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JUN/JUL.15 Im Umbruch

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JUN/JUL.15

Im Umbruch

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EINSCHLAUFENEs ist eine Reise mit ganz leichtem Gepäck, aber ohne Plan. Und niemand beachtet den Mann, der da am Bahnsteig steht. Seine Augen sind hinter einer halbdunkel getönten Randolph-Sonnenbrille verborgen, er raucht unaufgeregt noch eine Zigarette, wirft einen Blick auf seine Armbanduhr und lächelt leise, als der Hochge-schwindigkeitszug einfährt. Das Ticket für die temporäre Flucht hat er in der Brusttasche seines unauffällig bestickten Kurzarmhemds stecken, seine Brieftasche ist gefüllt mit einer Bargeldre-serve, die man durchaus als substanziell bezeich-nen könnte. Wohin genau er aufbricht, bleibt unklar, auch nach Durchsicht seiner Notizen, die er zuhause in einem Schuhkarton mit dem Vermerk «Ge-lassen nachgelassen – für meine Biografen» verstaut hat. Er besteigt den Zug, sucht sich ein freies Abteil, setzt sich so hin, dass ihm die Sonne durch das schlierige Fenster in die Augen scheint, legt seine Reisetasche auf den Sitz gegen-über, holt eine Dose Bier, eine Tageszeitung und einen Kugelschreiber hervor. Damit schreibt er in kleinen Druckbuchstaben ein Wort auf seinen linken Unterarm: «Alberich». Der Zug setzt sich in Bewegung, dar Bahnhof verschwindet irgendwo im Hintergrund, die Landschaft öffnet sich. Der Mann hinter der Sonnenbrille lockert seinen imaginären Krawat-tenknoten ein wenig, setzt die Bierdose an und trinkt, während er konsterniert aus dem Fenster

Impressum Nº 05.15DER MUSIKZEITUNG LOOP 18. JAHRGANG

P.S./LOOP VerlagPostfach, 8026 ZürichTel. 044 240 44 25, Fax. …27www.loopzeitung.ch

Verlag, Layout: Thierry [email protected]

Administration, Inserate: Manfred Mü[email protected]

Redaktion: Philippe Amrein (amp), Benedikt Sartorius (bs), Koni Lö[email protected]

Mitarbeit: Philipp Anz (anz), Reto Aschwanden (ash), Thomas Bohnet (tb), Pascal Cames, Christoph Fellmann, Christian Gasser, Michael Gasser (mig), Hanspeter Künzler (hpk), Tony Lauber (tl), Philipp Niederberger, Adrian Schräder (räd)

Druck: NZZ Print, Schlieren

Das nächste LOOP erscheint am 10.7.2015

Titelbild: Howe Gelb

Ich will ein Abo: (Adresse)10 mal jährlich direkt im Briefkasten für 33 Franken (in der Schweiz).LOOP Musikzeitung, Langstrasse 64, Postfach, 8026 Zürich, Tel. 044 240 44 25, [email protected]

Betrifft: Verlieren kann man überall

schaut. Er denkt an Bob Dylan, Lou Reed, David Bowie, Neil Young – und Lady Gaga. Und fragt sich: «Wie haben die das bloss hinbekommen?» Diesen permanenten Umbruch, diesen fast schon seriellen Richtungswechsel, dieses ständige Neu-positionieren ihrer selbst. Der Zugbegleiter, der gerade vorbeikommt, um die Tickets zu perfo-rieren, weiss auch keine Antwort.Die Leute im Rampenlicht nutzen sie also dau-ernd, diese Möglichkeit, sich neu zu erfinden. Chamäleons im Metamorphosen-Modus, beju-belt und gefeiert. Während den kleinen Leuten nicht viel mehr bleibt, als einfach aus ihrem All-tag zu verschwinden, einen sauberen Bruch her-beizuführen und ihr Glück woanders zu suchen. In miesen Gegenden, in denen niemand auf sie gewartet hat.Als unser Mann schliesslich an seinem Ziel-ort angekommen ist und einen ersten Blick auf die Atlantikküste wirft, weiss er noch nicht so recht, ob er nun einen grossen Fehler gemacht hat. Oder am Beginn eines Lebens steht, in dem er es sich nun endlich auch mal gutgehen lassen kann. Die Meeresbrise ist verheissungsvoll, die Brandung beruhigt ihn, er schiebt sich die Son-nenbrille ins Haar und atmet ein. Er atmet aus. Er sieht sich seinen Unterarm an, dann schaut er raus zum Horizont. Und er denkt sich und weiss: «Verlieren kann man überall.»

