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Ansprechstelle im Land NRW zur Palliativversorgung, Hospizarbeit und Angehörigenbegleitung Juli 2010 Ausgabe 44 Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen Schwerpunkt: ETHISCHES HANDELN www.alpha-nrw.de Im Auftrag vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen

Hospiz Dialog 3-10-2:4 - ALPHA NRW · Prof. Dr. Steffen Fleßa 13 Das Konzept der Vulnerabilität als Kriterium ethischen Handelns in der palliativen Versorgung Sonja Rogusch, Mischa

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Ansprechstelle imLand NRW zurPalliativversorgung,Hospizarbeit undAngehörigenbegleitung

Juli 2010 Ausgabe 44Hospiz-Dialog Nordrhein-Westfalen

Schwerpunkt:ETHISCHES HANDELN

www.alpha-nrw.de

Im Auftrag vom

Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen

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Liebe Leserinnen und Leser,

ethische Fragen stellen sich in der Hospiz- und Pal-liativversorgung auf eine besondere Art und Weise.Je mehr Wahlmöglichkeiten, Therapien oder Me-dikationen sich im Umgang mit schwerer Krank-heit darbieten, umso häufiger und differenzierterzeigt sich der Kontext ethischer Auseinanderset-zungen. Viele der Fragestellungen werden insbe-sondere dann drängend, wenn die Menschen sichnicht mehr verbal äußern können und in deren SinneEntscheidungen getroffen werden müssen.

Letztendlich aber lässt sich diese Auseinanderset-zung nicht auf die letzten Tage reduzieren – in al-len Phasen des Lebens sollte sich ethisches Han-deln an einer uneinschränkbaren Menschenwürdeorientieren: Wertschätzung, Respekt, Demut oderdas Recht auf Autonomie stehen im Mittelpunkt.Dabei ist Ethik nach dem Philosophen Georg Picht„nicht etwa (nur) Handlungstheorie, sondern eineLehre von den unüberschreitbaren Grenzen desHandelns.“ Die Artikel im Schwerpunktteil dieserAusgabe des Hospizdialogs setzen sich mit ver-schiedenen Facetten ethischer Fragen auseinander,beginnend mit dem Blickpunkt einer ethisch ge-tragenen Kultur in Einrichtungen des Gesund-heitswesens bis hin zu spezifischen palliativmedi-zinischen Zusammenhängen.

Ich wünsche Ihnen viel Freude beider Lektüre.

Ihre

Editorial

Gerlinde Dingerkus

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3Hospiz-Dialog NRW - Juli 2010/44

INFORMATION

Im Schatten des Krieges –Kriegskinder im Alter und im SterbeprozessKarin Goebel 4

Mir sagt ja doch (K)einer was! – Flüsterpost e.V.Verein zur Unterstützung von Kindern krebskranker Eltern bzw. Enkeln von krebskranken Großeltern 7

Die grauen Farben des Regenbogens – Reisen für TrauerndeInterview mit Eva Chiwaeze 10

Abschied und Ankommen – Schüler befassen sich mit dem TodChristiane Hüer 12

SCHWERPUNKTETHISCHES HANDELN

Mitarbeiter sind unteilbar: Ein Pädoyer für ei-ne ganzheitliche Führung in Einrichtungen desGesundheitswesensProf. Dr. Steffen Fleßa 13

Das Konzept der Vulnerabilität als Kriterium ethischen Handelns in der palliativen VersorgungSonja Rogusch, Mischa Möller, Prof. Martin W.Schnell 16

„Ethikforum Hospiz“ – eine Unterstützung bei der Entscheidungsfindung zu ethischenFragen im HospizDr. Susanne Hirsmüller, Margit Schröer 18

Ethische FallbesprechungenThorsten Kroll, Gabriela Hofmann 20

Veröffentlichungen 22Veranstaltungen 23

Inhalt

IMPRESSUM

HerausgeberALPHA – Ansprechstellen im Land Nordrhein-Westfalenzur Pflege Sterbender, Hospizarbeit und Angehörigenbe-gleitung

Redaktion:ALPHA-WestfalenAnsprechstelle im Land Nordrhein-Westfalenzur Palliativversorgung, Hospizarbeit undAngehörigenbegleitung im Landesteil Westfalen-LippeFriedrich-Ebert-Straße 157-15948153 MünsterGerlinde DingerkusMary WottawaSigrid Olowinsky-KiesslingTel.: 02 51 - 23 08 48Fax: 02 51 - 23 65 76E-mail: [email protected]: www.alpha-nrw.dePraktikerbeiratUte Aßbrock, MindenJürgen Goldmann, BonnChristiane Rädel, HerneMaria Reinders, Kleve

Layout und Druck: Art Applied undGraphische DienstleistungenHafenweg 26a, 48155 Münster

Auflage: 2500

Die im „Hospizdialog“ veröffentlichten Artikel geben nicht unbedingt die Auffassung der Redaktion undder Herausgeber wieder. Für unverlangt eingesandte Manus-kripte wird keine Gewähr übernommen. Fotos der Autorenmit Zustimmung der abgebildeten Personen.

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vorzubeugen: Es geht auf keinen Falldarum, Opfer gegeneinander aufzu-rechnen. Über die traumatischen Erfahrungender Kriegskinder und -jugendlichen

unter Bombardierung, Kinderlandverschickung,Flucht und Vertreibung wurde lange geschwiegen.Ein Trauma jedoch, über das geschwiegen wird,kann nicht heilen und wird als belastendes Erbe anFolgegenerationen weitergegeben.

Nach Schätzungen überlebten 30% der damaligendeutschen Bevölkerung den Zweiten Weltkriegtraumatisiert im eigentlichen Sinn. Erfahrungenvon Trennung, Verlust von Angehörigen, aktive undpassive Gewalterfahrungen, Flucht und Vertrei-bung erfolgten wiederholt über Monate und Jahre. Weitere 30% der Deutschen erfuhren Belastungendurch einmalige Erfahrungen. Bei den Übrigenveränderten sich die Lebensumstände nicht dra-matisch, sie kamen glimpflich davon.

Warum war lange Zeit nichts zu bemerken vondiesen Belastungen und Traumatisierungen?Erst in den letzten Jahren finden sich in zunehmen-der Anzahl Veröffentlichungen zu dem Thema.2

Traumatische Erfahrungen überfordern die Psy-che, ihre Spuren bleiben ein Leben lang und zeigensich dann oft im Alter und im Sterbeprozess, wennlebenslange Bewältigungsstrategien wegfallen.Solche Bewältigungsstrategien können sein: ständige Arbeit, stark altruistisches Verhalten, Ab-wehr von Trauer und Suchtverhalten in verschie-denen FormenAber auch andere Verhaltensauffälligkeiten findetman häufig:• Sparzwänge (kein Brot wegwerfen können)• Angstzustände, Schlafstörungen und Alpträume• Persönlichkeitsveränderungen bis hin zu einer

feindlichen oder übertrieben misstrauischen Hal-tung gegenüber der Welt

• sozialer Rückzug• Gefühle der Leere und Hoffnungslosigkeit und

Depressionen

Ich begleite die alte Dame schon eine Zeitlang.Gespräche sind nicht mehr möglich. Von der Enkeltochter weiß ich, als Jugendliche ist die alte

Dame am Ende des Krieges aus Ost-preußen geflohen. Ihr Schiff wurdeüber der Ostsee bombardiert. Sie wur-de gerettet und hat längere Zeit in Dänemark in einem Internierungs -lager leben müssen. Wie haben dieseEreignisse sie wohl geprägt?

Wir haben eine Geschichte.Wir sind Geschichte.Wir verkörpern Geschichte.

Hartmut Radebold1

In ihrem Körper, im Zellgedächtnis, hat die alteDame alles gespeichert. Es ist mir bewusst, dassauch ihre Geschichte gegenwärtig ist, wenn ich beiihr bin. Im Erstgespräch wurde sie mir als schwerzugänglich geschildert. Für mich ganz überra-schend war der Kontakt dann sofort da. Ich hattesie auf ihr Geburtsdatum und die ostpreußischeSprachfärbung angesprochen und gesagt: „Damüssen Sie schwere Zeiten erlebt haben.“

Welche Folgen hat der Zweite Weltkrieg fürdie Kinder und Jugendlichen von damals gehabt? Und warum sollten wir uns in den Begleitungen darauf einstellen? Es handelt sich, wenn man die Notjahre nach demKrieg dazurechnet, um die Jahrgänge etwa ab 1925bis 1948, Menschen also, die jetzt verstärkt in derBegleitung sind. Die ersten Forschungen zu den generationsüber-greifenden Folgen kollektiver Gewalt begannen beiden Überlebenden des Holocaust und ihren Kin-dern. Die Traumaforschungen nach dem Vietnam-krieg und dem Balkankrieg halfen weiter zu ver-stehen, was Erfahrungen von kollektiver Gewaltanrichten können. Um einem Missverständniss

Im Schatten des Krieges –Kriegskinder im Alter und im Sterbeprozess

Karin Goebel

1 Hartmut Radebold (2009): Die dunklen Schatten unsererVergangenheit, Hilfen für Kriegskinder im Alter, Klett-Cotta, S.31

2 z. B.: Sabine Bode (2009): Die vergessene Generation,Kriegskinder brechen ihr Schweigen, Klett-Cotta

Sabine Bode (2010): Kriegsenkel, Die Erben der verges-senen Generation, Klett-Cotta

Anne-Ev Ustorf (2008): Wir Kinder der Kriegskinder, DieGeneration im Schatten des Zweiten Weltkrieges, Herder

Karin Goebel

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Alt werden und sterben bedeutet auch, in zuneh-mende Hilflosigkeit und ohnmächtige Abhängig-keit zu geraten. In dieser Situation befanden sichdamals auch die Kriegskinder. Mit der neuen Hilf-losigkeit und Abhängigkeit melden sich dann oftauch die alten Erinnerungen wieder, bis hin zu Re-traumatisierungen.

Das Sterben ihrer Mutter hatte die erwachsenenKinder verstört. Sie hatte einen langen Todeskampfund schrie immer wieder voller Verzweiflung: „MeinJesus Barmherzigkeit!“ Die Kinder dachten an ei-ne angstmachende, repressive religiöse Prägung.Im Gespräch kam heraus, dass die Mutter die Bom-benangriffe auf Dortmund erlebt hatte. Man kannsich gut vorstellen, dass sie die Todesangst damalsmit diesem Schrei bannen wollte.

Wie können wir uns in der Begleitung dem besonderen Schicksal der Kriegskinder annähern?Je mehr Biografisches wir wissen, um so besserkönnen wir uns einfühlen und ein besonderesSchicksal innerlich würdigen.Die Jahrgänge 1920-1938 haben die Schrecken desKrieges als Jugendliche erlebt, waren vielleichtselbst noch aktiv dabei.Die Jahrgänge 1938-1945 haben den Krieg alsSäuglinge und Kleinkinder erlebt und keine Erin-nerung an eine „normale“ Kindheit. Es kann Trau-matisierungen gegeben haben, ohne dass eine be-wusste Erinnerung daran besteht. Dennoch hat derKörper alles gespeichert.Die Jahrgänge 1945-1946 erlebten als Säuglingeund Kleinkinder Not, schwere Entbehrungen unddas Fehlen von Familienangehörigen. Auch dieseErfahrungen sind im Zellgedächtnis gespeichert.

Bei Menschen, besonders Frauen, die möglicher-weise sexuelle Gewalt erlitten haben, kann eineBerührung oft problematisch sein. Bei auffälligenReaktionen kann man fragen: Was ist jetzt los? Pas-siert hier gerade etwas, was Ihnen nicht gut tut?Bei Opfern von sexueller Gewalt kann auch diePflege durch Männer zu Retraumatisierungen füh-ren. Nicht jeder Pflegedienst weiß darum. Als Be-gleiterInnen sollten wir nicht nachfragen, das kanndas alte Trauma wiederbeleben. Wir können abersehr wohl zuhören, wenn die Betroffenen vonselbst erzählen.Wir können Verständnis aufbringen für die Schwie-rigkeit loszulassen. Die ehemaligen Kriegskinder

haben das Überleben geübt.Heftiges, unstillbares Weinen (oft bei Männern)kann als nachgeholte Trauer verstanden werden.Es kann gut sein, sich evtl. mit dem/der Begleite-ten gemeinsam Schuld und Scham zu stellen. Be-ziehungsabbrüche und emotionale Entfremdungzwischen den Generationen haben oft etwas mitKriegskinderschicksalen zu tun.Ganz wichtig sind verlässliche, stabile Beziehun-gen in einer sicheren Umgebung, sonst kann dasSterben wie mitten im Krieg geschehen.

