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Höhere Mathematik 3 (vertieft) für Luft- und Raumfahrttechnik (LRT) und Materialwissenschaften (MaWi) Prof. Dr. Frederik Witt basierend auf dem Skript von Prof. Dr. Michael Eisermann Institut für Geometrie und Topologie, Universität Stuttgart www.mathematik.uni-stuttgart.de/fak8/igt/witt Wintersemester 2016/17 (Stand 18. Oktober 2016) Für die Mitteilung von Unklarheiten und Fehlern aller Art sowie für Verbesserungsvorschläge bin ich stets dankbar!

Höhere Mathematik 3 (vertieft) - igt.uni-stuttgart.de · HM3 Modulbschreibung 105 Die Studierenden sind in der Lage, die behandelten Methoden selbstständig, sicher, kritisch, korrekt

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Höhere Mathematik 3 (vertieft)für Luft- und Raumfahrttechnik (LRT)und Materialwissenschaften (MaWi)

Prof. Dr. Frederik Witt

basierend auf dem Skript von Prof. Dr. Michael Eisermann

Institut für Geometrie und Topologie, Universität Stuttgartwww.mathematik.uni-stuttgart.de/fak8/igt/witt

Wintersemester 2016/17(Stand 18. Oktober 2016)

Für die Mitteilung von Unklarheiten und Fehlern aller Artsowie für Verbesserungsvorschläge bin ich stets dankbar!

Inhalt dieses Kapitels 000

1 Organisation der Höheren Mathematik 3

2 Mathematische Modellierung

3 Ausblick auf Inhalt und Anwendungen der HM3

Wochenplan 101

Vorlesung:wöchentlich Mo 08:00 – 09:30 V 7.02wöchentlich Di 08:00 – 09:30 V 57.03

Vortrags- und Gruppenübung:wöchentlich Di 17:30 – 19:00 V 38.01 Vortragsübungwöchentlich Do 08:00 – 09:30 1 Übungsgruppewöchentlich Do 11:30 – 13:00 5 Übungsgruppenwöchentlich Do 15:45 – 17:15 5 Übungsgruppenwöchentlich Fr 08:00 – 09:30 1 Übungsgruppewöchentlich Fr 15:45 – 17:15 2 Übungsgruppen

Anmeldung Übungsgruppen ab 18.10, 13:00 Uhr, über C@mpus

Ankündigungen, Skript etc. über meine Homepage:www.mathematik.uni-stuttgart.de/fak8/igt/witt/index.html

Semesterplan 102

Vorlesung: ab Montag, 17.10.2016

Vortrags- und Gruppenübung: ab Dienstag, 25.10.2016

Scheinklausur: 10.12.2016 von 12:30-15:30 Uhr

Abschlussklausur: voraussichtlich Ende Februar oder Anfang März

Der Übungsschein ist Voraussetzung für die Abschlussklausur. Kriterienfür dessen Erwerb sind

Anwesenheitspflicht in den Gruppenübungen: Sie dürfen maximalzweimal unentschuldigt fehlen, danach legen Sie dem Tutor bitteeine offizielle Entschuldigung (ärztliches Attest o.ä.) vor.Aktive Mitarbeit in den Gruppenübungen: Mindestens zweimalVorrechnen.Bestehen der Scheinklausur.

Themen der HM1&2: Voraussetzung 103

Lineare Algebra und Geometrie:Reelle und komplexe Zahlen R ⊂ CEuklidische Vektorräume Rn, Cn

Matrizen & lineare Gleichungssysteme Ax = y

Eigenvektoren und Diagonalisierung Av = λv

Normalformen für Quadriken x2 − y2 = 1

Analysis:Konvergenz von Folgen und Reihen

∑∞k=0 ak

Funktionen, Grenzwerte und Stetigkeit limx→x0 f(x)

Differential- und Integralrechnung´ ba f′(x) dx = f(b)− f(a)

Differentialrechnung mehrerer Variablen ∂x∂yf = ∂y∂xf

Vektorfelder, Wegintegrale und Potentiale rot grad f = 0

Themen der HM3 104

Mehrdimensionale Integration (3)´Rn f(x) dx

Integralsätze (4)´B df =

´∂B f

Fourier–Analysis (4) f(t) ∼∑ ck eikt

Wahrscheinlichkeitsrechnung (6) P (A|B) =P (A ∩B)

