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1 I. Begriff der Rechtsvergleichung 1. Begriff Rechtsvergleichung ist der Vergleich verschiedener (nationaler) Rechtsordnungen und zwar sowohl hinsichtlich der Methode, des Verfahrens und des materiellen Rechts. Man unterscheidet dabei den Makrovergleich und den Mikrovergleich. a) Makrovergleich Beim Makrovergleich werden nicht konkrete Einzelprobleme und Lösungen verglichen, sondern Gegenstand der Rechtsvergleichung sind die allgemeinen Methoden des Umgangs mit dem Rechtsstoff, die Verfahren der Streitbeilegung und die Arbeitsweise der Juristen. Häufige Gegenstände der Rechtsvergleichung auf der Makroebene sind: - Kodifikationsstile - Methoden der Gesetzesauslegung - Präjudiziensysteme - Doktrin- und Rechtsfortbildung - Urteilsstile - Verhalten vor Gericht - Bedeutung von Recht in der Gesellschaft b) Mikrovergleich Beim Mikrovergleich sind Gegenstand der Rechtsvergleichung einzelne konkrete Rechtsinstitute oder Rechtsprobleme. Der Mikrovergleich bezieht sich damit auf die Beurteilung bestimmter Sachprobleme oder bestimmter Interessenkonflikte in verschiedenen Rechtsordnungen.

I. Begriff der Rechtsvergleichung

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Page 1: I. Begriff der Rechtsvergleichung

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I. Begriff der Rechtsvergleichung

1. Begriff

Rechtsvergleichung ist der Vergleich verschiedener (nationaler) Rechtsordnungen

und zwar sowohl hinsichtlich der Methode, des Verfahrens und des materiellen

Rechts. Man unterscheidet dabei den Makrovergleich und den Mikrovergleich.

a) Makrovergleich

Beim Makrovergleich werden nicht konkrete Einzelprobleme und

Lösungen verglichen, sondern Gegenstand der Rechtsvergleichung

sind die allgemeinen Methoden des Umgangs mit dem Rechtsstoff,

die Verfahren der Streitbeilegung und die Arbeitsweise der Juristen.

Häufige Gegenstände der Rechtsvergleichung auf der Makroebene

sind:

- Kodifikationsstile

- Methoden der Gesetzesauslegung

- Präjudiziensysteme

- Doktrin- und Rechtsfortbildung

- Urteilsstile

- Verhalten vor Gericht

- Bedeutung von Recht in der Gesellschaft

b) Mikrovergleich

Beim Mikrovergleich sind Gegenstand der Rechtsvergleichung

einzelne konkrete Rechtsinstitute oder Rechtsprobleme. Der

Mikrovergleich bezieht sich damit auf die Beurteilung bestimmter

Sachprobleme oder bestimmter Interessenkonflikte in verschiedenen

Rechtsordnungen.

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Die Grenzen zwischen dem Mikro- und Makrovergleich sind fließend. So gehört

der Vergleich des Verhaltens und der Arbeit vor Gericht grundsätzlich in den

Makrovergleich, er kann aber auch Bedeutung für den Mikrovergleich haben.

1. Beispiel: Schadensersatzanspruch für einen ärztlichen Kunstfehler

Das Problem bei dem Schadensersatzanspruch für ärztliche Kunstfehler liegt darin,

dass grundsätzlich der Geschädigte immer Schwierigkeiten haben wird, den

Nachweis der Kausalität des Eingriffes des Arztes für den bei ihm entstandenen

Schaden zu führen. Vergleicht man, wie dieses Problem im deutschen Recht und

US-amerikanischen Recht gelöst wird, so darf man nicht bei dem bloßen Vergleich

der materiell-rechtlichen Regelungen stehen bleiben, sondern es ist einzubeziehen,

dass nach deutschem Recht das Gericht einen Sachverständigen beauftragt, um das

ärztliche Verschulden zu klären, während nach US-amerikanischem Recht die

Parteien ihre Sachverständigen selbst aussuchen, die dann im Gerichtssaal

erscheinen müssen und dort ihre Auffassung nicht als unabhängiger

Sachverständiger sondern als Sachverständiger der Partei darlegen. Erst dieses

Hintergrundwissen macht deutlich, warum im US-amerikanischen Recht die

Regelungen über den Schadensersatzanspruch für ärztliche Kunstfehler anders

ausgestaltet sind als im deutschen Recht.

2. Beispiel: Höhe des Schadensersatzes bei Schäden durch eine fehlerhafte Ware

Das deutsche Schadensersatzrecht gewährt nur einen moderaten Schadensersatz

für Schäden, die durch eine fehlerhafte Ware entstanden sind. Im US-

amerikanischen Recht gibt es (teilweise) ausgesprochen hohe

Schadensersatzsummen, die das Gericht dem Geschädigten zuspricht. Diese höchst

unterschiedlichen Ergebnisse lassen sich nur verstehen, wenn man neben dem

Mikrovergleich auch einen Makrovergleich der äußeren Umstände heranzieht.

Während nämlich im deutschen Recht Schadensersatz die Funktion hat, einen

tatsächlich eingetretenen Schaden zu kompensieren, aber darüber hinaus keinen

pönalen oder erziehenden Effekt hat, ist die Höhe des Schadensersatzes im US-

amerikanischen Recht vor dem Hintergrund verschiedener Umstände zu sehen. So

wird im US-amerikanischen Zivilprozess, in dem über die Höhe des

Schadensersatzes entschieden wird, durch ein sog. Jury Trial, also durch Laien, die

Entscheidung gefunden. Das bedeutet, dass Richter, Anwälte und die Jury eine

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3

besondere Funktion haben, die auf das materielle Recht (Höhe des

Schadensersatzes) zurückwirkt. Zudem spielt bei der Festsetzung der Höhe des

Schadensersatzes eine Rolle, dass der US-amerikanische Anwalt in der Regel ein

Erfolgshonorar von 30 – 50 % der erstrittenen Summe bekommt. Die Jury

berücksichtigt dies meist mit und schlägt diesen Betrag auf die an sich an den

Geschädigten fließende Summe auf. Zudem ist bei der Höhe des Schadensersatzes

im US-amerikanischen Recht zu bedenken, dass es in den USA kaum eine

Sozialversicherung nach deutschem Verständnis gibt, so dass etwaige Ausfälle

durch das Nichtvorhandensein einer Sozialversicherung durch die Höhe der

Schadensersatzleistungen kompensiert werden. Schließlich wird im US-

amerikanischen Recht mit der Höhe des Schadensersatzes vor allem auch eine

präventiv-abschreckende Wirkung bezweckt.

Auch an diesem Beispiel lässt sich gut erkennen, dass ein bloßer Mikrovergleich

zu kurz greift, weil Faktoren, die üblicherweise in einem Makrovergleich

untersucht werden müssten, in die Rechtsvergleichung hineinspielen.

2. Abgrenzung des Begriffes Rechtsvergleichung

Rechtsvergleichung ist nicht das einzige Gebiet in der Rechtswissenschaft, in der

es um eine Beziehung zu fremdem Recht geht: Allein die Beschäftigung mit

ausländischem Recht ist noch keine Rechtsvergleichung!

Eine Abgrenzung der Rechtsvergleichung lässt sich in folgender Weise

vornehmen:

a) Abgrenzung zum internationalen Privatrecht (IPR)

Das IPR ist als Kollisionsrecht Teil des nationalen Rechts und entscheidet

darüber, welche von zwei oder mehreren möglichen Rechtsordnungen auf

einen konkreten Sachverhalt mit Auslandsbezug anwendbar ist. Dagegen gilt

die Rechtsvergleichung als eine „science pure“ und ist damit losgelöst vom

nationalen Recht. Die Frage, welches von mehreren möglichen Rechten

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tatsächlich Anwendung findet, kann aber oft nur mit einem

rechtsvergleichenden Blick gelöst werden. Beispielsfälle sind der „ordre

public“ oder die sog. Eingriffsnormen.

b) Abgrenzung zum Völkerrecht

Beim Völkerrecht handelt es sich um zwischenstaatliches, universales Recht.

Die Rechtsvergleichung ist wichtig, um allgemeine Grundsätze der einzelnen

Staaten zu ermitteln, die im Völkerrecht eine Rolle spielen. Zudem bedarf es

der Rechtsvergleichung um sog. Standardformeln im Völkerrecht zu verstehen.

„pacta sunt servanda“, „abus de droit“, „Gute Sitten“, „bonne foi“ oder „good

faith“ sind nur zu verstehen, wenn man sie mittels der Betrachtung von

fremdem Recht klärt.

c) Abgrenzung zur Rechtsgeschichte

Auch wenn der Zusammenhang der Rechtsvergleichung zur Rechtsgeschichte

nicht besonders augenscheinlich ist, hat die Rechtsgeschichte eine sehr große

Bedeutung für die Rechtsvergleichung. Es gilt der Merksatz,

Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte sind Holz vom gleichen Stamm. Der

Grund dafür ist, dass die historische Entwicklung in der Behandlung eines

bestimmten Rechtsproblems bei der Rechtsvergleichung eine große Rolle

spielt. So kann durch die Betrachtung der historischen Dimension geklärt

werden, ob ein Zustand, der in einer Rechtsordnung besteht und der eine

gewisse historische Entwicklung genommen hat, bei Vorliegen bestimmter

Voraussetzungen in der Vergleichsrechtsordnung eine ähnliche Entwicklung

nehmen wird (sog. horizontale Rechtvergleichung).

d) Abgrenzung zur Rechtsethnologie

Auch das Verhältnis von Rechtsethnologie zur Rechtsvergleichung wird meist

eher nur am Rande betrachtet. Das liegt daran, dass es im deutschen

Rechtskreis derzeit kaum Rechtsethnologen gibt. Die Rechtsethnologie

beschäftigt sich mit der Frage des Verhältnisses von Recht zur Entwicklung

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von Kulturen und Stämmen und umgekehrt. Es wird insbesondere untersucht,

mit welchem Regelungsvorrat sog. primitive Rechte auskommen. Im

Zusammenhang mit der Rechtsethnologie steht die Kulturkreislehre. Danach

entwickelt sich Recht je nach den bestimmten geografischen, sozialen und

wirtschaftlichen Gegebenheiten unterschiedlich. Daraus ergebe sich, dass es

keine allgemeine Entwicklung von Recht gibt, die in allen Kulturkreisen

notwendigerweise gleich ist (so aber der sog. Elementargedanke von Bastian).

Die Rechtsethnologie versucht zu klären, ob sich Recht auch nach atypischen

Faktoren, wie z.B. Rasse oder besondere Fähigkeiten, unterschiedlich

entwickelt. Es lässt sich beispielsweise zeigen, dass Stämme, die das Gefühl

von Angst nicht oder nur wenig kennen, kaum Regeln zur Abwendung oder

Kompensation von Risiken kennen.

e) Das Verhältnis zur Rechtssoziologie

Es besteht auch ein enges Verhältnis der Rechtsvergleichung zur

Rechtssoziologie. Die Rechtssoziologie befasst sich mit der Aufdeckung der

Wirkungszusammenhänge zwischen Recht und Gesellschaft. Sie möchte die

Regelhaftigkeit aufzeigen, nach der sich beurteilen lässt, ob und unter welchen

Voraussetzungen das Recht menschliches Verhalten zu steuern vermag und

wie das Recht auf sozialen Wandel reagiert. Als Methode zieht die

Rechtssoziologie dabei den Vergleich heran und ähnelt damit methodisch der

Rechtsvergleichung. In beiden Fällen handelt es sich um eine theoretisch-

deskriptive Ausrichtung der Vergleichung, die zum Teil auch in eine

angewandte Vergleichung übergehen kann.

II. Ziele und Aufgaben der Rechtsvergleichung

1. Allgemeines

Die primäre Funktion der Rechtsvergleichung ist die Erkenntnis. Die

Rechtswissenschaft beschäftigt sich mit der Erforschung von Methoden für die

Verhinderung und/oder die Lösung sozialer Konflikte. Die Rechtvergleichung

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erweitert als Methode die Möglichkeit, den Vorrat an Lösungen im Hinblick

auf die Suche nach der „besten Lösung“ zu vergrößern.

2. Aufgaben

Die Rechtsvergleichung hat konkret folgende wesentliche Aufgaben. Sie ist:

- Hilfsmittel für den Gesetzgeber

- Auslegungsinstrument

- Erkenntnismodell für die Lehre

- Mittel für die Rechtsvereinheitlichung

- Mittel zur Entwicklung eines europäischen Zivilrechts

a) Hilfsmittel für den Gesetzgeber

Der Gesetzgeber hat häufiger das Problem, das im nationalen Recht

Probleme zu lösen sind, für die der bestehende Regelungsvorrat des

nationalen Rechts nicht ausreicht. Hier kann der Gesetzgeber prüfen, ob

und wenn ja welche ausländischen Lösungen für die nationalen Probleme

herangezogen werden können. Derartige rechtsvergleichende Ansätze hat

der deutsche Gesetzgeber beispielsweise bei der Regelung der

gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften, der Regelung der

Rechtschuldbefreiung im Insolvenzrecht, der Prospekthaftung oder der

Verbandsklagen vorgenommen.