Wenn die alte Dame zur Toilette gebracht wurde,mussten immer Strickjacke und Handtasche mit. ImAltenheim lachte man darüber. Was man nicht wus-ste: die alte Dame hatte viele Bombenangriffe erlebt.Warme Kleidung und Papiere mussten immer dabeisein, wenn es in den Luftschutzbunker ging.

Der alte Herr wurde immer unruhig, wenn manihm einen gestreiften Schlafanzug anzog. Erst beiseiner Beerdigung erfuhren die Pflegerinnen, dasser im KZ war.3

Das Kind von damalsFür mich ist es wichtig geworden, mich in der Be-gleitung mit dem Kind von damals zu verbinden,es ist immer noch lebendig in der Person, bei derich bin. Peter Härtling hat es treffend so ausge-drückt:

„Das Kind in mir: Ich und es sind unvergleichlichund eines. Es fürchtet sich vor Bomben, vor feind-lichen Soldaten, davor, dass Vater oder Mutter esverlassen oder sterben werden, es lernt klauen,heucheln, misstrauen und hoffen. Es fürchtet sichvor dem Tod. Ich hingegen erinnere mich an denKrieg, indem ich mich an das Kind erinnere. Ichdenke an Vater und Mutter noch immer mit den Gedanken des Kindes, und ich beginne mich, dieFurcht des Kindes überwindend, auf mein Endevorzubereiten. Nein, das Kind spielt nicht mehr Ichbin alt. Der Alte spielt jetzt mit dem Kind, das er gewesen ist und, in der Erinnerung ihm nahekom-mend, mehr und mehr wird. Meine Gegenwart bekommt Tiefe. Was ich eben erlebe, misst sich aneiner Geschichte, die ich mir, nicht zuletzt im Blickauf das Kind, bewusst mache.“ 4

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3 Beispiel aus: Christ in der Gegenwart, Nr.7/2010, Die Wür-de der Pflegebedürftigen

4 Peter Härtling (1997): Das Kind in mir, S.105

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In der Begleitung versuche ich, inneren Kontaktaufzunehmen zu diesem Kind. Das kann z.B. überMärchen, Singen, eine Puppe oder den Besuch vonKindern geschehen.

Übertragungen an die nächste GenerationErfahrungen werden von einer Generation an dienächste durch Mimik und Gestik vom ersten Le-benstag an weitergegeben. „Keine Generation ist inder Lage, ihre Geheimnisse vor der nächsten zuverstecken.“ (Sigmund Freud)Aus der Säuglingsforschung weiß man, unbewussteGefühlserbschaften nehmen ihren Weg in die Psy-che des Kindes über nonverbale, affektive Mittei-lungen. Die „Sprachelemente“ sind der traurige,leere oder verschämte, zornige Blick, die zusammengepressten Lippen, die stillen Seufzer,unwirsche oder müde Gesten. Vom ersten Tag ankann das Kind diese Zeichen richtig deuten.5

Belastete oder traumatisierte Kriegskinder habenals Eltern für ein funktionierendes Alltagsleben ge-sorgt, waren aber oft auf Grund der eigenen Ver-letzungen nicht in der Lage, die emotionalen Be-dürfnisse ihrer Kinder wahrzunehmen. „Da musstdu alleine zurechtkommen,“ war häufig die unge-sagte Botschaft an ihre Kinder. So gab es oft eineEntfremdung zwischen den Generationen. Mög-lich ist auch, dass die Kinder ihre verletzten Elternemotional versorgt haben und sie jetzt im Sterbennicht loslassen können.Da kann es gut sein, wenn die Begleiterin, der Begleiter die Kinder und Enkel ermutigt, sich dieFamiliengeschichte bewusst zu machen, auch wenndadurch vielleicht zunächst eine heilsame Unruheentsteht.

Unsere eigene Prägung als Begleiterinnen undBegleiter beachtenImmer bringen wir in die Begleitung auch unsereeigene Geschichte und die Geschichte unserer Familie mit. Man sollte sich eigener biografischerPrägungen und eigener Bewältigungsstrategien bewusst werden. Um generationenübergreifendePrägungen zu verstehen, ist ein Buch von WolfgangSchmidbauer empfehlenswert.6

Darüber hinaus war für mich (ich bin selber Kriegs-kind) eine Teilnahme an einem generationsüber-

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greifenden Zyklus in Basel „Die Zeit des Schwei-gens ist vorbei“ eine tiefe Erfahrung, die auch mei-ne Arbeit in der Hospizgruppe sehr bereichert hat.7

Ziel des Zyklus war es, einen Heilungs- und Ver-söhnungsprozess zu öffnen. Die Gruppenenergiehat mich dabei unterstützt und die Teilnahme vonFrauen der nächsten Generation hat mir geholfen,meine eigenen Kinder besser zu verstehen. Letztlich ist die Arbeit an unserer eigenen Geschichte, wenn sie nicht nur moralisch, sondernauch emotional geschieht, ein Beitrag zur Versöh-nung. Sich den eigenen Verletzungen zu stellen bedeutet auch, den europäischen Opfern des Nazi-regimes, denen unermessliches Leid angetan wur-de, auf neue Weise verbunden zu sein und ihre Geschichten ganz neu zu hören.

Karin GoebelSeilandstraße 43

59379 SelmHospizgruppe Selm-Olfen

Weitere Informationen finden sich auch bei demVerein ‚kriegskind.de e.V.’ unter der Internetseitewww.kriegskinder.de

5 Radebold ebd. S.98

6 Wolfgang Schmidbauer (2009): Ein Land – drei Genera-tionen, Psychogramm der Bundesrepublik, Herder

7 Die Zeit des Schweigens ist vorbei, Dreiteiliger Zykluszum Thema Kriegskinder des Zweiten Weltkrieges undNachfolge-Generationen, [email protected]

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chert, auch Kinder stellen sich viele Fragen undtrauen sich oft nicht, mit Ihren Eltern darüber zusprechen, besonders, wenn sie erleben, dass ihreEltern oder andere Bezugspersonen Angst haben,über die neue Lebenssituation zu sprechen.

Das offene, ehrliche und kindgerechte Gesprächkann Missverständnisse aufdecken, klären helfenund das Vertrauen in sich selbst sowie innerhalb derFamilie stärken. Erwachsene können erfahren, dasssie Kindern durchaus mehrzutrauen dürfen und kön-nen. Und Kinder erleben,dass Sie mit ihren Gedankenund Gefühlen beachtet,ernst genommen und respektiert werden. Diesergemeinsame Weg der Kri-senbewältigung kann helfenzu vermeiden, dass sich Kin-der ausgeschlossen fühlen, und dazu beitragen,Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störun-gen zu verhüten oder zu vermindern.

Dass bei betroffenen Erwachsenen ein Beratungs-und Unterstützungsbedarf vorliegt, belegte bereitsin den Jahren 2001- 2005 die Studie von Prof. Ger-hard Trabert an der Georg-Simon-Ohm HochschuleNürnberg, in der insgesamt 291 KrebspatientInnenim Alter zwischen 22 und 62 Jahren im Rahmen einer Befragung per Fragebogen teilnahmen. Interessante Ergebnisse waren u.a.:- 94 % sehen sich selbst in der Verantwortung, mit

ihren Kindern über die Krebserkrankung zu reden.- 76 % sagten, sie hätten von Seiten des Klinik-

personals keinerlei Information und Unterstüt-zung bezüglich des Gespräches mit Kindern er-halten.

- 40 % empfanden das Gespräch mit Kindern überdie Krebserkrankung als hochgradig belastend.

- Bei Kindern im Alter von 11 – 14 Jahren zeigtesich bei ca. 50 % ein Leistungsabfall in der Schu-le, ca. 30 % zogen sich von der Familie undFreunden zurück.

Entstehung und Hauptziel vonFlüsterpost e.V.Flüsterpost e.V. ist ein gemeinnützigund mildtätig anerkannter Verein mit einer Bera-tungsstelle in Mainz zur Unterstützung von Kin-dern krebskranker Eltern, bzw. Enkel von krebs-kranken Großeltern. Die Beratungsstelle ist derzeitbesetzt mit zwei Dipl.-Sozialpädagoginnen zu je75 %. Die Angebote sind vertraulich und kostenfreiund können regional wie bundesweit in Anspruchgenommen werden.Das Hauptziel ist die Förderung des offenen, ehr-lichen und kindgerechten Gespräches zwischen Erwachsenen und Kindern rund um das ThemaKrebserkrankung hinsichtlich einer Enttabuisie-rung sowie Aufklärung in Richtung Gesundheits-förderung und -prävention.

Hintergrund der ZielsetzungEine Krebsdiagnose trifft nicht nur den Erkrankten,sondern die ganze Familie. Gerade Kinder nehmenVeränderungen im Familienleben besonders inten-siv wahr. Sie beobachten und hören genau zu, inter-pretieren und entwickeln schnell Schuldfantasien.Werden Kinder auf längere Sicht nicht informiertund einbezogen, kann dies zu Verhaltensauffällig-keiten bis massiven psychischen Störungen füh-ren, was internationale wissenschaftliche Studienbelegen.Laut Präsidentin der Deutschen Krebshilfe, FrauProf. Dr. Dagmar Schipanski, erleben allein inDeutschland jährlich bis zu 200.000 Kinder unter 18Jahren, dass ein Elternteil an Krebs erkrankt. (Quel-le: Dr. med. Kalbheim, Eva M., 2009, Informa-tionsdienst Wissenschaft – idw – PressemitteilungDeutsche Krebshilfe e. V., www.idw-online.de).

Langjährige klinische Erfahrungen in der medizi-nischen und psychosozialen Begleitung von krebs-kranken Eltern und Großeltern verdeutlichten denVereinsgründern, Prof. Gerhard Trabert und Dipl.-Sozialpädagogin Anita Zimmermann, die großeUnsicherheit und Sprachlosigkeit von Betroffenenund Klinikmitarbeitern, wenn es um die Fragengeht „Darf ich mit (m)einem Kind über die Krebs-erkrankung sprechen? Und wie kann ich das ma-chen?“. Doch nicht nur Erwachsene sind verunsi-

Mir sagt ja doch (K)einer was! Flüsterpost e.V. – Verein zur Unterstützung von Kindern krebskranker Eltern bzw. Enkeln von krebskranken Großeltern

v.l.: Anita Zimmermann, Nina Seibert,Prof. Gerhard Trabert

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werden können:

-Flyer für Erwachsene „Mir sagt ja doch (K)ei-ner was!?“ mit Informationen über unsere Zieleund Angebote sowie Anregungen zum offenen undehrlichen Gespräch mit Kindern (auch als PDF-Download bei www.kinder-krebskranker-eltern.de)

Kinderbroschüre „Mir sagt ja doch (K)einerwas!“ für Kinder ab 8 J., mit vielen hilfreichen In-formationen zum Thema Krebserkrankung und denklassischen Behandlungsmethoden sowie Tippszum Umgang mit der Situation, wenn ein Elternteilan Krebs erkrankt ist. (Auch als PDF- Downloadbei www.kinder-krebskranker-eltern.de)

Bastelwürfel (12 x 12 cm) aus vorgestanztem Kar-ton für Kinder ab 6-7 J. mit Illustrationen, Infor-mationen und Tipps zum Thema Krebserkrankung

Kinderbuch 1 „Als der Mond vor die Sonnetrat“ von Gerhard Trabert, Mama hat Brustkrebs.Marc fragt den Großvater: „Was ist eigentlichKrebs?“ Janina und Marc beginnen zu verstehenund trauen sich, mit den Eltern darüber zu spre-chen.“

Kinderbuch 2 „Als der Mond die Nacht erhellte“von Gerhard Trabert, „Fünf Jahre sind seit derBrustkrebsdiagnose vergangen. Marc und Janinasind mittlerweile 10 und 13 Jahre alt. Mama musswieder zur Nachsorgeuntersuchung. Alle haben ge-lernt, mit der „Familiendiagnose“ Krebs zu lebenund sie erinnern sich daran, wie es war, als Mamasbeste Freundin gestorben ist, an die Beerdigung,die Luftballons,…“

Hörbuch des Kinderbuches „Als der Mond vordie Sonne trat“ von Gerhard Trabert. Einfühlsamgelesen von dem Schauspieler Walter Sittler, mu-sikalisch umrahmt mit Kompositionen des franzö-sischen Gitarristen Jean-Yves Zimmermann, diedem Zuhörer Raum und Zeit für seine Gedankenund Gefühle geben. Für kleine und „große“ Kin-der ab 5 J., auch zum zusammen Hören und Aus-tauschen.Alle Materialien sind anschaulich illustriert mitAquarellen der Künstlerin Ruth Krisam und eignensich auch sehr gut für Bildbetrachtungen mit Kin-dern im Vorschulalter.