P (B)

Gewöhnliche Differentialgleichungen (6) u′(t) = f(t, u(t))

Partielle Differentialgleichungen (5) ∂t u(t, x) = ∂2x u(t, x)

HM3 Modulbschreibung 105

Die Studierenden

sind in der Lage, die behandelten Methoden selbstständig, sicher,kritisch, korrekt und kreativ anzuwenden.

besitzen die mathematische Grundlage für das Verständnisquantitativer Modelle aus den Ingenieurwissenschaften.

können sich mit Spezialisten aus dem ingenieurs- undnaturwissenschaftlichen Umfeld über die benutztenmathematischen Methoden verständigen.

Literatur zur Höheren Mathematik 106

G. Bärwolff: Höhere Mathematik, Spektrum Verlag.

H. Heuser: Analysis 1 & 2 und Differentialgleichungen, Teubner(zur Vertiefung der mathematischen Grundlagen).

E. Kreyszig: Advanced Engineering Mathematics, Wiley.

W. Kimmerle, M. Stroppel: Lineare Algebra und Analysis(zur Wiederholung der mathematischen Grundlagen).

K. Meyberg, P. Vachenauer:Höhere Mathematik 1 & 2, Springer Verlag.

Mathematik Online: www.mathematik-online.org(umfangreiche Übungsaufgaben, Tests, Skripte).

Weitere Hinweise und Links auf der Vorlesungsseite.

Was ist zu tun? 107

Sie müssen in kurzer Zeit sehr viel Stoff lernen. Die drei Grunderegelnzum Bestehen der Klausuren:

Arbeiten Sie regelmäßig den Stoff der Vorlesung nach. Eine guteVorbereitung erleichtert das Verständnis in der Vorlesung und inden Übungen enorm!

Bearbeiten Sie die Übungsaufgaben und rechnen Sie die Lösungenselbstständig durch. Die Klausuraufgaben leiten sich aus denÜbungsaufgaben ab!

Nutzen Sie die Vorlesungen, Vortragsübungen und Übungsgruppen,um Fragen zu stellen!

Ein hoher Turm braucht eine breite Basis. 201

y

x

LastG0

r(x)

Der

Eiff

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2013

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Aufgabe: Konstruieren Sie eine Säule aus einem Material konstanterDichte %, so dass der Druck (Last pro Fläche) überall konstant p ist.

Ein hoher Turm braucht eine breite Basis. 202

Lösung:Die Fläche ist A(x) = πr(x)2, das Volumen V (x) =

´ xh=0 πr(h)2 dh,

die Last G(x) = g%V (x), der Druck G(x)/A(x)!

= p. Insgesamt:

g% ·ˆ x

h=0πr(h)2 dh

!= p · πr(x)2

Ableiten dieser Integralgleichung ergibt unsere Differentialgleichung:

g% πr(x)2 = 2p πr(x) r′(x).

Diese ist elementar lösbar. Wir trennen die Variablen und integrieren:

r′(x)

r(x)=g%

2p=⇒

ˆ x

0

r′(h)

r(h)dh =

ˆ x

0

g%

2pdh =⇒ ln r(x)− ln r0 = x

g%

2p

Wir erhalten somit r(x) = r0 exg%/2p. Der Radius wächst exponentiell!

Modellierungskreislauf 203

Diese Anwendungen illustrieren bereits das Wechselspiel zwischentechnischen Problemen aus der Praxis und deren Lösung durchmathematische Werkzeuge:

1 Grundlegendes Verständnis der vorliegenden Situation2 Mathematische Modellierung der vorliegenden Situation3 Lösung durch geeignete mathematische Werkzeuge4 Anpassung und Überprüfung anhand gegebener Daten

Diese Vorlesung konzentriert sich auf Lösungsmethoden (Schritt 3)!

Newtons Himmelsmechanik 206

Aufgabe: Formulieren Sie die Bewegungsgleichung von n Planetenmit Masse mk > 0, Position uk(t) ∈ R3 und Geschwindigkeit vk(t) ∈ R3.Lösung: Newtons Gravitationsgesetz ergibt die Differentialgleichungen

uk = vk, vk = fk(u) :=∑

j 6=kγ mj

uj − uk|uj − uk|3

.

