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SEP.14 Im Rhythmus II

Im Rhythmus II - loopzeitung.ch€¦ · Don McLean, «Ameri-can Pie». Die ersten beiden Lieder braucht nie-mand, also setzt man die Nadel vor dem dritten Song in die Rille. Was folgt,

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SEP.14

Im Rhythmus II

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EINSCHLAUFENDer Kühlschrank, der hinter mir steht, hält mir den Rücken frei. Viel mehr ist nicht geblieben. Ein paar Kugelschreiber, eine leere Flasche Sassi-caia und ein paar Erinnerungen. Und es sind die-se Erinnerungen, die unsere Leben quantifizieren und mit einem Rhythmus unterlegen. Jahre, Tage, Orte, Menschen, Situationen, an die man immer wieder gerne zurückdenkt, selbst in dunkelsten Momenten, wenn alle Hoffnung unwiederbring-lich entwichen scheint und die eigene Existenz zu einer endlosen Aneinanderreihung von Niederla-gen verkommen ist. Zu einem Hank-Williams-Medley. Zu einer winzigen Ruine.Man sitzt ratlos am Küchentisch und hängt selt-samen Gedanken nach. Doch dann legt man eine Platte auf, die man sich seit einer halben Ewigkeit nicht mehr angehört hat. Don McLean, «Ameri-can Pie». Die ersten beiden Lieder braucht nie-mand, also setzt man die Nadel vor dem dritten Song in die Rille. Was folgt, ist eine der eindrück-lichsten Songsequenzen für die Erschütterten und Erschütterbaren: «Vincent», «Crossroads», «Winterwood» und «Empty Chairs». Kleine Ma-nifeste der Melancholie von ewiger Gültigkeit. Der leise Soundtrack für Nächte ohne Schlaf und Hoffnung. Bevor einen das Leben wieder zurück an den Schreibtisch zwingt, wo sich die Erinne-rungen einstellen.Rückblende. Spätsommer 2004. New York City. Nach dem elend langen Einreiseprozedere die erste Zigarette draussen vor dem JFK-Flughafen.

Impressum Nº 07.14DER MUSIKZEITUNG LOOP 17. JAHRGANG

P.S./LOOP VerlagPostfach, 8026 ZürichTel. 044 240 44 25, Fax. …27www.loopzeitung.ch

Verlag, Layout: Thierry [email protected]

Administration, Inserate: Manfred Mü[email protected]

Redaktion: Philippe Amrein (amp), Benedikt Sartorius (bs), Koni Lö[email protected]

Mitarbeit: Reto Aschwanden (ash), Thomas Bohnet (tb), Harald Fette (hu), Jonathan Fischer, Christian Gasser (cg), Michael Gasser (mig), Matthias Krobath (makr), Hanspeter Künzler (hpk), Tony Lauber (tl), Mathias Menzl, Benjamin Muschg (bmu), Philipp Niederberger, David Sarasin, Adrian Schräder, Martin Söhnlein, Miriam Suter (mim), Linus Volkmann

Druck: NZZ Print, Schlieren

Das nächste LOOP erscheint am 25.9.2014 Redaktions-/Anzeigenschluss: 18.9.2014

Ich will ein Abo: (Adresse)10 mal jährlich direkt im Briefkasten für 33 Franken (in der Schweiz).LOOP Musikzeitung, Langstrasse 64, Postfach, 8026 Zürich, Tel. 044 240 44 25, [email protected]

Betrifft: Das wahre Leben in traurigen Kreisen

Das Gepäck wird im Kofferraum des gelben Taxis verstaut, die Fahrt nach Manhattan kostet eine grosse Handvoll Dollars, der Fahrer bemüht sich pflichtbewusst, dem Klischee zu entsprechen. Ein schnoddriger Profi, der uns ziemlich zielsicher ins Village fährt. Zu netten Freunden, die am Rande des Meatpacking Districts ein grosszügig bemes-senes Apartment bewohnten.Im gleichen Gebäude wohnte zu jener Zeit auch REM-Sänger Michael Stipe, den man hin und wieder im Fahrstuhl antraf. Etwas weiter die Strasse runter befanden sich die einschlägigen Folk-Clubs aus den Sechzigerjahren und die White Horse Tavern, die jeder Dylan-Thomas-Leser natürlich kennt. Und auch das Chelsea Ho-tel liess sich locker zu Fuss erreichen.Das alles ist jetzt genau 100 «Loop»-Ausgaben her. Damals arbeiteten wir an einer Nummer zu Leonard Cohens 70. Geburtstag. Für das Cover hatte der grossartige Comiczeichner Andy Fischli ein Porträt des Poeten gemalt, doch das Zeitma-nagement war ein wenig wirr, also musste noch ein wenig Arbeit mitgenommen werden. Den-noch blieb Zeit für einen Ausflug ins CBGB’s. Der legendäre Punk-Schuppen ist inzwischen längst geschlossen. Und mit Schlagzeuger Tommy ist vor kurzem auch der letzte echte Ramone ver-storben. So schliessen sich Kreise. Traurige Krei-se, die unsere Leben durchziehen.

Guido Ramone

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Die Geschichte des Drumcomputers han-delt von Emanzipation und Abhängigkeit, von der Suche nach Authentizität und dem Entdecken abstrakter Künstlichkeit.Am Anfang war die Stille. Dann kam das Rauschen. Weisses Rauschen, das sämtliche Frequenzen gleichsam demokra-tisch enthält. Filtert man dieses Signal – senkt also einzelne Frequenzen ab – und legt eine schnelle Hüllkurve darü-ber, entsteht ein perkussiver Klang, der entfernt an Snare, Hi-hat, Cymbal oder Shaker erinnert. In Kombination mit einer Sinuswelle lassen sich auch tonale Instrumente nach-bilden: Bassdrums, Toms, Bongos, Congas. Ein Sequenzer steuert schliesslich die Klänge an – und schon war sie da: die Rhythmusmaschine, die bald sämtliche Schlagzeuger und Perkussionisten ins Elend stürzen sollte.Das jedenfalls war die Idee Anfang der Dreissigerjahre. Leon Theremin erschuf das Monstrum Rhythmicon, einen mehr-kanaligen Sequenzer, der gleichzeitig 16 Rhythmusspuren wiedergeben konnte. Aufgrund seiner komplizierten Bedie-nung geriet das Instrument bald wieder in Vergessenheit. Das Prinzip aber überlebte den Synthesizerpionier; die analoge Tonerzeugung fand später Eingang in unzählige Heimorgeln, und einfache Rhythmusmaschinen waren noch bis Ende der Achtzigerjahre als Bausatz für Elektrotüftler und Hobbymu-siker erhältlich.

TAKTGEBER FÜR PUNK UND TECHNO

Die Geräte waren in den seltensten Fällen programmierbar. Mit standardisierten Rhythmen wie March, Polka, Rumba, Tango oder Bossa Nova wandten sich die Hersteller un-missverständlich an Heimmusikanten und Alleinunterhalter. Klanglich unterschieden sich die Instrumente voneinander marginal. In der Rockmusik wurden Rhythmusmaschinen in den späten Sechzigern gelegentlich von Avantgarde-Bands

BOING! BUM! TSCHACK!wie Pink Floyd und Can verwendet – in einem, sagen wir mal, sehr experimentellen Kontext. Kraftwerk bastelten an ihren eigenen Klängen, doch es war ausgerechnet die Punk-Bewegung beziehungsweise deren Ausläufer, die die Rhyth-musmaschine populär machten.Neben der Musik war Punk vor allem ein Imperativ: Mach, was du willst, aber mach es selbst! Viele der jungen Wilden beherrschten allerdings kaum ein Instrument, und so waren Sequenzer, Synthesizer und Drumcomputer höchst willkom-mene Hilfsmittel. Deren Technik hatte sich mittlerweile ver-bessert. Die ersten, immer noch analogen, dafür aber pro-grammierbaren Maschinen erschienen. 1980 schliesslich erblickte der von Roger Linn entwickelte Drumcomputer LM-1 das Licht der Welt, der als erster di-gitale Samples eines akustischen Schlagzeugs verwendete. Seine 8-Bit-Klänge klangen dumpf und muffig, die Kickd-rum machte allerdings ordentlich Druck, so dass er bald den Sound der frühen Achtzigerjahre prägte und von Künstlern wie Madonna, The Human League, Peter Gabriel und selbst Kraftwerk benutzte.Roland brachte ein Jahr später die TR-808 auf den Markt. Ein Anachronismus eigentlich, wurde hier doch der Sound wiederum ausschliesslich analog erzeugt, der 1983 mit der TR-909 nur leicht korrigiert wurde (Hi-hat, Cymbals und Clap waren hier gesampelt). Niemand wusste erst so recht, was mit diesen Maschinen anzustellen war, zu Klassikern wurden sie erst mit der aufkommenden Technobewegung der späten Achtziger.

MENSCH GEGEN MASCHINE

Auch HipHop wäre ohne Drumcomputer wie E-mu SP-12 oder Akai MPC 60 kaum vorstellbar. Mit der Weiterentwick-lung der Sampling-Technologie schien sich ihr Ende aller-dings schon bald anzukünden. Toningenieur Roger Nichols hatte bereits für Steely Dans High-End-Album «Gaucho» ganze Schlagzeugpatterns von Steve Gadd gesampelt und ge-loopt. Heute hingegen kann ein live eingespieltes Schlagzeug mühelos quantisiert und in seinem Tempo verändert werden. Die atemberaubenden Breakbeats der britischen Spielweisen

des Techno (Drum’n’Bass, usw.) sind allerdings bereits grösstenteils im Sampler respektive Computer selbst entstanden. Was Sequenzer und Drum-computer allerdings für alle Zeiten verändert haben, ist das menschliche Gefühl für Rhythmus. «Maschinen grooven einfach besser», be-haupteten in den Achtzigern erfolgreiche Musikprodu-zenten. Tatsächlich hat sich durch die Maschinen auch die Art und Weise, wie Men-schen Schlagzeugen spielen, verändert. Dazu braucht man sich nur den Schweizer Jojo Mayer anzuhören. Dis-co, Dance, Techno, HipHop, R’n’B, Pop: Vieles wäre ohne Drumcomputer nicht denk-bar. Ein schönes Beispiel für das Aufeinandertreffen von Mensch und Maschine ist übrigens ein Song von Phil Collins: «In the Air Tonight» plätschert sanft-bedrohlich, begleitet von einer Roland CR-78, vor sich hin, bis sich ein Schlagzeugbreak entlädt, der der Maschine noch ein-mal den Meister zeigt. In späteren Schlagzeugcompu-tern stand dieser Sound na-türlich längst in digitalisier-ter Form zur Verfügung.

Martin Söhnlein

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«ICH BEGINNE BEI NULL»Der Zürcher Spoken-Word-Pionier Jurc-zok 1001 hat eine neue EP veröffentlicht und arbeitet derzeit an einem neuen Büh-nenprogramm. Er fühle sich dem Gospel näher als dem Popsong, sagt er.Trifft man Roland Jurczok zum Gespräch, führt dieses schnell dorthin, wo es interessant wird. Deutlich und klar spricht der grossgewachsene Zürcher, mit wachen Augen. Bald über die Spoken-Word-Pioniere Last Poets, bald über Gesprächsanalyse in der Linguistik und künstliche Iden-titäten im Rap, die er, wie er sagt, längst abgestreift hat. Man diskutiert, ob das, was er schon seit fast zwanzig Jah-ren auf den Bühnen der Schweiz macht, im Ressort The-ater oder Musik einzuordnen wäre, wenn man das denn müsste. Zu einem Ergebnis gelangt man freilich nicht – und das sagt schon einiges über das Schaffen des 39-Jährigen, der aktuell gerade in einem Theater in Basel seine neue, nennen wir es: Performance, probt. Darin wird er auch die drei Stücke seiner aktuellen EP «All die Jahr» aufführen – drei Stücke im Schwebezustand, irgendwo zwischen Spo-

ken Word, Blues und Gos-pel. «Spoken Beats», la-belt Jurczok 1001, wie sein Bühnenname lautet, das, was da zu hören ist. Jeden Ton auf der EP hat der Musiker selber eingesun-gen, gehaucht, gebrummt, gesummt oder gesprochen – in Schweizerdeutsch. Werden deine Konzerte eine Art me-ditatives Erlebnis für die Zuschauer?(lacht) Nur teilweise. Die Stille war auf meiner ak-tuellen EP zwar tatsächlich ein bestimmendes Element. «Schweizerdeutscher Neo-gospel» wäre auch ein schönes Label für das, was ich darauf mache. Nein, im Ernst: Diese ruhigen Stücke repräsentieren eine Seite von mir, die mir sehr wichtig ist. Dazu gehören neben Gospel auch Einflüs-

jurczok 1001

se aus frühem Blues der 20er-, 30er-Jahre, Phil Cohran aus den 60ern. Auch zeitgenössische Musik von Arvo Pärt oder Sidsel Endresen schätze ich sehr. Dann gibt es aber auch eine ausgesprochen rhythmische Seite. Ich komme ja vom Rap. Das hört man in meinen Spoken-Word-Texten, die ich ohne Musik vortrage. Die sind sehr rhythmisch gebaut. Und in meinem aktuellen Programm spreche ich auch ganz konkrete Themen an, zum Beispiel den Streit um das «Hei-degger-Zitat» im Literaturclub des SF, das wird dann nicht so meditativ werden (lacht). Was interessiert Dich daran?Die Art und Weise, wie über Literatur am Fernsehen ge-sprochen wird. Die sprachliche Oberfläche des Ganzen. Dass Leute, deren Beruf die Sprache ist, in ein kindisches Nein-Doch-Schema verfallen. Und in diesem Fall interes-siert mich ganz konkret, was nicht gesagt wird. Daraus habe ich dann einen eigenen Text geschrieben mit dem Titel «Zitat Ende». Deine Musik hat auch etwas Gospelhaftes.Ich strebe mit meiner Musik eine Unmittelbarkeit an, die ich zum Beispiel im Gospel finde. Es geht darin weniger um die Inszenierung, sondern um diesen direkten Ausdruck. Es gibt ja viele Popsongs, die drängen einem quasi auf, wie man sich fühlen soll: traurig, verliebt, wütend, was auch immer. Dieses Aufdringliche, Durchsichtige, Absehbare mag ich nicht. Das versuche ich zu vermeiden. Auf der EP gibt es auch ein Stück namens «Clean City». Du nennst zwar den Namen nicht, doch du meinst Zürich damit.Ja, klar. Zürich hat sich in den letzten 20 Jahren extrem verändert. Die Nischen, in denen sich Künstler austoben können, sind immer weniger geworden. Alles ist kontrol-liert. Die Stadt investiert ja Unmengen Geld in die Reini-gung. Man schafft ein Strassenbild, das besonders den gut Betuchten entgegenkommt. Gleichzeitig fehlt es an Brach-land. Für die Kunst braucht es Leerstellen. Für junge Kre-ative braucht es bezahlbare Räume, wo etwas entstehen kann, das nicht sofort einen Ertrag bringen muss. «Clean City» ist aber ein sehr vielschichtiger Song. Das Saubere spielt auch auf die Drogenpolitik an... Auf der EP «All die Jahr» arbeitest Du vor allem mit Loops deiner eigenen Stimme. Wie geht das live?Ich beginne bei jedem Konzert bei null. Ich singe jede ein-zelne Spur live ein. Das macht die Auftritte für mich inter-essant. Und so kann ich auch auf das Publikum reagieren. Ich arbeite mit einem Loopsetup, das für mich program-miert wurde. Das ermöglicht mir auch, die Loops live zu arrangieren. So geht das eigentlich ganz gut. (lacht) Welche Bedeutung hat die Stimme für dich? Sie ist ja dein einziges Instrument.Laurie Anderson hat mal gesagt, jeder Mensch habe min-destens 20 Stimmen. Für mich ist sie ein unerschöpfliches Instrument. Es gibt so etwas wie «meine Stimme», aber dann auch «meine Stimmen». Damit meine ich die unzähli-gen Farben, die je nach Song und Stil ezum Ausdruck kom-men.Wenn wir dann von Spoken Word reden, stellt die Stimme eine zusätzliche Gestaltungsebene dar, die über den blossen Text hinausgeht. In einem Stück wie «D’ Wältwu-che» kommt das glaube ich sehr gut zur Geltung. Das Stück arbeitet mit Wiederholungen von einzelnen Worten. Was als Text auf dem Papier nicht sehr viel hergibt, entfaltet auf der Bühne Zeile für Zeile plötzlich eine ganz andere Wirkung.