- Söhne zeigten häufiger einen Leistungsabfall inder Schule, während sich Töchter häufiger zu-rückzogen.

- Etwa ein Drittel der Kinder äußerte die Befürch-tung, dass der erkrankte Elternteil stirbt.1

Angebote von Flüsterpost e.V.Mit den vielfältigen Angeboten wie

– eigens entwickelte Informationsbroschüren undKommunikationshilfen zur Unterstützung deskindgerechten Gespräches

– Spiel-, Mal- und Erlebnispädagogik, Musikthe-rapie und persönliche Gespräche in Einzel-, Paar-und Familiensettings

– Information, Beratung (auch telefonisch oder perMail bundesweit) und persönlicher Begleitung

– in der Beratungsstelle, Zuhause, in Kliniken,Hos pizen oder Bildungseinrichtungen

möchte Flüsterpost e.V. Erwachsene und Kinder so-wie Multiplikatoren bei ihren Fragen auffangen undmotivieren, das offene und ehrliche Gespräch auchmit Kindern zu suchen. Nina Seibert und AnitaZimmmermann bieten Unterstützung bei der Suche

nach individuellen Möglich-keiten, u.a. in der Förderungund Stärkung eigenerRessourcen mit dem Ziel derHilfe zur Selbsthilfe in der gemeinsamen Bewältigungder oft belastenden neuen Lebenssituation. Dabei sindalle Gedanken und Gefühleerlaubt und auch Themen wieSterben, Abschied, Tod undTrauer bekommen Raum fürAusdruck und Auseinander-setzung. Auf Wunsch vermit-teln sie an ergänzende Unter-stützungsangebote.

Zur Unterstützung der altersgerechten Kommuni-kation mit Kindern bietet Flüsterpost e.V. folgen-de eigens entwickelte Informations- und Kommu-nikationshilfen an, die sowohl innerhalb derFamilie als auch von Multiplikatoren im pädago-gischen und therapeutischen Arbeitsfeld genutzt

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Titelseite

1 Prof. Trabert, Gerhard (2007): Kinder krebskranker Eltern:Zu wenig Unterstützung. Deutsches Ärzteblatt, Sonder-druck, 104 (24)). Näheres auch unter www.kinder-krebs-kranker-eltern.de, INFOS-pdf-download.

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weit in unterschiedlichster Form und Trägerschaftzugenommen. Mittlerweile haben sich viele dieserFachkollegen in einer Interessensgruppe zu-sammengefunden, die einmal jährlich tagt.

Bedarf finanzieller Unterstützung von Flüster-post e.V. zur dauerhaften Sicherung unsererprofessionellen AngeboteDa Flüsterpost e.V. seine Angebote ausschließlichüber Spenden und Mit-gliedsbeiträge finan-ziert, benötigt der ge-meinnützige Vereinfortlaufende finanziel-le Hilfen - einerseits für die täg-

liche Beratungsar-beit und Begleitungvon Familien sowieandererseits für bei-spielsweise folgendelaufenden Projekte:

- „Musiktherapie fürKinder krebskrankerEltern“ , offenes ko-stenfreies Gruppen-angebot 1 x im Monat

- Herausgabe einer Info-Mappe für Multiplikato-ren zum Thema „Mit Kindern über Krebs spre-chen?!“

- Regelmäßige Neuauflagen unserer Infobroschü-ren und Kommunikationshilfen (z.B. Infoflyerfür Erwachsene in Türkisch, Russisch und Fran-zösisch).

Flüsterpost e.V.Kaiserstr. 56

55116 Mainz

Beratung und BegleitungDipl.-Sozialpäd. Nina Seibert

Tel: 0 61 31 - 55 48 - 7 98 [email protected]

Beratung und VereinsführungDipl.-Sozialpäd. Anita Zimmermann

& Prof. Dr. med. Gerhard TrabertMobil 01 70 - 9 50 64 06

[email protected] [email protected]

Auf den Internetseiten www.kinder-krebskranker-eltern.de bietet Flüsterpost e.V. zusätzlich viele In-formationen für Kinder, Jugendliche und Erwach-sene u.a. in Form von Lese-Tipps, Link-Tipps mitInfos zu bundesweiten Angeboten und einem Fo-rum für Fragen, Erfahrungen und zum Austauschmit online-Beratung sowie einer Galerie für Kinderund Jugendliche zur kreativen Auseinandersetzungmit der veränderten Lebenssituation

BeratungsbedarfSeit 2003 sind die Anfragen für Beratung von Betroffenen, Multiplikatoren in pädagogischen Be-reichen wie Kindergarten und Schule sowie Fach-leuten in onkologischen Arbeitsfeldern stetig ge-wachsen. Auch die Anzahl der Bestellungen vonInfomaterialien und Kommunikationshilfen steigtstetig und die Besucherzahlen der Website bezif-fern sich auf täglich zwischen 80 – 100 Zugriffe.

Jährlich beraten und begleiten Nina Seibert undAnita Zimmermann über 100 Familien, davondurchschnittlich 150 Kinder im Alter zwischen 4Jahren bis weit über 18 Jahre hinaus. Dies ent-spricht umgerechnet ca. 1.000 Stunden.

Erwachsene, Kinder und Jugendliche sowie derenBezugspersonen innerhalb oder außerhalb der Fa-milie sowie interessierte Multiplikatoren könnenmit Flüsterpost e.V. telefonisch oder schriftlich, perBrief oder Mail, in Kontakt treten. Meistens er-folgt der Erst-Kontakt zunächst über die Erwach-senen. Aber auch Kinder und Jugendliche könnensich direkt telefonisch oder per E-Mail mit ihrenSorgen, Fragen und Wünschen (auch anonym) mel-den. Die Dauer sowie Form der Beratung und Be-gleitung richtet sich nach den Bedürfnissen jedesEinzelnen und wird individuell vereinbart.Rückmeldungen von ratsuchenden Erwachsenensowie von Kindern oder Jugendlichen bestätigenimmer wieder die positiven Veränderungen inner-halb und außerhalb der Familie, wenn ein offener,ehrlicher und altersgerechter Austausch und Aus-einandersetzung mit der neuen Lebenssituationzwischen Groß und Klein möglich geworden ist.

NetzwerkarbeitFlüsterpost e.V. kooperiert regional und überregio-nal mit Fachkollegen und Beratungsstellen, an dieauf Wunsch vermittelt wird. Erfreulicherweise ha-ben in den letzten zwei Jahren die Angebote zurUnterstützung Kinder krebskranker Eltern bundes-

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beitslosigkeit) in einem Trauerprozesssind. In intensiven Gesprächen, mitkreativen Übungen und Meditationen,mit Hilfe von Trauerritualen und dendaraus resultierenden Erkenntnissen

sollen Wege aufgezeigt werden, mit der Trauer um-zugehen, sie zu gestalten und Abschied zu nehmenvon dem Unwiederbringlichen, damit der Lebens-weg heiler, bewusster und gelassener gegangenwerden kann. Traudich-Reisen arbeitet zusammenmit dem Bestattungsunternehmen Pütz-Roth. Vondort aus gibt es seit 2009 ein weiteres Reiseange-bot für Trauernde, das zusammen mit einem gro-ßen, kommerziellen Reiseveranstalter organisiertwird. Auch in 2010 ist mindestens eine Reise geplant. Den Teilnehmenden wird das Angebot gemacht, den Tag unter drei Stichpunkten zu ge-stalten: Morgens gemeinsame Seminararbeit, nach-mittags Erkundungen der kulturellen Möglichkei-ten des Urlaubsortes, die Abende gehören derLebenslust.

Gibt es darüber hinaus noch weitere Angebote,von denen Sie Kenntnis haben?

Eva Chiwaeze: Ja, ganz unterschiedlicher Natur.Barbara Sievers-Saarschmidt aus Hamburg, erfah-rene Trauerbegleiterin und Sozialpädagogin bietetseit 2003 als begeisterte Seglerin „Wendepunkte“für Trauernde durch Segeltörns mit Skipper imMittelmeer, Hausboottouren auf der Müritz oderGruppenurlaub auf Fuerteventura – immer mitpsycho-sozialer Begleitung – an, denn Reisen öff-ne Horizonte, Segeln mache den Kopf frei für kla-res Denken und das Leben an Bord bedeute einengeschützten Raum.

Oder eine junge Kauffrau aus Münster, KatharinaZaborowski, plant unter dem Titel “BesinnlichesReisen“ zwei Reisen, eine im Frühjahr, eine imHerbst, die sich auch an Trauernde richten. Sie ha-ben ein „sanftes Programm“ und sollen dazu die-nen in der wundervollen Umgebung des KlosterSteinfeld in der Eifel z. B. Kraft zu tanken. DieseReisen werden über das junge Medium „twitter“bekannt gemacht.

Die Angebote sind von unterschiedlichen Motiva-tionen geprägt; was ist dazu Ihre Beobachtung?

Eva Chiwaeze: Regen-Bogen-Reisen unterschei-det sich von den anderen Veranstaltern, weil der

Es hat mir unglaublich gut getan, mit Menschenzu verreisen, die den gleichen Verlust erlitten habenwie ich. Ich habe viele nette Menschen getroffen.

Wir haben viel gese-hen, viel gelacht undmanchmal auch ge-weint. So beschreibteine Teilnehmerin ih-re Erfahrung mit demAngebot eines klei-nen Reisebüros, dasaus einer Trauergruppeder Hospiz-InitiativeWesel entstanden ist.

Frau Chiwaeze, Koordinatorin der HospizinitiativeWesel, hat sich mit diesen Angeboten für Trauern-de intensiver beschäftigt.

Was war Ihre erste Berührung mit der Thematik?

Eva Chiwaeze: Vor fünf Jahren starb der Mannvon Irma Heyne-Beuse innerhalb kurzer Zeit aneiner Krebserkrankung. Das war just zu dem Zeit-punkt, als sie selbst sich endlich von ihrem Ge-schäft, einem gutgehenden Reisebüro, in dem vielHerzblut und Engagement aufgehoben waren, ge-trennt hatte, um gemeinsam mit ihrem Ehemanngute, ruhigere Jahre zu verbringen.

Sie ging in die Trauergruppe. Da gefiel es ihr zu-nächst überhaupt nicht, aber sie ging ein zweitesund ein drittes Mal zu den Treffen und machte danndie Erfahrung, dass die Gespräche mit Menschen,die ihre Erfahrung teilten, Kraft gaben und Ge-meinschaft stifteten. Aus diesem Kreis heraus ent-stand die Idee, Reisen für Trauernde zu organisie-ren und so kam es zu meiner ersten Berührung mitdem Thema.

Seit wann gibt es solche Angebote für Trauernde?