Die Rechtsvergleichung war auch in den ehemaligen sozialistischen Staaten

ein wesentliches Instrument bei der Transformierung ihrer sozialistischen

Privatrechtsordnung in eine Privatrechtsordnung, die sich an

Privatautonomie und Markt orientiert.

Bei der Übernahme von ausländischen Lösungen in das nationale Recht

besteht allerdings stets das Grundproblem, dass im ausländischen Recht die

zutreffende Lösung eingebettet ist in einen rechtlichen

Gesamtzusammenhang, der möglicherweise im Ausgangsrechtssystem, in

das die ausländische Regel inkorporiert werden soll, nicht besteht. So kann

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es zu Friktionen kommen, wenn man ohne genauere Prüfung einfach

Instrumente aus dem ausländischen Recht in das eigene nationale Recht

einfügen möchte. Ein Beispiel dafür bildet die undifferenzierte Übernahme

der Durchgriffshaftung (Piercing the Cooperate Veil) aus dem US-

amerikanischen Recht in das deutsche Recht. Anders herum hat es zu

vielfachen Problemen geführt, dass deutsche Konzernrecht in andere

Gesellschaftsrechtssysteme einzuführen.

b) Auslegungsinstrument

Die Rechtsvergleichung kann auch ein Instrument darstellen, um für die

Auslegung von unklaren nationalen Regelungen herangezogen zu werden.

In Artikel 1 Abs. 2 und Abs. 3 des Schweizerischen ZGB ist z. B. geregelt:

„Kann dem Gesetz keine Vorschrift entnommen werden, so soll das

Gericht nach Gewohnheitsrecht und, wo auch ein solches fehlt, nach der

Regel entscheiden, die es als Gesetzgeber aufstellen würde. Er folgt dabei

bewährter Lehre und Überlieferung.“ In dieser schweizerischen Regel ist

die Möglichkeit eröffnet, durch Rechtsvergleichung eine bestimmte

Regelung für das nationale Recht zu entwickeln, nämlich indem der Richter

überprüft, wie er eine Regelung entwickeln würde, die ein Gesetzgeber

aufstellen würde.

Auch in der Rechtsprechung des BGH finden sich zum Teil

rechtsvergleichende Ansätze, um bestimmte Regelungen des deutschen

Rechts auszulegen. So findet sich in der Entscheidung BGHZ 35, 363, 369

ein Verweis auf das Schweizer Recht bei Verletzung des

Persönlichkeitsrechts. In BGHZ 86, 240, 250 f. ging es um Folgendes: Die

Klägerin war ein mit schweren Behinderungen geborenes Mädchen, das

dem beklagten Arzt vorwarf, dass er eine Vorsorgeuntersuchung seiner

schwangeren Mutter fahrlässig unterlassen habe, die ihr Kenntnis von der

Behinderung des erwarteten Kindes verschafft hätte und sie zur

Unterbrechung der Schwangerschaft veranlasst hätte. Aus diesem Grund

könne sie, die Klägerin, vom Arzt Schadenersatz verlangen. Der BGH wies

die Klage mit dem Hinweis auf das englische Urteil McKay v. Essex

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Health Authority [1982] QB 1166 u. ä. US-amerikanische Urteile zum

Thema „wrongful life“ ab.

c) Akademischer Unterricht

Auch für den akademischen Unterricht ist die Rechtsvergleichung von

erheblichem Nutzen. Sie erweitert die Perspektive der Darstellung und

verhilft zu einem erweiterten Verständnis für andere Rechte. Dieses

Verständnis fördert mittelbar auch das Verständnis für fremde Kulturen

und Herangehensweisen zur Lösung von Konflikten und Problemen. Eine

solche erweiterte Perspektive ist vor dem Hintergrund der

Internationalisierung notwendig und wird mehr und mehr von dem

Berufsmarkt erwartet.

d) Rechtsvereinheitlichung

Eine wesentliche Funktion hat die Rechtsvergleichung bei der

Rechtsvereinheitlichung. Bei der Rechtsvereinheitlichung geht es um die

Schaffung einer „loi uniforme“. Die „loi uniforme“ oder anders

ausgedrückt das „ius commune“ führt zu einer Senkung von Kosten, weil in

allen Staaten dann gleiche Rechtsprobleme gleich gelöst werden. Um eine

solche „Loi uniforme“ zu gestalten, bedarf es der Untersuchung, welche

Ansätze und Regelungsformen in allen Rechtsordnungen identisch oder

jedenfalls vergleichbar sind. Diese können dann zum Ausgangspunkt

genommen werden, um ein allgemein verbindliches Recht oder jedenfalls

ein Modellgesetz zu schaffen. Solche Modellgesetze werden von

UNCITRAL entwickelt. Durch Rechtsvereinheitlichung geschaffenes

Einheitsrecht findet sich z.B. im unmittelbar im deutschen Recht geltenden

UN-Kaufrecht.

So vorteilhaft die Rechtsvereinheitlichung auch ist, es gibt jedoch auch

erhebliche Probleme: Die Rechtsvereinheitlichung kann zu einer Erstarrung

des Rechts führen, der Wettbewerb von Rechtssystemen gilt als

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dynamischer. Zudem darf nicht verkannt werden, dass es in den

Einzelnationen einen Rechtsstolz oder sogar einen Rechts-Nationalismus

gibt, der dazu führt, dass die Regelungsunterworfenen nicht bereit sind,

ihre liebgewonnenen Regelungen aufzugeben. Zudem ist anzuerkennen,

dass es unterschiedliche Vorstellungen von Recht und von Rechtsbegriffen

gibt (so hat z.B. das deutsche Recht einen sehr formalen und genauen

Ansatz, während die Vorstellung von Recht in den skandinavischen

Rechtsordnungen häufig vom sog. Rechtspragmatismus geprägt ist).

e) Europäisches Privatrecht

Das Europäische Privatrecht ist letztlich eine Unterform der

Rechtsvereinheitlichung und stellt den Versuch dar, innerhalb der EU für

bestimmte Probleme überall gleichermaßen geltende Regeln einzuführen.

Auch hier bedarf es der eingehenden Rechtsvergleichung um

herauszufinden, welche Regelungen überall in den Mitgliedsstaaten

akzeptiert werden, weil sie dort so oder ähnlich bereits existieren oder als

Regelungsansatz bekannt sind.

Page 10: I. Begriff der Rechtsvergleichung

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III. Der Deutsche Rechtskreis

1. Zur Geschichte

Vom Mittelalter an findet sich in allen europäischen Staaten eine ganz

erhebliche Einwirkung des römischen Rechts. In Deutschland ist die Rezeption

des römischen Rechts besonders ab dem 15. Jahrhundert zu spüren. Dabei ist

festzustellen, dass in Deutschland das römische Recht stärkeren Einfluss hat als

in anderen Rechtsordnungen, d.h. römisch-rechtliche Institutionen und Begriffe

werden stärker in das allgemeine Recht implementiert als z.B. in Frankreich.

Der Grund dafür war die zunehmende Schwächung der zentralen Reichsgewalt

im Mittelalter und die Dezentralisierung der Machtverhältnisse, die einherging

mit der Zurückdrängung des Kaisers. Das waren die Ursachen dafür, dass sich

kein gemeindeutsches Privatrecht, keine gemeindeutsche Gerichtsverfassung

oder kein gemeindeutscher Juristenstand entwickeln konnte, wie z.B. in

England oder Frankreich. In England gab es in London bereits im Mittelalter

eine zentralisierte Gerichtsstätte und auch in Frankreich hatten die

bedeutendsten Gerichte ihren Sitz in Paris. Diese Zentren führten dazu, dass

sich dort Richter und Rechtsgelehrte versammelten und in einem Austausch

miteinander Recht entwickelten und anwendeten. Dies ist ein wesentliches

Merkmal zur Herausbildung eines eigenen Rechts, das sich in der Regel aus

verschiedenen lokalen Rechten zusammengesetzt hat. In Deutschland dagegen

gab es zwar ein sog. Reichshofgericht, das als oberstes Gericht des Reiches

grundsätzlich jeden nichts rechtskräftig entschiedenen Streit an sich ziehen

konnte, doch war der Einfluss tatsächlich gering, da das Gericht vom Kaiser

abhängig war. Dadurch, dass der Kaiser in Deutschland lange Zeit keinen

zentralen Sitz hatte, konnte sich eine zentrale Gerichtsstätte nicht herausbilden.

Es fehlte eine starke Reichsjustiz, die zur Entwicklung eines gemeindeutschen

Rechts hätte beitragen können. Da es aber für die neuen Rechtsprobleme, die

mit der Ausbildung von Städten und der Verstärkung des Handels

einhergingen, Regelungen bedurfte, die auf deutschem Boden nicht vorhanden

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waren, griff man auf das römische Recht zurück, weil das lokale Recht sich oft

als nicht tauglich herausstellte. Der Spruch des Richters beruhte auf

überliefertem Rechtswissen, auf praktischer Weisheit, auf Erfahrung und

Sachkunde, auf einer intuitiven Erfassung desjenigen, was dem Sinn des

anschaulich und konkret vor Augen stehenden Lebensverhältnisses am besten

entsprach. Eine solche Herangehensweise reichte bei dem komplexeren, durch

ein Fortschreiten der Wirtschaft ausgelösten Problemkomplex aber nicht mehr

aus. Das römische Recht konnte mit seiner genauen Methodik und seinen

Instrumenten eingreifen, um die Probleme zu lösen, die man ansonsten mit den

üblichen Methoden und den üblichen Regeln nicht hätte lösen können.

In Deutschland, genau wie in den anderen Staaten, gab es Juristen

hauptsächlich in der Verwaltung, in der Kirche und in den Universitäten. Im

16. und 17. Jahrhundert gab es mehr und mehr territoriale und städtische

Rechte, die auch aufgezeichnet wurden. Die schriftliche Erfassung von Recht

war keinesfalls selbstverständlich, sondern bildete einen wesentlichen

Fortschritt in der Rechtsentwicklung dar, da durch die schriftliche Erfassung

die Rechtseinheitlichkeit auch über Generationen hinaus gewahrt werden

konnte.

Mit Einsetzen der Aufklärung kam es zu einer kritischen Überprüfung von

Autoritäten (Kirche und König) in Europa genauso wie in Deutschland. Die

Aufklärung war getragen von der Vernunftsidee, die im Hinblick auf das Recht

zu einer Ordnung und zu einer Systematisierung des Rechtsstoffes führte.

Zudem setzte sich die Kodifikationsidee immer stärker durch. Im deutschen

Rechtsbereich spielen die Namen Pufendorf, Thomasius und Christian Wolf

eine wesentliche Rolle. Durch diese Gelehrten wurde das Vernunftsrecht in ein

lehrbares System privatrechtlicher Regeln umgesetzt. Es fand eine streng

mathematisch-logische Deduktion von allgemeinen Vorstellungen in genaue

Regelungen statt. Gekennzeichnet war diese Entwicklung von rationalistisch-

abstrakten Denkmodellen.

Page 12: I. Begriff der Rechtsvergleichung

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Ganz anders entwickelte sich in der Nachfolge der Aufklärung die Situation in

Frankreich. Die Gelehrten Domat und Pothir ordneten den Rechtsstoff neu und

erarbeiteten Regeln. Darüber hinaus schlugen sich das Vernunftsrecht und die

Idee der Aufklärung nicht nur in rechtlicher Hinsicht nieder, sondern sie

wurden in direkte politische Aktion umgesetzt, die in der Konsequenz zur

Französischen Revolution führte. Im Gefolge der Französischen Revolution

gab sich das Volk sozusagen selbst ein Zivilgesetzbuch. Das Besondere und

Herausragende war, dass dieses Zivilgesetzbuch nicht durch einen Monarchen

verordnet wurde, sondern es sich das Volk, für das es gemacht war, selbst

erstritten hatte. Wiederum anders war die Situation in England. Der praktische

Gegenwartssinn und die historischen Erfahrungen ließen die Idee eines

ungeschichtlich-theoretisierenden Vernunftsrechts in England vielfach leer

laufen. Eine Ausnahme bildete der englische Gelehrte Jeremy Bentham. Das

bedeutet, dass in England die alte Tradition des Case Law auch durch die

Aufklärung im Grundsatz nicht angetastet wurde. Da allerdings die

Voraussetzungen für Recht und Rechtsprechung in England andere waren als

in Deutschland oder Frankreich, hatte die Aufklärung mit der

Vernunftsrechtsidee auch nicht denselben Ansatzpunkt wie in Deutschland

oder Frankreich.

In Deutschland hatte die Aufklärung im Volke keine Resonanz. Anders war

dies bei den aufgeklärten Landesfürsten. Sie waren z.T. der Ansicht, dass das

Recht in der aufklärerischen Tradition eines Vernunftsrechts kodifiziert

werden müsse, um bestimmte Sachverhalte zu regeln. Die Schaffung von

Zivilgesetzbüchern war daher der „wohlwollend-gängelnden Fürsorge“ der

Landesfürsten und nicht den revolutionären Gedanken des Volkes zu

verdanken. 1756 wurde als erstes wichtiges Kodifikationswerk des Zivilrechts

der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis verabschiedet. 1794 wurde dann

das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten verabschiedet, das in

Deutschland eine weite Verbreitung fand und bis 1900 galt.