The Freewheelin’ Guido

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NEUE MUSIK

Tyondai Braxton besetzt einen musika-lischen Aussenposten. Nun hat das ehemalige Mitglied der Battles seine grosse Komposition «HIVE1» als Album veröffentlicht.Wahrscheinlich lebt es sich für ihn hier besser, entspannter und doch aufregender: hier, das ist ein Aussenposten, der fernab der erforschten Pfade der Popmusik, ja, der Musik überhaupt liegt. Hier zirpen digitale Grillen, manipulier-te Snaredrums zwirbeln, und der durchgehende Beat des Dancefloors taucht nur noch als Erinnerung auf an eine Zeit, in der er sich urplötzlich im Zentrum widerfand. Im Jahr 2007 war Tyondai Braxton in diesem Zentrum. Schuld war eine Math-Rock-Hymne, die er gemeinsam mit seinen Komplizen der Band Battles erschaffen hat: «Atlas» hiess das Monster, das durch Braxtons ungreifba-re Helium-Gesangslinie zu einem der unwahrscheinlichen Indie-Hits des Jahres wurde. 2010 folgte der Ausstieg von Tyondai Braxton aus der Band, denn ausgiebiges Touren mit einem neuen Album, das kam für ihn nicht mehr infra-ge. «Es ist eine traurige, doch freundschaftliche Trennung», behauptete eine Mitteilung der Battles, eine Trennung, die

in einer Neuerfindung der Band mündete – und die es Tyondai Braxton erlaubte, weiter zu forschen an einer Musik, die so noch nicht gehört wurde.Der Bruch hat sich 2009 bereits abgezeichnet. Da-mals erschien auf Warp Braxtons Komposition «Central Market», die er für ein grosses Orchester geschrieben hatte und die die Schärfe und cartoon-hafte Verspieltheit, die auch «Atlas» ausgezeichnet hatte, in den klassischen Konzertsaal verabschie-dete. Braxtons elektrische Gitarre – sein damaliges Hauptinstrument, das er nie wie ein herkömmli-cher Held aus der Rockge-schichte spielte – und seine Splatter-Gesänge sorgten für den Puls und für Mo-mente, die auch für Battles-Fans reizvoll waren. «Cen-

tral Market» war ein Werk eines Mannes, der eine müde Avantgarde-Szene mit neuen kompositorischen Impulsen auffrischte, ohne diese allzu sehr zu erschrecken. Es ist eine Avantgarde-Szene, die noch immer von alten Grössen wie Steve Reich oder Philipp Glass geprägt ist, wie auch von Tyondais Vater Anthony Braxton.

NIRVANA STATT STOCKHAUSEN

Der Saxofonist und Komponist, der als Teil der Associati-on for the Advancement of Creative Music (AACM) den Jazz neu erforschte und später auch theoretisierte, war eine Vaterfigur, die Tyondai überwinden musste. «Die Musik meines Vaters war so ehrfurchtgebietend und damals für mich auch komplett undurchdringbar. Zudem stammte sie aus einer Zeit, die nicht meiner entsprach», erinnert sich der heute 36-Jährige in einem Interview mit der «New York Times». So hörte Tyondai Nirvana, Sonic Youth und Punk-Rock statt die Werke von Stockhausen oder Schön-berg, denn er war «pissed off» wie so viele andere Kinder der Neunzigerjahre, die mit ihren Eltern nicht klarkamen. Stärker als die Musik und die Seelenverwandtschaft zu Nir-vana und Konsorten wirkte auf ihn die Erkenntnis, dass man Musik machen kann, die simpel gestrickt und doch kraftvoll ist. Und diese Musik überzeugte Tyondai Braxton auch, dass er an einen anderen Ort als sein Vater hingehen muss. Allein: «Je mehr ich mich aber mit Arrangements und dem Komponieren befasste, desto stärker bemerkte ich meine Verbindung zur orchestralen Musik. Und so musste ich das, was ich von meiner Generation gelernt habe, mit-nehmen und mit meiner musikalischen Herkunft verbin-den. Das war sehr schwer.»