Die Anfangssdaten uk(0) und vk(0) zur Teit t = 0 sind vorgegeben.Als Lösung gesucht ist die Bewegung (u1, v1, . . . , un, vn) : [0, T [→ R6n.

Den Fall n = 2 lösen Kegelschnitte: Ellipsen, Parabeln, Hyperbeln.Für n ≥ 3 ist dieses DGSystem i.A. nicht geschlossen lösbar!

Dann z.B. Euler–Verfahren: diskrete Zeitschritte 0 = t0 < t1 < t2 < . . . ,

uk(ti+1) ≈ uk(ti) + vk(ti)(ti+1 − ti), vk(ti+1) ≈ vk(ti) + fk(u)(ti+1 − ti)

Maxwells Elektrodynamik 210

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Michael Faraday(1791–1867)

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James Clark Maxwell(1831–1879)

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Heinrich Hertz(1857–1894)

Gleichungen der Elektrodynamik

∇ · ~E = 4π%, ∇× ~E +1

c

∂ ~B

∂t= 0,

∇ · ~B = 0, ∇× ~B − 1

c

∂ ~E

∂t=

c~J.

Tarnkappentechnik 213

Anfang der 60ger Jahre entwickelt der sowjetrussische Physiker PetrUfimtsev die physikalische Theorie der Beugung für Schall- undelektromagnetische Wellen.Diese Theorie spielte eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der erstenTarnkappenflugzeuge Mitte der 70ger Jahre.

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F-117 Nighthawk

Die Kontinuitätsgleichung der Strömungslehre 301

Ziel: Wie verhalten sich Strömungen?

Wir beobachten eine Strömung in einem Gebiet Ω ⊂ R3 über einZeitintervall I = [t0, t1]. Hierbei sei ~v(t, x, y, z) : I × Ω→ R3 dasGeschwindigkeitsfeld und %(t, x, y, z) : I × Ω→ R die Massendichte.

Herleitung der Kontinuitätsgleichung 303

Aufgabe: Welche Beziehung folgt aus der Massenerhaltung?(1) Sei K ⊂ Ω ⊂ R3 kompakt, etwa ein Würfel. Formulieren Siedie Massenbilanz für K in Worten und als Volumen-/Flussintegrale.(2) Formen Sie dies um zu einem einzigen Volumenintegral.(3) Folgern Sie hieraus die zugehörige Differentialgleichung.(4) Was folgt für inkompressible Strömungen, also für % = const?

Lösung: (1) Die über die Randfläche S = ∂K ausströmende Masse gehtder Gesamtmasse in K verloren. Als Integralgleichung formuliert:

‹S=∂K

(%~v q~n) dS +d

dt

˚K%dK = 0

(2) Wir wollen beide Integrale auf dieselbe Form bringen, um siezusammenfassen zu können. Dies gelingt mit dem Satz von Gauß:‹

S=∂K(%~v q~n) dS =

˚K

div(%~v) dK

Herleitung der Kontinuitätsgleichung 304

Wir dürfen die Ableitung unter das Integral ziehen dank Kompaktheit desIntegrationsbereichs K und Stetigkeit des Integranden ∂%/∂t:

d

dt

˚K%(t, x, y, z) dK =

˚K

∂%

∂t(t, x, y, z) dK

Wir erhalten zusammenfassend ein einziges Volumenintegral:˚

K

[div(%~v) +

∂%

∂t

]dK = 0

(3) Diese lokale Massenbilanz gilt für jedes Kompaktum K ⊂ Ω.Das gilt genau dann, wenn der (stetige!) Integrand verschwindet:

div(%~v) +∂%

∂t= 0

(4) Für inkompressible Strömungen gilt % = const und somit div~v = 0.

Die Navier–Stokes–Gleichungen 308

Die Navier–Stokes–Gleichungen für inkompressible Flüssigkeiten:

Massenerhaltung: div~v =

n∑k=1

∂vk∂xk

= 0

Impulserhaltung:∂vi∂t

+

n∑k=1

vk∂vi∂xk

= ν∆vi −1

%

∂p

∂xi+ fi

Fouriers Wärmeleitungsgleichung 309

Ziel: Wie berechnet man den Wärmefluss in einem Körper?