Page 13: I. Begriff der Rechtsvergleichung

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Die Vorstellungen der Aufklärung wurden in Deutschland z.T. etwas relativiert

durch die Phase der Romantik. Die in Gesetzen vorgesehenen Regeln wurden

von dem in Deutschland aufkommenden Bürgertum z.T. als Einschränkung

ihrer Existenz gesehen. Zudem entwickelten sich in der Romantik

Vorstellungen von „Volkstum“, „Seele“, „Gefühl“ und „Empfindung“, die dem

Vernunftsgedanken der Aufklärung entgegenstanden. Vor dem Hintergrund

dieser neuen geistigen Grundhaltung hat sich dann die sog. Historische

Rechtsschule entwickelt, dessen wichtigster Vertreter Friedrich Carl von

Savigny (1779-1861) war. Er vertrat die Auffassung, dass Recht eine

geschichtlich entwickelte Kulturerscheinung sei, die den Ursprung in der

Volksseele habe. Recht sei ein in Brauchtum und Sitten verhaftetes

Gewohnheitsrecht. Diese These konnte nicht unbestritten bleiben. 1840

entstand der berühmte Schulenstreit zwischen Savigny und Thibaut über die

Wünschbarkeit eines allgemeinen bürgerlichen Zivilgesetzbuches. Thibaut

hatte sich in seiner Schrift „Über die Notwendigkeit eines allgemeinen

bürgerlichen Rechts für Deutschland“ dafür ausgesprochen, ähnlich dem Code

civil eine einheitliche Kodifikation für Deutschland zu erstellen. Dem

entgegnete Savigny mit seiner Schrift „Vom Beruf unserer Zeit für

Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“, in der er darzulegen versuchte, dass

die Stunde für den Erlass einer einheitlichen Kodifikation in Deutschland noch

nicht gekommen sei. Für Savigny waren die historischen Wurzeln im

römischen Recht belegen. Savigny setzte sich zunächst mit seiner Auffassung

durch und es entwickelte sich die sog. Pandektenwissenschaft, die eng mit den

Namen Puchta und Winscheid verbunden ist. Die Pandektenwissenschaft

zeichnet sich durch eine dogmatisch-systematische Aufarbeitung des

Rechtsstoffs aus, die eher abgehoben von der Realität war und daher häufig

spitzfindig und theoretisch wirkte. Hintergrund dieser abstrakten Aufarbeitung

des Rechtsstoffes war die Vorstellung, dass sich die Gerechtigkeit in ihrer

Grundform auf Prinzipien basieren lässt.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts gab es dann doch erste Tendenzen zur

kodifikatorischen Vereinheitlichung des deutschen Privatrechts. Hintergrund

war die starke wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland, die z.B. durch den

Page 14: I. Begriff der Rechtsvergleichung

14

Zollverein erheblich Auftrieb gewonnen hatte. Es erstaunt daher nicht, dass als

erste zivilrechtliche Kodifikationen die Allgemeine Deutsche Wechselordnung

von 1848 und das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch von 1861

verabschiedet wurden. 1865 wurde der Entwurf eines Obligationenrechts

(Dresdner Entwurf) vorgelegt. 1871 wurde das Gerichtsverfassungs-,

Zivilprozess- und Konkursrecht vereinheitlicht und 1879 als sog.

Reichsjustizgesetze verabschiedet. 1874 kam vor dem Hintergrund des

Dresdner Entwurfs eine Erste Kommission zur Ausarbeitung einer

Zivilrechtskodifikation in Deutschland zusammen. Diese Kommission bestand

aus 6 Richtern, 3 Ministerialbeamten und 2 Professoren. Diese legten nach 13-

jähriger Arbeit 1887 den ersten Entwurf nebst Motiven zur Schaffung eines

Zivilrechts in Deutschland vor. Dieser Entwurf erntete stürmische Kritik. Es

wurde ihm vorgeworfen, er habe eine übertriebene doktrinäre Form, eine

volksfremde Juristensprache und eine Verliebtheit in präzise Ausdrucksweise.

Als Reaktion auf diese Kritik wurde 1890 eine zweite Kommission eingesetzt.

Dieser Kommission gehörten neben Juristen auch nicht Nichtjuristen an,

wodurch gewährleistet werden sollte, dass der neue Entwurf volksnäher

ausfällt. Tatsächlich wurden im Wesentlichen nur sprachliche Korrekturen

vorgenommen und ein „Tropfen sozialen Öls“ dem ursprünglichen Entwurf

beigemengt. Im Sommer 1896 wurde das neue Gesetz im Reichstag

angenommen und trat am 01.01.1900 in Kraft. Das BGB ist damit der

vorsichtige Abschluss einer Entwicklung und nicht etwa Ausdruck einer

revolutionären Zäsur.

Page 15: I. Begriff der Rechtsvergleichung

15

2. Das BGB

a) Allgemeines

Das BGB ist in Sprache, Technik, Aufbau und Begriffsbildung eine

Ausprägung der Pandekten-Wissenschaft. Es findet sich weder der

klare, vernünftige Bon Sens des österreichischen ABGB oder die

Volkstümlichkeit bzw. Anschaulichkeit des Schweizerischen ZGB

wieder, noch findet sich die emotionale Ausdrucksweise des Code

civil im deutschen BGB. Das BGB wendet sich bewusst an den

Fachmann. Es soll keine volkserziehende Wirkung haben und

verzichtet daher auf konkret-anschauliche Kasuistik, die ersetzt wird

durch eine abstrakt-begriffliche Sprache. Das BGB ist geprägt von

Genauigkeit, Klarheit und Vollständigkeit der Bestimmungen, die

dazu geführt haben, dass das BGB dahingehend bezeichnet wurde,

dass es zwar kein Sprachkunstwerk sei, wohl aber die „juristische

Rechenmaschine par excellence“ (A. B. Schwarz).

b) Struktur

Das BGB ist in 5 Bücher aufgeteilt, die 4 Sachgebieten entsprechen,

welche Regeln enthalten, die nach der Auffassung der deutschen

Wirklichkeit zusammengehören. Dabei wird das Schuldrecht vom

Sachenrecht getrennt, was sein Vorbild in der römisch-rechtlichen

Unterscheidung von Iura in Rem und Iura in Personam findet. Die

strikte Unterscheidung zwischen Schuld- und Sachenrecht führt

allerdings zum Auseinanderreißen von Zusammenhängen, die für

andere Rechtssysteme eher fremd sind. So würde ein englischer Jurist

erwarten, dass im Kaufrecht (Law of Sale) sowohl der Kauf als auch

Page 16: I. Begriff der Rechtsvergleichung

16

die Eigentumsfrage geregelt ist. Darüber hinaus sieht das Common

Law das Deliktsrecht nicht als Teil des Law of Sale, sondern als

eigenständiges Rechtsgebiet an, während es im deutschen Recht als

ein Teil des Schuldrechts, nämlich als gesetzliches Schuldverhältnis

angesehen wird.

Das vierte und fünfte Buch betreffen das Familienrecht und das

Erbrecht. Den vier Büchern vorangestellt ist der Allgemeine Teil.

Dieser soll der Verschlankung dienen und Regelungen, die sich in

allen vier anderen Büchern wieder finden, „vor die Klammer ziehen“.

Der Allgemeine Teil ist extrem abstrakt gehalten und beinhaltet eine

Vielzahl von Regelungen, die nicht nur im BGB, sondern auch in

anderen Kodifikationen des deutschen Rechts Gültigkeit haben. Die

Besonderheit des Allgemeinen Teils liegt darin, dass jeder Begriff

überall grundsätzlich gleich ausgelegt werden soll. Damit wird zur

Einheit der Rechtsordnung beigetragen. Aus Sicht anderer

Rechtsordnungen erscheint der Allgemeine Teil des deutschen BGB

außerordentlich abstrakt, doch haben sich die Verfasser des

Allgemeinen Teils dafür entschieden, die Systematik und den

theoretischen Ansatz vor den konkreten Wirklichkeitsbezug zu

setzen.

c) Das deutsche bürgerliche Recht ist von einer Durchdringung mit

Prinzipien gekennzeichnet. Wichtige Prinzipien sind Folgende: Das

Prinzip der Privatautonomie: Dieses findet sich vornehmlich in der

Vertragsfreiheit wieder, die aber in der ursprünglichen Konzeption

des BGB zu Ungleichgewichtslagen geführt hat, weil jeder Akteur

auf dem Markt gleich behandelt wird, unabhängig davon, welche

Möglichkeiten, er hat sich über den Vertragsgegenstand oder sein

Gegenüber zu informieren. Das galt insbesondere für die

Arbeitnehmer. Die Möglichkeiten der Kontrolle von ausgeglichenen

Umfeldbedingungen für einen Vertragsschluss konnten nur über die

Page 17: I. Begriff der Rechtsvergleichung

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§§ 134, 138 und 242 BGB gewährleistet werden. Ausgehend von

dem Bedürfnis, Schwächere zu schützen, hat sich durch die

Rechtsprechung und Gesetzgebung im Laufe der Zeit eine Vielzahl

von Neuregelungen ergeben. Vor allem gehören dazu das

Arbeitsrecht, das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen und

das Produkthaftungsrecht.

Die Vertragsfreiheit bedarf einer Einschränkung im Hinblick auf den

Schutz des anderen Vertragsteils durch § 242 BGB. Der Grundsatz

„pacta sunt servanda“ ist relativiert worden durch die Anerkennung

des „Wegfalls der Geschäftsgrundlage“ (Stichwort: Krönungsfälle),

durch die Anerkennung der „unzulässigen Rechtsausübung“ und

durch die Verwirkung.

Das deutsche Deliktsrecht ist geprägt von dem Prinzip der

Verschuldenshaftung, die auf den Gleichlauf von Herrschaft und

Haftung aufbaut. Gesetzgebung und Rechtsprechung haben aber auch

insoweit Relativierungen vorgenommen und z.T. eine

verschuldensunabhängige Haftung statuiert, namentlich in Bereichen,

in denen besonders gefährliche Werkzeuge im Verkehr bewegt oder

betrieben werden (Eisenbahn, Autos, Energieanlagen). Zudem ist der

Verschuldensgrundsatz im Deliktsrecht relativiert worden durch

Wertungsänderungen durch die Interpretation von Tatbeständen

bestimmter Normen. So ist versucht worden, die unbeliebte

Exkulpation des Geschäftsherrn für den Verrichtungsgehilfen gemäß

§ 831 BGB dadurch zu umgehen, dass andere Normen weit ausgelegt

worden sind (§ 278 BGB, § 31 BGB analog). Weitere

Relativierungen des Verschuldenshaftungsprinzips finden sich etwa

in § 826 BGB (Haftung für sittenwidrige Schädigung) und in der

Beweislastumkehr bei der Arzthaftung.

Page 18: I. Begriff der Rechtsvergleichung

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Besondere Prinzipien finden sich im Sachenrecht. Dort gilt der

Grundsatz der Prinzipienstrenge, von der es keine Abweichung gibt.

Der Grund dafür besteht darin, dass das Sachenrecht auf Grund seiner

Regelungsgegenstände im deutschen Recht von außerordentlicher

Beständigkeit ist.

Während das Erbrecht sich ebenfalls wie das Sachenrecht in

wesentlichen Grundzügen nicht geändert hat, hat sich das

Familienrecht im Laufe der Zeit den aktuellen Entwicklungen der

Gesellschaft in Deutschland angepasst. Die Gleichberechtigung der

Frau spiegelt sich in Gesetzesänderungen des BGB ebenso wider wie

der unterschiedliche Ansatz im Umgang mit Kindern (elterliche

Gewalt wird zur elterlichen Sorge). In der Ehescheidung ist das

Gesetz vom Verschuldensprinzip zum Zerrüttungsprinzip

übergegangen, und auch im Adoptionsrecht hat es Anpassungen an

die modernen Entwicklungen gegeben.

Page 19: I. Begriff der Rechtsvergleichung

19

IV. Rechtsvergleichung als Methode

Die Rechtsvergleichung ist vornehmlich eine Methode zur Erzielung bestimmter

Ergebnisse. Die rechtsvergleichende Methode verläuft in einem Dreischritt.

Zunächst ist die Fragestellung zu ermitteln. In einem zweiten Schritt wird die

Lösung für diese Fragestellung im Ausgangsrechtssystem der Lösung der

Fragestellung im Referenzrechtssystem gegenübergestellt, und in einem dritten

Schritt wird die eigentliche Vergleichung durchgeführt.