AMORPHE SOUNDMASSEN

2013 und 2014 entwickelte Braxton seine Komposition «HIVE1». Die Instrumente, mit denen er dieses Stück ent-wickelte, stammten nun nicht mehr aus dem klassischen Konzertsaal oder aus dem Rockclub. Vielmehr tüftelte Tyondai Braxton mit einem modularen Synthesizer, der musikalische Zufälle nie ganz ausschaltet, und schrieb ein Stück, wenn man so will, für Perkussion und eben dieses vielfach verkabelte Ungetüm. Nach Aufführungen im New Yorker Guggenheim-Mu-seum, in dem «HIVE1» als audiovisuelles Kunstwerk zu erleben war, liegt nun die kompakte Albumform vor. Es sind atemraubende 42 Minuten Musik, die vielfach ver-wirren: Die genau designten Synthie-Sounds gehen über in anarchische Noises, die an die New Yorker Band Black Dice erinnern; zuweilen ist man verloren zwischen all den Bleeps, digitalen Grillen und kickenden, herkömmlich ein-gespielten Perkussionsinstrumenten, ehe der Beat zusam-mengesetzt ist – und unwiderstehlich, wenn auch nur kurz, zum Tanz lädt. «HIVE1» ist eine amorphe Soundmasse, die immer neue Gestalt annimmt, ein abstraktes Stück, das nie in den akademischen Elfenbeinturm der glücklicher-weise überlebten E-Musik flüchtet. Natürlich ist «HIVE1» auch keine Popmusik, aber es ist zu wünschen, dass diese Komposition dank Tyondai Braxtons Vergangenheit auch in diese Gefilde ausstrahlt. Denn wahrscheinlich sind es genau solche Werke, die die Popmusik von der langweilig gewordenen Retromania-These befreien können. Werke, die Tyondai Braxton von einem Aussenposten in die Welt zurückschickt, den er nur erreichen konnte, indem er sich von seiner populären Band getrennt hat.

Benedikt SartoriusTyondai Braxton: «HIVE1» (Nonesuch/Warner)

tyondai braxton

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JAHR DER UNBEFRIEDIGTENAm 12. Mai 1965 nahmen die Rolling Stones ihr «(I Can’t Get No) Satisfaction» auf. Der Song war aber nur einer der Höhepunkte eines Jahres, das die Re-volution von 1968 vorwegnahm und Pop zur prägenden Kunstform der folgenden Jahrzehnte machte. Am 15. Dezember kamen sie zusammen. Gemini 6 und Gemini 7, gesteuert von amerikanischen Astronauten, näherten sich bis auf 30 Zentimeter. Fünfeinhalb Stunden verbrachten sie schwerelos Seite an Seite, dann gingen sie auseinander. Es war das erste intime Rendez-vous zweier Raumsonden. Aber das Bild zweier künstlicher Himmel-skörper, die sich vorsichtig beschnuppern, war vor allem darum so ergreifend und perfekt, weil ihre flüchtige Be-gegnung so nutzlos schien. Erst mit Gemini 8 gelang den Amerikanern das erste Andockmanöver an einen Satelliten, rissen sie im Wettlauf auf den Mond die Führung an sich. Gemini 6 und 7 aber sahen aus wie zwei Geschöpfe aus einem neuen Song, den die Beatles eben veröffentlicht hat-ten: «He’s a real nowhere man / Sitting in his nowhere land / Makin’ all his nowhere plans / For nobody.» Und so war das ganze Jahr. Vieles, was 1965 geschah, schien leicht, unschuldig, ohne Sinn und Zweck. Gerade auch in der Popmusik, wo es allerdings ebenfalls ein Wet-tbewerb war, der die Teilnehmer beflügelte: Bei Motown in Detroit wurde in wöchentlichen Sitzungen um die per-fektesten Hits gestritten; gleichzeitig rang man um Mark-tanteile – gegen den ruppigen Soul aus Memphis wie gegen James Brown, der im Juli mit «Papa’s Got a Brand New Bag» den Funk erfand. Dazu kam, dass die «British Inva-sion» in diesem Jahr auf dem Höhepunkt war; am 8. Mai waren acht der zehn Spitzenplätze der US-Hitparade in britischer Hand. Gleichzeitig forderten sich die Sänger mit immer neuen, schnell aufgenommenen Singles und Alben heraus.