Interview David SarasinJurczok 1001: «All die Jahr» (Masterplanet/Irascible)

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SÜCHTIG NACH LEBENPharrell Williams, der Mann mit der zar-ten Falsettstimme, macht uns alle «hap-py». Aber was macht ihn happy? Ein In-terview mit dem Star der Stunde.Wenn man derzeit das Radio andreht, liegt die Chancen bei gefühlten 50 Prozent, dass man einen Song mit seiner Beteiligung hört: Pharrell Williams ist omnipräsent. Der 41-jährige Musikproduzent aus Virginia Beach hat sich in den letzten zwölf Monaten vom Studiogenie und gelegent-lichen Sidekick endgültig zur allgemein bekannten Eigen-marke entwickelt. Stücke wie «Get Lucky» von Daft Punk, «Blurred Lines» von Robin Thicke tragen eindeutig seine Handschrift. Mit seiner eigenen Glücksbotschaft namens «Happy» hat er sich nun wohl unsterblich gemacht. Doch inzwischen steht Williams bereits für viel mehr als nur für Musik: Er ist zugleich zum Model, zum Werbeträger, zur Modeikone geworden. Wir trafen den Glücksbringer vor seinem Konzert in Montreux zum Interview.

Pharrell, ich gebe es offen zu: Ich bin süchtig nach guter Musik und gesüssten Speisen und Getränken. Haben Sie auch eine Sucht?(überlegt kurz) Ich bin süchtig nach dem Leben.

Süchtig nach Ihrem Leben? Nach dem Luxus?Nein, es geht nicht um Luxus. Ich bin süchtig nach Be-wusstsein und Erkenntnis. Ich kann nicht genug davon kriegen, jeden Einzelnen auf seine Kraft aufmerksam zu machen.

Ist es das, was Sie mit ihrem Kreativkollektiv I Am Other anstreben?Richtig. Jeder kann mindestens so viel erreichen wie ich. Jeder. Man muss einfach herausfinden, wofür man so viel Leidenschaft empfindet wie ich für die Musik.

Ihr Song «Happy» wirkt wie Medizin. Ohne dass ich das jetzt mit Zahlen bele-gen könnte: Wahrscheinlich ist der Verkauf von künstlichen Stimmungshebern seit der Veröffentlichung drastisch zurückgegangen.(weitet die Augen) Meinen Sie? Wow, das wäre fantastisch!

Wirkt er bei Ihnen selbst auch?Nun, der Song hat mich schon zum Heulen gebracht. Als ich bei Oprah Winfrey gesehen habe, wie viele andere Menschen den Song singen, hat mich das umgehauen. Das war sehr emotional für mich.

Wie fühlte sich der Moment an, an dem Sie den Song fertiggestellt hatten?Ich dachte mir: Wow, das fühlt sich gut an.

Weiss man in so einem Moment, ob daraus was wird?Nein. Man weiss nur, ob sich das für einen selber gut an-fühlt. Das heisst aber gar nichts bezüglich Erfolg.

Aber ist Ihnen der Song einfach von der Hand gegangen?Der Song wurde ja für eine bestimmte Szene in dem Film «Despicable Me 2» geschrieben. Ich habe erst lange her-umgepröbelt und neun verschiedene Versionen gemacht. Die Macher des Films haben sich dann alle Versionen angehört und mir gesagt, was sie daran mögen und was nicht. Die zehnte Version wars dann. Aber ohne ihr kriti-sches Feedback wär das alles nicht möglich gewesen.

Welches sind Ihre musikalischen Glücklichmacher?Die Songs von Stevie Wonder. Und A Tribe Called Quest.

An einem Tag wie heute, auf Tournee in der Schweiz, sind Sie da kreativ? Kom-men Ihnen da Ideen?Ja, natürlich.

Was machen Sie dann?Ich nehme sie auf mein Smartphone auf. Oder ich behalte sie einfach so lange im Kopf, bis ich wieder im Studio bin. Ideen habe ich immer, das kann ich nicht steuern. Aber

ich glaube, ich bin da nicht anders als jeder andere Mensch auch. Ich nehme an, das ist bei Ihnen nicht anders. Ich bin mir sicher, dass sie auch zu jeder Ta-ges- und Nachtzeit Ideen für Storys oder Interview-fragen haben. Genauso funktioniert das bei mir in meinem Bereich.

Wunderbar, dann könnten wir ja ge-meinsam ein Lied anstimmen!Kein Problem!

Gibt es eine künstlerische Welt, die Sie noch entdecken wollen? Das Kino vielleicht?Nein, ich jongliere eigent-lich schon mit genug Bällen. Auf der Leinwand brauchts mich nicht auch noch.

Was schafft in Ihrem Leben den Aus-gleich? Das Skateboarden?Um ehrlich zu sein: Ich bin schon seit zwei Jahren nicht mehr Skateboard gefahren. Ich hatte einfach nicht die Zeit. Ich bin immer am Ar-beiten.

Sind Sie zum Arbeiten verdammt?(lacht) Das klingt aber sehr dramatisch! Ich bin ein ganz normaler Mensch, frei in all meinen Entscheidungen. Niemand sagt mir, was ich zu tun habe. Ich liebe ein-fach meine Arbeit.

Ihr Tagesablauf sieht jeden Tag an-ders aus. Gibt es trotzdem so etwas wie einen festen Ablauf? Rituale, die sie einhalten?Nein, so etwas habe ich nicht. Klar rufe ich zum Beispiel jeden Tag meine Frau an. Aber das ist kein Pflichtprogramm, sondern etwas, dass ich einfach un-glaublich gerne mache. Mit ihr zu reden, stärkt mich.

Früher hat Ihnen ihr guter Freund Q-Tip von der Gruppe A Tribe Called Quest zu Inspirationszwecken immer mal wieder einen iPod voll mit Musik geschickt. Macht er das noch?Das hat er leider schon viel zu lange nicht mehr gemacht. Aber jedes Mal, wenn ich ihn sehe, flehe ich ihn an, das möglichst bald wieder zu tun.

Interview Adrian Schräderpharrell williams

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DIE GUTE DRÖHNUNG

Primitiv in den Mitteln, seelenvoll im Ausdruck: Die kongolesische Formation Kasai Allstars verblüfft mit handgemach-tem Techno.Kongolesischer Pop: Da denkt man an süssliche Soukous-Gi-tarren, an polierte Chorgesänge und modisch extravagante Tänzer. War es nicht gerade ihr mondäner Chic, die Anmu-tung von Luxus und Savoir-vivre, die kongolesische Sänger wie Papa Wemba zu panafrikanischen Idolen machten? Ihre glatte Tanzmusik aber repräsentiert nur eine Seite Kongos. Die Postkartenansicht. Wer durch die Quartiere von Kinsha-sa streift und durch Müllberge und mit Schlaglöchern übersä-te Schlammstrassen zum Herzen dieser Stadt vorstösst, dem wehen aus Hinterhöfen und Freiluftbars auch rauere Klänge entgegen. Ein Brummen, Scheppern, Zirpen. Von Autobatte-rien gespeiste Rückkopplungen. Der lärmende Trance-Sound von Bands wie Konono No 1 oder der Kasai Allstars. Likem-be-Orchester nennen sie sich. Likembes heissen die Finger-klaviere, deren Eisenlamellen meist aus alten Autofedern zurechtgeschmiedet werden und die sich in Kinshasa als Trä-ger durchdringender Basslinien und Obertöne durchgesetzt haben – das von Boxentürmen verstärkte Kling-Klong über-tönt selbst das Hupen der Sammeltaxis und das Aufheulen altersschwacher LKW. Europäische Plattenfirmen vermark-ten die Likembe-Orchester inzwischen unter dem Stichwort «Congotronics». Tatsächlich verdichten sich in der richtigen kollektiven Taktung die Schnarrgeräusche zur musikalischen Trance. Zum handgemachten Techno. Zu einer urbanisierten

Geisterbeschwörung, die in der drittgrössten Stadt Af-rikas ländliche Traditionen mit westlichem Elektro-Ins-trumentarium mischt.

FLÜSSIGE FUSIONEN

«Beware the Fetish», das zweite Album der Kasai Allstars, demonstriert diese hypnotisch-aufpeitschende Seite der kongolesischen Musik – und das mit einem nie da gewesenen Charme. Das ist auch Vincent Kenis zu verdanken. Denn dem Produzenten der belgi-schen Plattenfirma Cram-med Discs geht es nicht um die Konservierung von Folklore, sondern um ge-wagte Rekombinationen. Kam die Verzerrung einst als Nebenprodukt einer dem Verkehrslärm geschul-deten Elektrifizierung ins Spiel, tritt sie nun in Di-alog mit anderen lokalen Pop-Richtungen. Gleich 24 Gastmusiker ergänzen das 16-köpfige Kollektiv der Kasai Allstars.

kasai allstars

«The Chief‘s Enthronement / Oyaye» eröffnet die Platte mit einem treibenden Gitarrenriff: Ein Männerchor into-niert einen Proto-Rap, bevor Schnarrgeräusche und das Klimpern der Fingerklaviere alles in ihren Klangteppich einweben. Auf dem nächsten Stück, «Yangye, The Evil Le-opard», gelingt die Fusion noch flüssiger: klingelnde Souk-ous-Gitarren über verzerrten Likembes. Sie antworten sich, treiben sich gegenseitig an, während die Trommeln bestän-dig nach vorne schieben, harmonische Gesänge zu rhyth-mischen Anfeuerungsrufen verkürzen. Ein Sog, eine Krei-selbewegung, der sich niemand entziehen kann. Zahlreiche Jams spielen mit diesem Auf und Ab der Erregungswellen. Die Intensität hat nicht unbedingt etwas mit Lautstärke zu tun. Das zeigen gerade Vokalstücke wie «Salute To Ki-lombo». Xylofone und Schlitztrommeln, die an das Fallen dicker Regentropfen erinnern, unterfüttern Jodelgesänge. Oder «Down And Out»: Hier sind es die schrägen Call-and-Response-Kaskaden, die eine fast überirdische Schön-heit und Spannung erzeugen. Und manchmal (etwa in dem hypnotischen Geklingel von «He Who Makes Bushfire For Others») glaubt man gar, Assoziationen zu unserer Techno-Ecstasy-Kultur zu hören. Primitiver in den Mitteln. Aber seelenvoller im Ausdruck. Dabei sind die Texte – soweit sie in dem Booklet neben phantastischen Fotos der Musiker erklärt werden – durch-wegs moralischer Natur. Sie preisen die Tradition und den Wert harter Arbeit, warnen vor untreuen Ehepartnern und der Macht der Ahnen. Wie in Afrika üblich hat die Musik eine soziale, gesellschaftlich bindende Funktion. Der Sound mag Punk-Vergleiche inspirieren, doch um rebellische oder gar politisch-sozialkritische Haltungen geht es den Musi-kern nicht. Und das ist noch das kleinste der Missverständ-nisse: Denn ebenso wenig kann man hier die Fahne der Authentizität hissen – oder gar eine urwüchsige Tradition gegen die vermeintlich westliche Vereinnahmung des afri-kanischen Pop ausspielen. Sind doch die Kasai Allstars aus Angehörigen fünf verschiedener Ethnien der Region Kasai zusammengewürfelt. Das bedeutet, dass hier aus vielen traditionellen Instrumenten, fünf verschiedenen Sprachen, einer selbstgebauten Schrott-Percussion plus Do-it-your-self-Elektronik ein unerhört neuer Mix zusammengebraut wird.

KAPUTTE VERSTÄRKER, LEERE DOSEN

Bastard-Pop. Eine urbane, postmoderne Rhythmus-Walze, die alles über den Haufen rollt, was sich an herkömmli-che Songs und Arrangements klammert. Hier liegt die Faszination von «Congotronics» für westliche Musiker. Damon Albarn, Thom Yorke oder Björk hatten bereits vor Jahren das von Trommel-Chants, dem Bass-Brummen riesiger Xylofone und Rückkoppelungsschleifen begleitete Kling-Klong entdeckt. Und postulieren deren Geistesver-wandtschaft zu Lee Perry, Can oder Velvet Underground. Tatsächlich haben Fingerklavier-Orchester und westliche Avantgarde bereits mehrmals zusammengefunden. Etwa auf dem Album «Tradi-Mods Vs. Rockers: Alternative Takes On Congotronics» und einer gleichnamigen Tour im Jahre 2011. Eines der damals mit Deerhoof und Juana Mo-lina entstandenen Stücke ist auch auf «Beware The Fetish» zu hören: «The Ploughman». Angesichts der Energie, die sich entfesselt, möchte man noch mehr Rocker nach Kongo schicken. Auf einen Hinterhof irgendwo in Kinshasa, dort, wo die Pop-Musik dank Likembes, kaputten Verstärkern und leeren Dosen eine gute Dröhnung zurückbekommt.