Eva Chiwaeze: Reiseangebote für Trauernde gibtes schon seit einigen Jahren. Da sind die „Trau-dich-Reisen“ von Monika Taruttis, die seit 1997Reisen für Menschen anbietet, die aufgrund einesVerlustes (durch Tod, Scheidung, Trennung, Ar-

Die grauen Farben des Regenbogens –Reisen für Trauernde

Interview mit Eva Chiwaeze

v.l.: Eva Chiwaeze, Irma Heyne-Beuse

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Ausgangspunkt des Unternehmens das Bedürfniseiner selbst betroffenen ehemaligen Reisekauffrauwar, mit ihrer ureigensten Kompetenz als Reise-kauffrau, dem Wunsch aus ihrer Gruppe, dass esReisen für Trauernde geben sollte, zu entsprechenund daraus ein kleines Unternehmen zu machen,dessen Aufbau ihrem Leben Sinn und Freudebringt.

Reisen für Trauernde – aber keine Trauerreisen –sollen es sein. Das betont die inzwischen 73-jähri-ge Irma Heyne-Beuse regelmäßig und mit Nach-druck. Die Formulierung bringt ein gut durch-dachtes Konzept auf einen knappen Punkt.

Was macht den Unterschied aus?

Eva Chiwaeze: Die Reisen sind nicht mit thera-peutischen Zielen verbunden, die Trauer loszulas-sen oder zu transformieren oder zu überwinden.Sie sollen gut tun, weil sie Hoffnung stiften, dasGefühl der Zugehörigkeit ermöglichen und ver-wöhnen. Vom Regen – der Trauer – über den Bo-gen – als dem Weg – durch die Reise in ein verän-dertes Leben hinein, einen Schritt mit Menschengehen können, die auch die grauen Töne des Re-genbogens kennen.

Die Absicht, das Leben positiv zu verändern, ver-bindet alle Angebote der Reisen für Trauernde. Sieunterscheiden sich jedoch durch ihren Ausgangs-punkt und ihren Anspruch. Wird bei fast allen be-schriebenen Anbietern Trauer zu einem Thema, mitdem sich auf vielfältige Weise arbeitend ausein-andergesetzt wird, um sie loslassen oder doch ver-träglich mit ihr Leben zu können, steht bei Regen-Bogen-Reisen die Qualität der Reise und dieQualität „reisen“ als heilsam an sich im Vorder-grund. Trauerbegleiterinnen oder Trauerbegleiterfahren bei jeder Reise mit, lassen sich allerdingsganz auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden einund machen keine verpflichtenden Angebote.

Durch die unterschiedlichen Wege zum gemeinsa-men Ziel, Trauer erträglich zu machen und Freudeund Wärme ins weitere veränderte Leben zu lassen,gibt es vielfältige und angemessene Möglichkeitenfür Trauernde, entsprechend ihrer Bedürfnisse aufdie Reise zu gehen.

Sie haben eine Rückmeldung zu einer der Rei-sen mitgebracht.

Eva Chiwaeze: Ja, die Teilnehmerin einer dieserReisen schrieb nach einer Reise über Weihnachtenund Sylvester einen Brief mit folgendem Wortlaut:„Natürlich ließ sich nicht immer die Trauer ver-drängen. Das wollten wir aber auch gar nicht! Jede von uns wusste, was die andere gerade emp-fand, wenn die Augen sich mit Tränen füllten undwir konnte einander trösten, indem wir uns mal inden Arm nahmen. Manchmal musste die eine oderandere auch mal etwas erzählen, woran sie gradein ihrer Trauer denken musste. Auch das ließen wirgegenseitig zu. Wenn aber die Trauer mal zu großwurde, konnte Frau Steiner als Begleiterin mit ei-nem Gespräch helfen. Sie trat aber nur bei Bedarfin dieser Eigenschaft in Erscheinung, sonst warsie unter uns wie alle Reiseteilnehmerinnen. Aberes überwog die Heiterkeit. Wir haben viel gelachtund waren froh und guter Dinge. Wir waren allesandere als eine Trauergruppe. Dazu trug natürlichauch das tolle Programm bei, das das Hotel für sei-ne Gäste vorbereitet hatte. Lange war ich nichtmehr so vergnügt, selten habe ich mich in der Ver-gangenheit so angenommen und getröstet gefühltwie auf dieser Reise. Es war ein großer Schritt überdie Brücke in ein neues Leben.“

Frau Heyne-Beuse, die Witwe aus der WeselerTrauergruppe, die eine kompetente und stolze Ge-schäftsfrau ist, wundert sich immer über Briefe wiediesen, weil sie ja eigentlich gar nicht trösten undTrauergespräche führen könne. Natürlich kann sie,denn sie hat aus ihrer eigenen Erfahrung heraus eine Idee verwirklicht, das macht sie Trauernden,die sich zaghaft wieder in das „normale“ Lebenmit den Freuden einer Reise zurück begeben wol-len, glaubwürdig und vertraut.

Gibt es weitere Rückmeldungen?

Eva Chiwaeze: Ja, eine Teilnehmerin eines Segel-törns von Wendepunktreisen aus Hamburg schreibtz.B.: „Die besonders offene Atmosphäre an Bord,das respektvolle und aufmerksame Umgehen mit-einander und die ruhige Kompetenz des Skippersbleiben mir positiv in Erinnerung. Den Alltag ver-gessen, das Leben neu entdecken, sich selber neukennen lernen und trotz allem traurig sein dürfen– ich hätte nie gedacht, dass so etwas möglich ist.“

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Was ist Ihr persönliche Schlussfolgerung ausdiesen Rückmeldungen?

Eva Chiwaeze: Diese Reaktionen zeigen, dass dieKombination hochwertiger sorgfältig organisierterTouristik mit einem flexiblen und bedarfsgerechtabrufbaren Begleitungsangebot durch qualifizier-te Trauerbegleiterinnen oder -begleiter und die ge-lebte Gemeinschaft mit anderen im Prozess derTrauer sehr heilsam ist.

Dipl.-Pol. Eva ChiwaezeKoordinatorin der Hospiz-Initiative Wesel,

TrauerbegleiterinAaper Weg 646485 Wesel

Tel.: 02 81 - 1 06 29 77E-Mail: [email protected]

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Abschied und Ankommen“– worum ging es uns,Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, vom „haushannah“, dem stationären Hospiz im Kreis Stein-furt, bei diesem Projekt?

Ziel sollte es sein, jungen Menschendas schwierige Thema „Sterben undTod“ näher zu bringen, eine Sensibi-lität für diese Thematik zu entwickeln.Die Resonanz der Schulen auf das ihnen unterbreitete Angebot war über-wältigend. Es erklärten sich 12 Schulenmit 22 Klassen bereit, an diesem Pro-jekt, das in der Passionszeit umgesetztwerden sollte, teilzunehmen.

Ich habe in diesen acht Wochen hoch motivierte,interessierte und respektvolle junge Menschen ken-nen lernen dürfen – junge Menschen, die Achtungvor dem Leben und vor dem Sterben haben. Ofthatte ich den Eindruck, dass sie endlich mal dasfragen durften, was sie schon immer fragen woll-ten und was im häuslichen Umfeld nicht möglichwar, da Erwachsene oft ausweichen.

Und auch, wenn viele dem Thema ausweichen, warden jungen Leuten dennoch deutlich: Da jedesmenschliche Leben mit dem Tod endet, ist es um-so wichtiger, sich dem Thema ganz bewusst als na-

türlichen Teil des Lebens zu nähern,den Tod anzuerkennen und anzu -nehmen.

Es wurden weit über 100 Texte vonden Schülerinnen und Schülern einge-reicht. Nicht nur die Menge der Beiträ-

ge war enorm, sondern auch die Bandbreite: Ob esum das „haus hannah“ oder das Projekt selbst, umSterbehilfe und Bestattungsformen, um das christ-liche Verständnis vom Todund die Todesstrafe, um Suizid oder die eigenen Erfahrungen mit schwererKrankheit und Todesfällenging. Die Jugendlichen wa-ren bewegt. Sie haben sichintensiv und nachdenklichmit Sterben, Tod und Trauerauseinandergesetzt. Das Resultat all ihrer Gedankenund Emotionen findet sich indem Buch ‚Abschied undAnkommen’ wieder.

Christiane Hüer Hospizleiterin „haus hannah“

Karlstraße 5-1148282 Emsdetten

Tel.: 0 25 72 - 95 10 70Fax: 0 25 72 - 95 10 710

[email protected]

Das Buch ist im Hospiz ,haus hannah‘ oder in jeder Buch-handlung erhältlich und kostet 14,80 €.

Abschied und Ankommen –Schüler befassen sich mit dem Thema

Sterben und TodChristiane Hüer

TitelseiteChristiane Hüer

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werden muss. Der Materialismus reduziert den Menschen auf seine reinkörperliche Funktion.1 Diesem Men-schenbild entspricht sowohl die ein-seitig angewandte Apparatemedizinals auch die Reduktion des Mitarbei-ters auf seine technisch-funktionaleDienstleistung. Neuere Erkenntnisseder Neurophysiologie haben diesePerzeption noch dadurch verstärkt,dass selbst so urmenschliche Verhal-tensweisen wie die Suche nach Sinn,Transzendenz, Religion, Liebe oder Angst reinphysiologisch beschrieben und evolutionsbiolo-gisch erklärt werden.2

Den praktischen Anliegen des Arztes oder der Pfle-gekraft, die mit Leiden, Sterben, Schuld, Angstbzw. Frieden, Freude und Erfüllung zu tun haben,kann diese Sicht allerdings ebenso wenig helfenwie der Führungskraft, die Mitarbeiter führen, mo-tivieren, kreativ einsetzen oder fördern möchte.Das reduzierte Menschenbild der menschlichenMaschine erweist sich in der Praxis letztlich alsunfruchtbar, weil wir eben nicht auf die rein kör-perliche Funktion reduzierbar sind. Die starke Zu-nahme so genannter Psychosomatischer Erkran-kungen belegt dies ebenso eindeutig wie diebedenklichen Abwanderungsströme aus dem Pfle-geberuf.

Es lohnt sich deshalb ein Blick in die Geschichte.Tatsächlich wurde unser Menschenbild von der An-tike bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts – mit di-versen Abwandlungen und unterschiedlichen Ge-wichtungen – stark von der Mehrdimensionalitätder menschlichen Existenz geprägt. Die Grundele-mente waren dabei Leib, Seele und Geist, zumeistergänzt um eine soziale Dimension. Der Leib ent-

Die Einrichtungen und Program-me des Gesundheitswesens sind kom-plexe Organisationen, die eine hohemenschliche, finanzielle und sozialeVerantwortung tragen. Der Patient,Bewohner oder Klient hat einen rechtlichen undmoralischen Anspruch auf eine technisch-funktio-nal hochwertige Dienstleistung, wobei zunehmenderkannt wird, dass auch die geistigen, spirituellenund sozialen Dimensionen des Menschen von gro-ßer Bedeutung sind. Gerade in der Palliativmedizinspielen diese Sphären der menschlichen Existenzeine große Rolle. Die Ethik als die Wissenschaftvom verantworteten Handeln und Denken hat ge-rade aus ihrem Spezialgebiet der Medizinethikwichtige Impulse erhalten.

Dieser positiven Tendenz steht jedoch die Erfahrungentgegen, dass immer mehr Mitarbeiter der Einrich-tungen und Programme des Gesundheitswesens sichüberhaupt nicht in dieser Ganzheit wahrgenommenfühlen. Es ist ihr Eindruck, dass sie auf ihre FunktionPflege, Medizin, Verwaltung, Fahrdienst etc. redu-ziert werden, während ihre sonstigen Bedürfnissevöllig unerfüllt bleiben. So mancher Mitarbeiter hatsich schon gewünscht, dass sein Chef so viel Ver-ständnis für ihn zeigt wie für die eigenen Patienten.Diese Diskrepanz kann zu Burnout, innerer oder of-fener Kündigung und dem frühzeitigen Verlassen desBerufs führen. Der Ärzte- und Pflegemangel wird da-mit erheblich verstärkt.