Der erste Schritt betrifft die Herausarbeitung der Fragestellung, die Gegenstand

der Rechtsvergleichung sein soll. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass

die Fragestellung exakt gefasst wird. Es geht dabei um die funktionelle Fassung

der Frage. So sollte die Frage „Welche Formvorschriften kennt das ausländische

Recht bei Kaufverträgen“ besser gefasst werden mit „Wie schützt das ausländische

Recht die Parteien vor Übereilung oder vor der Bindung an ein nicht

ernstgemeintes Geschäft“. Das bedeutet, in einem ersten – sicher häufig sehr

schweren – Schritt muss der funktionelle Gehalt der Frage ermittelt werden, die

man untersuchen möchte. Dabei ist es oft nötig, sich von seinen eigenen

Vorstellungen zu befreien. So kennen beispielsweise fremde Rechtsordnungen

nicht das sog. Scherzgeschäft (§ 107 BGB), ebenso wenig wie das deutsche Recht

den Begriff des Trust. Hat man in einer auf die Funktion abstellenden Art und

Weise die Fragestellung formuliert, so ist in einer funktionalen Betrachtung

herauszufinden, wie diese Fragestellung in den jeweiligen zu vergleichenden

Rechtsordnungen gelöst wird. Eine bloße Gegenüberstellung von Recht ist für eine

Rechtsvergleichung in der Regel wertlos. Es kommt darauf an, dass

herausgefunden wird, wie von der Funktion her das betreffende Recht auf die

Fragestellung eingeht und sie löst. Die gegenübergestellten Ergebnisse in den

Rechtsordnungen werden im dritten Schritt verglichen, d. h. vor dem Hintergrund

des Ziels der Rechtsvergleichung (z.B. einen Lerneffekt für die Verbesserung des

eigenen Rechts zu erzielen) wird geprüft, ob und wenn ja inwieweit ein fremdes

Page 20: I. Begriff der Rechtsvergleichung

20

Recht das im eigenen Recht bestehende „Problem“ besser löst. Problem bei der

Vergleichung ist stets, dass zur Bewertung ein Maßstab herangezogen werden

muss, der vorab festgelegt sein muss.

Keinesfalls darf übersehen werden, dass im Rahmen der soeben geschilderten

Methode der Vergleichung vor dem dritten Schritt noch die Vergleichbarkeit der

Rechtsordnungen, in denen die Regeln zur Lösung des konkreten Problems

verankert sind, festgestellt werden muss. Es stellt nur eine unzureichende und nicht

überzeugende Rechtsvergleichung dar, wenn keine Ausführungen dazu gemacht

werden, ob der Regelungsrahmen überhaupt vergleichbar ist. Beispielsweise lassen

sich insolvenzrechtliche Regelungen im deutschen und französischen Recht nur

dann vergleichen, wenn man sich im Klaren darüber ist, dass trotz der erheblichen

strukturellen Unterschiede des deutschen und des französischen Insolvenzrechts

im Hinblick auf den Regelungsrahmen der konkreten Rechtsregelungen, die das

aufgeworfene Problem behandeln, eine Vergleichbarkeit besteht (das deutsche

Insolvenzrecht bezieht sich auf Verteilungsgerechtigkeit, während das

französische Insolvenzrecht andere Funktionen, z.B. die pönale Funktion, im

Vordergrund sieht).

Page 21: I. Begriff der Rechtsvergleichung

21

V. Die Entwicklung zu einem Zivilgesetzbuch in Österreich

1. Historische Entwicklung

In Österreich fand im 16. und 17. Jahrhundert eine ganz ähnliche Entwicklung

statt wie in Deutschland. Lokales Recht, das vielfach geprägt war von

Rechtsentwicklungen in Deutschland, paarte sich mit römischem Recht. Es

entwickelten sich allenfalls lokale Regelungssammlungen. Die Aufklärung

hatte dann im 18. Jahrhundert in Österreich weitreichendere Folgen für die

Rechtsentwicklung als in Deutschland. Das lag im Wesentlichen darin

begründet, dass mit Maria Theresia eine starke Monarchin in einem

zentralistisch organisierten Gemeinwesen herrschte und von den Ideen der

Aufklärung im Hinblick auf die Rechtssetzung beeinflusst wurde. 1753

beauftragte Maria Theresia eine Kommission zur Vorbereitung eines

österreichischen Zivilgesetzbuches. 1766 wurde der Kodex Theresianus

vorgelegt. Der Konzeption nach sollte dieser Kodex sich auf das allgemeine

bürgerliche Recht beschränken, so dass das Sonderrecht bestimmter

Personengruppen oder –stände nicht geregelt wurde. Dahinter stand die

Vorstellung, dass das Recht der Stände sich einer Regelung durch das

bürgerliche Recht entzieht. Geregelt werden musste vielmehr nur das

Verhältnis der einfachen Bürger untereinander. In die Ausarbeitung des

Kodexes wurden ebenso nicht die Leibeigenen miteinbezogen. Der Kodex

wurde nach der Vorlage allerdings als zu lang und zu lehrbuchartig kritisiert:

Es wurde darauf hingewiesen, dass Gesetz und Lehrbuch nicht miteinander

vermengt werden sollten. In das Gesetz gehöre nur das, was in den Mund des

Gesetzgebers gehöre und nicht das, was auf den Lehrkanzeln gelehrt werde.

Damit wurde Kritik daran geübt, dass die Regeln im Kodex zu oft allgemeine

und ausschweifende Ausführungen beinhalteten, die von dem Kerngehalt der

Regel, die kodifiziert werden sollte, eher ablenkte als sie verdeutlichte.

Insoweit wurde vorgeschlagen, dass ein österreichisches Zivilgesetzbuch

möglichst kürzer gefasst werden sollte, ohne dass es aber zu undeutlich und zu

abstrakt gefasst werde. Man verlangte, dass im Kodex alle Zweideutigkeiten

und undeutlichen Ausdrücke sorgfältig vermieden werden sollten. Hintergrund

Page 22: I. Begriff der Rechtsvergleichung

22

dessen war die verbreitete Tendenz in dem Kodex, dass ein rechtlicher Begriff

an verschiedenen Stellen im Kodex mit unterschiedlichem Inhalt gebraucht

wurde. Dies führte zu großer Verwirrung. Außerdem lassen sich viele Passagen

im Kodex finden, die außerordentlich undeutlich formuliert sind und nicht

deutlich machen, was damit tatsächlich gemeint ist. Interessant ist schließlich

die Forderung an den Kodex, er möge sich nicht so stark an das römische

Recht binden, sondern es müsse überall die „natürliche Billigkeit“ zugrunde

gelegt werden. Vor diesem Hintergrund wurde 1790 eine neue Kommission

unter dem Wiener Rechtsprofessor Martini eingesetzt. 1796 legte diese

Kommission einen „Entwurf eines allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches“

vor. Dieser Entwurf löste sich völlig vom Kodex Theresianus und vom

römischen Recht. Er berücksichtigte erstmalig in größerem Umfang

vernunftsrechtliche Lehren und Postulate. Der Grund dafür lag darin, dass

Martini Naturrechtler war und daher diesen Gedanken den Vorzug gab. 1808

wurde dann dem Entwurf die entgültige Fassung gegeben, die vom Naturrecht

und von den Lehren ganz geprägt war. Die entstandene Kodifikation stellt

einen Kompromiss zwischen den Forderungen der damaligen Zeit nach

kritischer Rationalität und „gesundem Sinn für das historisch Bewährte“ dar.

Das österreichische ABGB trat dann 1811 in Kraft. Die Besonderheit des

ABGB mit seiner aufklärerischen Prägung war, dass es viel „moderner“ als die

österreichische Realität zu dieser Zeit war. Es gab weithin kaum freies

Bürgertum, für das dieses Gesetz eigentlich gedacht ist. Erst 1848 mit der

Aufhebung der Gutsuntertänigkeit (dies ist in einigen Aspekten durchaus

vergleichbar mit einer Unfreiheit durch Bindung an die Scholle) drangen

freiheitliche Ideen in die österreichische Gesellschaft und fanden ihren

Widerhall in dem österreichischen ABGB.

Das ABGB mit seiner freiheitlich-individualistischen Grundhaltung entsprach

dann auch durchaus den Bedürfnissen, die mit der Industrialisierung und der

fortschreitenden Entwicklung der Wirtschaft einherging. Insoweit war ein

Rückgriff auf das römische Recht, wie in anderen Rechtsordnungen, die mit

der aufkommenden Verrechtlichung des Handels fertig werden mussten, nicht

erforderlich.

Page 23: I. Begriff der Rechtsvergleichung

23

Seit 1835 kann man in der Entwicklung Österreichs erkennen, dass sich eine

besonders enge Beziehung des österreichischen Rechts zum deutschen Recht

entwickelt hat, die in diesem Maße in früherer Zeit nicht bestand. Es wäre

falsch zu denken, dass das österreichische ABGB im Prinzip nur eine

historische Vorausnahme der Entwicklungen in Deutschland gewesen ist.

Vielmehr hat es in Österreich eine von Deutschland sehr eigenständige

Entwicklung gegeben. Diese eigenständige Entwicklung ist allerdings aufgelöst

worden, als sich der österreichische Jurist Josef Unger kritisch mit dem

Verständnis des ABGB auseinander setzte. Unger war geprägt von der

Pandektenwissenschaft, die er in Deutschland kennengelernt hatte. Seine

Interventionen und die daran anschließende Diskussion brachten es mit sich,

dass es in österreichischen Lehrbüchern des ABGB nunmehr einen

allgemeinen Teil gibt, der typisch für die Pandektenlehre ist und sich in der

Entsprechung im deutschen BGB findet. Ein allgemeiner Teil ist allerdings

nicht in das österreichische ABGB aufgenommen worden.

2. Struktur des ABGB

a. Allgemeines

Das ABGB ist von dem Umfang und der Struktur her klarer und

übersichtlicher gestaltet als das damalige preußische Landrecht. Es hatte

allerdings nicht die Deutlichkeit und Präzision des „Code civil“. Es finden sich

im österreichischen Zivilgesetzbuch oftmals „belehrende“ oder

„theoretisierende“ Vorschriften, die an sich überflüssig sind und nur der

Anschaulichkeit dienen sollten. Tatsächlich machen sie diese Ausführung ein

wenig altbacken und oberlehrerhaft. So gibt es oft Definitionen, die keinen

juristisch-technischen Gehalt, sondern lediglich eine verdeutlichende und

belehrende Funktion haben. Dazu folgendes Beispiel: In § 45 ABGB wird das

Verlöbnis wie folgt definiert: „Ein Eheverlöbnis oder ein vorläufiges

Page 24: I. Begriff der Rechtsvergleichung

24

Versprechen, sich zu ehelichen, unter was für Umständen oder Bedingungen es

gegeben oder erhalten worden, zieht keine rechtliche Verbindlichkeit nach

sich, weder zur Schließung der Ehe selbst, noch zur Leistung desjenigen, was

auf den Fall des Rücktritts bedungen worden ist.“ § 1297 BGB formuliert

dagegen knapp und sachlich: „Aus einem Verlöbnis kann nicht auf Eingehung

der Ehe geklagt werden. Das Versprechen einer Strafe für den Fall, dass die

Eingehung der Ehe unterbleibt, ist nichtig.“

b. Aufbau

Das ABGB besteht aus 1502 Paragrafen. Damit ist das Gesetzbuch relativ kurz

und lückenhaft gelungen. In den Jahren 1914 – 1916 gab es drei Teilnovellen

des ABGB, durch die das österreichische ABGB dem deutschen BGB vielfach

angepasst wurde. Insbesondere wurde das allgemeine Vertragsrecht, das Miet-

und Pachtrecht, das Dienstvertrags- und Werkvertragsrecht in Österreich der

deutschen Vorlage angepasst. Die Lückenhaftigkeit des AGBG wurde in

Österreich dazu benutzt, dass die Rechtsprechung eine große Bedeutung bei

der Konkretisierung des Rechts hat. Sie ist berufen, die offenen

Regelungslücken im Gesetz zu schließen.

Das österreichische ABGB ist wie folgt aufgebaut: Am Beginn des Gesetzes

steht eine Einleitung, die allgemeine Bestimmungen über das In-Kraft-Treten,

den Geltungsbereich, die Rückwirkung und die Auslegung von Gesetzen (u. a.

§ 7 ABGB) enthält. Der erste Teil des ABGB ist überschrieben mit „Von dem

Personen-Rechte“. Darunter werden vier Hauptstücke an Regelungen

eingeordnet. Das erste Hauptstück bezieht sich auf Rechte, welche sich auf

persönliche Verhältnisse und Eigenschaften beziehen. Darunter fallen u.a. die

Rechtsfähigkeit, die Stellung der „moralischen Person“, das Ausländerrecht

und das IPR (Letzteres ist 1978 neu geordnet worden). Das zweite Hauptstück

umfasst das Eherecht, das in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts

reformiert wurde. Das dritte und das vierte Hauptstück umfassen das

Kindschafts- und Vormundschaftsrecht.

Page 25: I. Begriff der Rechtsvergleichung

25

Der zweite Teil des ABGB lautet „Von dem Sachenrechte“. Der erste

Abschnitt beschäftigt sich mit den dinglichen Sachenrechten, wie Besitz,

Eigentum, Pfand etc. und dem Erbrecht. Der zweite Abschnitt betrifft die

persönlichen Sachenrechte; das sind vor allem das Vertrags- und Deliktsrecht.

Dabei werden die Regeln unterteilt in einen allgemeinen Teil (das sind die

allgemeinen Regeln des Vertragsrechts) und in einzelne Vertragstypen (z. B.

Schenkung, Verwahrung, Leihe, Kauf etc.). Das Schadensersatzrecht findet

sich in der berühmten Vorschrift des § 1295 ABGB. Es handelt sich insoweit

um eine allgemeine Generalklausel, wonach jedermann berechtigt ist, von dem

Beschädiger den Ersatz des Schadens, welchen dieser ihm aus Verschulden

zugefügt hat, zu fordern.