DAS ERSTE VIDEO, DAS ERSTE ‹FUCK›

Bob Dylan tat es mit einer neuen, surrealen Art zu erzählen und dem ersten Videoclip der Geschichte zum «Subterra-nean Homesick Blues». Andere warfen neue Sounds in die Schlacht: die Beatles die Sitar von «Norwegian Wood», die Who das brutale Feedback von «My Generation», die Byrds den Jangle von «Mr. Tambourine Man». Und in San Fran-cisco feierte der Schriftsteller Ken Kesey mit den Grateful Dead die ersten Acid Tests – psychedelisch ausufernde, mit LSD geschwemmte Partys. Wikipedia listet 136 Bands auf, die 1965 gegründet wurden, darunter zahlreiche Ikonen der künftigen Gegenkultur: Captain Beefheart, Jefferson Airplane, Pink Floyd oder die Doors. Das war kaum eine Überraschung, seit 1963 waren die Verkäufe elektrischer Gitarren von 300 000 auf 1,5 Millionen Stück gestiegen. Wikipedia nennt aber auch die Bands, die sich auflösten: 1965 waren das nur Paul & Paula (die vermutlich zu Re-cht vergessen sind). Eine Popkarriere abzubrechen, war in jenem Jahr offenbar keine Option. Denn «die Welt des Pop befand sich in einem Wettlauf mit der Welt an sich», wie Greil Marcus in «Like a Rolling Stone» schreibt, seinem Buch über den gleichnamigen Song von Bob Dylan: «1965 konnte man spüren, dass der Pop im Begriff war, das Ren-

nen zu gewinnen.» In jenem Jahr, vermutete Dylan selbst einmal, hätten die 50er-Jahre erst geendet. Und als hätten sie das geahnt, gaben die gebügelten Jazzcrooner Frank Sinatra, Dean Martin und Sammy Davis jr. im Juni ihre Abschiedsgala als Rat Pack. Die Umbrüche der 60er werden gewöhnlich den Jahren 1967 und 1968 zugeschrieben. Tatsächlich waren sie aber schon 1965 sehr gut sicht- und hörbar – als frühvollendete Revolution, die sich nur noch zur Mode- und Massenbe-wegung vollenden musste. Die Popkultur überwand ihre Wurzeln in Blues und Folk und behauptete sich auf Album-länge als ernsthafte Kunstform, während Andy Warhol mit ersten grossen Einzelausstellungen durch Europa tourte. Wie leicht ihr das in diesen Tagen fiel, zeigten die Beatles: Die nahmen im März erstmals LSD, spielten im August das erste Stadionkonzert der Geschichte, kifften im Oktober im Buckingham-Palast und gaben im Dezember ihr Meister-werk «Rubber Soul» heraus.

gemini 7

bitte umblättern

bob dylan

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JAHR DER UNBEFRIEDIGTENthe who