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omo

Wir betrachten ein Gebiet Ω ⊂ R3 und ein Zeitintervall I = [t0, t1] undsuchen eine Beziehung zwischen Wärmeleistungsdichte q : I × Ω→ R,Wärmedichte u : I × Ω→ R und Wärmefluss ~f : I × Ω→ R3.

Fouriers Wärmeleitungsgleichung 310

Aufgabe: (1) Sei K ⊂ Ω ⊂ R3 kompakt, etwa ein Würfel. Formulieren Siedie Wärmebilanz für K in Worten und als Volumen-/Flussintegrale.(2) Formen Sie dies um zu einem einzigen Volumenintegral.(3) Folgern Sie hieraus die zugehörige Differentialgleichung.(4) Vereinfachen Sie schließlich durch die Annahme ~f = −κ∇u.

Lösung: (1) Für jedes Kompaktum K ⊂ Ω gilt die Wärmebilanz:

Von den Wärmequellen in K zugeführte Energie= Zuwachs der in K enthaltenen Wärmeenergie+ Wärmefluss über den Rand von K nach außen

Als Integralgleichung formuliert bedeutet dies:˚

Kq(t, x) dx =

d

dt

˚Ku(t, x) dx+

‹S=∂K

~f(t, x) q~ndS

Fouriers Wärmeleitungsgleichung 311

(2) Mit Gauß verwandeln wir Flussintegrale in Volumenintegrale:‹

S=∂K

~f(t, x) q~ndS =

˚K∇ q ~f(t, x) dx

Dank Kompaktheit dürfen wir die Ableitung unter das Integral ziehen:

d

dt

˚Ku(t, x) dx =

˚K

∂tu(t, x) dx

Wir erhalten zusammenfassend ein einziges Volumenintegral:˚

K

[∂

∂tu(t, x) +∇ q ~f(t, x)− q(t, x)

]dx = 0.

(3) Diese lokale Wärmebilanz gilt für jedes Kompaktum K ⊂ Ω ⊂ R3.Das gilt genau dann, wenn der (stetige!) Integrand verschwindet:

∂tu(t, x) +∇ q ~f(t, x) = q(t, x)

Fouriers Wärmeleitungsgleichung 312

(4) Wärme fließt von warm nach kalt, also ~f = −κ∇u. Einsetzen:

∂tu(t, x) +∇ q [−κ∇u(t, x)]

= q(t, x)

Mit dem Laplace–Operator ∆ = ∇ q∇ schreiben wir dies kurz

∂tu− κ∆u = q mit ∆ = ∂21 + ∂2

2 + ∂23 .

Wir erhalten so Fouriers berühmte Wärmeleitungsgleichung:

∂u

∂t− κ∆u = q mit ∆ =

∂2

∂x21

+∂2

∂x22

+∂2

∂x23

Mars & Venus Express 313

Missionen der ESAStart Jun. 2003 in BaikonurMars-Orbit ab Jan. 2004Start Nov. 2005 in BaikonurVenus-Orbit ab Apr. 2006

Orbiter: Masse 633kg plusTreibstoff (MMH+NTO)Acht Steuertriebwerkemit jeweils 10N SchubFortsetzung oder Ende:Wie lange reicht der Sprit?

Venus Express: Wieviel Treibstoff ist im Tank? 315

Aus Steuermanövern errechnete Masse für 366 Tage bis 31.12.2012.

unplausibel: leichter als leer

unplausibel: schwerer als voll

Tag

Masse/kg

−350 −300 −250 −200 −150 −100 −50 0

600

620

640

660

680

700

720

740

760

Mathematische Statistik: Konfidenzintervalle 317

Jahresmittelwert der Gesamtmasse mit 3σ–Konfidenzintervall.

Tag

Masse/kg

−350 −300 −250 −200 −150 −100 −50 0

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Mathematische Statistik: lineare Regression 319

Regressionsgerade mit Konfidenzintervallen: 1σ, 2σ, 3σ.