Im folgenden Beitrag soll auf Grundlage eines klas-sischen Menschenbildes reflektiert werden, welcheBedeutung die Dimensionen menschlicher Existenzfür die Unternehmensführung im Gesundheitswesenhaben. Weiterhin soll untersucht werden, ob zwi-schen einer ganzheitlichen Sicht der Mitarbeiter undden betriebswirtschaftlichen Anforderungen tatsäch-lich ein Konflikt besteht, oder ob nicht gerade die Er-schließung dieser zusätzlichen Dimensionen für dieEinrichtungen des Gesundheitswesens unschätzbareVorteile entstehen.

Multidimensionale Integrität Unser heutiges Menschenbild ist von der natur-wissenschaftlichen Sichtweise geprägt, die denMenschen primär als eine – zwar höchst komple-xe, jedoch strukturell gleichartige – Maschine an-sieht, die gewartet, repariert und letztlich entsorgt

Mitarbeiter sind unteilbar: Ein Plädoyer für eine ganzheitliche Führung in Einrichtungen des GesundheitswesensProf. Dr. Steffen Fleßa

Prof. Dr. Steffen Fleßa

1 Bergdolt, Klaus (2008): Der Traum von der Gesundheit.Schäfer, D. et al. (Hrsg.) Gesundheitskonzepte im Wandel.Geschichte, Ethik und Gesellschaft, Stuttgart, 17-28

2 Singer, Wolf (2004): Verschaltungen legen uns fest. Wirsollten aufhören, von Freiheit zu sprechen. Geyer, Christian(Hrsg.): Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutungder neuesten Experimente. Suhrkamp, Frankfurt, S. 30-65

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spricht hierbei der physischen Funktionalität, sowie er heute überwiegend von der Naturwissen-schaft beschrieben wird. Das Primärziel des Kör-pers ist die Existenzerhaltung. Der Geist (der Ver-stand bzw. die mentale Kapazität) unterscheidetsich von der physischen Dimension darin, dass ernicht auf Existenzerhalt, sondern auf Weiterent-wicklung und Perfektionierung ausgerichtet ist.Der Geist ist neugierig, kreativ und fordert ein le-benslanges Lernen, um seine Bedürfnisse befrie-digen zu können. Die Seele gilt aus Ausdruck des-sen, dass der Mensch danach fragt, woher erkommt, was der Sinn seines Lebens und des Le-bens überhaupt ist, was nach dem Tod kommt undwelchen Beitrag er auf dieser Erde leisten kann.Die Seele strebt danach, etwas zu hinterlassen –seien es Pyramiden, Forschungsergebnisse oderKinder. Das Herz schließlich gilt als Synonym dersozialen Dimension der menschlichen Existenz. Eserstrebt mit Leidenschaft die Einbindung in ein so-ziales Netzwerk aus Zugehörigkeit, Achtung, Ver-ständnis und Wertschätzung.

Dieses Menschenbild zeichnet sich dadurch aus,dass die einzelnen Dimensionen einen Raum auf-spannen, der sofort in sich zusammenbricht, wennman den Menschen auf weniger als alle Dimen-sionen reduziert. Der Mensch als Maschine ist da-mit ebenso „volumenlos“ wie das reine „Geistwe-sen“ ohne Anerkennung der Körperlichkeit. DerMensch ist ein Ganzes, eine multidimensionale In-tegrität. Auffällig ist hierbei, dass in letzter Zeitdieses historische Menschenbild von Führungs-kräften und Management-Gurus entdeckt wird – si-cherlich auch deshalb, weil die technisch-funktio-nale Sichtweise des Menschen eben nicht genügt,um den Anforderungen der globalen Wirtschaft zugenügen.3

Patienten und MitarbeiterDas Paradigma der multidimensionalen Ganzheit-lichkeit ist ein Eckpfeiler moderner Palliativmedi-zin. Ärzte und Pflegekräfte sowie die Einrichtun-gen sind gefordert, die physische Dimension durchState-of-the-Art Medizin und Pflege zu unterstüt-zen, in dem bis zum Schluss eine bestmöglichemedizinische Versorgung gewährt wird. Dies al-lein genügt jedoch nicht. Die spirituelle Dimen-sion ist von großer Bedeutung, z.B. durch einekompetente Begleitung und Seelsorge in den Fra-

gen nach dem Warum, nach dem Sinn bzw. derSinnlosigkeit des eigenen und fremden Leidens so-wie in der Erfahrung der eigenen Zerbrechlichkeit.Es ist allgemein anerkannt, dass Palliativmedizinnicht allein in der reinen technisch-funktionalenMedizinausübung verantwortbar ist. Aber auch diesoziale Dimension ist von großer Bedeutung, dennfür den Leidenden und Sterbenden sind die Ein-bettung in sein Sozialnetz, die Möglichkeit der Ver-söhnung und des Abschiedsnehmens von großerBedeutung. Hospize, ambulante Pflegedienste undKrankenhäuser sind – mit Ausnahmen – immermehr von der Multidimensionalität der Existenzihrer Patienten überzeugt und versuchen, im Rah-men des personell, rechtlich und finanziell mög-lichen, ihr Handeln darauf einzustellen.

Aber auch die Mitarbeiterin und der Mitarbeiter sindMenschen – keine Arbeitsmaschinen. Damit geltendie oben getroffenen Aussagen auch für sie. Mitar-beiter haben erstens eine physische Dimension. Siewollen leben, d.h., sie benötigen ein ausreichendesEinkommen, um für sich selbst und ihre Familiensorgen zu können. Sie trachten danach, gesund zubleiben und ihre Leistungsfähigkeit zu erhalten.Führungskräfte, die die Bedürfnisse ihrer Mitarbei-ter im Auge behalten wollen, müssen diese physi-sche Dimension berücksichtigen. Dazu gehört eineangemessene Bezahlung. Ein Unternehmen, dasMitarbeiter ausschließlich als Kostenfaktor betrach-tet, die es zu minimieren gilt, wird dieser Dimensionnicht gerecht. Immer mehr Unternehmen erkennenjedoch, dass ihre Mitarbeiter ein Reservoir uner-schöpflicher Kreativität sind und dass sie sich um-so mehr für ein Unternehmen einsetzen, je mehrdieses auf ihre Bedürfnisse eingeht. Wenn bei-spielsweise Krankenhäuser mit Fitnessstudios Ver-träge für deutlich günstigere Mitgliedsbeiträge fürKrankenhausmitarbeiter abschließen, so tun sie diesmit der Absicht, ihre wichtigste Ressource, die Mit-arbeiter, zu unterstützen, sie gesund zu erhalten undihre physische Existenz ernst zu nehmen.

Die geistige Dimension des Menschen verlangtnach Entwicklung, Lernen und Fortkommen. Vie-le Unternehmen sind damit zufrieden, wenn dieMitarbeiter exakt die Arbeiten erfüllen können, dieihnen gerade zugewiesen sind. Damit reduzierensie ihre Mitarbeiter jedoch auf die physische Seiteund vernachlässigen, dass die meisten Menschenein geistiges Interesse an Fortbildung und Karriere -entwicklung haben, da sie ihre gegebenen Aufga-ben immer besser erfüllen und vor allem sich selbstweiterentwickeln wollen. Einrichtungen des Ge-

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3 Exemplarisch hierfür: Covey, Stephen (2008): The 8th ha-bit. Simon & Schuster, New York

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sundheitswesens, die das oben beschriebene Men-schenbild teilen, sollten deshalb für alle Mitarbei-ter Fortbildung und Karriereentwicklung aktiv be-treiben.

Die spirituelle Dimension des Menschen äußertsich im Unternehmen primär darin, dass Mitarbei-ter Sinn in ihrer Arbeit suchen, einen Beitrag lei-sten wollen bzw. ihren Beitrag am Ganzen erken-nen möchten und in ihrer Arbeit eben geradekeinen „Job“ sehen. Natürlich ist die Arbeit anMenschen, gerade auch an Schwerkranken, von ei-ner hohen moralischen Qualität, die es leichtmacht, den Sinn zu erkennen. Aber im Alltag mitZeit- und Finanzdruck besteht die Gefahr, dass derMitarbeiter seinen eigenen Beitrag für die Betreu-ung bzw. Behandlung nicht mehr wahrnimmt undselbst nur noch unabhängige Teiltätigkeiten leistetohne Bezug zum Ganzen. Gleichzeitig werden an-gesichts des Todes Grenzerfahrungen erlebt, diedie eigene Existenz in Frage stellen und vom Per-sonal verarbeiten werden müssen. Das Manage-ment von Gesundheitseinrichtungen, die das obengenannte Menschenbild teilt, ist deshalb aufgeru-fen, das Personal aktiv in der Verarbeitung der Er-fahrungen zu unterstützen, indem es beispielsweiseSupervision, Seelsorge und Fortbildung anbietet.Die reine Ausrichtung auf die medizinische oderpflegerische Dienstleistung ohne die Berücksichti-gung der seelischen Komponente reduziert denMenschen auf die physische Dimension.

Schließlich stellt eine Gesundheitseinrichtung auchein Sozialsystem dar, in dem wichtige Wertschät-zungsbedürfnisse erfüllt werden. Mitarbeiter sindeingebunden in ein Netzwerk aus Kolleginnen undKollegen, Freunden am Arbeitsplatz und mög-lichen Gegnern. Auch mit den Patienten und derenAngehörigen entstehen Beziehungen, die die so -ziale Dimension des Menschen unterstreichen. DieFührung der Einrichtungen, die die mehrdimen-sionale Integrität des Menschen anerkennt, mussdeshalb in ein gutes Betriebsklima ebenso inves -tieren wie in zeitliche und räumliche Nischen imBerufsalltag, wo das Bedürfnis nach leidenschaft-licher Zuwendung – gerade auch an den Leidenden– gestillt werden kann.

Sozialromantik oder RationalitätDiese stark verkürzten Ausführungen zeigen, dassdie Entscheidung für ein bestimmtes Menschenbildelementare Konsequenzen für den Betriebsablauf,die Patientenorientierung und vor allem auch dieMitarbeiterführung hat. Es stellt sich allerdings die

Frage, ob eine Achtung des Menschen in seinerkomplexen Gesamtheit mit den genannten Dimen-sionen in modernen Gesundheitsbetrieben nur einesozialromantische Gefühlsduselei ist, während dieharten Fakten des Marktes eben doch eine Reduk-tion des Mitarbeiters auf die technisch-funktionaleLeistungserstellung erfordert. Hierzu ist es wichtig,die Arbeitssituation in den Gesundheitsbetriebenim Vergleich zu früher kurz zu beschreiben.

Zuerst muss festgehalten werden, dass sowohl Ärz-te als auch Pflegekräfte knapp sind. Der Medizin-und Pflegenotstand beruhen hierbei nicht auf zugeringen Ausbildungszahlen, sondern primär aufeiner sehr hohen Fluktuation und Abwanderungaus dem Beruf. Jede Maßnahme der Unterneh-mensführung, die dazu beiträgt, dass die Mitarbei-ter zufriedener mit ihrer Arbeitssituation sind unddeshalb länger im Beruf bleiben, stellt einen wich-tigen betriebswirtschaftlichen Erfolgsfaktor dar.Wenn eine Einrichtung des Gesundheitswesensdeshalb bewusst auch die geistige, seelische undsoziale Dimension des Menschen anspricht unddamit zu seiner Zufriedenheit beiträgt, stellt dies ei-nen rationalen Beitrag zum Erfolg des Unterneh-mens dar.

Weiterhin haben sich die Anforderungen an dieÄrzte und Pflegekräfte in den letzten Jahren starkgeändert. Gefragt wird immer mehr die flexibleArbeitskraft, die die zahllosen gesetzlichen, fach-lichen und wirtschaftlichen Änderungen sensibelaufnimmt, selbstständig an Lösungen arbeitet unddiese ins Unternehmen einbringt. Mit anderen Wor-ten: Gesundheitsbetriebe können es sich nicht mehrleisten, nur die ausführende Arbeitskraft abzufra-gen, sondern sie müssen den Geist, die Leiden-schaft und die Sinnsuche ihrer Mitarbeiter anspre-chen, die kreativ auf Probleme eingehen, wenn siedamit sich selbst weiterentwickeln, Sinn für sichund andere finden und ihr Bedürfnis nach Bezie-hung stillen können. Dies ist kein humanistischerAppell, sondern ein Tatbestand am aktuellen Ge-sundheitsmarkt.