the beatles

Aber nicht nur waren 1965 die Haare bereits lang, die psychedelischen Drogen noch legal und die Stromgitar-ren billig. Denn während sich das Kinopublikum noch mit «The Pawnbroker» amüsierte und der ersten nackten Damenbrust, welche die amerikanische Filmzensur passiert hatte, war der Pop ein kaum gefilterter Ausdruck der ge-sellschaftlichen Veränderungen, die sich abzeichneten. Er wandte sich an eine junge Gesellschaft, in der die ersten Babyboomer alt genug waren, um zu wählen, zu studieren und Sex zu haben. So nahmen die Rolling Stones im Mai ihr vielleicht bekanntestes Stück auf: «(I Can’t Get No) Sat-isfaction» ist zunächst eine Satire auf den medialen Durch-fall aus Information und Werbung; mit dem keuchenden Fuzz der Gitarre und dem fast zwanghaft repetierten Ti-telslogan klingt der Song zuletzt aber doch wie ein geiler Notruf aus ungelüftetem Teenagerzimmer. Und auch die Who zeichneten im Oktober den Genera-tionenbruch in den weit aufgerissenen drei Minuten und 27 Sekunden von «My Generation» nach. Noch im Januar hatten sich 300 000 Engländer in die Schlange gestellt, um Winston Churchill die letzte Ehre zu erweisen, ihrem grossen Premier der Kriegs- und Nachkriegszeit. Jetzt rupfte John Entwistle am Bass, hämmerte Keith Moon am Schlagzeug so spektakulär an diesem Song, bis der in die Einzelteile zerbarst und Roger Daltreys gestotterte Zeilen

wie eine neue Kriegserklärung klangen: «Why don’t you all fade away.» Da war in England auch schon Labour an der Macht, schaffte die Todesstrafe ab und lockerte die Gesetze über Scheidung und Homosexualität. Die BBC sendete im November zum ersten Mal das Wort «fuck», wenn auch nicht freiwillig.

JUNG UND VIRIL

«Das war das Jahr, als sich alles änderte – und als das auch jeder wusste», schreibt Christopher Bray in «1965. The Year Modern Britain Was Born». Und zitiert, um die Um-brüche zu beschreiben, wiederum einen Popsong: «Busy being born», wie es bei Bob Dylan heisst, sei die Gesell-schaft damals gewesen. Tatsächlich, sie war jung und viril, hatte Geld und auch den nötigen Glauben an die Zukunft, um es auszugeben. Im Februar rollte der millionste Mini aus der Fabrik. In keinem Jahr wurden mehr Exemplare des englischen Kleinwagens gebaut als 1965 – was aber auch bedeutet: Es gab bald auch grössere Autos, die sich jedermann leisten konnte. Und diese Gesellschaft war neugierig. Sie glaubte an neue, unbekannte Welten. Sie glaubte an die Technik und die Drogen. Noch war der Mond nicht erobert und das Be-wusstsein nicht befreit, doch die Nasa und die Beatniks arbeiteten fieberhaft daran. Während von Cape Canav-eral aus nacheinander Gemini 3, 4, 5, 6 und 7 ins All ge-schossen wurden, rief Allen Ginsberg in einem Essay die «Flower Power» aus und warb Timothy Leary im «Psy-chedelic Reader» für den Gebrauch von LSD. In London eröffnete R.D. Laing die Kingsley-Hall, eine Art psycho-therapeutische Kommune, in der ein verwirrter Geist nicht als krank begriffen wurde, sondern als Ausdruck eines ge-sunden Empfindens in einer idiotischen Welt. Die Bewoh-ner assen und debattierten, sangen und tanzten, spielten Pingpong und hatten Sex. Die Schriften von R.D. Laing wurden eifrig gelesen. Etwa von Syd Barrett, einem der Pink-Floyd-Gründer: Er hatte

Nirgends aber war das Spielfeld für die Popmusik so weit wie in der schwarzen Musik in den USA. Denn nirgends klafften Realität und Ansprüche der Community so weit auseinander.

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an seiner Art-School darüber eine Arbeit geschrieben. 1965 spielte seine Band vorerst nur im Proberaum und übte eine Musik ein, die an der zerebralen Frontier spielte. Aber auch hier füllte die Popmusik jene weite Leere auf, die sich zwischen der Welt auftat, wie sie sich zeigte, und einer an-deren, an die man glaubte. Sie füllte sie mit einem jugendli-chen Karacho und einem arroganten Furor, wie sie das Kino oder die Literatur beileibe nicht boten. Das machte die Musik des Jahrgangs 1965 so grossartig, so selbstbe-wusst noch in der Skepsis: In «Like a Rolling Stone» ver-höhnte Bob Dylan den Aufbruch der Gegenkultur. Da hatte er für die meisten noch gar nicht begonnen.