Jonathan FischerKasai Allstars: «Beware the Fetish» (Crammed Discs).

SÜCHTIG NACH LEBEN

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AUSGABEN:

www.loopzeitung.ch

33.–

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DER VEREDLERDer amerikanische Schlagzeuger Ber-nard Purdie hat für die grossen Bands der Welt gespielt – für viele davon im Versteckten. Herr Purdie, wieso gibt es eigentlich so viele Witze über Schlagzeuger? Weil die meisten Schlagzeu-ger keine Noten lesen konn-ten. Sie wurden mehr als Handwerker denn als Musi-ker betrachtet. Das änderte sich erst in den Sechzigern, als das Schlagzeug mit der Stimme nach vorne rückte.

Haben Sie diese Witze je verletzt? Ich bin nicht mehr so leicht verletzbar. Mir geht es gut heutzutage. Red Bull schickt mich um die ganze Welt; junge Menschen in-teressieren sich für meine Arbeit, und ich verdiene Geld von Leuten, die aus meiner Musik neue kreie-ren. Worüber soll ich mich beklagen?

Vielleicht darüber, dass Ihnen nie die gebührende Anerkennung zuteil wurde? Immerhin leben einige Wel-thits von Ihrem Zutun. Sicher habe ich mich früher darüber aufgeregt. Aber mittlerweile bin ich es ziem-lich leid, dafür zu kämpfen. Ich werde bald ein Buch veröffentlichen, in dem al-les nachzulesen ist. Verletzt war ich mit Mitte 20 das letzte Mal richtig. Ich hatte damals das Gefühl, ich sei der Grösste und mir wür-de konstant Unrecht getan. Darum wurde ich hochnä-sig und begann zu prahlen. Niemand hat ein grösseres Ego als ich. Aber ich habe gelernt, es zu kontrollieren. Ich musste Bescheidenheit lernen.

Geben Sie uns schon mal einen Vor-geschmack auf Ihr Buch! Man hört so viele Gerüchte… Das sind keine Gerüchte. Alles wahr.

Sie haben also tatsächlich auf Aufnahmen der Beatles gespielt? Dazu will ich nicht zu viel sagen. Aber es stimmt, ich habe auf 21 Stücken der Beatles gespielt.

Auf Wikipedia heisst es dazu, Sie hätten die Aufnahmen für den amerikani-schen Markt schlicht mit neuen Schlagzeugspuren angereichert. Das stimmt so nicht. Lesen Sie mein Buch. Da wird drinste-hen, wo die Beweise zu finden sind. Die Auseinandersetzung mit Ringo zahlt sich für mich nicht aus.

Sie haben mit allen gearbeitet: mit Johnny Cash, mit Bob Dylan, mit James Brown, mit Aretha Franklin. Wer hat am meisten Eindruck hinterlassen? Alle haben Eindruck hinterlassen. Dass die mich angerufen haben und etwas von mir wollten, war für mich unglaublich. Ich dachte mir immer: «Das sind doch ganz grosse Namen, was können die von mir wollen?» Bis wir dann im Studio sassen und gespielt haben. Dann wurde mir bewusst: Doch, die brauchen mich.

Sie haben auch mit Bob Marley gearbeitet, richtig? Ja, ich habe auf seinen ersten beiden Alben mitgespielt. Er rauchte sehr gerne.

Sie meinen, er kiffte sehr gerne? Ja. Ich war damals für zwei Wochen in Jamaika, und der Arbeitsrhythmus war immer der gleiche: Er sass draussen vor dem Studio auf einem Stein und hat gekifft. 30 Minu-ten, eine Stunde, zwei Stunden. Dann kam er rein und wir haben in zwei oder drei Stunden vier, fünf Songs aufgenom-men. Danach hat er sich wieder auf seinen Stein gesetzt, und das Spiel begann von neuem.

In so kurzer Zeit wie Bob Marley zum Resultat zu kommen, ist Steely Dan nicht gelungen. Richtig. Mit ihnen haben ich manche Stücke 90-mal aufge-nommen. Sie sind Perfektionisten – genau wie ich.

bernard purdie

Sie wurden irgendwann Spezialist dafür, bestehende Aufnahmen zu reparieren oder zu verbessern. Wie funktioniert das? Man fügt vorsichtig ein paar weitere Schlagzeugspuren hinzu und versucht so, dem Stück auf die Beine zu helfen.

Heisst das, all diese grossen Bands, all diese grossen Künstler hatten schlech-te Schlagzeuger? Zu jener Zeit war das so, ja. Ich sollte es vielleicht anders sagen: Schlagzeuger, die nicht daran interessiert waren, sich voll auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Ich war da, um den Groove zu verbessern.

Gibt es den Job des Veredlers noch? Ja. Für mich schon. Nur bearbeite ich heute nicht mehr 50 Aufnahmen pro Jahr, sondern 10 bis 15. Aber ich arbei-te nach wie vor für die grossen Labels und verdiene heute mehr damit als damals. Denn heute ist auch meine Mei-nung als Produzent gefragt.

Was wäre zu finden auf einer Zusammenstellung der besten Stücke mit Ihrer Beteiligung? Ziemlich viel von Aretha, Stücke wie «Respect», «Until You Come Back To Me» oder «Day Dreaming». Dazu noch zwei, drei Songs von Steely Dan. Aber eigentlich ist die Liste endlos.

Ist das Schlagzeug das wichtigste Instrument? Aus meiner Sicht schon, klar. Der Schlagzeuger steuert den Bus. Er muss die ganze Fracht tragen. Aber zugleich ist er nicht wichtiger als der Bassist. Der Schlagzeuger braucht den Bassisten, um zu überleben. Und so brauchen wir in einer Band alle jemanden, der uns unterstützt.

Interview Adrian Schräder

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EINE EINZIGARTIGE ERSCHEINUNG

Nneka ist einer der wenigen afri-kanischen Popstars von globaler Ausstrahlung. In ihren Liedern singt sie gegen Korruption und Unterdrü-ckung, und abseits der Bühne en-gagiert sich die Sängerin mit ihrer eigenen Non-Profit-Organisation für Kinder- und Frauenrechte. Es begann mit diesem Video. Eine Sängerin steht ne-ben einem Schlagzeuger auf einer Kreuzung irgend-wo in Afrika. Das Lied hebt an als eine Art Reggae, im Refrain startet der Drummer ein Stakkato gebro-chener Beats und die Sängerin wiederholt in Pidgin-English die Silben: «Ca-han-han you fee-heel-heel my Ha-Ha-Ha-Ha Heart is beating». «Heartbeat» war nicht Nnekas erste Veröffentlichung. Aber jene, die ihr alle Tore öffnete, denn sie brachte Musikerkollegen auf den Geschmack. Lenny Kravitz, The Roots und der Rapper Nas nahmen die Neuent-deckung mit auf Tourneen, die sie durch ganz Euro-pa und halb Amerika führten. Und die stets für einen Hype zu habende englische Musikpresse rief die Nige-rianerin umgehend zur neuen Lauryn Hill aus.

EIN POPSTAR VON GLOBALER REPUTATION

Doch Nneka Egbuna ist mit ihrer Mischung aus Soul, Reggae, HipHop und Afrobeat eine einzigarti-ge Erscheinung im Musikbusiness. Geboren und auf-gewachsen ist sie als Tochter eines Nigerianers und einer Deutschen in Warri, einer Stadt im Nigerdelta. Als Teenager kam sie nach Deutschland, wo sie zu-nächst in einem Kinderheim lebte. Später startete sie in Deutschland ihre musikalische Karriere, mittler-weile lebt sie aber wieder in ihrem Heimatland und ist ein Popstar von globaler Reputation. Daheim dauerte es eine Weile, bis sie als Musike-rin wahrgenommen wurde, mittlerweile laufen ihre Songs aber im nigerianischen Radio. «Und ich war in der Jury von ‹Nigerian Idol›, das hat Spass ge-macht», erzählt sie im Telefoninterview. Nneka in einer Casting-Show, das erstaunt, denn sie steht mehr für Engagement als für Bling-Bling. In ih-ren Songtexten spricht sie politische Themen an, er-zählt von Korruption und Umweltverschmutzung im Nigerdelta. Im Titelstück ihres letzten Albums «Soul Is Heavy» stellt sie sich explizit in die Tradition der nigerianischen Bürgerrechtler Isaac Boro und Ken Saro-Wiwa. Auch abseits der Musik engagiert sich die 33-Jährige für Freiheit und Selbstbestimmung. Zusammen mit dem liberianischen Musiker Ahmed Nyei betreibt sie die Non-Profit-Organisation Rope, die Jugendlichen und Frauen ermöglichen will, mit künstlerischen Mitteln einen Ausdruck für ihre Gefühle zu finden. «Wir Nigerianer haben nie gelernt, dass es einen Un-terschied gibt zwischen Respekt und Angst.» Unlängst hat Nneka einen Workshop in Sierra Leone geleitet für Frauen, die im Krieg Opfer von Massen-vergewaltigungen geworden waren. «Wir arbeiteten mit Mode. Viele dieser Frauen sind Schneiderinnen, also haben sie Kleider gestaltet, mit denen sie ihre Erlebnisse verarbeiteten. Die Farben symbolisierten Dinge, die sie erlebt haben, so wie auch die Muster und die Sujets, die sie auf die Kleider druckten.»

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EINE EINZIGARTIGE ERSCHEINUNG

DIE FURCHT VOR DEN OBEREN

Die Begegnung mit diesen Frauen hinterliess einen tiefen Eindruck: «Ich mache diese Arbeit gern, denn es ist ja meine Stiftung, aber ich bin doch froh, nicht jeden Tag mit diesen Themen konfrontiert zu wer-den. Ich habe meine eigenen Geschichten, mit denen ich mich auseinandersetzen muss. Aber ich bin auch Teil einer Bewegung, die für mehr Freiheit und Rech-te – gerade für Frauen – kämpft.» Politisches Engagement ist in einem Land wie Ni-geria heikel. Wer aufmuckt, muss mit Repressionen rechnen. Deshalb zögen es viele vor zu schweigen, erzählt Nneka. «Wir haben nie gelernt, dass es ei-nen Unterschied gibt zwischen Respekt und Angst. Da drückt auch noch das koloniale Erbe durch, denn unter den Weissen hatten die Nigerianer nichts zu melden. Nun regieren wir uns selber, aber wir fürch-ten die Oberen noch immer.» In einem solchen Klima ist es speziell für Frauen schwierig, ihre Rechte einzufordern. «Noch immer schauen viele auf Frauen herunter. Manche betrach-ten uns als Milchkühe, die den Haushalt machen und die Klappe halten sollen.» In den letzten 20 Jahren habe sich die Situation zwar verbessert, findet Nne-ka. «Es gibt Frauen in der Politik und bei Demonst-rationen gehen auch Frauen auf die Strasse, aber wir sind noch nicht so weit wie in Europa.» Europa brachte Nneka dahin, wo sie heute ist. «Ich wurde nicht mit einem silbernen Löffel im Mund ge-boren», betont die Musikerin, ohne auf Details ein-zugehen. Sie betont aber, in Nigeria wäre es ihr nie möglich gewesen, sich selber so zu entdecken, wie sie es in Deutschland konnte. «Ich begann erst in Deutschland, Musik zu machen und meine Stimme zu finden.» Mittlerweile hat sie mit dieser Stimme drei Alben ein-gesungen, das letzte, «Soul Is Heavy», erschien vor drei Jahren. Es wäre also Zeit für neues Material. «Wie meinst du das?», fragt sie am Telefon.

ES GIBT WICHTIGERES ALS BUSINESSPLÄNE

Nun ja, bei Konzerten möchte man halt nicht un-bedingt immer die gleichen altbekannten Songs hö-ren. Sie lacht: «Keine Bange, es wird ein paar neue Nummern geben und wir spielen auch ältere Sachen, die wir bisher nicht live gebracht haben.» Ein neues Album wäre eigentlich bereits eingespielt, sagt die Sängerin. «Wenn es nur nach mir ginge, wäre die Platte längst raus, aber ich arbeite nun mal mit einer grossen Firma zusammen.» Beklagen will sie sich aber nicht, denn in Nnekas Welt gibt es wichtigeres als Businesspläne. Sie spricht offen über ihren Glauben und ist überzeugt: «Musik ist das, was Gott für mich vorgesehen hat.» Nicht, dass sie frömmeln würde, aber sie glaubt «an den spirituellen Aspekt, innerhalb dem, was wir tun.» Was das bedeutet? «Du musst verstehen, warum die Dinge sind, wie sie sind und eine Beziehung zu den Dingen um dich herum herstellen. Wenn ich von Freiheit und Veränderungen rede, dann muss ich Teil davon sein. Das fängt bei dir selber an: Was isst du? Wie wohnst und lebst du? Wie behandelst du die Leute um dich herum? Woran glaubst du? Es gab eine Zeit, da fühlte ich mich manchmal als Heuchle-rin: Ich stand auf der Bühne und erzählte den Leuten etwas, aber selber habe ich nicht danach gelebt.» Heute aber scheint Nneka mit sich im Reinen zu sein. Sie lebt, was sie predigt – und das macht sie als Sängerin ungemein überzeugend.

