sie stellte eineGestalt dar, die war ich, und dies Bildnis von mirwar unangenehm schwächlich und halbwirklich,es trug verwischte Züge und hatte im ganzen Aus-druck etwas Haltloses, Schwaches, Sterbendesoder Sterbenwollendes an sich und sah etwa so

aus wie eine Bildhauerarbeit mit dem Titel »Ver-gänglichkeit« oder »Die Verwesung« oder ähnlich.Die andere Figur dagegen, die mit der meinenin eins verwachsen war, blühte kräftig in Far-ben und Formen, und eben als ich zu erraten be-gann, wem sie gleiche, nämlich dem Diener und

Obersten Leo, da entdeckte ich noch eine zweiteKerze an der Wand und entzündete auch diese.Jetzt sah ich die Doppelfigur, die mich und Leoandeutete, nicht nur etwas klarer und ähnlicherwerden, sondern sah auch, daß die Oberfläche derFiguren durchsichtig war und daß man in ihrInneres blicken konnte, wie man durchs Glaseiner Flasche oder Vase blickt. Und im Innernder Figuren sah ich etwas sich bewegen, langsam,unendlich langsam sich bewegen, wie eine einge-schlafene Schlange sich bewegt. Es ging da etwasvor sich, etwas wie ein sehr langsames, sanftes,

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