HYMNEN EINES KAMPFES

Nirgends aber war das Spielfeld für die Popmusik so weit wie in der schwarzen Musik in den USA. Denn nirgends klafften Realität und Ansprüche der Community so weit auseinander. Im Februar wurde Malcolm X erschossen. Im März begannen in Selma, Alabama, die Versuche schwar-zer Bürgerinnen und Bürger, vor das Regierungsgebäude in Montgomery zu ziehen und dort gegen das rassistische Wahlgesetz zu demonstrieren, das eine Mehrheit von ihnen von der Wahl ausschloss. Im August eskalierte der Bürger-rechtskampf in den Aufständen von Watts in Los Angeles. Nur Monate zuvor hatten Jazzmusiker in Chicago die As-sociation for the Advancement of Creative Music (AACM) gegründet, das wohl bedeutendste Free-Jazz-Labor. Die radikal entfesselte Musik spiegelte die Hoffnungen des schwarzen Amerikas genauso wie das gospeltrunkene Meisterwerk «A Love Supreme» von John Coltrane. Aber auch die Pophitparade klang 1965 wie eine stol-ze, eine tanzbare Version der Ereignisse. Otis Redding veröffentlichte sein «Respect», den dritten Song von 1965 neben «Like a Rolling Stone» von Bob Dylan und «(I Can’t Get No) Satisfaction» von den Rolling Stones, den die Musikzeitschrift «Rolling Stone» vor ein paar Jahren unter die fünf besten Songs der Popgeschichte wählte. Da war Sam Cooke mit «A Change Is Gonna Come», und da waren die Impressions mit «People Get Ready». Aber auch bei «Stop! In the Name of Love» von den Supremes oder «Nowhere to Run» von Martha & the Vandellas: Die poli-tische Botschaft steckte verborgen und doch schreiend laut in der Hookline. Alle diese Lieder wurden zu Hymnen eines Kampfes, der noch lange nicht zu Ende war, als Lyndon B. Johnson im August ein neues Wahlgesetz unterzeichnete, das die rassistischen Paragrafen aus dem 19. Jahrhundert ablöste. Die Popmusik nahm die Nachrichten des Tages in sich auf, ohne von ihnen zu handeln. Sie war damit ganz bei sich und konnte trotzdem zur Leitkultur der sozialen und poli-tischen Verwerfungen von 1967 und 1968 werden. «No-where to Run» zum Beispiel handelte zwischen den Zeilen und Noten nicht nur vom Tränengas in Selma. Der Song sprach genauso für die US-Soldaten in Vietnam. Im März waren die ersten amerikanischen Bodentruppen in Fernost eingetroffen, am Ende des Jahres kämpften dort über 170 000 Mann. Auch das weisse Amerika lebte damit in einer eskalierenden Wirklichkeit: Schon im April demon-strierten 25 000 Kriegsgegner in Washington, und im Mai verbrannten an der Universität von Berkeley erste linke Studenten ihren Marschbefehl. Ende Jahr sagte Präsident Johnson, die Truppen würden auf 400 000 Mann aufges-tockt. Als sich Gemini 6 und Gemini 7 kurz vor Weihnachten in mehr als 200 Kilometer Höhe trafen, steuerte die Erde ein-er Zukunft entgegen, die voller Ideen war, aber auch voller Konflikte. Ein paar kurze Stunden verweilten die Sonden nebeneinander, schwerelos, dann flogen sie der Erde hin-terher. Auf dem Video, gefilmt aus der einen Kapsel, kann man sehen, wie sich die andere entfernt und zu einem leuchtenden Punkt schrumpft. Zu einer Sternschnuppe, flüchtig wie das Jahr, das jetzt zu Ende ging.