Reto AschwandenDieser Artikel erschien ursprünglich in der «TagesWoche».

nneka

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SZENE

Fr. 29.8.14 Clubraum 22:00Enter The Dancehall

TANYA STEPHENSNick Widmer, Slechmann

Do. 11.9.14 Aktionshalle 20:30Sugarshit Sharp

KING BUZZO / PHILMMelvin‘s Buzzo solo - Dave Lombardo‘s Philm mit zweitem Album

Sa. 20.9.14 Aktionshalle 21:00Enter The Dancehall

TARRUS RILEYBoss Hi-Fi

V o r v e r k a u f : w w w . s t a r t i c k e t . c h

Inserat im LOOP September 14IG Rote Fabrik Seestrasee 395 8038 Zürich Tel. 044 485 58 58 Fax. 044 485 58 59

Montag 01. September 20Uhr20PAUL UBANA JONES

Montag 22. September 20Uhr20

C. GIBBS & FRIENDS

Montag 29. September 20Uhr20

THE DEAD BROTHERS

Dienstag 09. September 20Uhr20

MARISSA NADLERSonntag 09. September 20Uhr20

SEIN (PLATTENTAUFE)

Sonntag 28. September 20Uhr20HACKENSAW BOYS

Montag 08. September 20Uhr20WOODS +SCOTT H. BIRAM

Samstag 06. September 20Uhr20HORA’BAND

Gessner-Allee 11 - 8001 Zurigo IsolaINFO + TICKETS AUF: www.ellokal.ch

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8.9. Unearth USA Shadows Fall USA

15.9. God is an Astronaut IRL

27.9. Drum Festival Switzerland2.10. Mimiks CH

21.10. St. Vitus USA Orange Goblin UK

22.10. BRNS BEL

30.10. The Raveonettes DK

5.11. Trail of Dead USA

7.11. Pegasus CH 15.11. Luca Little CH

23.11. Hardcore Superstar SWE

salzhaus.ch SALZHAUS WINTERTHUR starticket.ch

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DIE NEUEN PLATTEN

PolarEmpress (Two Gentlemen/Irascible) Fünf Jahre hat Polar mit der Veröffentlichung ei-nes Nachfolgealbums zu «French Songs» zugewar-tet. Nach der selbstver-ordneten Auszeit kehrt der Romand mit «Empress» zurück, endlich. Zweimal hatte er sich auf Französisch ausgetobt, nun besinnt sich der Sohn eines Deutsch-schweizers und einer Irin – ganz wie zu Beginn seiner Karriere – wieder auf seine Muttersprache. Kompositi-onen wie «Autoblast» oder «So Low» distanzieren sich vom Chansonhaften und drängen den Folk-Pop wieder hin in Indie-Gefilde. Nicht, dass der Musiker, der mit bürgerlichem Na-men Eric Linder heisst, abermals dem LoFi seines Debüts von 1997 frönen würde, doch die neuen Songs weisen im Vergleich zu den vergangenen deut-lich mehr Brüche auf. Durch die Stücke weht eine leise Melancholie, die Stim-me des Künstlers nähert sich dem Heiseren an und die Elektronik darf da und dort ein Comeback feiern – und für minimale Sperrig-keit sorgen. Polar hat sein Rezept nicht grundlegend verändert, er hat justiert. Ein weiteres feines und melodiöses Werk des Wahl-genfers, dessen Durchbruch wohl nur durch sein Under-statement verhindert wird.

mig.

RustieGreen Language(Warp/MV)

Vor drei Jahren sammel-te und fabrizierte Russell Whyte alias Rustie allerlei unerträgliche Soundschnip-sel und verbastelte diese auf seinem Debüt «Glass Swords» zu glückseligen, hinterlistigen und eupho-risierenden Tracks, die bei aller Lust am Unsinn und Fallenstellen überaus genau gebaut waren. So wirkt es umso überraschender, wenn gleich zu Beginn von «Green Language» Laser-Sounds zu hören sind, die eine seltsame sakrale Ernst-haftigkeit verströmen. Viel besser passt da der Vorab-Track «Raptor», der die Synthies maximal in die Höhe schnellen lässt, nur um den Beat umso tiefer zu hängen und so die ge-schmäcklerischen Geister der ersten vier ratlosen Al-bumminuten verscheucht. Dann tauchen die Gäste auf, die Rap- und weitere Gesangsspuren beisteuern und Rustie in neues Song-Terrain führen: superbe-trunken macht auf Anhieb «Attak» mit Danny Brown am versehrten Mikrofon, entschleunigend wirkt das unscharfe «He Hate Me» und die R’n’B-Halluzi-nation «Dream On», ehe der Schotte wieder in pas-tellfarbenen Flirr-Sounds Zuflucht findet – und be-reits nach 36 Minuten mit den Kunst-Flamingos, die das Cover zieren, weg-fliegt. Denn auf diesem für Rustie-Verhältnisse intros-pektiven Album findet der erwartete Megarave nicht statt. Schade eigentlich.

bs.

Zoot WomanStar Climbing(Embassy One)

Der Lebenslauf des engli-schen Produzenten Stuart Price könnte verdächtig stimmen. Zu seinen zufrie-denen Klienten gehören die Killers und Kylie Minogue. Grammys hat er einge-sackt für Remixes von No Doubt und Coldplay, aber auch fürs letzte erträgliche Madonna-Album. Ach, und für «Electric», dem Al-bum, mit welchem die Pet Shop Boys letztes Jahr zur Renaissance ansetzten, sass er auch an den Reglern. Er selber versteckt sich hinter einer Fülle von Pseudony-men, die es ihm erlauben, die verschiedensten Stile auszuleben. Seine grosse Liebe gehört indes Zoot Woman, der Band, die er vor langer Zeit mit seinem Schulkollegen Adam Bla-ke (Keyboards) startete, ehe Adams Bruder Johnny (Gesang) dazustiess. «Star Climbing» ist das erste Zoot-Woman-Album seit fünf Jahren. Nebst den dis-coiden House-Beats spielt sich ein Feuerwerk von klanglichen Details ab, al-lesamt mit steinzeitlichen Digital-Synthies erzeugt. Zwischen der Synthetik der Beats und dem legeren Chorknabengesang von Blake öffnet sich ein weites Spannungsfeld an Emotio-nen. Kein Stück klingt wie das andere – überdies hat die Band ein feines Ohr für unklischierte Ohrwürmer. «Star Climbing» ist ein abgeklärtes, postmodernes Meisterwerk, das nie in modischer Ironie oder in der eigenen Supercoolheit ertrinkt.

hpk.

Die SonneDie Sonne(Tapete Records)

Es ist vermutlich kein Grös-senwahn, der die Kölner Musiker dazu getrieben hat, ihr neues Projekt Die Sonne zu nennen, besteht der Kern des Quartetts doch aus Oliver Minck und Benedikt Filleböck, die ansonsten das wunder-bare Pop-Duo Wolke bil-den. Wolke – Die Sonne: das passt dann also. Denn eigentlich wollten die bei-den mit den Musikern Bo-ris Rogowski und Claus Schulte am neuen Wolke-Werk basteln, bemerkten aber dann, dass durch die Zusammenarbeit mehr ent-steht, eine neue Dynamik, eine neue Band. Wobei, wer die vier Wolke-Alben mag, der wird auch Die Sonne lieben. Hier wie dort ist das feiner deutschsprachiger Indie-Pop. Unprätentiös sind sowohl die Musik als auch die Sprache, die keine Angst vor grossen Gesten, vor Peinlichkeiten und vor Uncoolness kennen. Das verdient wieder mal Re-spekt. Da kommen auch schöne Textzeilen heraus, ob nun beim philosophi-schen «Touristen» («Wir sind Touristen, wir schauen uns das alles hier nur an») oder an anderer Stelle: «Als ich eine Taube war, war ich keine Weisse und nicht für den Frieden». Das ironi-sche «Jesus (hat mich am liebsten)» ist genauso herr-lich wie die Single «Neu erfunden». Übrigens: Im Netz lassen sich hübsche Videos zu gleich vier Songs finden.

tb.

Various ArtistsBeat mit Tempo(Bear Family)

Die Macher von Bear Fa-mily haben mal wieder ein Kuriosum ausgegra-ben. Die Aufnahmen des Münchner Labels Tempo aus den 60er- und 70er-Jahren sind auf proppen-volle CDs mit 44-seitigem Booklet gepresst. Tempo war einst nur für Schlager und Volksmusik bekannt. Aber den Hype um die Pilzköpfe wollten sich die Geschäftsleute doch nicht entgehen lassen.Anstatt deutsche Bands unter Vertrag zu nehmen, wurden Studiomusiker en-gagiert. Wer damals für die Aufnahmen musizierte, ist nicht herauszufinden. Jedenfalls wurde munter nachgespielt. Ob «Wooly Bully» von Sam The Sham, «Somebody Help Me» von der Spencer Davis Group oder alle Hits der Beatles und Rolling Stones – die Studiomusiker kopierten, was in den Charts war. Weil vermutlich keiner von denen je in England oder Amerika war, jedenfalls nicht für einen Sprachkurs, sind bayrisch-deutsche Ak-zente bei «Satisfaction» und anderen Songs un-schwer zu erkennen. Zu Schreien sind auch die Co-ver der damaligen Platten, die im Booklet abgebildet sind – die Jugend der 60er vorm Kaminfeuer. Die Sampler liefern eine schrä-ge Zeitreise zu den Tagen, als im Schwarzweissfernse-her «Raumpatrouille Ori-on» lief.

hu

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Gemma RayMilk For Your Motors(Soulfood Music)

Die musikalische Entwick-lung von Gemma Ray folgt einer Art Dialektik. Bis zum Cover-Album «It’s A Shame About Gemma Ray» (2010) klangen ihre Songs noch nach Garage. «Island Fire» bot 2012 Pop in Bonbonfarben, und die grosszügige Produktion zog den Sound ins Cinema-scope-Format. Darauf folg-te voriges Jahr mit «Down Baby Down» eine Instru-mentalplatte mit imaginä-ren Filmsoundtracks, also eher obskurer Stoff. «Milk For Your Motors» kehrt nun zurück zum Pop, ver-wendet aber weniger Süss-stoff. Es gibt auch keinen Grund, alles zu überzu-ckern, denn die in Basildon geborene Wahl-Berlinerin zeigt sich als Songwriterin auf der Höhe, überzeugt als Gitarristin und berührt als Sängerin – man höre nur das klagende «Desoto». Für Abwechslung sorgen Gäste wie das Filmorches-ter Babelsberg, Alan Vega und Howe Gelb, der sich gleich beim Opener «The Wheel» sandig räuspert. In der Summe ergibt das ein einnehmendes Album, das geschmacksicher durch die Popgeschichte flottiert und besonders Menschen ans Herz gelegt sei, die Lana Del Reys abgedun-kelte Songdramen zwar schätzen, aber auch gerne flottere, freudigere Klänge hören. Dialektikern halt.

ash.

Mark OlsonGood-bye Lizelle(Glitterhouse)

Mark Olson hat in den 80er- und 90er-Jahren mit den Jayhawks für Furore gesorgt, als sie die Alterna-tive-Country-Szene stark beeinflussten. Dabei sorg-te Olson für die folk- und rootsbeeinflussten Songs. Der Aussteiger Olson ver-liess 1995 die Band und veröffentlichte danach mit seiner damaligen Frau Vic-toria Williams Alben aus der Mojave-Wüste. 2006 ging die Partnerschaft in die Brüche und die Solo-Karriere des Mark Olson begann – beziehungswei-se die Zeit für Duos. Mit Gary Louris kam es 2011 mit «Mockingbird Time» zur kurzen Reunion der Jayhawks. Auf der aktuel-len Solo-Platte wird Olson von der norwegischen Mu-sikerin Ingunn Ringvold begleitet. Die beiden neh-men mehrere Instrumente in die Hand. Schade nur, dass Ringvold mit ihrem Gesang meist im Hinter-grund bleibt. Auf Nagra-Tonband haben sie elf Songs gebannt, in kalifor-nischen Tonstudios wurden die Aufnahmen dann wei-ter bearbeitet. Ist «Poison Oleander» etwas rockig, dominiert insgesamt eine atmosphärische Dichte in den Songs, in deren Texten sich Stimmungen und An-deutungen widerspiegeln. Olsons prägnante Stimme, Ringvolds phantastischer Gesang und die klare In-strumentierung sind für Folk-verwöhnte Ohren.

hu.

J MascisTied to a Star (Sub Pop/Irascible)

«Country, der die Ohren bluten lässt», brachte Gi-tarrist und Sänger J Mascis einst den Sound seiner Al-ternative-Rock-Band Dino-saur Jr. auf den Punkt. Jetzt wandelt der Zahnarztsohn wieder mal auf Solopfa-den und verzichtet auf seinem neuen Longplay-er, «Tied to a Star», selbst auf den kleinsten Anflug von Brachialität. Wie auf seinem letzten Soloalbum «Several Shades of Why» (2011) setzt der 48-Jährige wiederum auf stimmiges Akustik-Material, das er in aller Gemüts- und Seelen-ruhe vorträgt. Die Arran-gements sind sparsam und darauf aus, die fingerpi-ckende Gitarrenarbeit des Maestros ins Zentrum zu stellen. Diese ist unaufge-regt, melodiefreudig, warm und vor allem aus einem Guss. Für «Every Mor-ning» oder «Trailing Off» packt der US-Amerikaner dann doch noch seine Elek-trische aus. Allerdings bloss kurz und in erster Linie, um den Stücken zusätzli-che Tiefe zu verleihen. Auf «Wide Awake» setzt Chan Marshall alias Cat Power mit ihrer dunklen Stimme einen Kontrapunkt zum Nuschelgesang von Macsis, der nur zu gerne zum Fal-sett hinauf driftet. Die Plat-te als bessere Fingerübung abzutun, wäre ein Leichtes, aber «Tied to a Star» bringt es dank Intimität und Un-mittelbarkeit zu erheblicher Strahlkraft.

mig.

DIE NEUEN PLATTEN

Robyn HitchcockThe Man Upstairs(Yep Roc Records)

In den späten Siebzigerjah-ren stand Robyn Hitchcock mit seiner damaligen Band The Soft Boys für klugen, intellektuellen Art-Rock, beeinflusst von Velvet Un-derground und Syd Barrett, aber auch von den Byrds und Beatles. Als Punk und New Wave angesagt waren, war das damals weniger hip. Und auch wenn man den Punk beim Song «I Wanna Destroy You» sozu-sagen im Titel trug, kam das nur bei einigen Kritikern an. «The Man Upstairs» ist schon das zwanzigste Solo-album von Hitchcock, der in einer gerechten Popwelt längst ein Star wäre. Die Platte besteht zur Hälfte aus eigenen Songs sowie Coverversionen. Unter den eigenen Titeln sticht «San Francisco Patrol» heraus, ein wunderschönes, melan-cholisches Liebeslied, mit Akustikgitarre und Cello edel instrumentiert, dem ein Frauenchor das Krönchen aufsetzt. Das countryeske «Trouble in Your Blood» und das französisch-engli-sche «Comme Toujours» sind weitere Highlights. Von den fünf Coverversio-nen gefällt «The Ghost In You» am besten, eine spar-tanische Annäherung an den Song der wunderbaren Psychedelic Furs. Roxy Mu-sics «To Turn You On» und «The Crystal Ship» von den Doors sind ebenso eigenwil-lig interpretiert wie die we-niger bekannten Tracks von Grant Lee Phillips und der norwegischen Band I Was A King.

tb.