σ2σ3σ

Tag

Masse/kg

−350 −300 −250 −200 −150 −100 −50 0

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620

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Mathematische Statistik: lineare Regression 320

Aufgabe: Wir groß war der Tankinhalt Ende 2012? Wie lange reicht esnoch? Wie sicher ist Ihre Prognose?Lösung: Unser Datensatz liefert die Regressionsgerade y = a+ b x:Ende 2012 ist die Gesamtmasse a = 680.5kg mit Streuung σa = 2.6kg.Im Tank verbleiben t = 47.5kg Treibstoff mit Streuung σt = 2.6kg. DerVerbrauch ist b = −20.3g/Tag mit Streuung σb = 12.6g/Tag.Sehr grobe Prognose der verbleibenden Missionsdauer: 2300 Tage. Wieverlässlich ist diese Prognose aufgrund unserer Messdaten?Mit 95% Sicherheit reicht der Treibstoff noch für über 930 Tage:Tank[t± 2σt] ⊂ [42.3; 52.7]kg,Verbrauch [b± 2σb] ⊂ [−45.5; 4.9]g/Tag.Mit 99% Sicherheit reicht der Treibstoff noch für über 680 Tage: Tank[t± 3σt] ⊂ [39.7; 55.3]kg,Verbrauch [b± 3σb] ⊂ [−58.1; 17.5]g/Tag.

Systematische Fehler? War 2012 ein typisches Jahr? VEX wird2013/14 tiefer in Atmosphäre abgesenkt⇒ mehr Verbrauch. Die Missionendet im Dezember 2014 wegen Treibstoffmangels. Wow!

Viel Erfolg! 321

Wir wünschen Ihnen eine erfolg- und lehrreiche HM3!

If people do not believe that mathematics is simple,it is only because they do not realize how complicated life is.

(John von Neumann)

Kapitel A

Integrationsrechnung

Inhalt dieses Kapitels A000

1 Volumen und Integration

Integration: Theorie und Anwendung A101

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Bernhard Riemann(1826–1866)

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Henri Lebesgue(1875–1941)

1 Konstruktion: Was sind und was sollen Integrale?2 Werkzeugkasten: Welche Rechenregeln gelten?3 Training: Wie berechnet man konkrete Beispiele?

Eindimensionale Integration und Volumen A107

Grundidee: Sei Ω = [a, b] ein Intervall und f : [a, b]→ R stetig.

Das Integral´ ba f(x) dx misst die Fläche unter dem Graphen von f .

a b

f

Verallgemeinerung: Sei Ω ⊂ Rn ein Quader und f : Ω→ R stetig.Das Integral

´Ω f(x) dx misst das Volumen unter dem Graphen von f .

Höherdimensionale Integration und Volumen A108

Beispiel: Wir integrieren f(x1, x2) = 1 + x21 − x2

2 über Ω = [−1, 1]2.

−1

0

1

0

10

1

2

x1x2

Intervalle und ihre Länge A109

Definition (Intervalle und ihre Länge)Für a ≤ b haben wir die endlichen Intervalle

[a, b] :=x ∈ R

∣∣ a ≤ x ≤ b , ]a, b[ :=x ∈ R

∣∣ a < x < b,

[a, b[ :=x ∈ R

∣∣ a ≤ x < b, ]a, b] :=

x ∈ R

∣∣ a < x ≤ b,

sowie die unendlichen Intervalle wie ]−∞,+∞[ = R und

[a,+∞[ :=x ∈ R

∣∣ a ≤ x , ]a,+∞[ :=x ∈ R

∣∣ a < x,

]−∞, b] :=x ∈ R

∣∣ x ≤ b , ]−∞, b[ :=x ∈ R

∣∣ x < b.

Jedem Intervall I 6= ∅ ordnen wir die Länge vol1(I) := sup I − inf I zu.

Rechtecke und ihr Flächeninhalt A110

I

J R

Zwei Intervalle I, J ⊂ R bilden ein achsenparalleles Rechteck (Quader)

R = I × J =

(x, y) ∈ R2∣∣ x ∈ I, y ∈ J .

Es hat den Flächeninhalt vol2(R) := vol1(I) · vol1(J).

Quader in beliebiger Dimension A112

Definition (n–dimensionale Quader und ihr Volumen)Eine Teilmenge Q ⊂ Rn heißt achsenparalleler Quader, falls

Q = I1 × I2 × · · · × In

mit Intervallen I1, I2, . . . , In ⊂ R. Sein n–dimensionales Volumen ist

voln(Q) := vol1(I1) · vol1(I2) · · · vol1(In).