Der dritte Teil des ABGB beschäftigt sich mit den gemeinschaftlichen

Bestimmungen der Personen- und Sachenrechte. Darunter wird die Verjährung,

die Ersitzung und die sog. „Verfestigung von Rechtsgeschäften“, wie z.B.

durch Bürgschaften oder Schuldübernahmen, geregelt. Ebenso finden sich im

dritten Teil des ABGB auch die Vorschriften über die Aufrechnung, über die

Zahlung und den Verzicht.

3. Vergleichende Betrachtung

Im Vergleich zum deutschen BGB ist das österreichische ABGB weit weniger

geordnet. Die Ausdrucksweise ist viel weniger klar und präzise und die

Gedankenführung ist nicht so stringent wie im deutschen Recht. Zudem fällt die

Lückenhaftigkeit der Regelung auf, deren Auffüllung vom österreichischen

Richter vorgenommen werden muss. Dafür ist das ABGB volksnäher geschrieben

und auch – jedenfalls zum Teil – von einem Laie zu verstehen. Das ABGB hatte

allerdings keine dem „Code civil“ entsprechende Ausstrahlungswirkung. Daher ist

die Verbreitung des ABGB auch insgesamt begrenzt gewesen. Als Vorbild hat es

im Wesentlichen nur in einigen Staaten gedient, die ihr Recht den ökonomischen

Erfordernissen Österreichs anpassen wollten. Zu diesen Staaten gehören Kroatien,

Page 26: I. Begriff der Rechtsvergleichung

26

Bosnien-Herzegowina und Serbien. Nicht dazu zählt, sondern eine eigenständige

Entwicklung genommen, hat das ungarische Recht.

Page 27: I. Begriff der Rechtsvergleichung

27

VI. Das schweizerische ZGB

1. Historische Entwicklung

Das schweizerische Zivilrecht kennt kaum eine Rezeption des römischen Rechts.

Vielmehr ist die Entwicklung auf kantonaler Ebene abgelaufen. Es handelt sich in der

Regel um volkstümliche, auf bodenständigem Gewohnheitsrecht basierende Regeln,

die von gewählten Laienrichtern innerhalb eines Kantons angewendet und von diesen

auch weiter entwickelt wurden. Es lässt sich in der Schweiz dabei eine gewisse

Zweiteilung erkennen. Die romanischen Kantone wie der Kanton Genf, der Kanton

Waadt und das Tessin tendierten eher zu Regelungen, die sich an den Code Civil

anlehnten. In den deutschsprachigen Kantonen entwickelten sich mit der Zeit zwei

Kodifikationen zum Zivilrecht, die führend waren. 1826/1832 entstand die Bernische

Kodifikation, die sich stark an das österreichische ABGB anlehnte. Diese Kodifikation

hatte Bedeutung in den Kantonen Luzern, Solothurn und Aargau. Ein anderes

privatrechtliches Gesetzbuch entwickelte sich im Kanton Zürich. Dieses wurde

maßgeblich von den Rechtsgelehrten Keller und Bluntschli entwickelt. Keller war

Schüler von Savigny, und beide Rechtsgelehrte waren Pandektenwissenschaftler, so

dass die Züricher Kodifikation stark von den Vorläufern des deutschen BGB geprägt

wurde. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstand in der Schweiz der Wunsch nach einer

Rechtsvereinheitlichung auf dem Gebiet des Zivilrechts. Dabei bestand aber von

Anfang an die Kontroverse zwischen einem starken Föderalismus mit eigenen

kodifikatorischen Ansätzen und einer Vereinheitlichung. 1881 entstand ein

einheitliches Obligationenrecht (OR), das sich an dem deutschen HGB von 1861 und

dem „Dresdner Entwurf“ für ein Zivilgesetzbuch von 1865 orientierte. Eine prägende

Besonderheit in der Schweiz war die Gründung des schweizerischen Juristenvereins

1861. In diesem Verein fanden alle wichtigen schweizerischen Juristen aus den

einzelnen Kantonen zueinander. Dieser Juristenverein entschloss sich 1984, zur

Vorbereitung einer Kodifikation zur Rechtsvereinheitlichung eine umfassende

Darstellung des Zivilrechts der einzelnen Kantone zu schreiben. Sie gaben dieses

Projekt als Auftrag an den Baseler Rechtsgelehrten Eugen Huber. Dieser erstellte in

Page 28: I. Begriff der Rechtsvergleichung

28

nur wenigen Jahren das Werk „System und Geschichte des schweizerischen

Privatrechts“ (1886/1893). Vor dem Hintergrund dieser als besonders gelungen

angesehenen Zusammenfassung des Systems und der Entwicklung wurde Huber

beauftragt, ein ZGB zu entwickeln. Dieses ZGB wurde am 10.12.1907 angenommen

und trat zum 01.01.1912 in Kraft. Dieses ZGB wurde mit dem Obligationenrecht, das

angepasst wurde, verbunden und umfasste sodann 1936 auch das gesamte

Gesellschaftsrecht unter Einschluss des Aktienrechts und des GmbH-Rechts.

2. Struktur des ZGB

Das schweizerische ZGB gilt allgemein als gelungene Kodifikation. Eine im

deutschen BGB zu findende abstrakte Kasuistik wird ersetzt durch „bewusste

Unvollständigkeit“, was sein Vorbild im österreichischen ABGB findet. Das ZGB ist

ein leicht verständliches, lebensnah formuliertes Gesetz. Juristisch-technische

Fachausdrücke finden sich wenig, und Verweise auf andere Gesetzesvorschriften, wie

es typisch im deutschen BGB ist, wurden sehr zurückhaltend gewählt. Ziel des

Gesetzes war eine Verständlichkeit für die breite Masse. Dabei wurde aber nicht auf

die „geschichtenhafte“ Darstellung des österreichischen ABGB zurückgegriffen,

sondern ein eigenständiger Ansatz gewählt, der eine Kombination aus klarer, einfacher

Sprache und genauer Regelungstechnik beinhaltet, ohne aber dem deutschen abstrakt-

konstruierten Recht nahe zu kommen.

Das ZGB ist in fünf Teile untergliedert. Der erste Teil handelt von Regelungen über

die Personen. Dem schließt sich der zweite Teil mit dem Familienrecht an. Im dritten

Teil ist das Erbrecht geregelt, und der vierte Teil beschäftigt sich mit dem

Sachenrecht. Der fünfte Teil schließlich ist das Obligationenrecht des OR. Zwar ist das

schweizerische ZGB im Hinblick auf die Gliederung und einige konstruktive

Merkmale von der Pandektenwissenschaft beeinflusst worden, doch kennt das

schweizerische ZGB keinen vorgestellten allgemeinen Teil.

Page 29: I. Begriff der Rechtsvergleichung

29

Ein Stilmerkmal des ZGB ist die bewusste Unvollständigkeit. Dadurch sind die

Richter und die Lehre in der Schweiz eingebunden, das Recht fortzuentwickeln und

damit den modernen Anforderungen zu genügen. Viele Vorschriften im

schweizerischen Recht bestehen daher aus Generalklauseln. Der Richter soll dann

durch Aufstellung von Standards und die Herausarbeitung typischer Fallgruppen das

Recht (lebensnah) konkretisieren. Diese besondere Stellung des Richters bei der

Ausgestaltung des Rechts erklärt sich vor dem Hintergrund der Besonderheiten der

schweizerischen Rechtspflege. Wegen der fehlenden Rezeption des römisch-

rechtlichen Denkens hat es in der Schweiz nur in einem geringen Maße eine

Verwissenschaftlichung im Hinblick auf die Rechtsentwicklung gegeben. Stattdessen

hat sich das Recht durch Richter entwickelt, die bei der Rechtsanwendung den

Charakter des Volkstümlichen und des Anschaulichen gewahrt haben. Die Richter

wurden und werden in den Kantonen vom Volk gewählt und haben daher eine

besondere Autorität. Diese Autorität wird genutzt, um Regeln allgemeinverbindlich zu

schaffen. Die Urteile, in denen die Richter das Recht fortentwickelt haben, schöpfen

ihre Autorität aus der persönlichen Qualität des Richters und aus der genauen

Subsumtion eines Sachverhaltes unter eine Norm oder einen Rechtssatz. Damit zeigt

sich das ZGB als eine interessante Mischung aus kodifiziertem Recht und aus

Richterrecht. Aufgrund der Kodifikation zählt das schweizerische Zivilgesetzbuch

allerdings zu den kontinentaleuropäischen Kodifikationszivilrechten.

Page 30: I. Begriff der Rechtsvergleichung

30

VII. Der romanische Rechtskreis

1. Geschichte

Nach der Eroberung Galliens durch die Römer galt in Frankreich römisches Recht.

Dieses galt auch nach dem Ende des weströmischen Kaiserreichs 476 in Südfrankreich

als das für die Untertanen nicht germanischer Abstammung geltende Recht. Es wurde

aufgrund seiner Verfasstheit als „droit écrit“ bezeichnet. Im Norden Frankreichs wurde

dagegen durch die Franken das fränkische Gewohnheitsrecht eingeführt. Dieses wurde

in Frankreich „droit coutumier“ genannt. Die Trennung von „droit écrit“ und „droit

coutumier“ war in Frankreich zwar nicht ganz strikt, doch war sie für die rechtliche

Prägung im Norden und im Süden Frankreichs von erheblicher Bedeutung. Das

römische Recht wurde nur noch herangezogen, um den aufkommenden Handel

rechtlich bewältigen zu können.

Anders als in Deutschland gab es in Frankreich keine Totalrezeption des römischen

Rechts, die Franzosen haben es immer als inkooperierten Teil ihres Rechts angesehen.

Im 15. Jahrhundert ging man dazu über, im Norden Frankreichs die einzelnen

„coutumes“ aufzuschreiben. Diese Initiative ging 1454 auf König Karl VII. zurück. Er

machte mehr oder weniger grobe Vorgaben zur vereinheitlichten Aufzeichnung der

einzelnen „coutumes“. Ende des 16. Jahrhunderts waren alle wichtigen „coutumes“

nach den königlichen Vorgaben aufgezeichnet. Es entstanden ca. 60 „coutumes

générales“ und ca. 300 „coutumes locales“. Das Nebeneinander der „coutumes“ führte

zur Etablierung eines IPR, da geklärt werden musste, wie ein Fall zu behandeln war,

der Berühung mit mehreren „coutumes“ hatte. Mit der Zeit entwickelte sich die Pariser

Coutume zur wichtigsten Regelsammlung. Der Grund dafür lag darin, dass in Paris das

mächtigste Gericht Frankreichs war. Die Pariser Coutume hatte Leitwirkung und

wurde ab der Neufassung 1580 überall dort angewendet, wo es in den jeweiligen

lokalen „coutumes“ Lücken gab. Die Pariser Coutume hatte auch Vorrang vor dem

römischen Recht bei der Lückenfüllung.

Page 31: I. Begriff der Rechtsvergleichung

31

In Frankreich hatten die praktischen Juristen eine entscheidende Bedeutung für die

Herausbildung eines gemeinsamen Zivilrechts. Der Rechtsgelehrte Dumoulin (1500-

1566) vertrat den Ansatz, dass das gemeine Recht in Frankreich die Gesamtheit der in

den verschiedenen „coutumes“ zum Ausdruck kommenden Rechtsgedanken sei. Vor

diesem Hintergrund kommentierte er die Pariser Coutume und arbeitete die dort

niedergelegten Prinzipien heraus. Damit war der Grundstock gelegt für eine

Vereinheitlichung des Zivilrechts in Frankreich. Hinzu kam die Arbeit des Gelehrten

Coquille (1523-1603), der die Prinzipien in seinem Werk „Institution au droit

français“ niedergelegt hat. Der Grund, warum sich in Frankreich die

Rechtsentwicklung an bestimmten praktischen Juristen orientiert hat und weniger von

den Universitäten stammte, war, dass Frankreich früh einen geordneten Stand von

Juristen herausgebildet hat, der an einer Zentralisierung der Justiz beim König

interessiert war. Der Pariser Gerichtshof war daher die Zentrale der Juristen in

Frankreich. Diese zentrale juristische Gewalt wurde gestützt durch die Vererblichkeit

und Verkäuflichkeit des Richteramtes im 15. und 16. Jahrhundert.

Zwei weitere französische Rechtsgelehrte haben dann die Entwicklung des

französischen Zivilrechts entscheidend vorangetrieben. Zum einen war dies Bourjon

mit seinem Werk „Le droit commun de la France et la coutume de Paris reduits en

principes“ von 1720 und Pothier (1699-1772), der als Kenner des „droit écrit“ und des

„droit coutumier“ bekannt war. Letzterer schrieb Abhandlungen über das

Obligationenrecht, das Kaufrecht und das Mietrecht.

Trotz des bestehenden Gegensatzes von „droit écrit“ und „droit coutumier“ setzte sich

langsam die Idee eines „droit coutumier commun“ oder kurz „droit français“ durch.