TweedySukierae(Anti/Phonag)

Das nächste Album von Wilco lässt noch etwas auf sich warten. Und so widmen sich die Bandmit-glieder in der Zwischen-zeit anderen Projekten. Jeff Tweedy hat die Zeit genutzt, um einige Kompo-sitionen aus der Schublade zu ziehen. Wie er dabei vorgeht, wird gleich im ersten Song «Please Don’t Let Me Be So Understood» klar. Er nimmt die Gitarre in die Hand, spielt schnör-kellose Riffs, singt, sein 18-jähriger Sohn Spencer bearbeitet das Schlagzeug. Das wars im Wesentlichen. Bei anderen Songs unter-stützen hie und da Freun-de wie Lucius und The Minus 5. Vom punkigen Opener zu harmonischen, lockeren Songs, von expe-rimentell anmutendem Ge-frickel zum akustisch und solo eingespielten Stück «I’ll Never Know» ist alles vertreten: Singer/Songwri-ter, Country, Alternative Rock. 20 Songs, ein Dop-pelalbum, das man immer mehr schätzt, je öfter man es hört. Der Song «I’ll Sing It» geistert schon länger im Web umher und gibt eine erste Kostprobe von «Su-kierae». Die Lockerheit, die hier zu hören ist, zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Platte. Einfach exzellentes Songwriting.

hu.

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Kate TempestEverybody Down (Big Dada)

Das Cover täuscht: eine Unschuld vom Lande ist sie nicht. Vielmehr entstammt Kate Tempest einer kinder-reichen Arbeiterfamilie aus Südlondon und wohnte früh in besetzten Häusern. Sie hat Poetry Slams in New York gewonnen, ei-nen Gedichtband veröffent-licht und ein hochgelobtes Theaterstück geschrieben. Doch die 27-Jährige ist vom HipHop genauso infi-ziert wie von der Literatur. Nach ersten Gehversuchen mit der Band Sound of Rum präsentiert sie sich auf «Everybody Down» solo, unterstützt nur vom eine Generation älteren Er-folgsproduzenten Dan Ca-rey, der ihr ein eigenwilliges elektronisches Klangkos-tüm auf den Leib schnei-dert. Auf ihrem Konzept-album erzählt Tempest die Geschichte von Becky und Harry: vom Kennenler-nen an einer grauenhaften Künstlerparty («Everywhe-re is monsters» sind die ers-ten Worte des Albums) bis zur gemeinsamen Flucht aus Britannien («Let’s feel this way forever» die letz-ten). Die Rapperin schafft es, Alltagsdialoge unglaub-lich real wiederzugeben und daneben poetische Bilder von klarer Schön-heit zu kreieren («Becky is a young woman, heart full of earth»). In ihrer Stimme liegt grosse Dringlichkeit; sie fordert Aufmerksamkeit geradezu ein. Von dieser Künstlerin dürfte noch viel zu hören sein.

makr.

DIE NEUEN PLATTEN

Naomi Shelton & The Gospel QueensGold World(Daptone)

Manchmal wirkt Gospel-musik wie ein Erdbeben, trifft dein Innerstes, und be-vor du es realisierst, bist du bekehrt. Naomi Shelton ist eine Performerin, die sol-ches auslösen kann. Aus-gestattet mit einer kraftvol-len, erdigen Stimme, singt die 72-Jährige aus Alaba-ma mit Inbrunst, phrasiert souverän, baut Spannung auf, um im nächsten Mo-ment temperamentvoll los-zulegen. Das Album «Cold World» klingt wie ein Mix aus dezentem Siebziger-Funk, aus Southern-Soul und Kirchenmusik – mit Erzengel Gabriel als Band-leader. Profanes trifft hier auf Spiritualität. Wie die Staples Singers, die ihre Message mit eingängigem Gospel-Pop unter die Leu-te brachten, verschafft sich Shelton Gehör mit klas-sisch gestrickten Songs, in denen sie ihre Lebenserfah-rung ausspielt. Unterstützt von den Gesangsharmoni-en der grossartigen Gospel Queens sowie einer soli-den Begleitband mit James Browns Bassist Fred Tho-mas und der fetten Ham-mondorgel des früheren Wilson-Pickett-Begleiters Jimmy Hill versetzt Shel-ton musikalische Berge – mit beglückendem Funk («Bound For The Promised Land»), ekstatischem Gos-pel («Get Up, Child») und der in Blues verpackten Bit-te um Erlösung («Sinner»).

tl.

Mirel Wagner When the Cellar Children See the Light of Day (Sub Pop/Irascible)

Wer sein zweites Album «When the Cellar Child-ren See the Light of Day» nennt, bietet keine leichte Kost. Mirel Wagner, die in Äthiopien zur Welt kam und mit anderthalb Jahren von finnischen Eltern adop-tiert wurde, interessiert sich für Kehrseiten, Abgründi-ges und das Morbide. In «Oak Tree» lässt sie die Seele eines Kindes aus dem kalten Erdboden singen, in «Dirt» konstatiert sie fast emotionslos: «Cause you can’t breathe the dirt even if you wanna / But you’ll be in the dirt, you’ll be the dirt / Momma, I know I’m rea-dy now». Die Lieder von Wagner lassen frösteln, und das ausnahmslos. Ihr Meti-er sind Mörderballaden. Dazu gibts glasklaren, aber ausgezehrten Sound ab Akustikgitarre und ein paar schemenhafte Background-Vocals. That’s it. Die Stim-me der 26-Jährigen klingt sowohl unschuldig, als auch durch nichts mehr zu erschüttern. Weder durch Grauen, Verderben noch Tod. Wagners Musik hält sich an eine strikte Diät aus schnörkelfreiem Folk und Blues. Und wirkt wie eine Mischung aus spätem Nick Drake, langsam abstür-zender Billie Holiday und Blueser Josh White wäh-rend der Great Depression. Ein Memento mori in Al-bumform, das aus herbstli-chen Tagen dunkle macht.

mig.

Pere UbuUnvergesslich der Moment, als ich irgendwann im Frühling 1978 zum ersten Mal «Modern Dance» auflegte. Der pun-kige Drive war unverkennbar, der Sound von zerdepperten Flaschen passte da auch irgendwie hinein, aber der Gesang von David Thomas, der sich einen Deut um die Konventio-nen feiner Melodieführung oder gar Johnny-Rottten-mäs-siges Geschrei kümmerte, war schon sehr ungewöhnlich. Dem allgemeinem Pop- oder gar Punkpublikum verlangten Pere Ubu ein bisschen allzu viel Gewöhnungsbereitschaft ab. Auch ihre Kompromissjahre warfen mit immer noch bemerkenswerten Alben keine grösseren Hits ab (ha!). Und jetzt, mit ihrem achtzehnten Album, zeigt sich die Band kein bisschen weniger abenteuerlustig als in ihren frühen Tagen. Das ist schon eine gehörige Leistung: 36 Jahre kon-sequenter Mut zur Innovation! Die Lieder von «Carnival of Souls» stammen von einem Projekt aus dem Jahr 2013, als die Band den gleichnami-gen Film live in einem Londoner Kino begleitete. Die Songs seien im Verlaufe der nervenaufreibenden letzten Tournee improvisiert worden. Nach dem etwas weniger gut gelun-genen «Lady From Shanghai» zeigen sich die Ubus hier wieder im Besitz ihrer vollen, spukhaften Kräfte. Zu den altbekannten, dissonant fiependen Analog-Synthies und David Thomas’ grausig-schönem Gesang gesellen sich dies-mal eine Reihe von Holzblasinstrumenten. Der Karneval der Seelen beginnt mit dem unwiderstehlich düster rockenden «Golden Surf II». In der Folge erlebt der Hörer ein Wechselbad der Emotionen – mal laut, mal leise zeichnet das Album zwei Welten, die sich auf halbem Weg zwischen Hitchcock und «Eraserhead» die Hand reichen. «Carnival of Souls», produziert von Thomas selber, ist ohne Zweifel eines der facettenreichsten Ubu-Alben über-haupt. Nie käme man auf die Idee, die da und dort an Kri-misounds erinnernden Klänge oder gar die altmodischen Synthies als Gimmick aufzufassen. Dazu ist die narkotische Intensität dieser einzigartigen Musik viel zu beängstigend düster und erhebend schön.

Hanspeter Künzler

Pere Ubu: «Carnival of Souls» (Fire)

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The Lone CrowsDark Clouds(World In Sound)

Die Lone Crows aus Minne apolis kombinieren Blues-, Garage-, Grunge- und Stoner-Rock mit Funk und Jazz. «Dark Clouds» ist ihr zweites Album und klingt subtiler, verhaltener als das erste. Jedenfalls sind beim Hören der CD Wish-bone Ash näher als Humble Pie. «Next Thing I Know» heisst der beschwingte Ein-stieg mit einem anstecken-den Groove ohne instru-mentale Exzesse. Im Song «Dark Clouds» zeigen die Lone Crows ihr Potenzi-al: Geprägt von Tim Bar-beaus leicht angejazztem Gesang und gelungenen melodiösen Einfällen wird nicht pubertär geprotzt, sondern eine beachtliche spielerische Reife demons-triert. Leider vermag die Band dieses Niveau nicht durchwegs zu halten. «An-ger» kommt nicht auf Tou-ren, «Out of Time» und «Midnight Show» kran-ken an eintönigen Riffs, «Speechless» ist ein zu langes Blues-Instrumental. Mitten in «The Dragon» findet das Quartett wieder zur Lockerheit, da pumpen funky Riffs und eine Prise Heavy-Psych wird einge-streut. Leichtfüssig gehts auf die «Lonesome Road», ein Boogie, wie ihn etwa Little Feat oder ZZ Top hätten schreiben können. «On That Day» beschliesst das Album. Gemächlich baut sich der Song auf, Neil Youngs «Cortez the Killer» trifft hier auf Soulmusik.

tl.

Puss n BootsNo Fools, No Fun(Blue Note/Universal)

Ein bisschen wie Miley Ci-rus versucht Norah Jones seit geraumer Weile, ihr höfliches Liebmädchen-Image mit aller Gewalt loszuwerden. Allerdings tut Jones dies auf der Ebene von Musik, nicht Brachial-Sexyness. Zu diesem Zweck hat sie sich mit unglaubli-chem Fleiss mit unglaublich vielen, unterschiedlichen Musikanten zusammen-getan: Ryan Adams, Wil-lie Nelson, Robert Glas-per Experiment – ganz zu schweigen von ihrem feinen Duett-Album mit Green-Day-Kopf Billy Joe Armstrong oder ihrem Ne-benprojekt The Little Wil-lies und nun Puss’n’Boots. Neben Jones (Gesang, Gi-tarre, Fiedel) gehören dem Trio noch Sasha Dobson (Vox, Gitarre, Drums) und Catherine Popper (Gesang, Bass, Gitarre) an. Dob-son ist eine Jazz-Sängerin, die auch schon zu Band von Jones gehörte, Popper war einst die Bassistin von Ryan Adams und taucht auf dem neuen Album von Jack White auf. Nebst einer Handvoll Eigenkompositi-onen kredenzen die Damen hier vor allem countryhaf-te Covers, etwa von Tom Paxton, Neil Young, Wil-co und Robbie Robertson. Die Harmoniegesänge sind exquisit – nicht zu süss und nicht zu salzig, auch wenn sich ein gelegentli-ches «Fuck» in die Texte schleicht. Ein vergnügliches Album, wohltuend frei von Prätentionen.

hpk.

Ella RonenMirror Maze (Sophie Records)

Dass Ella Ronen im ver-gangenen Jahr bei «The Voice of Switzerland» auf-trat, findet im Promo-Sheet keine Erwähnung. Wohl, weil man keine Vorurteile befeuern will. Alles egal, denn das Debüt der Isra-elin, deren Vater aus dem Iran stammt, überzeugt. «Mirror Maze», produ-ziert von Ex-Lunik Luk Zimmermann, klopft zwar beim Genre der Singer/Songwriter an, hält aber an den Wurzeln zum Mittleren Osten und zur Klassik (der Ronen als Kind nachging) fest. Der Opener «Inven-tory», der von Schwan-gerschaftsstreifen und 82 Landminen erzählt, startet zwar wie ein Outtake von Sophie Hunger und mit Kunst-Pop, aber: Mit zu-nehmender Dauer gewinnt das Stück sowohl an Ei-genständigkeit als auch an Format. Die Künstlerin, die es 2011 der Liebe wegen in die Westschweiz verschlug, gefällt besonders gut, wenn sie – wie in «Army Song» – ihren Emotionen und ihrer Stimme freien Lauf lässt. Oder wenn sie – wie in «Two Roses» – hebräisch singt und die Komposition mit jazzig verspielter Per-cussion konterkariert. Den Liedern mögen Spurenele-mente aus dem Schaffen von Joni Mitchell und Fi-ona Apple anhaften, doch am Überzeugendsten wirkt Ella Ronen, wenn sie auf Distanz zu ihren Vorbil-dern geht.

mig.

DIE NEUEN PLATTENCountry RoadsManche gehen zum Priester, um zu beichten. Countrymu-siker stellen sich ans Mikrofon und erzählen von ihrem Leben. Filmemacherin Marieke Schroder hat in «Count-ry Roads: The Heartbeat of America» Menschen östlich des Mississippi aufgesucht und dabei versucht, die Seele des Country zu verorten. Die Dokumentation erzählt also nicht die ganze Geschichte der Countrymusik in den USA, hält sich auch fern vom Kommerz der Musikindus-trie in Nashville. Sie fokussiert vielmehr auf Musik und Ansichten junger Musiker wie Justin Townes Earle, dem Sohn von Steve Earle. Gezeigt wird auch, wie rudimentär das Leben im Südosten der USA noch ist. Hier gründen College-Studenten keine Startups und werden nicht kur-zerhand zu Millionären. Ein Tellerwäscher bleibt immer ein Tellerwäscher. Wenn die Menschen «next to nothing» in diesem struk-turschwachen Gebiet etwas gemeinsam haben, ist es die kleine Zuversicht, die ihnen einfach gestrickte Country-musik gibt – der Blues des weissen Mannes. Ganz in der Tradition eines Woody Guthrie oder Johnny Cash. Doch die Altstars kommen nur in kurzen Einstellungen und mit Kernaussagen zu Country ins Bild. Die Kamerafahr-ten vorbei an entlegenen Unterkünften, Müllhäufen und Blockhütten auf dem Land führen in Wohnzimmer und Studios mit jammenden Country-Musikern. Unter den Hörern des Country sind Fischer, die noch immer unter der Ölpest von 2010 leiden, als die Bohrplattform von BP havarierte. Oder streng gläubige Protestanten, die sich im Gottesdienst eine Schlange um den Hals hängen und da-ran glauben, dass nur Sünder gebissen werden. Offenbar ist in Teilen von Alabama oder Tennessee die Zeit stehen geblieben. Wo der Medikamentenkonsum am Höchsten ist, spendet Countrymusik Trost und Hoffnung. Es ist eine seltsame Welt. «Country Roads» zeichnet ein Stimmungsbild, ohne re-präsentativen Anspruch. Und beobachtet dabei scharf die Zustände in der Heimat des Country.