Satz (Streckung und Verschiebung)Für a ∈ R und v ∈ Rn gilt voln(aQ+ v) = |a|n voln(Q).

Definierende Eigenschaften des Volumens A113

Allen (messbaren) Mengen A ⊂ Rn ordnen wir nach folgenden fünfGrundregeln ihr n–dimensionales Volumen vol(A) ∈ [0,+∞] zu:

Normierung: Das Volumen vol(A) eines n–dimensionalen QuadersA ⊂ Rn ist das Produkt seiner Seitenlängen.

Additivität: Es gilt vol(A) + vol(B) = vol(A ∪B) + vol(A ∩B).

Monotonie: Aus A ⊂ B folgt aus der Additivität vol(A) ≤ vol(B).

Einschachtelung: Gilt A0 ⊂ A1 ⊂ . . . ⊂ C ⊂ . . . ⊂ B1 ⊂ B0 mitvol(Bk rAk) 0, so auch vol(Ak) vol(C) vol(Bk) dankMonotonie.

Ausschöpfung: Insbesondere gilt für A0 ⊂ A1 ⊂ A2 ⊂ . . . mitVereinigung A = A0 ∪A1 ∪A2 ∪ . . . , dass vol(Ak) vol(A).

Grundlegende Eigenschaften A114

Satz (Lebesgue 1901)Mit diesen fünf Regeln können wir jeder (messbaren) Teilmenge A ⊂ Rn

eindeutig ihr Volumen voln(A) ∈ [0,∞] zuweisen und ausrechnen.

Wir haben hier den in der mathematischen Literatur zentralen Begriff dermessbaren Menge eingeklammert. Für einen logisch sinnvollenVolumenbegriff ist tatsächlich vol(A) a priori nicht für beliebige A ⊂ Rn,sondern lediglich für messbare Teilmengen definiert. Die Begriffsfassungdes Volumens im Rahmen der allgemein akzeptierten logischenGrundlagen der Mathematik führte zur modernen Integrationstheorie.

Grundidee: Das Integral misst das Volumen. A118

Indikatorfunktionen A119

Zunächst definieren wir die Indikatorfunktion einer Teilmenge A ⊂ Ωdurch

IA : Ω→ R, IA(x) :=

1 für x ∈ A,0 für x /∈ A.

ΩA

Das Integral misst das Volumen unter dem Funktionsgraphen, hier alsoˆ

ΩIA(x) dx = voln(A) und daher

ˆΩa IA(x) dx = a voln(A).

Treppenfunktionen A121

Zu Quadern Qk ⊂ Ω und ak ∈ R definieren wir die Treppenfunktion

f(x) =∑k=1

ak IQk(x).

Ω

Das Integral misst das Volumen unter dem Funktionsgraphen, hier also

ˆΩf(x) dx =

ˆΩ

(∑k=1

ak IQk

)(x) dx =

∑k=1

ak voln(Qk).

Definierende Eigenschaften des Integrals A123

Sei Ω ⊂ Rn. Allen messbaren Funktionen f : Ω→ [0,+∞] ordnen wirnach folgenden fünf Grundregeln das Integral

´Ω f ∈ [0,+∞] zu:

(1) Normierung: Für jeden endlichen Quader A ⊂ Ω gilt´

Ω IA = voln(A).

(2) Linearität: Für alle a, b ∈ R≥0 gilt´

Ω(af + bg) = a´

Ω f + b´

Ω g.

(3) Monotonie: Aus f ≤ g folgt´

Ω f ≤´

Ω g dank Additivität.

(4) Einschachtelung: Gilt f0 ≤ f1 ≤ . . . ≤ h ≤ . . . ≤ g1 ≤ g0 und´Ω(gk − fk) 0, so gilt dank Monotonie

´Ω fk

´Ω h

´Ω gk.

(5) Ausschöpfung: Gilt f0 ≤ f1 ≤ f2 ≤ . . . mit fk f (punktweiseKonvergenz), dann

´Ω fk

´Ω f .

Für welche Funktionen kann ein solches Integral definiert werden?