Schließlich können nur solche Unternehmen nach-haltig auf den Gesundheitsmärkten bestehen, diedie Bedürfnisse ihrer Kunden befriedigen. Die An-erkennung, dass die Patienten physische, geistige,seelische und soziale Bedürfnisse haben, impliziertdeshalb auch, dass das Unternehmen eben dieseBedürfnisse ihrer Mitarbeiter fokussiert. Mitarbei-ter, die sich selbst als Ganzheit im Unternehmenangesprochen und wertgeschätzt sehen, können

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auch ihre Patienten in allen Dimensionen anspre-chen. Der Pflegeroboter kann zwar den Körperpflegen, aber nicht die Seele – und der Pflegende,der in der Arbeit selbst auf seine Fachlichkeit re-duziert wird, kann auch dem Patienten nur in Aus-nahmenfällen und nicht langfristig seine seelischenund sozialen Bedürfnisse erfüllen.

Damit ist dieses Plädoyer für eine ganzheitlicheSicht des Menschen in der Führung von Gesund-heitseinrichtungen primär keine normative sonderneine prospektive Aussage. Unternehmen, die aufDauer Erfolg haben wollen, tun gut daran, sowohl

ihre Kunden als auch ihre Mitarbeiter als Ganzheitzu sehen. Ethik ist damit – nicht nur, aber auch –ein Erfolgsfaktor für die Unternehmensführung.

Prof. Dr. Steffen Fleßa Lehrstuhl für

Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Gesundheitsmanagement

Friedrich-Loeffler-Str. 70 17487 Greifswald

Tel.: 0 38 34 - 86 24 76Fax: 0 38 34 - 86 24 75

E-mail: [email protected]

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sein. Wir fragen, was ihn auszeichnet,um ihm aus sich selbst heraus den Zu-gang zu einem ethischen Schutzbe-reich zu gewähren. Was also kenn-zeichnet den Menschen? Vernunft?

Autonomie? Problematisch an diesem Ansatz istdie Kopplung der Betrachtung an eine zweiwerti-ge Logik aus ja oder nein. Auf diese Weise werdenMenschen in einem Raster bewertet, durch das siepotentiell hindurchfallen können: Ist ein Menschim Wachkoma autonom? Ja oder Nein? Steht ihmein Anspruch auf würdevolle Behandlung zu odernicht?Unabhängig von einem Katalog spezifischer Ei-genschaften ist der Dreh- und Angelpunkt desmenschlichen Daseins seine physische Präsenz unddie daraus folgenden Konsequenzen. Menschensind leiblich und deshalb bedürftig: Sie müssen es-sen, trinken und schlafen. Ihre Leiblichkeit ist end-lich und führt sie letztlich immer zum Tod. Und siesetzt uns Menschen in Beziehung zueinander: Auseinem Leib entstehen wir und durch unseren Leibsind wir immer auch das Gegenüber eines Anderen.Jeder Leib, dem wir begegnen, ist wiederum immerauch ein menschliches Ich.

In dieser Interpersonalität zwischen Menschen liegtAchtung und Würde verborgen, auch wenn die Be-teiligten völlig unterschiedliche Kapazitäten in dieBeziehung einbringen: Wenn Menschen sich einan-der zuwenden, heißt das, dass sie den Anderen als„meinesgleichen“ anerkennen und zugleich seine

Ethik als nicht-exklusiver Schutzbereichdes bedürftigen MenschenDer Mensch als ein Lebewesen mit der Fähigkeit,bewusst Entscheidungen zu treffen, stößt zwangs-läufig auf die Herausforderung, sein Handeln über-denken zu müssen. Er muss vor sich selbst und voranderen Rechenschaft darüber ablegen, auf wel-che Weise er etwas tut und was er mit seinem Tunbezwecken will.Kulturübergreifend und durch viele Epochen hin-durch fanden Menschen Anerkennung und Legiti-mation für ihr Handeln in Instanzen außerhalb ih-res eigenen Daseins: in transzendentalen Ideen,religiösen Vorstellungen oder im Gehorsam vorAutoritäten. Mit der Epoche der Aufklärung eman-zipierten sich die Menschen unseres abendlän -dischen Kulturkreises und suchten Maßstäbe fürdas, was richtig oder falsch ist, in sich selbst. Aus-gestattet mit Autonomie und Vernunft und damitfähig diese Aufgabe zu lösen, gebühre dem Men-schen um seiner selbst willen Würde, Achtung unddas Recht auf Selbstbestimmung.

Vor dem Hintergrund dieser kulturgeschichtlichenPrägung soll auch im Folgenden der Ausgangs-punkt weiterer Überlegungen der Mensch selbst

Das Konzept der Vulnerabilität als Kriterium ethischen Handelns

in der palliativen VersorgungSonja Rogusch, Mischa Möller, Prof. Martin W. Schnell

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Andersheit als „Du“ achten. Ethisches Handeln ent-faltet sich auf diese Weise durch die Begegnung. Inder Begegnung wird jedem Menschen – auch sol-chen die krank, pflegebedürftig und/ oder behindertsind – Würde und das Recht auf Schutz, Anerken-nung und Gleichberechtigung zuteil.

Vulnerabilität und der palliative PatientEthik ist Ausdruck der Achtung des Menschen vordem Menschen. Sie zeigt sich konkret darin, wierespektvoll Menschen miteinander umgehen undwelchen Schutz sie einander zukommen lassen.Die Grundlagen der ethischen Entscheidungsfin-dung sind Menschenwürde und Menschenrechte,welche in unserem westlichen Kulturkreis verfas-sungsrechtlich geschützt sind und für jedes Indivi-duum Gültigkeit besitzen. Die Menschenwürdeverbietet, dass ein Mensch völlig und wider seinenWillen instrumentalisiert wird.

Selten werden in der medizinischen und pflegeri-schen Ausbildung rationale Argumente für ethischvertretbares Handeln gelehrt und gefordert. DieGrundlage ethischer Entscheidungsfindung in derPraxis bleibt oft im Unklaren und Ethik erscheint alsein unscharfer, verschwommener Begriff. Das Insti-tut für Ethik und Kommunikation im Gesundheits-wesen (IEKG) ist davon überzeugt, dass die Ausbil-dung zu ethischem Handeln es erfordert, für dieinterpersonelle Beziehung zu einem bedürftigen„Du“ zu sensibilisieren und dabei auch den anony-men Horizont von Gesellschaft und Institutionen indie ethische Betrachtungsweise einzubeziehen.

Der Beziehung zwischen dem Kranken und demBegleiter liegt eine potentielle Asymmetrie zuGrunde, die sich in verschiedenen Qualitäten äu-ßert: Der Eine ist weniger eingeschränkt in seinerGesundheit, in seiner Autonomie oder weniger ver-letzlich als der Andere. Ihm obliegt es aufgrund sei-nes größeren Handlungspotentials in der Gestal-tung der Beziehung darauf zu achten, wo dieseAsymmetrie zum Ausdruck kommt und diese wennmöglich auszugleichen. Ganz praktisch bedachtbedeutet dies, sich in einem Gespräch am Kran-kenbett zu setzen, um auf gleicher Augenhöhe zusprechen oder für den Kranken Behandlungsalter-nativen aufzuzeigen, die möglicherweise in seinemInteresse liegen, er aber selbst nicht erkannt hat.Diese Begegnung und Hinwendung zu dem Ande-ren erfordert eine empathische Haltung, in der für-sorgliches Handeln möglich ist, ohne die gegebeneAutonomie des Kranken einzuschränken und somitsein „Du“ als Individuum zu achten.

Die Besonderheit im Umgang mitPalliativpatienten ist in ihrer poten-tiellen Verletzlichkeit gegeben: ihrerVulnerabilität. Wer durch Schmerzen,Atemnot, Medikamente und existen-tielle Angst belastet ist und kognitiveBeeinträchtigung erfährt, kann unterUmständen seine Bedürfnisse undInteressen nicht in derselben Weisevertreten, wie es ein Gesunder zu tunvermag. Diese Typik legt nahe, dassein Palliativpatient einer höheren Ver-letzlichkeit ausgesetzt ist als ein an-deres Individuum. Die gleiche Logikkann auch bei Kindern, psychischKranken, intensivmedizinischen Pa-tienten und älteren Menschen ange-wendet werden. Die Typisierung birgtjedoch das Risiko der Stigmatisierungin sich, die der Qualität eines Vorur-teils gleicht und eine negative Seiteder Typenbildung darstellt. Ein Pallia -tivpatient kann unter Umständen we-niger belastbar sein und nicht in der Lage sein, fürsich zu entscheiden oder Risiken einer Behandlungabschätzen – er muss es aber nicht. Dieses Dilem-ma kann nur gelöst werden, indem wir uns auf dieinterpersonelle Beziehung zwischen dem Krankenund dem Gesunden besinnen.

Der Versuch ethisches Handeln zu normieren istwichtig und sinnvoll, um Standards zu setzen undQualität zu sichern. Als Beispiel mag hier das Prin-zip der informierten Zustimmung (informed con-sent) dienen. Als ein ethischer Standard ist er einfachherzuleiten und leicht nachzuvollziehen (Declara-tion of Helsinki). Normierte Standards können aberniemals alle möglichen Konstellationen innerhalb ei-ner interpersonellen Beziehung abdecken. Das Ge-spür und die Sensibilität zu erfassen, wann und ob einPatient über seine Ängste aufgrund des absehbarenTodes sprechen möchte, ist kaum in eine simple Re-gel zu pressen. Es erfordert eine vitale empathischeHaltung, in der das „Du“ mit seiner möglichen Ver-letzbarkeit wahrgenommen werden kann.

Vorstellung der Institution und der Autoren:Das Institut für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen (IEKG) der Universität Wit-ten/Herdecke verantwortet die Lehre in Ethik,Kommunikation und Palliativmedizin in den Stu-diengängen der Humanmedizin und den Pflege-wissenschaften. Das Undergraduate Palliative

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Care Curriculum (UPCE) wurde hier als eines derersten Curricula der Palliativmedizin in Deutsch-land ab 2006 eingeführt, systematisch evaluiert undweiterentwickelt. Das Curriculum wurde mehrfachausgezeichnet, u.a. mit dem Projektpreis der Deut-schen Gesellschaft für Palliativmedizin 2008.

Mischa Möller, Sonja RoguschMitarbeitende der Arbeitsgruppe Lebensende/

Palliative CareProf. Dr. phil. Martin W. Schnell

Direktor des IEKGE-Mail: [email protected]

Tel.: 0 23 02 - 9 26 - 2 14 Fax: 0 23 02 - 9 26 - 3 18

Universität Witten/HerdeckeInstitut für Ethik und Kommunikation

im GesundheitswesenStockumer Straße 12, 58453 Witten

Schnell, Martin W (2009): Patientenverfügung. Begleitungam Lebensende im Zeichen des verfügten Patientenwillens– Kurzlehrbuch für die Palliative Care. Bern

Schnell, Martin W (2008): Ethik als Schutzbereich. Kurzlehr-buch für Pflege, Medizin und Philosophie. Bern

World Medical Association (2008): Declaration of Helsinki.Ethical Principles for Medical Research Involving HumanSubjects. Seoul

Schnell, Martin W; Heinritz, Charlotte (2006): Forschungs-ethik. Ein Grundlagen- und Arbeitsbuch mit Beispielenaus der Gesundheits- und Pflegewissenschaft.

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- Wer bekommt das nächste freieBett? Verteilungsgerechtigkeit? Oder wie lebe ich mit der Ungerechtigkeit?

- Das ist ja nicht zum Aushalten! VomUmgang mit dem Wunsch nach palliativer Sedierung

- Wachkomapatienten – zum Sterben ins Hospiz ?!- Aber gibt es denn nicht doch

noch etwas? – Vom Umgangmit dem Wunsch nach „sinnlo-sen“ Therapien

- „Rauchen ist doch mein letztesVergnügen“ – Was hat Vorrang:Autonomie und Lebensqualitätdes Gastes oder der Nichtrau-cherschutz aller anderen?