Harald Fette

«Country Roads: The Heartbeat of America» (DVD/Arthaus)

Page 17: Im Rhythmus II - loopzeitung.ch€¦ · Don McLean, «Ameri-can Pie». Die ersten beiden Lieder braucht nie-mand, also setzt man die Nadel vor dem dritten Song in die Rille. Was folgt,

Howlin’ RainLive Rain(Agitated Records)

Howlin’ Rain sind heute mehr als nur Ethan Millers Nebenprojekt, um neben der chaotischen Psych-Rockband Comets on Fire ein zweites Standbein zu haben. Jetzt starten How-lin’ Rain voll durch. Welch aufregende Truppe sie sind, davon zeugen diese im Laufe des Jahres 2012 aufgenommenen Livemit-schnitte. Wir hören klassi-sche, vom charismatischen Frontmann Miller getrage-ne Rocksongs wie «Lord Have Mercy» oder «Phan-tom In The Valley». Das klingt mal stadionrockmäs-sig bombastisch, dann wie-der intim wie in der Musik-kneipe nebenan. Fesselnde, laute Rockmusik mit exzes-siven Gitarren-Freakouts, ausladenden Jams, viel Wah-Wah-Pedal-Einsatz, als Ruhepause gibts auch mal langsamen Bluesrock. Mit viereinhalb Minuten ist «Beneath Wild Things» einer der kürzesten Songs, aber einer der feinsten des Albums. Howlin’ Rain aus San Francisco huldigen dem Rock der Siebziger, energiestrotzend und mass-los. Nostalgie für die Zu-spätgeborenen? Vielleicht. Bloss existierte damals kaum eine Band mit so-viel ungestümer Power wie Howlin’ Rain, deren Live-Set um Klassen besser kling als ihre drei Studioalben.

tl.

Cymbals Eat GuitarsLOSE (Barsuk Records)

Immer dann, wenn man den Glauben an gute Indie-Rock-Platten verloren hat, kommt zum Glück doch wieder eine Band daher, welche die Neunziger aufle-ben lässt. So retro, so gut. Was jetzt larmoyant klin-gen mag, ist leider wahr. Mit etwas Abstand zu den Nullerjahren wird einem bewusst, wie schlecht das letzte Jahrzehnt für Indie-Rock war. Hypes, H&M-Bands, aber keine ehrliche Rock-Musik. Die Ausnah-me bestätigt wie immer die Regel. Cymbals Eat Guitars gehören zur Ausnahme, denn sie waren auch schon in den Nullerjahren aktiv. «LOSE» ist die dritte Plat-te der Amerikaner, und mit dieser laufen sie zu Hoch-form auf. Man hört Musi-ker, die Freude haben, alles aus ihren Gitarren rauszu-kitzeln. Man hört komple-xes Songwriting, das von Trail of Dead über At The Drive-In bis Pavement und Guided by Voices alles re-zitiert. Man hört Bläser, Piano, Gitarrensoli, Chor-gesang, Noise- und Schrei-attacken, Balladen, Walls of Sounds. Und man hört eine Platte voller Songs in Songs, versteckter Trou-vaillen, Hits, von denen nie einer im Kommerzradio laufen wird. Weil sich gute Rock-Musik nicht in ein Schema pressen lässt, son-dern weil sie sich den Platz nimmt, den sie braucht, und der ist oft länger als dreieinhalb Minuten und erschliesst sich nicht auf Anhieb. Glücklich.

men.

MilwalkieAdjustments(Snowhite)

Ganz ruhig. Die Musik von Milwalkie wirkt nicht auf Zuhörer im Betrieb-samkeitsmodus. Steve und Matthew David Morris sind schottische Brüder, die in Berlin eine neue Heimat sowie einen Drummer ge-funden haben. Zusammen spielen sie Gitarrenmusik zwischen Schraddel-Indie, Shoegaze und den weitläu-figen Klängen des Dream Pop. Als Referenzen wur-den Beach House, Deer-hunter oder Death Cab For Cutie angeführt. «Adjust-ments» folgt einer Reihe kürzerer und längerer Re-leases und zeigt Milwalkie als Band, die sich in ihrem Stil eingereichtet hat und zwingend klingt, ohne ir-gendwas erzwingen zu wol-len. Die meisten Stücke ver-mitteln ein Gefühl wohliger Verlorenheit. Konfrontati-on ist nicht die Sache des Trios, darum bleibt der Ton auch bei flotteren Stücken freundlich, die Stimmung eher introspektiv. Das ist nicht spektakulär, aber wohltuend in weltabge-wandten Momenten. Und wie könnte man Musiker nicht gut finden, die sich einen Bandnamen von minderer Suchmaschinen-tauglichkeit verpassen und ein Instrumentalstück «My Cow Is Not Pretty But It Is Pretty To Me» nennen?

ash.

DIE NEUEN PLATTENSound SurprisenRückt, wenn man älter wird, die Vergangenheit plötzlich wieder näher? Soll tatsächlich schon mehr als mein halbes Leben vergangen sein, seit ich im Herbst 1988 zum ersten Mal «Touch Me, I’m Sick» von Mudhoney hörte? Ich war ein frischgebackener Radiomensch, und meine Redaktions-kollegen und ich waren begeistert über die krachenden Gi-tarren, die wuchtigen Grooves und den heulenden Sänger – das war primitiv, das war Rock’n’Roll, und spätestens als 1989 die Debütalben von Mudhoney, Tad und Nirvana erschienen und diese Bands auch die Schweizer Clubs er-schütterten, waren Sub Pop das Label der Stunde, Grunge der Sound, der die Welt rockte, und Seattle der Mittelpunkt der Universums. Wie ist es andererseits mit dem Gedächtnis, wenn man älter wird? Natürlich bildete ich mir damals ein, bestens über das Geschehen in Seattle informiert zu sein – und nun hal-te ich den Sampler «No Seattle. Forgotten Sounds of the North-West Grunge Era (1986-97)» (Soul Jazz Records) in den Händen und entdecke lauter Bands, von denen ich glaube, sie bis auf wenige Ausnahmen nie zuvor gehört zu haben. Gedächtnisprobleme im Alter? Oder nahm ich damals nur die Spitze des Eisbergs wahr? Ich weiss nicht, was mir lieber wäre, tippe aber auf das Zweite. Denn na-türlich gelangte trotz der engmaschigen Vertriebsnetze nur die Spitze des Eisbergs nach Europa, und ausserdem stand die Undergroundszene nicht nur in Seattle selber, sondern im ganzen Nordwesten der USA im Zeichen krachenden Rock’n’Rolls.Die Sub-Geschichte dessen, was im Schatten von Sub Pop und Nirvana geschah, erzählt «No Seattle»: 28 Bands, von denen es die wenigsten zu mehr als kurzlebigem Under-ground-Ruhm geschafft haben, zu einer Handvoll Singles und allenfalls einem Debüt. Sie verdeutlichen die Bandbrei-te des Rock’n’Roll, wie er damals im Nordwesten der USA zelebriert wurde: Neben zahlreichen Bands im Spannungs-feld von Mudhoney, Nirvana und Soundgarden gab es die unterschiedlichsten Grunge-Legierungen: Straighter Hard-core (Vampire Lezbos), newwaveoider Bubblegumgrunge (Yellow Snow), irrer Industrialgrunge (Hitting Birth), ins-trumental groovender Prä-Postgrungerock (Pod). In vielen Fällen sind die Namen der Produzenten bekannter als die Bands: Jack Endino, Steve Fisk, Steve Albini. Besonders er-freulich sind die Entdeckungen von The Ones mit Terry Lee Hale, der später als Singer-/Songwriter im Umfeld von The Walkabouts seinen Weg gehen sollte, und den massiv groo-venden Bundle of Hiss, die sich 1989 als Tad neu erfanden, und die Wiederbegegnung mit dem süffigen Grungepop von Starfish. Anerkennung und Erfolg haben immer auch mit Zufall und Glück zu tun – die meisten Songs auf «No Seattle» hätten um 1990 durchaus Chance auf Airplay im «Sounds!» ge-habt und die meisten Bands das Potenzial, Teil des Hypes zu werden. Die Sammlung dieser Grunge-Unknowns ist also eine wärmstens zu empfehlende Lückenfüllung. Inter-essanterweise aber macht sie Nirvana noch grösser. Ihr pla-netarischer Erfolg war kein Zufall: Nirvana liessen die Gi-tarren krachen wie kaum eine andere Band, aber sie hatten mehr Pop und mit Kurt Cobain einen einmaligen Sänger. Und Gedächtnisprobleme hin oder her: An die Nirvana-Konzerte 1989 erinnere ich mich einwandfrei.

Christian Gasser

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The / DasFreezer (Sinnbus)

The / Das sind zwei Drit-tel Bodi Bill, und Bodi Bill sind quasi die Band, wel-che die Acher-Brüder (The Notwist) gegründet hätten, wenn sie in Berlin geboren und anstatt mit Hardcore und Grunge mit Techno musiksozialisiert worden wären. Bodi Bill haben seit 2007 eine formidable Brü-cke zwischen Electro/Tech-no und Singer/Songwriter geschlagen mit Songs, die ein Musiknerd als Indie-tronic bezeichnen würde. Selber sagen sie zwar, dass für jemanden, der Country-Musik hört, der Unterschied zwischen Bodi Bill und The / Das nicht wirklich er-kennbar wäre, weshalb für Aussenstehende eine Neu-orientierung nicht nachvoll-ziehbar sei. Für das Duo selber und geübtere Ohren sei The / Das aber ein Be-freiungsschlag von traditio-nellen Songstrukturen und herkömmlichen Schubla-disierungen. Und dennoch: Ihr Händchen für süsse Pop hits im Electro-Gewand haben sie nicht verloren. «Freezer» kredenzt mit «Miami Waters» und dem Opener-Track «My Made Up Spook» gleich zwei der-artige Kaliber. Auch sonst gelingt der Spagat zwischen Electro/Techno-Gerüst und klassischem Songwriting-Ansatz nahezu perfekt. Man wünscht sich fast noch mehr Ausflüge in klaust-rophobische und beängs-tigende Electro-Fragmente mit Sprechgesang, fernab der Refrain-Orientierung, wie der neun Minuten lange Titeltrack.

men.

OperatorsEP 1 (Eigenvertrieb)

Operators-Frontmann Dan Boeckner ist kein unbe-schriebenes Blatt. Er stand bereits bei Wolf Parade, Divine Fits und auch bei den Handsome Furs als Vo-kalist an vorderster Front. Erstaunlicherweise teilte er bei allen Engagements das Mikro aber immer noch mit einem Counterpart, was in der Nachbetrachtung wie ein zynischer Streich des Schicksals anmutet. Bei sei-ner neuen Band ist er nun aber alleiniger Frontmann, und er erfüllt diesen Part mit Bravour. Soundmässig liefern sich die Operators ein Schaulaufen mit al-ten Bekannten. Depeche Mode, New Order, aber auch die Vintage-Synthesi-zer von Wolf Parade oder Handsome Furs sind nicht weit weg. Die sind jedoch bei den Operators nicht auf gleicher Flughöhe wie die analoge Saitenabtei-lung, sondern stehen klar im Vordergrund. Boeck-ner ist mit den Operators weit mehr in der Synthie/Electro-Ecke als noch mit seinen Vorgänger-Bands. Dementsprechend ist hier eine durchaus offensive Weiterentwicklung zu kon-statieren. Die macht Spass und überzeugt.

men.

JJV (Irascible)

Im mit Informationen gei-zenden Booklet zu «V» – dem neuen Album von Joakim Benon und Elin Kastlander – steht nicht viel, aber doch Folgendes zu lesen: «Made in jj». Was nahe legt, dass die beiden Göteborger ihr Duo JJ als eigenes Universum verste-hen und erleben. Weniger, weil man auf Liedern wie «Hold Me» dem Hang zum Sphärischen nachgibt, sondern weil sich die zwei auf ihren ganz eigenen Bah-nen bewegen. JJ, gegründet 2009, vermischen Seufzer, Gefühle der Langeweile und schläfrigen Gesang mit verträumten Hip-Hop-Sequenzen, sowie mit sofa-kissenweichem Pop voller Synthesizern und Geigen. Eine Mischung, die zwar immer wieder eigenwillige Haken schlägt, diese jedoch voller Gemütsruhe vor-nimmt. Der Himmel habe einen Platz für sie, säuselt Kastlander und klingt da-bei wie eine Nordländerin, die vor lauter Winter und Schnee monatelang keinen Schritt vor die Türe mehr gewagt und ebenso lange mit keiner Menschenseele gesprochen hat. Einlullen-de Musik, die sich an der Einsamkeit labt und in Richtung Ferne und Sterne guckt. Das ist charmant, gefällig und wie ein Vor-bote auf die sonnenarme Jahreszeit. Allerdings wir-ken die Songs bisweilen so gedämpft, dass man zwi-schendurch einzunicken droht.

mig.