Mit dem Zusammentreten der „Assemblée Constituante“ 1789 und der Übernahme der

Staatsgewalt durch Napoleon 1799 galt in Frankreich für 10 Jahre das sog. „droit

intermédiaire“. In diesen 10 Jahren wurden zentrale Änderungen des französischen

Rechts durchgesetzt. Dabei sollten sich die Ideale der französischen Revolution auch

im Recht widerspiegeln. Eine zentrale Forderung der Revolution war die Schaffung

eines bürgerlichen Rechts. 1793 legte der französische Rechtsgelehrte Cambacères den

Page 32: I. Begriff der Rechtsvergleichung

32

ersten Entwurf eines solchen bürgerlichen Gesetzbuches mit 697 Artikeln vor. Dieser

galt als viel zu umfangreich und kompliziert. 1794 legte er einen zweiten Entwurf mit

nur 297 Artikeln vor, der allerdings wiederum als zu einfach angesehen wurde. Kurz

darauf, 1796, legte Cambacères dann den dritten Entwurf vor. Die Beratung über den

dritten Entwurf wurde durch die Machtübernahme Napoleons unterbrochen. Napoleon

interessierten die Arbeiten an einem „Code civil“ sehr und brachte eigene Ideen ein. Er

war die treibende Kraft an der Erstellung eines französischen Zivilrechts. 1804 wurde

der „Code civil“ verabschiedet.

2. Die Bedeutung des „Code civil“

Der „Code civil“ nimmt auf Grund der historischen Bedeutung und der

Ausstrahlungskraft, die er besitzt, die erste Stelle der (damaligen) Kodifikationen ein.

Der „Code civil“ wollte die Ideale der Freiheit und der Gleichheit verwirklichen, doch

muss man bei genauerer Betrachtung die Ideologie, die mit dem „Code civil“

einhergeht und die Wirklichkeit auseinander halten. Hinter der Fassade des

revolutionären Gesetzgebungswerks finden sich vielfach konservative Strömungen,

die auf der Behauptung alter Rechtstraditionen basieren. Vielfach ging der „Code

civil“ hinter die Errungenschaften des „droit intemédiaire“ zurück. Zum Beispiel

wurde die Testier- und Schenkungsfreiheit, die im Hinblick auf die Zerschlagung von

Grundbesitz nach der französischen Revolution zunächst aufgehoben wurde, wieder

eingeführt. Auch die Aufhebung des elterlichen Zustimmungserfordernisses zur Heirat

bei Volljährigen, die vor dem Hintergrund des Freiheitspostulats der Französischen

Revolution durchgesetzt wurde, wurde wieder aufgegeben. Damit wollte Napoleon

den patriarchisch organisierten Familienverband schützen.

Der „Code civil“ basiert auf vernunftsrechtlichen Ideen, insbesondere, dass eine

Ordnung des Rechtsstoffes die Grundlage für eine rationale Ordnung der Gesellschaft

darstellt. Der „Code civil“ stellt eine Symbiose von „droit écrit“ und „droit coutumier“

dar. Das „droit écrit“, das seine Wurzeln im römischen Recht hat, ist im gesamten

Page 33: I. Begriff der Rechtsvergleichung

33

französischen Vertragsrecht aufgegangen, und zwar so, wie es von Pothier bearbeitet

wurde. Das „droit coutumier“, nämlich das der Pariser Coutume, beeinflusste das

Familien- und Erbrecht des „Code civil“. Da das „droit coutumier“ im Kern auf

germanische Rechtsgedanken zurückzuführen ist, finden sich im französischen „Code

civil“ interessanterweise eine ganze Reihe von germanischen Rechtsprinzipien, wie z.

B. die Zulassung des Eigentumerwerbs kraft guten Glaubens gemäß Art. 2279 „Code

civil“. Es wird darauf hingewiesen, dass der „Code civil“ mehr von germanischen

Gedanken geprägt ist als das deutsche Recht des BGB, das viel mehr der römisch-

rechtlichen Tradition gefolgt ist.

Wichtig ist für das französische Recht auch das Verhältnis des Richters zu den Regeln

des „Code civil“. Das „droit intermédiaire“ verfolgte eine strikte Trennung der

Gewalten und verlangte von dem Richter die pure Gesetzesanwendung, ohne eigene

Interpretation. Der „Code civil“ setzte diese Tradition zwar im Grundsatz fort, doch

war er insoweit moderner, als er es den Richtern gestattete, das Recht dort zu

ergänzen, wo Lücken gelassen wurden oder wo er zur Ergänzung direkt aufgefordert

wurde. Das beste Beispiel ist das französische Deliktsrecht der Art. 1382-1386. Diese

Regeln sind Generalklauseln, die vom Richter einzelfallbezogen auszuführen sind. Der

Möglichkeit des Richters, Gesetzesrecht auszulegen, steht die Unmöglichkeit

gegenüber, dass der Richter privat gesetztes Recht (also Verträge) auslegt. Hier ist der

französische Richter einer erheblichen Zurückhaltung unterworfen.

3. Aufbau des „Code civil“

Der „Code civil“ besteht aus einem Einführungstitel (der wiederum aus sechs Artikeln

besteht) und den Rest des Ansatzes eines „Livre préliminaire“ darstellt. Das erste Buch

des „Code civil“ (Des personnes) besteht aus den Artikeln 7 – 515. Im Einzelnen sind

dort geregelt:

- Vorschriften über die Innehabung der bürgerlichen Rechte

- Regeln über den Erwerb und den Verlust der französischen Staatsangehörigkeit

- Rechtsstellung von Ausländern

Page 34: I. Begriff der Rechtsvergleichung

34

- Zivilstandsregister

- Wohnsitz / Verschollenheit / Eheschließung / Scheidung / Kindschaft / Adoption /

elterliche Sorge / Vormundschaft

Das zweite Buch umfasst die Art. 516 – 710 (Des biens, et des différentes

modifications de la propriété). Geregelt wird hier u. a.

- Allgemeine Regelungen über bewegliche und unbewegliche Sachen

- Sachbestandteile

- Eigentum an Sachen/Nießbrauch

- Wohnrechte/Nutzungen

- Dienstbarkeiten

Das dritte Buch des „Code civil“ ist mit Abstand das umfangreichste und umfasst die

Art. 711 – 2279 (Des différentes manières dont on acquiert la propriété). Im dritten

Buch werden geregelt:

- Erbfolge

- Schenkung (die in Frankreich als besondere Form des Erwerbs von Eigentum

verstanden wird)

- Vertragsrecht allgemein (Geschäftsfähigkeit, Vertragsauslegung, Aufrechnung,

Formvorschriften, Beweisrecht)

- Bereicherungs-, Deliktsrecht

- Ehegüterrecht

- Einzelne Verträge (Kauf, Tausch, Miete, Werkvertrags-, Dienstvertragsrecht)

- Gesellschaft

- Darlehen/Verwahrung/Auftrag

- Verjährung

Page 35: I. Begriff der Rechtsvergleichung

35

Das vierte Buch des „Code civil“ umfasst die Art. 2284 – 2488 (Des sûretés) und

regelt u.a.

- Bürgschaft

- Sicherungsrechte (Hypothek / Pfand / Zurückbehaltungsrechte)

Der französische „Code civil“ stellt eine charakteristische, von einer Aufklärungsidee

getragene Kodifikation dar. Sie ist in vielerlei Hinsicht von Emotionen getragen, dabei

aber durchaus nicht emotional geprägt. Zwar findet man im „Code civil“ des Öfteren

sehr viel mehr emotional geprägtere Regelungen als z. B. im BGB oder im

österreichischen ABGB, doch stellt der „Code civil“ bei Licht betrachtet eine

konservative, wenngleich für die damalige Zeit sehr fortschrittliche Kodifizierung dar.

Der „Code civil“ hat in der Welt einen erheblichen Einfluss genommen. Viele andere

Zivilrechte, vornehmlich in Staaten, die romanisch geprägt sind, wie Spanien oder

Italien, haben sich am „Code civil“ orientiert. Er ist von seiner Sprache her

verständlich und weit weniger abstrakt als das deutsche BGB. Die Systematik ist

geprägt von dem früheren „droit écrit“ und „droit coutumier“. Der „Code civil“ stellt

damit gleichsam das Gegenmodell zum römisch-rechtlich geprägten BGB dar.

Page 36: I. Begriff der Rechtsvergleichung

36

Das anglo-amerikanische Rechtssystem

I.

Die Entwicklung des englischen Common Law

Die englische Rechtsentwicklung nimmt ihren für heute maßgeblichen Ursprung in der Zeit

des Normannenkönigs Wilhelm I, der nach seinem Sieg 1066 in England ein gleichförmiges,

straff geordnetes Lehnswesen aufbaute, das auf den König als den obersten Lehnsherrn

ausgerichtet war. Wilhelm I. gab sein gesamtes Grundvermögen an rund 1500 seiner

wichtigsten Gefolgsleute aus, die einen Treueid auf ihn schwören mussten und das ihnen

überlassene Land gegen die Leistung bestimmter Dienste und gegen Zahlung von Steuern

entweder selbst nutzen oder anderen, untergeordneten Personen, zur Nutzung überlassen

durften. Diese Vorstellung, dass der Krone das Land zustehe und der Einzelne in Bezug auf

ein bestimmtes Grundstück nur Inhaber eines beschränkten Nutzungsrechts sein kann, gilt in

England bis heute. Der straffe Aufbau bildete die Grundlage einer gut funktionierenden

Zentralverwaltung, wobei seit 1086 die gesamten Besitzverhältnisse des Landes in einem

Reichsgrundbuch (domesday book) aufgezeichnet wurden. Die von Lehnsträgern eingehenden

Steuerzahlungen wurden von der so genannten curia regis (später scaccarium regis) geprüft.

Allerdings waren diese Ämter keine reine Prüfungsbehörden, sondern sie entschieden auch

mit dem Steuerwesen zusammenhängende Rechtsfragen, so dass diese Ämter allmählich den

Charakter eines Gerichts annahmen. Die königliche Verwaltung interessierte sich danach

mehr und mehr auch für zivilrechtliche und strafrechtliche Fragen, die zunächst aber immer

einen Zusammenhang mit fiskalischen Gründen hatte. Die curia regis beschäftigte sich daher

mehr und mehr mit privaten Rechtsstreitigkeiten. Im Laufe der Zeit wuchs die königliche

Justiz im 12. und 13. Jahrhundert zu einer allgemeinen Gerichtsbarkeit von breitem Zuschnitt

heran. Dies führte dazu, dass sich aus der curia regis nach und nach drei ständige, mit

Berufsrichtern besetzte, auch ohne die königliche Anwesenheit funktionsfähige

Zentralgerichte mit Sitz in Westminster entwickelten. Damit war eine Entwicklung

eingeleitet, die im Laufe der folgenden Jahrhunderte zu einer starken Zentralisierung der

Justiz und zu einer fortschreitenden Vereinheitlichung des in England geltenden Rechts

Page 37: I. Begriff der Rechtsvergleichung

37

geführt hat. Die Rechtsprechung, die von den lokalen Gerichten der Städte und Feudalherren

ausgeübt wurde, ging in ihrer Bedeutung immer mehr zurück. Der Grund dafür lag darin, dass

die Richter das königsgroße Ansehen genossen und aus königlicher Autorität heraus

handelten. Zudem, weil die Verfahren der Königsgerichte wie auch die von der königlichen

Justizverwaltung gewährten Klagen moderner und fortschrittlicher waren als die der örtlichen

Gerichte. Gemeinsam mit dem Vordringen der königlichen Gerichte ging die allgemeine

Zurückdrängung der noch aus angelsächsischer Zeit überkommenen Rechtsgewohnheiten. So

ist in England schon sehr früh ein einheitliches – und aus diesen Gründen Common Law

genanntes – Recht entstanden. Eine Entsprechung findet sich in Frankreich als droit commun

francais erst im 16. Jahrhundert und in Deutschland als gemeines Recht erst im 19.

Jahrhundert. Dies ist bedeutsam, weil ein wesentliches Motiv der Kodifikationsidee, nämlich

dem praktischen Bedürfnis nach Rechtsvereinheitlichung, in England nie eine Rolle gespielt

hat.

Für die englische Rechtsentwicklung ist es wichtig, dass sich das Recht entlang bestimmter

Verfahrensformen vor den Gerichten entwickelt hat. Das mittelalterliche Gerichtsverfahren

war gekennzeichnet von den so genannten writs. Ein solcher writ war ein Befehl des Königs,

mit dem er unter kurzer Kennzeichnung des Streitgegenstandes den zuständigen

Justizbeamten, Richter oder Gerichtsherren anwies, einen bestimmten Beklagten vor sein

Gericht zu laden und die Sache in Gegenwart der Parteien zu verhandeln. Solche writs wurden

auf einseitigen Antrag des Klägers ohne Anhörung der Beklagten gegen Zahlung einer

Gebühr im Namen des Königs von seinem höchsten Justizbeamten (Chancellor) ausgestellt.