Um diese komplexen Fragestel-lungen nicht nur aus dem eigenenBauchgefühl heraus zu entschei-den, gibt es die Ethik im Gesund-heitswesen. Sie beschäftigt sichmit dem verantwortlichen Umgang mit medizinischen Mög-lichkeiten und pflegerischemHandeln unter Anwendung philo-sophisch-ethischer Theorien. Aufdieser Grundlage können Argu-mente gesammelt und abgewogenund Entscheidungen begründetwerden.

Von Beginn an war die Auseinandersetzung mitGrundgedanken der Moral und Ethik eine notwen-dige Voraussetzung zur Entwicklung der Hospiz-arbeit. Menschenwürde, Gerechtigkeit, Selbstbe-stimmung, Empathie, Wahrhaftigkeit, Respekt,Toleranz und Fürsorge sind Grundpfeiler des hos -pizlichen Handelns. Aristoteles formulierte diesschon vor mehr als zweitausend Jahren: „Wir be-treiben Ethik nicht, um zu wissen, was gutes Han-deln ist, sondern um gut zu handeln.“

Die verantwortlichen Leitungskräfte im stationärenHospiz müssen allzu oft Entscheidungen in ethi-schen Fragestellungen treffen, die für die Schwerst-kranken und ihre Angehörigen von erheblicher Be-deutung sein können. Diese Entscheidungenmüssen sie nicht nur vor den Betroffenen und sichselbst, sondern dem gesamten Team und gegebe-nenfalls auch dem Träger gegenüber rechtfertigen.Auf welche Weise und auf welcher Grundlage wer-den solche ethischen Fragestellungen entschieden?Sind es Entscheidungen einzelner oder gibt es für„schwierige“ ethische Fragen ein Gremium? Wieund von wem werden diese Entscheidungsprozes-se in Hos pizen gestaltet?Immer wieder auftauchende ethische Fragen sind z.B.:

„Ethikforum Hospiz“ –Eine Unterstützungsmöglichkeit bei der

Entscheidungs findung zu ethischen Fragen im HospizDr. med. Susanne Hirsmüller, Margit Schröer

Dr. Susanne Hirsmüller

Margit Schröer

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Die beiden amerikanischen Medizinethiker Tom L.Beauchamp und James F. Childress stellten 1979 inihrem Buch „Principles of Biomedical Ethics“ zumersten Mal vier ethische Prinzipien vor, die als Aus-gangspunkt für die Reflexion moralischer Problemeim Bereich des Gesundheitswesens dienen sollen.Die Prinzipien Respekt vor der Autonomie des Pa-tienten (respect for autonomy), Schadensvermei-dung (nonmaleficence), Fürsorge (beneficence) undGerechtigkeit (justice) werden für die systematischeHerangehensweise in Entscheidungsprozessen zuGrunde gelegt.

Diese Prinzipien sind als Grundwerte‚ Leitstruk-turen in der ethischen Diskussion hilfreich, sie die-nen der ersten Orientierung in der Komplexität derauftauchenden Probleme bei der Behandlung im

Einzelfall. Sie beinhalten keine starren Definitio-nen und können daher vor dem Hintergrund unter-schiedlicher Ethiktheorien begründet werden. Ur-sprünglich besteht unter ihnen keine Rangfolge. Inder westlichen Welt herrscht jedoch ein weitge-hender Konsens darüber, dass die Autonomie derPatienten, also ihr Recht in allen persönlichen Fra-gen über sich selbst zu bestimmen, als höherrangi-ges Prinzip der vier anzusehen ist, sofern nicht an-dere Menschen durch diese Entscheidunggeschädigt werden. Allerdings können die Prinzi-pien zueinander in Spannung stehen oder sogar inKonflikt geraten. In diesen Situationen ist dahereine Abwägung und Beurteilung des moralisch ge-botenen im Einzelfall zwingend erforderlich. Eszeigt sich, dass es in vielen Fällen nicht die „ein-zig richtige“ Entscheidung gibt.

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PrinzipSelbstbestimmung bzw. Respekt vorder Autonomie der Patientin / desPatienten

Gutes tun/Fürsorge (beneficence)der Pflegenden/der Ärztinnen und Ärzte

Nicht schaden (non maleficence)

Gerechtigkeit

BedeutungAutonomie: Grundeigenschaft des Menschen, unverlierbar, nicht graduier-bar, kann nicht verliehen oder abgesprochen werden.Den Menschen ernst nehmen als Subjekt seines Lebens und ihn auf der Su-che nach dem für ihn besten Weg unterstützen. Aber: Der Mensch ist Teil eines sozialen Miteinanders und kein isoliertes In-dividuum, und so wird durch „Aufeinander-angewiesen-sein“ bzw. „Von-einander-abhängig-sein“ die Autonomie nicht automatisch aufgehoben.

Eigenes Handeln am größtmöglichen Wohl der Patienten messen. Indivi-duell bestmögliche Behandlung mit den geringsten Nebenwirkungen unterBeachtung der existentiellen, spirituellen und sozialen Bedürfnisse.

Nicht nur keinen Schaden zufügen, sondern bereits das Risiko, Schadenzu zufügen soll vermieden und Nutzloses unterlassen werden.

Patientinnen und Patienten haben in vergleichbaren Situationen Anrechtauf vergleichbare Behandlung.(Im Gesundheitswesen sehr schwierig zu beschreiben: Gerecht in Bezugauf was? Bezogen auf welchen Maßstab oder welche Norm?)

Vor allem in Krankenhäusern, zunehmend aber auchin Einrichtungen der Altenhilfe wird die moderierteethische Fallbesprechung als ein Instrument zur Lö-sung schwieriger ethischer Dilemmata herangezo-gen. In Hospizen wird dies in Reinform (mit ge-schulten Moderatoren) – wenn überhaupt - nur seltendurchgeführt. Nachfolgend ein schematisierter Ab-laufplan ethischer Fallbesprechungen:1. Analyse: Sammeln der medizinischen, pflegeri-

schen und sonstigen Fakten• Informationen über Patient/in (Anamnese, Be-

funde, Diagnosen...)• Behandlungsmöglichkeiten mit Chancen und

Risiken2. Bewertung a: Ethische Verpflichtungen gegen-

über Patienten:• Selbstbestimmung; Lebensentwurf, Wertvor-

stellung und eigene Einschätzung der Lebens-qualität des Patienten respektieren

• Wohl des Patienten (Fürsorge) / Nichtschaden 3. Bewertung b: Ethische Verpflichtungen gegen-

über Dritten (Gerechtigkeit)4. Synthese: Worin liegt der ethische Konflikt? �

Begründete Abwägung und Empfehlung zumweiteren Vorgehen

5. Später: Kritische Reflexion des Falles � Prä-vention für zukünftige ethische Konfliktfälle

In stationären Hospizen sind ethische Fallbespre-chungen bisher nicht gängig, da der Respekt vorder Autonomie in der Palliativpflege und -medizinohnehin einen sehr hohen Stellenwert hat, es dahermit diesem Prinzip eher selten zu Konfliktenkommt. Auf der anderen Seite ist eine multidiszi-

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Ethische Fallbesprechungen in einer PflegeeinrichtungGabriela Hofmann, Thorsten Kroll

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plinäre Besprechung meist die Regel und die Bei-behaltung von fraglich sinnlosen Therapien odergar deren Ausweitung nicht üblich. Dennoch zei-gen die oben genannten Beispiele, dass es natürlichauch im Hospiz ethische Fragen gibt, die es imDis kurs zu klären gilt. Um hier gezielte Unterstützung für diejenigen Kol-legen und Kolleginnen, die tatsächlich die Ent-scheidungsverantwortung in ihrer Einrichtung (beider entsprechenden Fragestellung) tragen, anzu-bieten und ethisches Nachdenken anhand der vierPrinzipien einzuüben, wurde das „Ethikforum Hos -piz“ gegründet. Unser Ziel war und ist es u.a., einForum zum offenen Austausch über eigene Ent-scheidungsprozesse, den Umgang mit den Folgeneinmal getroffener Entscheidungen, sowie der Re-flexion der eigenen Gefühle in Bezug auf diesespeziellen ethischen Fragen zu schaffen. In Formeines Tagesseminars z.B. zu den aufgeführten Fra-gestellungen können Hospiz- und Pflegedienstlei-tungen in kleiner Runde (max. 15 Teilnehmende)von tatsächlich Erlebtem und den eigenen Schwie-rigkeiten und Bedenken berichten. Ausgehend vonFachinformationen über die ethischen (ggf. auchrechtlichen) Hintergründe, ergänzt mit Fallbei-spielen, zum Teil aus den Reihen der Teilnehme-rinnen und Teilnehmer, werden die Fragestellungendiskutiert und die eigenen Eintellungen eventuellüberdacht. Anschließend wird versucht, für das ei-

gene Hospiz hilfreiche Handlungsempfehlungenzu erstellen.

Dr. med. Susanne Hirsmüller, M.A.Hospizleitung, Hospiz am EVK

Mitglied der Akademie für Ethik in der Medizinund der AG Ethik in der DGP

Kirchfeldstr. 3540217 Düsseldorf

Tel.: 02 11 - 9 19 49 [email protected]

wwww.hospiz-evk.de

Dipl.-Psych. Margit SchröerPsycholog. Psychotherapeutin

MedizinethikerinÖkum. Hospizgruppe Gerresheim e.V.

[email protected]

Peintinger, M. (2008): Ethische Grundfragen in der Medizin. WienMüller-Busch, Ch., Aulbert, E. (2007): Ethische Probleme in

der Lebensendphase. In: Aulbert, Nauck, Radbruch, (Hg.):Lehrbuch der Palliativmedizin. Stuttgart

Becker, D. (2004): Ethik im Hospiz - brauchen stationäre Hos -pize Ethikkomitees? In : Die Hospizzeitschrift 22/2004

Markmann, G. (2000): Was ist eigentlich prinzipienorientier-te Medizinethik? In: ÄBW 12/2000, http://www-theol.kfunigraz.ac.at/cms/dokumente/10004575/fa6e48ae/Marckmann_Prinzipienethik.pdf

Schöne-Seifert, B. (2007): Grundlagen der Medizinethik.Stuttgart

Seit drei Jahren machen wir im Heinrich-Wind-horst-Haus Erfahrungen mit ethischen Fallbespre-chungen. Die Evangelische Diakoniestiftung Her-ford hat als Träger 2007 eine Orientierungshilfefür die Sterbebegleitung und Palliativpflege unterdem Titel „Netzwerke der Fürsorge … Leben biszuletzt“ herausgegeben. In diesem Zusammenhangist als Vorlage das „Ablaufprotokoll für ein Ethik-gespräch“ entstanden, das als Leitfaden die Grund-lage unserer Gespräche bildet. Anhand der Ober-begriffe des Ablaufprotokolls wollen wir dieseEthikgespräche vorstellen.

Wer nimmt teil?Hausärzte ließen sich bisher kaum zur Teilnahme

bewegen. Bei einem durchschnitt-lichen Zeitaufwand von einer Stundevielleicht verständlich. Ein Ethikge-spräch soll multiprofessionell sein.

Das schließt Pflegekräfte, Seelsorger, Sozialdienst,Angehörige und gesetzliche Betreuer ein. Es sollnicht über den Kopf der betroffenen Bewohnerin-nen und Bewohner hinweg gesprochen werden.Leider konnten diese aus gesundheitlichen Grün-den nur sehr selten am Gespräch teilnehmen. DieEinrichtungsleiterin moderiert das Gespräch, derSozialdienstmitarbeiter hält es im Ablaufprotokollfür alle schriftlich fest.