DIE NEUEN PLATTENLondon HotlineRobyn Hitchcock macht viel zu viele Platten, als dass ich mich als Kenner verkaufen könnte. Andererseits gehört Hitch – inzwischen 61 Jahre alt geworden – zur aussterben-den Zunft psychedelisch angehauchter Exzentriker in der britischen Musikwelt. Wenn alles mit rechten Dingen zu-ginge, wäre er längst als eine Art Orakel in Sachen Stil, Witz und schöne Lieder im Olymp von Soho installiert. Hitch-cock ist ein typisches Produkt der englischen Art Schools mit Sixties-Prägung. Er trägt bizarre Op-Art-Hemden und auf der Bühne wie am Frühstückstisch machen seine Sätze surreale Schlenker, die irgendwie Sinn ergeben, auch wenn sie im Lichte nüchterner Logik überhaupt nichts bedeuten. Natürlich gründete er schon als Student seine erste Band: The Beetles. Dann zog er in die Bohémiens-Stadt Cam-bridge und formierte die neo-psychedelischen Soft Boys. Mitten im Punkzeitalter hielten sie konsequent an Beatles-Frisuren, Byrds-haften Gitarrenklängen und Wah-Wah-Pe-dal fest. Daran hat sich in den nachfolgenden vierzig Jahren – ausser den Bandnamen – wenig geändert.Nach der letztes Jahr erschienenen, traurig-zornigen Ode «Love From London» an ein verschwindendes London ist mit «The Man Upstairs» nun wieder herbstliche Stille ein-gekehrt. Endlich ergibt sich damit wieder einmal eine Ge-legenheit, den Meister um ein Interview zu bitten. Er lädt ins einzige untrendige Café in Hampstead ein. Er erscheint mit einem gewaltigen Koffer, der kaum zwischen die Stühle passt. Er sei auf dem Weg auf die Isle of Wight, sagt er, via Psychotherapeut, der eben in Hampstead lebt. Auf die Isle of Wight hat es ihn verschlagen, weil eine alte Beziehung in die Brüche ging. So schlimm sei die Insel übrigens nicht: «Die Isle of Wight ist eh so etwas wie die andere Seite von mir», sagt er. «Ich verbrachte in meiner Jugend viel Zeit dort. Es herrscht dort eine ureigene Art von totaler Isolati-on.» Auf seinen Arbeitsrhythmus habe das keinen Einfluss: «Die meiste Zeit geht immer noch dabei drauf, Papierarbeit zu erledigen, E-Mails und Tweets zu schreiben. Ich habe re-gelrecht Schuldgefühle, wenn ich mir eine halbe Stunde mit der Gitarre stehle.» Ich erinnere Robyn Hitchcock daran, dass er mir bei unserer letzten Zusammenkunft betreffend seiner Songschreibetechnik folgendes gesagt hatte: «Naja, der ‹man upstairs› reicht mir halt ein Stück Papier mit ein paar Worten drauf, und Jahre später finde ich heraus, was sie bedeutet haben.» Der Künstler blinzelt verdutzt: «Das habe ich gesagt? Manchmal bekommt man halt auch Bot-schaften aus der Zukunft.» Fürs neue Album hat Hitchcock keinen Geringeren als Joe Boyd engagiert, der einst für all die Alben verantwortlich war, die er als Teenager hörte – Nick Drake, Incredible String Band etc. –, aber auch die erste Pink Floyd-Single aufnahm. «Wir kennen uns seit dreissig Jahren», sagt er. «Er hat partout keine Lust mehr, ein gewöhnliches Singer/Songwriter-Album zu machen. So schlug er vor, zur Hälf-te Cover-Versionen einzuspielen.» Lieder von Psychedelic Furs oder Bryan Ferry zum Beispiel. «Lange hatte ich nicht das Gefühl, dass ich als Sänger oder Gitarrist gut genug war, Geld für Covers verlangen zu können», erklärt er. «Inzwischen habe aber ich so lange mit diesen Liedern ge-lebt, dass sie fast auch ein bisschen meine Lieder geworden sind.»

Hanspeter Künzler

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DIE NEUEN PLATTEN

The South Austin MoonlightersBurn & Shine(Blue Rose/MV)

Verblüffend, welche Talen-te die Musikszene von Aus-tin, Texas, hervorbringt. Die Moonlighters sind Ve-teranen der lokalen Szene. 13 eigene Songs enthält das Blue-Rose-Debüt von Phil Hurley (Gitarre, Gesang), Josh Zee (Leadgitarre, Ge-sang), Lonnie Trevino Jr. (Bass, Gesang) sowie dem singenden Drummer Phil Bass. Was daran besonders gefällt, ist die stilistische Bandbreite, die starken Songs, die Spielfreude. Hier ist eine Band am Werk, de-ren inspirierter Roots-Rock auf einem soliden Fun-dament aus Rock’n’Roll, R&B, Country, Funk und Blues steht. Für einen erfri-schenden Auftakt sorgt der Rocker «Land Mines», es folgen der R&B-Stampfer «Found My Way Back» und «Old Engine», eine Ballade mit knackigen Stromgitarren. Kompak-ter Motown-Beat bewegt «Can’t Live Without You» und Soulmusik prägt auch «29 Miles», während «Once I Saw a UFO» fast schon radiofreundlichen Countryrock bietet. Auf «Moonlight Ride», einem Bastard aus Southern-Rock und New-Orleans-R&B, erklingen die Chorstim-men der Whiskey Sisters. «Falling Out of Love» ist eine von Phil Hurley mit viel Hingabe gesungene Ballade. Mit dem akustisch instrumentierten «I’ll Be Around» schliesst das von David Boyle lebendig pro-duzierte Album.

tl.

The River MonksHome Is The House(The River Monks)

Glaubt man der Bio auf ihrer Website, charakteri-sieren The River Monks ihre Musik als «versonnen harmonisch», als «mega-folkig». Tatsächlich kre-iert das Sextett aus Idaho eine schwelgerische, opu-lent arrangierte, grandiose Breitleinwand-Folk-Music voller betörend schöner Gesangsharmonien. Da sind Parallelen zum Sound der Fleet Foxes auszuma-chen, dieser liebliche Wohl-klang, die Melancholie an einem verregneten Tag, die sanften Gitarrenklänge. The River Monks – be-nannt nach dem Überna-men ihrer Heimatstadt Des Moines – widmen ein ganzes Album dem Thema Heimat. Laut Frontmann Ryan Stier ist «Home Is the House» so was wie eine bandinterne Studie über die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs mit Stichworten wie «sich zu Hause fühlen», «ver-wurzelt sein», «Zuflucht» oder «heimkehren». Das Resultat überzeugt zumin-dest musikalisch dank der traditionellen Folk-Instru-mentierung, die mit einer modernen, üppigen Aus-richtung auskommt. The River Monks schaffen es irgendwie, eine luftige At-mosphäre und komplexe Rhythmen zu kreieren, im selben Atemzug betören sie ihr Publikum mit leiser Dy-namik und liefern funkeln-de Kleinode aus Melodie und Texten ab, wie sie Fans von Fleet Foxes oder Simon & Garfunkel lieben.

tl.

R-A-M-SBeaten Up Dogs Don’t Dance(Lux Noise)

Jetzt also wieder unter ei-genem Namen. Nach der Reunion der Bucks kehrt Rams als Solokünstler zu-rück, eine Rolle, in der er es in den 80ern zu helve-tischem Rockstar-Status brachte. Wobei die Vorzei-chen nun anders stehen. Erstens deutet die Schreib-weise R-A-M-S an, dass es sich hier nicht nur um den Sänger, sondern um eine Band (Gitarre: Philip Zeman, Drums: Pidi Leu-enberger, Ex-Hellmute) geht. Und zweitens klingt «Beaten Up Dogs Don’t Dance» nicht, als hätte sich das Trio gross Gedanken zu potenziellen Zielgrup-pen gemacht. Geboten wird Rock, wie ihn so ähn-lich einst die Godfathers draufhatten, manchmal nah am Punk, dann wieder als dreckiger Sleaze («Am I Nominated»). Und «Ain’t Good Enough – Ain’t Good Enough» kommt mit verspieltem Geklöppel und lustig fiependem Keyboard daher. Die Songs gehen gut ins Ohr, und Rams hat noch immer eine Stimme, die dafür sorgt, dass sie auch hängen bleiben. Eine gefreute Sache also, die allerdings die Phrase «We-niger ist mehr» bestätigt: Die LP hat mit zwölf Songs genau die richtig Länge. Warum auf der CD noch vier weitere Stücke drauf sind, erschliesst sich nicht zwingend.

ash.

45 Prince«Purple Boy Gang» (EM) von Pip Proud verbindet das Schräge von Michael Yonkers mit dem Repetitiven von Velvet Underground. Fliegende Bananen oder sprechende Tomaten – die Pillen richten es. Aufgenommen 1968 in Australien, erfüllt dieser Song genau, was einem bei zig an-deren Wiederveröffentlichungen von Psych-Kleinauflagen der Pressetext weismachen will. Das 1997 aufgenomme-ne «A Million Years From Now» wird wohl ein vertontes Liebesgedicht sein. Leider fehlen mir die Nerven, diesem Akustik-Gitarrengeschrummel ein weiteres Mal zuzuhören für eine vertiefte Analyse. Diese findet sich dann bestimmt einmal auf irgendeinem Fan-Blog.Noch ist unklar, wer hinter The Man steckt. «Carousel of Sound» (Hozac) liesse sich aber glaubhaft als eine Platte von GG King verkaufen. Das Intro sowie das Gitarrensolo passen zum Titel «TV On», ansonsten wird hier dem Punk das schnelle Rennen beigebracht. «Pay» schafft es inner-halb einer Minute auf acht Halt-und-Weiter-Breaks und kommt trotzdem ohne Blutverdünner aus. Und dann ruft «I Don’t Care» zum abschliessenden Gitarren-Pogo.Unsere Ohrenschüssel haben wir seit Jahren Richtung Ost-schweiz ausgerichtet, um auch ja nix aus der famosen La-Suisse-Primitive-Konzertreihe zu verpassen. Für das neu ins Leben gerufene Plattenlabel La Suisse Primitive gilt na-türlich dasselbe. Die Nr. 001 trägt Augenwasser, das Ein-Mann-Vier-Spuren-Tüftelprojekt von Elias Raschle, den man auch seit mehr als einem Jahr hinten am Schlagzeug von Roy & the Devil’s Motorcycle oder vorne mit Gitarre bei Mystery Park sieht. In «New Seas» wird eine träume-rische Cellostimmung überlagert von ruhigem Folk-Tabla-Gitarrenpicking, während man vom Gesang eingelullt und sanft auf den Meeresgrund gezogen wird, wo man gerne liegen bleibt und die neue Umgebung bestaunt, bis man von «Raw Mickey Mouse Power» aufgeschreckt wird. Mi-nimales Schlagwerk mimt den Drumcomputer, und Rhyth-musgitarre legt den Boden für einen herrlichen Fuzz-Gitar-ren-Jam, der so abrupt verschwindet, wie er gekommen ist. Hier erinnert nicht nur das Cover an White Fence.

Philipp Niederberger

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SZENE

Baumgartenstrasse 19 | CH 8200 Schaffhausen | www.taptab.ch

Fr 29/8Bar 2000

Nu Disco, House – Soulful, Funky, Deepfeat. Les Profs de Gym (SH)

Sa 30/8Intersity Musikfestival

airo meets Scha hausenSha3byton, Reggaeton,Dancehall, Tropical BassAl Madfa3geya (Kairo), Real Rock,Phil Battiekh, Darelito

Sa 6/9Colors

HipHop, Urban, R’n’B, TrapDJs Tray, Mack Stax, Cutxact

Fr 5/9Night of Strix

Minimal, Deep House, Tech HouseDJs Melokind («Lochmann Rec.»/Köln)Dan@Work, Marc Maurice,S.O.S. SunElektrisch

Fr 12/9Lombego Surfers (BS)

Thee Irma & Louise (BE)DJs les camomberts (BS)Surf’n’Roll, Garage Punk

Sa 13/9Dirty Honkers (D)

DJ Tomahawk (D)«Swing, Brother & Sister, Swing!»Electroswing, HipHop

Fr 19/9The Daisies (SH)

Hopes & Venom (SG)DJs Lucy P & Sandy G«Space Sickness»Indie, Alternative, Postrock

Sa 20/9Tanzabend mitAnstand und Stil

«Drumpoet Community»-LabelnachtAlex Dallas (ZH), Ron Shiller (ZH)Washerman (ZH), Fredi B., Herr Mehr

Fr 26/9Dead Brothers (GE)

Papst & Abstinenzler (SH/ZH), DJ TigerhankBack From The Grave With «Black Moose»Funeral Rock’n’Roll, Gothic Country Swing

Sa 27/9Elijah & Band (ZH)

«What A Bam Bam»Dancehall, Ragga, ReggaeReal Rock Sound, Boom Di Ting

18.9. S I N K A N E ( U S A )

25.9. THE ACID (USA, UK, AUS)

22.10. T O R O C O C O ROT (DE)

6.11. Z O L A JESUS (USA)

P A L A C EHERBST 14

palace.sg, Blumenbergplatz, St. Gallen

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nagel

DROGEN UND ÜBERGEPÄCKNagel? Das soll ein Künstler sein? Ant-wort: Ja. Und was für einer. Musiker, Linol-Artist und Autor. In letzter Funkti-on erreicht er nun die Schweiz, um die verschnarchte Institution «Lesung» aufs nächste Level zu heben.Nagel besitzt etwas zutiefst boyishes, obwohl der gross gewachsene Typ schon etliches über 30 ist. Liegt vermut-lich an den Knopfaugen, der Rastlosigkeit oder seinen Schlafzimmer-Tattoos. Dennoch kann der in Rheine, also im deutschen Münsterland, geborene Künstler auf eine vielschichtige und lang laufende Vita in Punk und Pop zu-rückblicken. In den Neunzigern gründete er voller Hass auf eben jene Kleinstadt Herne mit drei Freunden die Band Muff Potter und gab ein satirisch durchgeknalltes Magazin namens «Wasted Paper» heraus. In Letzterem liess er es sich nicht nehmen, auch die eigene Szene – damals noch strikt Punk – anzugreifen, für ihre Selbstgefälligkeit zu verhöh-nen, infrage zu stellen. Muff Potter indes orientierten sich schon eher am Status Quo von schrammelig bretterndem Punkrock, durch unablässiges Touren und geiler Attitüde erreichte die Band bald Kultcharakter. In den 2000ern liess man überdies das Dogma des Platten-Selbermachen hinter sich und veröffentlichte beim Branchenriesen Universal. Doch Ende des Jahrzehnts hatte sich die kleine Band aus Rheine auf den Autobahnen des deutschsprachigen Raums selbst überholt und verkündete ihren Abschied. Auch schon wieder einige Zeit her, steht demnächst also vielleicht eine Muff-Potter-Reunion an? «Eher schiesse ich mir in den Fuss!», lässt sich Nagel am Tresen zitieren. Denn man sollte erwähnen: Konsequenz und Ekel vor Wie-derholung sind zwei der Hauptmerkmale des grossen Asch-blonden. Was allerdings nicht heissen soll, ohne Musik ginge es für ihn. Nagel macht weiter, unter seinem eigenen Namen. Das Ganze dabei solo beziehungsweise zusammen mit powerbetriebenen, famous Arschgranaten der Berliner Post-Punkrock-Szene. Berlin, dort lebt Nagel mittlerweile.Musikmachen bleibt ihm erhalten, seinen Blickwinkel dar-auf verrät er im Interview.«Als ich die Antifa Rheine gegründet habe, ging es mir eher um Schadensbegrenzung als um Weltverbesserung. Viel-leicht mag das schon für den ein oder anderen eine zyni-sche Einstellung sein, aber ich bin einfach für Realismus – und gegen Sentimentalität. Deshalb auch so harte Sätze wie ‹Romantik ist nur Dummheit in Geschenkpapier und Mitleid is just a four letter word›. Ganz plakativ gesagt: Ich sehe meine Rolle als Künstler eher darin, in möglichst guten Worten zu beschreiben, was um mich rum passiert, und meinen salzigen Finger in Wunden zu legen.»