Da immer wieder gleiche Sachverhalte von den Antragstellern zur Grundlage ihres

Klagebegehrens gemacht wurden, entwickelten sich für den Text der einzelnen writs sehr bald

standardisierte, in der Praxis mit charakteristischen Kurznamen bezeichnete Formen (forms of

action), in die jeweils nur noch Namen und Wohnorte der Parteien eingesetzt zu werden

brauchten. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts hatten sich in der Übung des Chancellor

ungefähr 75 feststehende writs herausgebildet, die sich im 13. und 14. Jahrhundert noch

erheblich vermehrten. Sie wurden dann in einem Verzeichnis, den registers of writs,

zusammengefasst, die unter den praktizierenden Juristen weite Verbreitung fanden. Es war

entscheidend, dass der Kläger sich vor der Einleitung des Prozesses sorgfältig überlegte,

welche Klageformel auf den gegebenen Sachverhalt passte, und ihm zur Durchsetzung seines

Klagebegehrens verhelfen konnte. Die Wahl war deshalb wichtig, weil bei der Wahl eines

falschen writs die Klage abgewiesen werden musste. Hinzu kam, dass für jedes writ

Page 38: I. Begriff der Rechtsvergleichung

38

besondere Verfahrensregeln bestanden. Dieser Umstand hat es den Chancellor und den

Richtern erlaubt, bestimmte writs mit modernen Beweisverfahren auszurüsten und so die

Königsjustiz für das Publikum attraktiv zu machen. Insbesondere haben die königlichen

Justizbeamten bei einzelnen Klagetypen von den allmählich als antiquiert empfundenen

Beweismethoden des Gottesurteils (z.B. durch Zweikampf) und des Reinigungseids

abgesehen und stattdessen die Tatsachen und Feststellung einer aus zwölf Geschworenen

bestehenden curie übertragen. Die Befugnis, immer neue writs zu erlassen, hatte allerdings

zum Nachteil, dass eine disziplinierte Rechtsfortbildung schwieriger wurde. Im statute of

Westminter II von 1285 machte man daher den Versuch, die Befugnisse des Chancellor und

seiner Behörde näher zu umreißen. Wesentlich war dabei, dass für Streit und Zweifelsfälle das

Parlament zuständig sein sollte.

Gegen Ende des 14. Jahrhunderts schwächte sich der rechtsschöpferische Elan der

Königsgerichte allmählich ab. Es zeigte sich, dass das Verfahren dieser Gerichte in vielen

Fällen zu schwerfällig und formalistisch, das anzuwendende Recht durch die writs starr und

zu lückenhaft war und dass die Prozesse oft wegen bestochener Zeugen oder durch

prozessuale Tricks nicht voran gingen. Es entwickelte sich daher eine Praxis, dass diejenigen,

die einen writ nicht erhalten hatten, häufig den König baten, durch königlichen Befehl eine

andere Person zu dem Verhalten zu zwingen, das durch das Gericht nicht erreicht werden

konnte. Der König pflegte solche Bittschriften zur Erledigung an seinen Chancellor

weiterzuleiten, der beurteilen musste, ob in dem betreffenden Fall dem Bittsteller „for the love

of God and the way charity“ Gnade erwiesen werden sollte. Daraus entwickelte sich

allmählich die Praxis, dass die Bittschriften unmittelbar dem Chancellor vorgelegt wurden,

dessen Entscheidungspraxis sich im Laufe der Entwicklung zu einem Komplex besonderer

Rechtsregeln verfestigt hat, die man seit dem 15. Jahrhundert und noch heute in England unter

dem Begriff „equity“ zusammenfasst. Mit der Zeit entwickelte sich bei dem Chancellor ein

besonderes Verfahren, das sich von dem der Königsgerichte erheblich unterschied.

Da es bei dem Verfahren bei dem chancellor darauf ankam zu prüfen, ob der von dem

Antragsteller erhobene Vorwurf eines unmoralischen und gewissenlosen Verhaltens zu Recht

bestand, spielten die formalen Beweisregeln des königsgerichtlichen Verfahrens keine Rolle:

Der Gegner des Petenten musste unter Eid dem Chancellor zu dem gesamten Sachverhalt

Rede und Antwort stehen. Über alle Tatsachen und Rechtsfragen entschied der Chancellor

ohne Beteiligung einer Jury. Dadurch entwickelte sich ein ganz neues Rechtssystem, das die

Page 39: I. Begriff der Rechtsvergleichung

39

Grundlage für das heute englische Verfahren zur Findung von Recht darstellt. Im 16.

Jahrhundert entwickelte sich die equity-Praxis mehr und mehr nach bestimmten Regeln und

Doktrinen, auf die der Chancellor bei ähnlichen Sachverhalten immer wieder zurückgriff. Als

man gegen Ende des 16. Jahrhunderts damit begann, die Entscheidungen des Chancellor

regelmäßig zu veröffentlichen, dauerte es nicht mehr lange, bis er sich an seine Präjudizien

ebenso gebunden fühlte wie die Richter der ordentlichen Gerichte an die ihren. Die

Verselbstständigung der Tätigkeit des Chancellor führte dazu, dass ein besonderer Court of

Chancery gebildet wurde, dem ab 1730 nicht nur der Chancellor, sondern auch sein

ranghöchster Untergebener, der master of the rolls, angehörte. Im 18. Jahrhundert waren die

vom Court of Chancery angewandten Rechtsregeln, die in ihrer Summe equity genannt

wurden, in gleicher Weise kasuistisch verfestigt wie auch die Regeln des Common Law.

Unter equity ist daher nicht nur ein Komplex allgemeiner Billigkeitsgrundsätze, sondern ein

Teil des materiellen Rechts zu verstehen, das sich von sonstigem materiellen Recht dadurch

unterscheidet, dass es in der Rechtsprechung eines besonderen Gerichts, nämlich des Court of

Chancery, entwickelt worden ist. Aus der equity-Rechtsprechung sind eine Reihe von

Rechtsbehelfen entwickelt worden, die auch das Common Law beeinflusst haben. Eine

besondere Bedeutung hat dabei der vorläufige Rechtsschutz durch so genannte injunctions

gespielt. Damit hatte der Chancellor die Möglichkeit, bestimmte Rechtsfragen zu klären,

bevor durch einen tatsächlichen Akt die Grundlage für die Klärung entfallen ist. Die equity-

Regeln befanden sich allerdings nicht im offenen Widerspruch zum Common Law und

verdrängten es nicht. Vielmehr kann man sagen, dass das equity-Recht gleichsam nur

Marginalien, Glossen und Zusätze zum Common Law enthielt, die allerdings manchmal von

größerer Wichtigkeit waren und die Regeln des Common Law insoweit ergänzten. Es gilt die

Faustformel, dass man sich das englische Recht zwar ohne equity, aber nicht ohne Common

Law vorstellen kann.

Im Rahmen des Common Law und des equity wurden dann die jeweiligen Rechtsprobleme,

die im zivilen Leben auftraten, zunächst nach Auffassung des jeweiligen Richters und dann

nach der Tradition bereits entschiedener Fälle fortentwickelt. Um Rechtssicherheit zu

erzeugen, galt die strikte Bindungswirkung an vorhergehende Entscheidungen. Um von einem

früheren Fall abweichen zu können, musste dem Gericht gezeigt werden, dass der konkrete

Fall entweder im Sachverhalt oder in der rechtlichen Beurteilung von dem Vorgängerfall

abwich (distinguishing in fact oder distinguishing in law). Diese Arbeiten wurden alsbald in

England von einem professionalisierten Berufsstand ausgeübt. Der Juristenstand hat sich in

Page 40: I. Begriff der Rechtsvergleichung

40

England bereits früh ausgebildet. Dabei fand schon früh eine Unterscheidung zwischen

denjenigen Juristen statt, die geschäfts- und rechtserfahrene Parteiberater waren, und

denjenigen, die sich auf mündliche Gerichtsverhandlungen spezialisiert haben. Die

juristischen Praktiker organisierten sich seit etwa dem14. Jahrhundert in Zünften und Gilden

(Inns of Court). Anders als auf dem europäischen Kontinent ist die Ausbildung der Juristen in

England nicht nur von den Universitäten vorgenommen worden, sondern bis in das 19.

Jahrhundert hinein hatten die Inns of Court ein Monopol in der Rechtserziehung in England.

Aus diesem Grund ergibt sich die starke praktisch-empirische Verankerung der Ausbildung

der englischen Juristen, die auf Wissenschaftlichkeit weniger Wert legten. Dies ist eine

Besonderheit des englischen Rechtssystems, weil die wissenschaftliche Deduktion, um

Gesetze auszulegen, weniger notwendig war als der praktische Umgang mit Fällen. Die bei

Gericht auftretenden Rechtsanwälte nennt man barrister und die übrigen Anwälte, die nicht

vor Gericht auftreten, sind die attorneys. Bedeutsam ist also, dass die rechtliche Entwicklung

in England von den Praktikern getragen wurde, die weit weniger ein theoretisches

Grundgerüst für das Rechtssystem suchten, sondern stets einen pragmatischen Ansatz

verfolgten. Dieser Hintergrund des englischen Rechtswesens macht verständlich, warum es in

England nie zu einer umfassenden Rezeption des römischen Rechts gekommen ist. Zwar hat

das Common Law schon seit frühester Zeit vielfältige Kontakte mit dem Civil Law gehabt,

doch ist die Entwicklung des englischen Rechts weitgehend eigenständig verlaufen. Einen

etwas stärkeren Einfluss hatte das römische Recht auf das Handels- und Seerecht ausgestrahlt,

das in das law merchant eingeflossen ist. Dabei ist allerdings zu bemerken, dass im anglo-

amerikanischen Recht Hansdelsusancen weit mehr Einfluss genommen haben als reine

römisch-rechtliche Dogmatik. Aus Sicht der Engländer wird das Common Law von dem

Gedanken getragen, dass es seiner wesentlichen Funktion nach auf die Gewährleistung von

Freiheit angelegt ist und damit die – auf dem europäischen Kontinent der Verfassung

zugewiesene – Aufgabe erfüllt, den Bürger vor Zugriffen einer absoluten Obrigkeit zu

schützen.

Im Gegensatz zu den anderen Staaten in Europa hatte die Napoleonische Epoche kaum einen

direkten Einfluss auf das Rechtssystem. Indirekt führte der ökonomische Niedergang in

Europa nach der Napoleonischen Zeit allerdings dazu, dass das dahin bereits weit entwickelte

englische Wirtschaftssystem in eine Krise kam, die zu erheblichen sozialen Missständen

führte. Rechtlich reagierte man darauf, dass soziale Reformen eingeführt wurden (the age of

reform). Der geistige Vordenker dieses Zeitalters ist der Jurist Jeremy Bentham (1748-1832).

Page 41: I. Begriff der Rechtsvergleichung

41

Er war der führende Kopf jener Denkrichtung, die die überlieferten Institutionen der

Gesellschaft kritisch darauf hin prüfen wollten, ob sie geeignet waren, zweckmäßig und

nützlich seien, das zentrale Ziel einer jeden Zentralordnung, nämlich „das größte Glück der

größten Zahl“ zu erreichen. Die Ansätze Benthams sind von großem Einfluss auf die

englische Rechtspraxis des 19. Jahrhunderts gewesen. Sein Ruf nach Kodifikation des

Common Law fand allerdings keinen Widerhall. Denn für den praktischen Sinn und das

Zunftsinteresse der englischen Juristen stand es außer Frage, dass man Common Law nicht

durch ein Gesetzbuch ablösen kann, das am grünen Tisch ausgearbeitet und an bestimmten

sozial-philosophischen Leitvorstellungen orientiert ist. Allerdings haben die Vorstellungen

von Bentham einen wichtigen Einfluss auf die Kodifikation von Einzelgesetzen, die sich nach

und nach auch in England durchsetzten, gehabt. Eine der ersten und wichtigsten Kodifikation

ist der Judicature Act von 1873, der 1875 in Kraft getreten ist und der eine große Prozess- und

Gerichtsverfasssungsreform beinhaltet. Die zahlreichen bis dahin ganz unverbunden

nebeneinander stehenden Gerichte wurden nun unter dem Dach eines einheitlichen Supreme

Court zusammengefasst, der aus dem High Court of Justice und dem Court of Appeal besteht.

Innerhalb des High Court wurden mehrere Abteilungen gebildet, von denen jede auf

Rechtsstreitigkeiten spezialisiert ist, die früher in die ausschließliche Zuständigkeit eines

selbstständigen Gerichts oder mehrerer solcher Gerichte fielen. Dabei spielen die Queen’s

bench Division und die Chancery Division die größte Rolle. Der zweite wesentliche Schritt

der Reform bestand darin, dass sie eine Verschmelzung der Rechtsmassen des Common Law

und der equity bewirkt hat. Darunter ist zu verstehen, dass alle Abteilungen des High Court

ebenso wie der Court of Appeal sämtliche Regeln und Grundsätze des englischen Rechts –

ohne Rücksicht darauf, ob sie at law oder in equity entwickelt worden sind, in gleicher Weise

anzuwenden haben.

Das materielle Recht ist im19. Jahrhundert durch gesetzgeberischen Eingriff stärker als je

zuvor verändert worden. Hervorzuheben sind neben dem Judicature Act der Bill of Exchange

Act (1882), der Partnership Act (1890) und vor allem der Sale of Goods Act von 1897. Diese

Gesetze haben sich allerdings nicht so verstanden, dass sie Recht neu schaffen wollten,

sondern sie verstehen sich als geordnete Zusammenfassung bereits bestehender, in der

Gerichtspraxis entwickelter Regeln des Common Law. Daher ist es zulässig, bei Zweifeln

über den Inhalt einer Vorschrift auf die Gerichtsentscheidung zurückzugreifen, die vor dem

Inkrafttreten dieser Gesetze erlassen worden ist. In jüngerer Zeit haben sich auf modernen

Gebieten, wie der Sozialgesetzgebung, auf der es früher kein case law gab, eigenständige

Page 42: I. Begriff der Rechtsvergleichung

42

Kodifikationen entwickelt. Zudem hat das Europarecht bewirkt, dass die scharfe Trennung

zwischen state law und statute law immer mehr verwischt wurde. Gleichwohl bestehen

grundlegende Unterschiede zwischen dem englischen und Civil Law.