ProblemstellungDurch unseren pflegerischen Schwerpunkt „Neu-rologische Langzeitrehabilitation Phase F“ pfle-gen wir u.a. Menschen im Wachkoma. Die Ange-hörigen bewegen häufig ethische Fragestellungenzu lebenserhaltenden Maßnahmen. In der Akutkli-

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men besprochen. Wer muss infor-miert werden? Was ist in die Wege zuleiten? Die Ergebnisse des Gesprä-ches sollen unmittelbar dem Betrof-fenen zu Gute kommen. Das kannz.B. einen Kontakt zum Hausarzt undeine veränderte Schmerzmedikationbedeuten. Oder eine Einweisung insKrankenhaus, um die Chancen einerOperation besser einschätzen zu kön-nen (so etwa das Ergebnis eines Gesprächs unter Beteiligung der Be-troffenen). Um mehr Klarheit zuschaffen, werden u. U. die Angehöri-gen oder der Betroffene gebeten in einer Patientenverfügung die eigenenWünsche festzuhalten.

FazitDie Ethikgespräche als feste Be-standteile unserer Gesprächskulturbedeuten eine große Erleichterung fürdie Begleitung unserer Bewohnerin-nen und Bewohner und ihrer Angehö-rigen in schwierigen Situationen. DieErgebnisse der Gespräche rechtfertigen auch denhohen Aufwand von einer Stunde. Das Ablaufpro-tokoll ist mit seinen Oberbegriffen eine sinnvolleHandreichung, inwieweit diese in detaillierte Fra-gen untergliedert werden müssen, diskutieren wirimmer wieder. Ein starres Ab arbeiten des Proto-kolls verhindert eine offene und vertrauensvolleAtmosphäre. Manche Fragen nehmen auch einenso großen Teil des Gesprächs ein, dass sie denRaum im Protokoll sprengen. Ein Gesprächsleitfa-den in welcher Form auch immer ist sinnvoll. Ermuss einerseits dem Gespräch eine Struktur geben, gleichzeitig aber sehr flexibel einsetzbarsein. Wir selbst sind hier noch in einem Ent -wicklungsprozess.

Gabriela Hofmann Thorsten KrollEinrichtungsleiterin Sozialer Dienst

Wohn- und Pflegezentrum Heinrich-Windhorst-HausSchwarzenmoorstr. 68

32049 HerfordTel.: 0 52 21 - 28 20 30

E-Mail: [email protected]

Klaus Pöschel u.a. (2007): „Netzwerke der Fürsorge … Lebenbis zuletzt“ Eine Orientierungshilfe für die Sterbebeglei-tung und Palliativpflege in den Einrichtungen der Evan-gelischen Diakoniestiftung Herford (Eigendruck)

nik wurde alles getan, damit der Patient überlebt.Wie soll nun die Pflegeeinrichtung in gesundheit-lich kritischen Situationen reagieren? Ist dieses Leben noch lebenswert? Häufig handelt es sich umFragestellungen im Grenzbereich von kurativerund palliativer Versorgung und den Wunsch nacheinem würdigen Leben und Sterben. Am Anfangder Gespräche herrscht oft große Unsicherheit.

Sammlung von FaktenEin pflegebedürftiger junger Mann befindet sichnach einem Suizidversuch in einem komatösen Zu-stand. Im Gespräch mit den Eltern, dem Betreuerund einer Ärztin der Psychiatrischen Klinik erfahrenwir viel über den Leidensweg, das immer wiedererlebte Scheitern und seine schwere Depression. Indiesem Teil des Gesprächs geht es neben einer An-amnese auch um die Ressourcen des Betroffenen,seine bisherige Krankheitsbewältigung und frühereoder aktuelle Äußerungen, die seinen Willen erken-nen lassen (z.B. eine Patientenverfügung).

Bewertung der FaktenEine besondere Erfahrung ist immer wieder die Teil-nahme der Betroffenen. Ein älterer Herr hatte einmaldie Bestatterin zum Ethikgespräch dazu gebeten, mitder er seine „letzten Dinge“ bereits geordnet hatte.Er machte deutlich, dass er sich nicht einer erneutenKrebsbehandlung unterziehen wollte. Das Gesprächwar geprägt von Würde, Selbstbestimmung und derSpiritualität des Betroffenen, der in seinem christ-lichen Glauben Kraft für seine Entscheidung fand. Bei einem Ethikgespräch geben alle Teilnehmeraus Ihrer Sicht „Handlungsempfehlungen“. Da eszumeist um „Leben und Tod“ geht, muss jeder sei-ne persönliche Meinung frei und offen sagen. Nurauf dieser Grundlage ist der nächste Schritt der Er-gebnisfindung sinnvoll.

Ergebnis und EmpfehlungEine sehr positive Erfahrung unserer Ethikgesprä-che ist, dass in den meisten Fällen ein Konsens un-ter den Teilnehmern erzielt werden konnte und die-ser dem wirklichen oder mutmaßlichen Willen desBetroffenen entsprach. Aus den Unsicherheiten zuBeginn des Gesprächs wurden Einsichten. Aberauch bei einem Dissens wird die Frage nach Hand-lungsmöglichkeiten gestellt.

Verabredungen für die Umsetzung und dasweitere VorgehenKein Ethikgespräch bleibt dabei stehen, sich übereinen Konsens zu freuen und gute Anregungen zuformulieren. Zum Abschluss werden sowohl beimKonsens als auch beim Dissens konkrete Maßnah-

Gabriela Hofmann

Thorsten Kroll

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I N F O R M A T I O N

Literatur

Doris FölschEthik in der PflegepraxisAnwendung moralischer Prinzipienim PflegealltagFacultas Verlag, 2008€ 24,20

Doris Fölsch widmet sich im erstenTeil ihres Buches der Grundsatzfrage,warum Pflegeethik als eigenständigeBereichsethik betrieben werden sollte.Sie verdeutlicht die Unterschiede zwi-

schen Medizin- und Pflegeethik und stellt die Be-reichsethik Pflege als notwendige Ergänzung zurMedizinethik dar. Dabei nimmt sie Bezug auf diegeschichtliche Entwicklung der Pflege. Im zweiten,umfassenderen Teil reflektiert die Autorin anhandder vier Grundprinzipien: Recht auf Achtung derAutonomie, Wohltun-Fürsorge in der Pflege,Nichtschaden und Gerechtigkeit mithilfe vielerFallbeispiele den Pflegealltag aus ethischer Pers -pektive. In dem Buch werden theoretische Grund-lagen vermittelt und es bietet Lösungsansätze undDenkanstöße, die für den Pflegealltag relevant sind.

Julia NeubergerSterbende unterschiedlicher Glaubensrichtungen pflegenHuber, 2009€ 22,95

Pflegende in der palliativen Betreuungbegegnen zunehmend Menschen mitunterschiedlichen religiösen und kul-turellen Hintergründen. Die Entwick -lung kultursensibler Kompetenz gewinnt zunehmend an Relevanz.

Julia Neuberger gibt in ihrem Buch sowohl Einblick in Geschichte, Grundlagen, Inhalte zehnverschiedener Religionsgemeinschaften, als auchin die möglichen Bedeutungen der jeweiligen Sym-bole, Riten, Traditionen und Glaubensüberzeugun-gen für Sterbende und deren Angehörige. DieKenntnis religionsspezifischer Besonderheiten sollHilfestellung geben beim Erkennen spiritueller undkultureller Bedürfnisse eines Patienten und dessenAngehörigen. Am Ende enthält das Buch einenausführlichen Anhang mit Daten zur Verbreitungund Mitgliederzahlen der Glaubensgemeinschaf-ten, ein Literatur- und Internetverzeichnis sowieKontaktadressen.

Hartmut RadeboldDie dunklen Schatten unsererVergangenheitHilfen für Kriegskinder im AlterKlett-Cotta, 2009€ 19,90

Aktuelle Studien zeigen, dass fast einDrittel aller im Zweiten Weltkrieg geborenen Deutschen durch ihre frü-hen Kindheitserlebnisse traumatisiertsind. Hartmut Radebold beschreibt inseinem Buch diese Traumata und eine mögliche Behandlung. Er stellt Fragen wie„Müssen wir zeitgeschichtlich denken, wenn wirÄlteren professionell begegnen?“, „Was geschahdamals noch?“, „Waren alle betroffen und trauma-tisiert?“, „Spätfolgen bei über 60-Jährigen und Älteren?“, „Älterwerden: Entlastung oder Ver-schlimmerung?“. In seinen Antworten fasst er Ergebnisse älterer und neuerer Studien zusammen.Er weist in die Psychotherapie mit Älteren ein undgibt konkrete diagnostische und therapeutischeEmpfehlungen an die Hand. Der Autor wendet sichin seinem Buch aber auch an die Betroffenen selber und bietet Hilfen zur Selbsthilfe an.

Martin W. SchnellEthik als SchutzbereichKurzlehrbuch für Pflege, Medizinund PhilosophieHuber, 2008€ 26,95

Der zentrale Moment des hier vor-liegenden Buchs ist die klare Absa-ge an eine „Ethik der Exklusivität“.Der Autor entwickelt Ethik als„nichtexklusiven Achtungs- undSchutzbereich“, von dem niemand ausgeschlossenist. Im Zentrum steht dabei der Gedanke, dassschon geborene und noch lebende Menschen, diekrank, pflegebedürftig und/oder behindert sind,nicht aus dem Schutzbereich des Ethischen ausge-schlossen werden. Die Begriffe „Leiblichkeit“ und„Selbstsorge“ werden im zweiten Kapitel aufge-griffen. Weitere Inhalte sind u.a. überschrieben mit„Vom Anderen zur familialen Sorge“, „Von derPerson zur Gerechtigkeit“, „Durchführung im Zei-chen einer Andersheit“. Das Buch, das an Pflegende,Mediziner und Philosophen gerichtet ist, setzt eine intensive Auseinandersetzung mit der Thematik„Ethik“ voraus.

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I N F O R M A T I O N

06.-10.09.2010 EngelskirchenKoordination in der Hospizarbeit nach § 39a SGB VMalteser Hospizarbeit & PalliativmedizinTel.: 0 22 63 - 80 [email protected]

09.-11.09.2010 Dresden8. Kongress der Deutschen Gesellschaftfür Palliativmedizin (DGP) e.V. INTERPLAN Congress, Meeting & Event Management AGTel.: 0 89 - 54 82 34 [email protected]

11.-12.09.2010 Aachen80. Aachener HospizgesprächMit Fremdheit umgehen: InterkulturelleBegegnung in der SterbebegleitungPalliatives Netzwerk für die Region Aachen e.V.Tel.: 02 41 - 5 15 34 90info@servicestelle-hospizarbeit.dewww.servicestelle-hospizarbeit.de

Veranstaltungen

15.09.2010 DüsseldorfEthikforum für Hospiz- und PflegedienstleitungenHospiz am EVKTel.: 02 11 - 9 19 49 [email protected]

23.-26.09.2010 Heringsdorf/ UsedomInternationale Ethikkonferenz– Ethik in einer alternden Welt –Klinik für Anästhesiologie und IntensivmedizinErnst-Moritz-Arndt-Universität GreifswaldTel.: 0 38 34 - 86 58 [email protected]

04.-08.10.2010 BonnBefähigung zur ReferententätigkeitSchwerpunkt VortragZentrum f. Palliativmedizin Tel.: 02 28 - 6 48 15 39www.malteser-krankenhaus-bonn.de

04.-08.10.2010 EngelskirchenKursleiterschulung – Kinder- und Jugendhospizarbeit, Celler Modell zur Vorbereitung Ehrenamtlicher in derSterbebegleitungMalteser Hospizarbeit & PalliativmedizinTel.: 0 22 63 - 80 [email protected]

25.-27.10.2010 Warendorf/FreckenhorstBefähigungskurse konzipieren, leiten undmoderierenALPHA-WestfalenTel.: 02 51 - 23 08 [email protected]

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ALPHA-WestfalenFriedrich-Ebert-Straße 157-159 48153 MünsterTel.: 02 51 - 23 08 48Fax: 02 51 - 23 65 76E-Mail: [email protected]: www.alpha-nrw.de

ALPHA-RheinlandVon-Hompesch-Straße 153123 BonnTel.: 02 28 - 74 65 47Fax: 02 28 - 64 18 41E-Mail: [email protected]: www.alpha-nrw.de