Das Lebesgue–Integral A124

Zu jeder positiven Funktion f :Rn → [0,+∞] definieren wir ihr

Unterintegral I(f) := sup

∞∑k=0

ak voln(Ak)

∣∣∣∣ f ≥ ∞∑k=0

akIAk

∈ [0,+∞],

Oberintegral J(f) := inf

∞∑k=0

bk voln(Bk)

∣∣∣∣ f ≤ ∞∑k=0

bkIBk

∈ [0,+∞],

wobei Ak, Bk ⊂ Ω endliche Quader sind und ak, bk ∈ R≥0 für k ∈ N.f heißt (Lebesgue–)messbar, wenn I(f) = J(f) gilt.

Satz (Lebesgue 1901)Mit diesen fünf Regeln können wir jeder messbaren Funktionen istf : Ω→ [0,∞] eindeutig ihr Integral

´Ω f zuordnen.

Positive und negative Beiträge zum Integral A125

f f+ f−

Wir zerlegen f = f+ − f− in Positivteil f+ und Negativteil f− gemäß

f+(x) =

f(x) falls f(x) > 0,0 sonst,

f−(x) =

−f(x) falls f(x) < 0,0 sonst.

Absolut integrierbare Funktionen und ihr Integral A126

Definition (absolut integrierbare Funktionen und ihr Integral)Für jede Funktion f : Ω→ R gilt f = f+ − f− und |f | = f+ + f−.Dann ist ˆ

Ω

∣∣f(x)∣∣dx =

ˆΩf+(x) dx+

ˆΩf−(x) dx.

Ist dieser Wert endlich, so nennen wir f (absolut) integrierbar.In diesem Fall können wir das Integral von f definieren durch

ˆΩf(x) dx :=

ˆΩf+(x) dx−

ˆΩf−(x) dx.

Schreibweisen für Integrale A127

Das Integral einer Funktion f : Ω→ R schreiben wir wahlweiseˆΩf =

ˆΩf dx =

ˆΩf(x) dx.

Die Bezeichnung der Integrationsvariablen ist dabei willkürlich:ˆΩf =

ˆΩf(t) dt =

ˆΩf(u) du =

ˆΩf(θ) dθ = . . .

Speziell für Ω = [a, b] ⊂ R schreibt man auchˆ[a,b]

f =

ˆ b

af =

ˆ b

af(x) dx . . . .

Für Ω ⊂ R2 schreibt man auchˆΩf =

¨Ωf(x, y) d(x, y) =

ˆΩf(x, y) d(x, y) . . . .

Für Ω ⊂ R3 schreibt man auchˆAf =

˚Ωf(x, y, z) d(x, y, z) =

ˆΩf(x, y, z) d(x, y, z) . . . .

Das Riemann–Integral A128

Aus der HM2 kennen Sie bereits das Riemann–Integral (Riemann 1854),welches über Einschachtelung durch Unter- und Obersummen gebildetwird und Riemann–integrierbaren Funktionen f : Ω→ [0,∞] das Integral´

Ω f zuordnet, z.B. f stetig über einen endlichen Quader Ω ⊂ Rn.

Satz (Charakterisierung R-integrierbarer Funktionen)Genau dann ist f : Ω→ [0,∞] Riemann–integrierbar, wenn fbeschränkten Träger und Wertebereich hat und fast überall stetig ist.

Jede Riemann-integrierbare Funktion ist absolut integrierbar, dieUmkehrung ist aber falsch (siehe z.B. Seite )! Insbesondere bleibtR-Integrierbarkeit nicht unter punktweiser Konvergenz erhalten, so dassEigenschaft (5) i. A. nicht für das Riemann–Integral gilt.

Absolut integrierbare Funktionen und ihr Integral A130

Satz (absolut integrierbare Funktionen und ihr Integral)Die Menge aller absolut integrierbaren Funktionen

L1(Ω) =f : Ω→ R

∣∣ ´Ω|f(x)| dx <∞

ist ein R–Vektorraum. Hierauf ist das Integral eine R–lineare Abbildung

L1(Ω)→ R, f 7→´

Ω f(x) dx.

Sie ist normiert, monoton, erfüllt Einschachtelung und Ausschöpfung.Durch diese fünf Eigenschaften ist das Integral eindeutig bestimmt.Schränkt man das Lebesgue–Integral auf R-integrierbare Funktionenein, so erhält man das Riemann–Integral.