Eine der wichtigsten Unterschiede des Rechts besteht in der rechtlichen Arbeit am Fall.

Kontintal-europäische Jusristen suchen durch die Auslegung von Gesetzen und einer

deduktiv-wissenschaftlichen Argumentation den Richter davon zu überzeugen, dass ein

bestimmter Sachverhalt unter einen gesetzlich geregelten Tatbestand fällt. Im englischen

Recht fällt diese Technik aufgrund des fehlenden Gesetzesrechts weg. Daher ist es im

Grundsatz für die Rechtsanwendung in England wichtig, so genannte Präzedenzfälle zu

finden, also Fälle, deren Sachverhalt mit dem tatsächlich nun zur Entscheidung anstehenden

Sachverhalt vergleichbar ist. Wegen der Bindungswirkung an vorhergehende Urteile muss das

Gericht dann den Fall entsprechend entscheiden wie den früheren. Diese Bindungswirkung

nennt sich Stare Decises-Doctrine. Sie besagt, dass jedes untergeordnete Gericht an die

eigenen Entscheidungen und an die Entscheidungen der übergeordneten Gerichte gebunden

ist. Auch eine Bindungswirkung der oberen Gerichte an untere Gerichte kann im Einzelfall

bestehen. Die Kunst der Rechtsanwendung im englischen Recht besteht dann darin, den

Richter davon zu überzeugen, dass der vorliegende Fall in bestimmter Hinsicht doch von dem

vorherigen Fall abweicht. Diese Abweichung kann bestehen in tatsächlicher Hinsicht oder in

rechtlicher Hinsicht. Die Technik, dieses herauszuarbeiten, nennt sich distinguishing, wobei

man unterscheidet zwischen distinguishing in fact und distinguishing in law. Bei dem

distinguishing in fact zeigt man, dass sich die Tatsachen unterscheiden, so dass die

Rechtsfolge auch nicht identisch sein darf; beim distinguishing in law wird gezeigt, dass trotz

eines gleichen Sachverhalts aufgrund bestimmter Besonderheiten die rechtliche Bewertung

anders lauten muss. Zentrale Bedeutung hat im englischen Recht das so genannte pleeding,

also das Vortragen vor dem Richter. Ganz anders als z.B. im deutschen Recht hat der Richter

im englischen Recht nicht die Aufgabe, den Sachverhalt so zu ermitteln, dass er von Amts

wegen zu einer Entscheidung kommen kann, sondern es ist Sache der Parteien, alle Umstände

vor Gericht darzulegen, die notwendig sind, damit der Richter eine Entscheidung fällen kann.

Aus diesem Grund hat die praktisch-rhetorische Ausbildung in England einen viel größeren

Stellenwert als in Deutschland, wo es auf den Vortrag bei Gericht nicht in dem gleichen Maße

ankommt.

Page 43: I. Begriff der Rechtsvergleichung

43

Die Verbreitung des Common Law

Das Common Law hat durch das Commonwealth eine sehr starke Verbreitung in der Welt

gefunden. Die Verknüpfung mit den jeweiligen früheren Commonwealth Staaten macht sich

insbesondere daran deutlich, dass auch heute noch in vielen Staaten das höchste Gericht zur

Entscheidung bestimmter Fragen in London sitzt.

Zentrale Bedeutung für die Rechtswelt hat die Rezeption des englischen Common Law im

US-amerikanischen Recht gewonnen. Von den Wurzeln her ist das US-amerikanische Recht

ähnlich aufgebaut wie das englische Recht, doch hat das US-amerikanische Recht eine

erhebliche eigenständige Entwicklung genommen. Diese Entwicklung ist gekennzeichnet

durch das Bundesstaatensystem und dem gewissen Wettbewerb der Rechtssysteme in den

einzelnen Bundesstaaten. Zudem hat sich die Kodifikationsidee in den USA stärker

durchgesetzt, weil keine entsprechende Tradition der Juristenschaft wie in England in den

USA bestand. Auch das Gerichtssystem ist zwar vom Grundsatz her in den USA vergleichbar

mit dem in England, doch weicht es mittlerweile stark von diesem ab. Aus diesem Grund

kann man zwar von einem anglo-amerikanischem Recht sprechen, doch wäre es genauer, das

englische Recht und das US-amerikanische Recht genau voneinander zu trennen, weil sie im

Wesentlichen nur die Wurzeln gemein haben.

Der nordische Rechtskreis

1. Allgemeines

Häufig wird der nordische Rechtskreis bei der Rechtsvergleichung nicht betrachtet. Das ist

allerdings ein Fehler, denn der nordische Rechtskreis hat Besonderheiten, die sich sonst in den

übrigen Rechtskreisen nicht oder nicht in dem Maße finden. Das nordische Zivilrecht wirft

zunächst die Frage auf, ob es sich um „Common Law“ handelt oder ob es eher „Civil Law“

ist. Aufgrund der geringen Rolle des römischen Rechts in Skandinavien gibt es nämlich im

Wesentlichen keine zusammenfassende Zivilrechtskodifikation wie den „Code Civil“ oder das

BGB. Zugleich basiert das nordische Recht allerdings auch nicht auf einer

Rechtsprechungstradition wie z.B. in England.

Page 44: I. Begriff der Rechtsvergleichung

44

Das nordische Recht umfasst das Recht Islands, Finnlands, Norwegens, Schwedens und

Dänemarks. Der Grund für die einheitliche Entwicklung des Rechts in diesen Staaten liegt

darin, dass sie in der Geschichte immer wieder untereinander, wenngleich in verschiedenen

Konstellationen, verbunden waren. So bildeten beispielsweise Dänemark, Norwegen und

Schweden die Kalmarer Union (1397-1523). Finnland war lange Zeit Teil des schwedischen

Königreiches, und die westskandinavische Staatengruppe (Island, Norwegen, Dänemark)

stand lange unter der Vorherrschaft Dänemarks.

In den nordischen Staaten herrschte früher ein altgermanisches Recht, das aber durchsetzt

wurde von örtlichen skandinavischen Entwicklungen. Ab ca. dem 12. Jahrhundert wurde

vereinzelt lokales Recht aufgeschrieben, und im 14. Jahrhundert wurden in Schweden das

erste Mal diese lokalen Rechtssammlungen zu einem einheitlichen Landrecht vereinigt. In

Dänemark fand in einem gewissen zeitlichen Abstand dieselbe Entwicklung statt. Unter

König Christian V. wurde 1683 das für die nordischen Staaten bedeutende „Danske Low“

verabschiedet. Es schloss sich daran das „Norske Lov“ in Norwegen an. Sowohl das dänische

als auch das norwegische Sammelwerk war in sechs Bücher eingeteilt, die aber den gesamten

Rechtsbereich umfassten und nicht nur auf das Zivilrecht beschränkt waren. Im Einzelnen

wurde geregelt:

Rechtspflege

Geistlichkeit

Weltlicher Stand, Handel, Eherecht

Seerecht

Übrige Vermögensrechte und Erbrecht

Strafrecht

1734 wurde in Schweden eine ähnliche Gesetzessammlung erlassen, das „Sveriges Rikes

Lag“. Diese Sammlung umfasste ca. 1300 Vorschriften. Sowohl das Gesetzeswerk in

Dänemark/Norwegen als auch das in Schweden sind einfach, anschaulich und in volkstüml

sich kaum theoretische Verallgemeinerungen.

Obwohl die Rechtsentwicklung in den nordischen Staaten eigenständig verlief, so findet sich

doch eine Verbindung zur Entwicklung in Deutschland. Diese Entwicklung vollzog sich

entlang der Universitäten in Deutschland, da viele nordische Rechtsgelehrte ihre Studien in

Page 45: I. Begriff der Rechtsvergleichung

45

Deutschland, insbesondere an den protestantischen Universitäten aufnahmen. Dies hatte eine

wichtige Folge, vor allem in Schweden: Dort wurden die beiden wichtigsten Gerichte, der

„Svean Hofrätt“ durch Berufsrichter besetzt, die in Deutschland römisches Recht studiert

hatten und dadurch die Rechtsentwicklung in Schweden davon ausgehend in den nordischen

Ländern beeinflussten. Allerdings hatte das römische Recht hauptsächlich Einfluss in den

Bereichen des Vergaberecht, des Bürgerschaftsrechts, des Gesellschafts- und Konkursrechts.

Trotz dieser Entwicklung findet man im schwedischen Gesetzbuch von 1734 allerdings keine

Einflüsse römischen Rechts. Aufbau, Stil, Sprache und die Kasuistik knüpfen in diesem Werk

an alte schwedische Traditionen an.

Sowohl das dänisch/norwegische Gesetzbuch von 1683/1687 als auch das schwedische

Gesetzbuch von 1734 sind bis heute nicht formal aufgehoben. Die meisten Regelungen sind

jedoch ersetzt worden durch ein modernes Recht. Auch in Skandinavien hatte die

Französische Revolution einen großen Einfluss auf das politische Denken. Es darf nicht

übersehen werden, dass trotz der relativ fortschrittlichen Rechtstradition die nordischen

Länder zum Teil sehr konservative absolutistische Herrschaftssysteme hatten. Die

Französische Revolution führte dazu, dass 1826 ein Vorschlag zur Schaffung eines

Zivilgesetzbuches für die nordischen Länder ähnlich dem „Code Civil“ vorgelegt wurde.

Diese Kodifikation hat sich aber nicht durchsetzen können, sondern es sind nur einige

Gedanken daraus durch die Rechtsprechung realisiert worden.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts findet eine noch stärkere Zusammenarbeit der nordischen

Staaten bei der Gesetzgebung statt. 1872 wurde die Versammlung skandinavischer Juristen in

Kopenhagen gegründet. Diese Versammlung skandinavischer Juristenentwickelte eine ganze

Reihe von Einzelrechten, die für den ganzen nordischen Raum gelten sollten. So wurde 1880

in allen nordischen Staaten ein Wechselrecht eigeführt, es folgten 1880 ebenfalls Regeln über

das Handelsregister, die Firma und Scheckrechte. 1891/93 wurde das Seerecht kodifiziert.

Das Projekt eines einheitlichen ZGB wurde 1899 wieder aufgenommen, doch es gibt nur

einen Entwurf eines Gesetzes über den Kauf beweglicher Sachen. Dieser Entwurf wurde in

Schweden 1905, in Dänemark 1906, in Norwegen 1907 und in Island 1922 umgesetzt. Diese

Kodifikation zeichnet sich durch Klarheit und Praxisbezug aus, so dass viele Regelungen

dann als Vorbild für das moderne UN-Kaufrecht dienten. Zwischen 1915 und 1918 trat in den

einzelnen nordischen Staaten das Gesetz über Verträge und andere Rechtsgeschäfte auf dem

Gebiet des Vermögensrechts in Kraft. Inhaltlich entspricht dieses Gesetz dem allgemeinen

Page 46: I. Begriff der Rechtsvergleichung

46

Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches. Darüber hinaus finden sich nur noch in Einzelfragen

gemeinsame Kodifikationen. Die anderen Fragen werden anhand der allgemeinen durch die

Rechtsprechung entwickelten Regeln gelöst.

2.

Die typischen Merkmale der nordischen Gesetzgebung im Bereich des Zivilrechts sind die

Nüchternheit und Klarheit der Regeln und ein praktischer Bezug. Dieser Ansatz wird auch

skandinavischer Realismus genannt. Die Besonderheit im nordischen Recht liegt in der

Mentalität der Skandinavier, die weniger auf Auseinandersetzung und Streit als auf

Kompromiss und den Sinn für das in der Realität Machbare beruht. In einer Gesellschaft, in

der es weniger darum geht, wer Recht hat, bedarf es auch eines ganz anderen Ansatzes zur

Gestaltung von Recht. In Skandinavien wird in einem viel größeren Umfang auf

Streitvermeidung Wert gelegt als auf die dann entstehende Streitentscheidung.

Mit der Zeit wurde in Skandinavien auf anderen, eher handelsrechtlich geprägten Gebieten,

das Recht vereinheitlicht. Auf der Grundlage der gemeinsam kodifizierten Gesetze hat sich

dann ein einheitliches skandinavisches Vertragsrecht entwickelt. Allerdings ist auch ein

weiterer Versuch 1948 gescheitert, ein skandinavisches Zivilgesetzbuch zu entwickeln.

Vielmehr wird das Zivilrecht in Skandinavien durch Richterrecht, mit Analogien und

Rechtsfortbildung entwickelt. Die Rechtsvereinheitlichung wird durch des sog. „Nordischen

Rat“ gewährleistet, der 1952 eingerichtet wurde. Dieser „Nordische Rat“ sorgt dafür, dass

eine Rechtsvereinheitlichung in Skandinavien stattfindet, die allerdings darauf Rücksicht

nimmt, dass es in Skandinavien viel weniger eine Streitkultur gibt als in den anderen

europäischen Ländern.