ZU FUSS IN DIE SCHWEIZ

Ein Typ, der so denkt und textet, da liegt es nicht fern, nach einer literarischen Ambition zu suchen. Und richtig, zuerst erschien (2007) das Buch «Wo die wilden Maden graben», ein Reader zwischen funny Band-Biographie und persönli-chen Texten über die Tristesse zwischen den Spässen (be-ziehungsweise den Touren). Eine der lustigsten Geschich-ten in den «Maden» ist übrigens die Beschreibung, wie die Band einen Grenzübertritt in die Schweiz abziehen will, ihr Gefährt von den Schweizer Zöllnern allerdings aufge-

halten wird. Zu schwer, zu überladen. Ergebnis: Die Band («Ihr seid zu fett!») wird mit Tornistern und Instrumenten in Deutschland vom Fahrer rausgeschmissen und muss die Grenze zu Fuss überqueren, um dann am ersten Rasthof hinter dem Kontrollposten schweissüberströmt wieder auf-gesammelt zu werden. Immerhin, so schreibt Nagel, blieb ihm damals ein Schweizer Einreisetriumph: Die Zöllner hatten die mitgeführten Drogen (Hasch) zumindest nicht entdeckt. Heute würde er das natürlich nicht mehr tun! Also Drogen, nicht Einreisen...Nach dieser unterhaltsamen Fingerübung von Buch be-schritt Nagel dann literarisch ambitionierte Pfade und ver-öffentlichte 2010 im Heyne Verlag sein Roman-Debüt «Was kostet die Welt». Das bedeutete den Durchbruch, nun ist Nagel auch als Autor etabliert und reist lesend durch Wälder und Auen – okay, vornehmlich eher von Stadt zu Stadt. Was er auf diesen und anderen Reisen erlebt und fotografiert hat, wird seine nächste Veröffentlichung zum Thema haben. Ein launiger, textreicher Bildband. Auf der aktuellen Lesereise gewährt er dabei bereits einen Einblick in dieses noch nicht

gedruckte Buch. Heisst konkret: Der Zuschauer bekommt skurrile Fotos auf Leinwand gezeigt und hört dazu die passende Story. Smart, emotional, komisch.Multitalent Nagel macht überdies auch als bildender Künstler Ausstellungen, auf denen er Linoldrucke zum Thema Raucher zeigt. Doch das ist eine andere Geschich-te. Jetzt erstmal kommt Na-gel zum Vorlesen in Deine Stadt. Sei dabei oder grab Dich ein für immer.

Linus VolkmannLesung: 15.9.,

Kaufleuten, Zürich

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Vermessen am La Bâtie

Wenn einem die Deutschschweiz auf den Geist fällt, packt man zusam-men und fährt mit dem doppelstöckigen Intercity Richtung Westen. Grund sind Festivals, die Namen wie For Noise, Nox Orae oder La Bâtie tragen. Letzteres findet in Genf statt, wo während zweier Wochen neben der The-ater- und Tanz-Prominenz auch einige Grosse aus der Musiklandschaft zu begutachten sind. So prüft Hot-Chip-Sänger Alexis Taylor als DJ die Plat-tenteller, Warpaint vernebeln die Sinne, das Duo Demdike Stare archiviert den Soundtrack der Angst und Junip um José González spielen das schöne Lied. Eine Mehrsparten-Veranstaltung wie La Bâtie ist aber auch ein idea-les Tummelfeld für Super-Furry-Animal-Sänger Gruff Rhys (Bild), der mit seinem tollen Buch-, App-, Film- und Plattenprojekt «American Interior» anreist, während die wiedervereinigten Slowdive ihre verlorenen Dream-Pop-Hymnen nicht nur für einsame Herzen geben werden. Weiter auf dem Pflichtprogramm, zumal für Deutschschweizer, steht der Besuch am Märit, an dem 18 Indie-Labels aus der Romandie ihre Platten feilbieten. Und so wird man schwer beladen und schwer beeindruckt den doppelstöckigen Intercity betreten und wieder heimfahren, bis einem die Heimat neuerlich auf den Geist fällt. (bs)

29.8. bis 13.9., Genf, www.batie.ch

Hypnotisieren mit Attwenger Als sich ein Linzer Duo namens Attwenger 1990 anschickte, alpenlän-dische Volksmusik mit Punk fremdgehen zu lassen, war nicht damit zu rechnen, dass daraus eine überlebensfähige Band hervorgehen würde. Fast ein Vierteljahrhundert, acht reguläre Longplayer, zwei Kinofilme und über 700 Konzerte später ist klar: Gedscho. So umstandslos und gekonnt wie Markus Binder (Schlagzeug, Maultrommel, Gesang) und Hans-Peter Falkner (Steirische Harmonika, Gesang) die traditionelle Mu-sik ihrer oberösterreichischen Heimat mit HipHop, Drum’n’Bass, Blues, Rock’n’Roll und allen möglichen anderen traditionellen Musiken der Welt verschmelzen, ist Attwenger längst mehr eine Stilrichtung als eine Band. Dass die beiden ihr weites Feld weiterhin allein bespielen, liegt einerseits daran, dass ihr opulenter Minimalismus, ihre intellektuelle Bodenstän-digkeit und ihre subtile Vulgarität kaum nachzuahmen sind. Andererseits ist Attwenger wohl auch deshalb nicht die bekannteste Band der Welt, weil bei ihren anstehenden drei Schweizer Konzerten ebenso wie in Aus-tin, Harare, Lahore oder Nowosibirsk, wo sie auch schon aufgetreten sind, kein Mensch ihre Mundart versteht. Oder zumindest: Kaklakari-ada. Zum Glück macht dieses Duo auch ungebremsten Spass, wenn die Höhenflüge und Tiefschläge ihres grossartigen Songwritings im Trom-mel- und Akkordeonwirbel untergehen. Denn Attwengermusik rast, hyp-notisiert und bringt das lahmste Tanzbein in Schwung. Dramas! (bmu)

30.8., Café Kairo, Bern, 31.8., El Lokal, Zürich, 18. 9., Galvanik, Zug,

NACHTSCHICHT

Herumtoben mit King Buzzo

Und da kommt er auch schon: Buzz Osborne, besser bekannt unter seinem Kampfnamen King Buzzo und als Mastermind der Melvins. Er hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten auf unzähligen Bühnen und Tonträgern als Meister der Dreschflegel-Gitarre einen Namen gemacht. Ohne seinen Einfluss hätte es den Grunge-Hype der frühen Neunziger womöglich gar nicht erst gegeben, aber darüber sollte an anderer Stelle spekuliert wer-den. Hier geht es vielmehr um das neuste Kapitel einer langen Karriere. Der Buzzmeister, der clevere Draufgänger, hat nämlich die Stromklampfe für den Moment mal weggepackt und sein akustisches Solo-Debüt «This Machine Kills Artists» eingespielt. Und dafür hat er sogar einen eigenen Stilbegriff eingeführt: «Molk», also die verwegene Mischung von Folk und Metal. Die Live-Feuertaufe hat King Buzzo bereits hinter sich gebracht, und die kursierenden Videomitschnitte dieser Auftritte lassen einiges an Spektakel erwarten: Nur ein Mann und eine Gitarre – aber viel Bühnen-raum, in dem unser König herumtoben kann. (amp)

10.9., Bad Bonn, Düdingen; 11.9., Rote Fabrik, Zürich

Oszillieren mit Marissa Nadler

Im Februar hat sie ihr aktuelles Album «July» veröffentlicht, nun kommt sie für zwei Gastspiele persönlich vorbei, die unvergleichliche Marissa Nadler. Man darf die 33-Jährige durchaus als eine der besten Singer/Song-writerinnen der Gegenwart bezeichnen. Als eine Frau unzähliger Talente, die in ihren an Townes Van Zandt und Leonard Cohen geschulten Liedern die stille Tragik des Alltags vertont und ihre Stimme dabei zwischen der Elegie einer Hope Sandoval und dem Gestus eines Grant-Lee Phillips oszil-lieren lässt. Die Fachpresse hat natürlich versucht, das musikalische Schaf-fen von Frau Marissa in griffigen Begriffen zu umschreiben, doch als einzi-ges Etikett ist dabei «Dream Folk» hängen geblieben. Das trifft die Sache eigentlich ziemlich gut, doch angesichts dieser wunderbaren, tief beseelten Songs mag man gar nicht mehr mit Fachbegriffen jonglieren, sondern ein-fach irgendwo hinten im abgedunkelten Raum herumstehen und in stiller Entrücktheit zuhören. Am allerliebsten für immer. (amp)

8.9., Bad Bonn, Düdingen; 9.9., El Lokal, Zürich

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NACHTSCHICHT

Dräuen mit Disco Doom

Im Verlauf der Jahre hat sich einiges geändert. Aus Autotelefonen wurden Handys, aus Handys wurden Smartphones, aus NES wurde Super Ninten-do wurde Nintendo 64, aus VHS wurde DVD wurde Blu-Ray, doch – um mit dem Manufactum-Slogan zu sprechen – es gibt sie noch, die guten Dinge des Lebens. Und dazu gehört zweifellos die Musik von Disco Doom. Die Band um Anita Rufer und Gabriele De Mario hat sich in den Neun-zigerjahren aufgemacht, die Indie-Welt zu erobern. Sie haben unentwegt an ihrer Musik gefeilt und waren wiederholt mit der US-Band Built To Spill auf Tournee. Deren Gitarrist Jim Roth hat denn auch ihr aktuelles Album «Numerals» aufgenommen, auf dem das um den Bassisten Flo Götte erweiterte Duo die Möglichkeiten des verzerrten Gitarrenklangs in all seinen Facetten auslotet. Das kann dann durchaus auch mal etwas be-sinnlicher klingen, unterfüttert von leiser Psychedelik – bevor einmal mehr alles losbricht und in ein furioses Finale mündet. Die Melodiebögen sind beeindruckend und mitunter monumental in ihrer verwegenen Ausgestal-tung. Dazu gibt es auf Platte auch noch die beiden kontemplativen Piano-Exkurse «Window» und «Wanna Go to Rockaway Beach», die man sich zur Einstimmung auf die anstehenden Konzerte anhören sollte. Denn live werden die leider nicht zu hören sein. Aber vielleicht später einmal, wenn die Band zum Gastspiel in die Tonhalle eingeladen wird. (amp)

13.9., Bad Bonn, Düdingen; 2.10., I Ha Nüt Festival, Cully; 3.10., SAS, Delémont

Zitieren mit Sinkane

Vor einem Jahr erschien «Who Is William Onyeabor?», eine Platte, auf der sich die unwahrscheinlichen und grossartigen Songs des nigerianischen Sci-Fi-Keyboardspielers William Onyeabor einem angemessen grossen Pu-blikum präsentierten. Es ist davon auszugehen, dass Ahmed Gallab neben David Byrne oder Damon Albarn einer der wenigen Personen war, der mit Onyeabors obskurem Werk bereits vor dieser bahnbrechenden Compilati-on vertraut war. Denn in den Songs, die Gallab unter seinem Alias Sinkane veröffentlicht, ist eine ähnliche ausserweltliche Sehnsucht auszumachen, so dass das ehemalige Yeasayer-Mitglied als musikalischer Direktor der Onyeabor-Allstar-Band eine Idealbesetzung war. Allerdings zieht es den Multiinstrumentalisten Sinkane auf seiner zweiten Platte «Mean Love» viel weiter in Richtung Pop. In seinen Songs finden sich allerlei Zitate, die von Curtis Mayfield über Afrobeat bis hin zu Countryeskem reichen. Was das Ganze zusammenhält, ist Gallabs Stimme, welche die brutale Liebe besingt und den aufregend instrumentierten Songs eine schöne Eleganz verleiht. Eine Eleganz, die selbst in den zahlreichen Remixes von seinem Minihit «Runnin’» nicht verloren gegangen ist. (bs)

18.9., Palace, St. Gallen

Schminken für Dark Horses

Wer findet, der Bandname Dark Horses klinge schwer nach Konzept, soll mal die Videos dieser Band anschauen. Sie sind konsequent in Schwarz-weiss gehalten, und Sängerin Lisa Elle trägt meist irgendwas dunkel glän-zendes. Überhaupt ist es die Schwedin am Mikrofon, die der Band aus Brighton (wo Nick Cave wohnt, der die Gruppe scheints für die beste der Stadt hält) ihre Identität verleiht. Wobei man nicht überhören sollte, was die Männer an den Instrumenten hinter der Gruft-Fassade fabrizieren. Ihr Postpunk integriert den mechanischen Rock der Kills, klampft sich durch dunkel schimmernden Glam, motort mal krautrockig ins Psychedelische (man höre das Doors-Cover «Hello, I Love You»), bevor er über Shoegaze-Hallfahnen zurück zum Dark Wave findet. Ziemlich cool. Dark oder ge-nauer Cold Wave ist auch das Stichwort für Veil Of Light, ein Ein- oder neuerdings Zweimann-Projekt aus Zürich, das im Vorprogramm klirrend die Gruft-Orthodoxie der 80er zelebriert. Einlass nur mit Kajal. (ash)

18.9., Bogen F, Zürich

Verwandeln mit Sleepy Sun

Es gibt Bands, denen scheint das Musikmachen etwas leichter zu fallen als anderen. Sleepy Sun aus Santa Cruz, Kalifornien, zum Beispiel. 2005 schlos-sen sich die damaligen Studenten Bret Constantino, Matt Holliman, Evan Reiss, Brice Tice und Hubert Guy zusammen und machten ihre ersten Geh-versuche als Garage-Rocker. In den kommenden zwei Jahren fanden mehr und mehr Psychedelic-Einflüsse ihren Weg in den Bandraum, ihnen folgte Rachel Fannan, ehemalige Sängerin von Birds Fled From Me, und Sleepy Sun als Band waren geboren. Kurz darauf erschien das Album «Embrace». Über die Jahre hat sich nicht nur die Zusammensetzung der Band verän-dert – Rachel Fannan stieg aus, um sich mehr auf ihre Solokarriere zu konzentrieren, und Bassist Hubert Guy wurde durch Jack Allen ersetzt. Die Band tourte trotz stetiger Veränderungen seit ihrer Gründung wie ver-rückt durch Amerika – unter anderem mit den Arctic Monkeys und den Black Angels – und Europa und durchlebten gleich einige Leben aufs Mal, streiften alte Gewohnheiten ab – und scheinen sich endlich selbst gefunden zu haben. Das hört man Sleepy Suns experimentellem und doch smoothem Sound an: Die Songs wirken in sich geschlossen, ruhen in sich selbst und wirken doch so mühelos leicht wie eine sonnengetrocknete Lockenmähne nach einem Strandtag. (mim)

20.9., KiFF, Aarau

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