Christoph Fellmann

the rolling stones

the supremes

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«WIR SIND FAULE KERLE»An die 50 Alben gehen aufs Konto von Howe Gelb (58) und seinen diversen Formationen. Der neuste Wurf seiner Band Giant Sand nennt sich «Heartbreak Pass» und gefällt mit ebenso intimem wie reifem Post-Americana.Die Produktion der erste Giant-Sand-Platte, «Valley of Rain», kostete gerade mal 400 Dollar. Geld hatte Bandlea-der Howe Gelb kaum welches, doch die Not machte ihn schon damals erfinderisch. Der US-Amerikaner arbeitete schnell und effizient und zeigte Flair für das Raue und Di-rekte. Seine Alben, die er unter verschiedenen Bandnamen und mit häufig wechselnden Besetzungen veröffentlichte, boten einen Mix aus Garage-Rock und frühem America-na. Sein Sound machte ihn zwar nicht unbedingt berühmt, doch Gelb genoss im Musikerkreisen schnell grossen Re-spekt. Das zeigt sich bis heute und auch auf dem neuen Album «Heartbreak Pass», bei dem so illustre Gäste wie Grant-Lee Philips, John Parish oder Steve Shelley von Sonic Youth mitwirken.

Giant Sand feiern heuer ihr 30-jähriges Jubiläum. Was hat Sie 1985 überhaupt dazu bewogen, die Band zu gründen? Ich brauchte meine Zeit, um zu begreifen, wie man ein Al-bum macht. Mit 19 zog ich nach Tucson, Arizona, wo mein Vater und seine zweite Frau lebten. Die Stadt war damals derart abgeschieden, dass es nicht einmal eine Radiostation gab. So blieb uns nichts anderes übrig, als unseren eigenen Sound zu entwickeln. Bis in die 80er-Jahre glaubte man, dass sich ohne Label keine Platte veröffentlichen lässt. Dennoch gelang es uns, für unser 1985 in Los Angeles ein-gespieltes Debüt «Valley of Rain» einen Lizenzvertrag zu ergattern. Womit ich den Dreh für Giant Sand heraus hatte.

Zweimal standen Sie aber auch bei einem Major-Label unter Vertrag.Schon, aber in beiden Fällen entschlossen sich die Platten-firmen, die Alben nicht zu veröffentlichen. Das geschah erst, als die Musikrechte wieder bei mir lagen.

Wie oft dachten Sie in den 30 Jahren darüber nach, Giant Sand ein Ende zu setzen?Eigentlich nur Ende der 90er-Jahre, als alles den Bach hi-nunterzugehen drohte. Mein Kumpel und Gitarrist Rainer Ptacek erkrankte an Hirnkrebs, und meine damalige Frau hatte persönliche Probleme, wodurch ich quasi als alleiner-ziehender Vater dastand. Ein dunkles Kapitel.

Was hat Sie weitermachen lassen?Dass ich mit meiner neuen Frau nach Dänemark ging, in ihre Heimat. Um etwas Neues auszuprobieren und um von Tucson wegzukommen. Dass man sich in Dänenmark für meine Musik interessierte, hat mich sehr überrascht. Das erleichterte es mir, eine neue Band zusammenzustellen. Als ich mit dieser auf Tour ging, hat das nicht nur unglaublich Spass gemacht, sondern mich spüren lassen, dass sich das Ganze wieder gut und nach Giant Sand anfühlt. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Bandnamen zu ändern, aber ich war schon immer starrsinnig.

Ihre Mitmusiker sind mittlerweile eine halbe Generation jünger als Sie.Nicht bloss eine halbe, sondern eine ganze. Fühlt man sich seinen Mitmusikern verbunden, spielt der Altersunter-schied keine Rolle. Und man fühlt sich rasch jünger, als man ist. Aber natürlich führe ich ein Leben, das mit einer Familie nicht wirklich zu vereinbaren ist.

Sie waren bereits 28-jährig, als Sie Ihr Debüt «Valley of Rain» veröffentlichten. Hatten Sie deswegen das Gefühl, einige Jahre verloren zu haben?Das ist der Grund, warum ich so viele Alben veröffentlicht habe. Ich hatte das Gefühl, aufholen zu müssen. Mein ers-tes Album erschien 1985, und zu meinem Sound fand ich per Ausschlussverfahren. Ich hatte nie ein Verlangen nach einem eigenen Haus, und mir war es auch nie wichtig, reich zu werden. Ich wollte bloss über die Runden kommen und mein eigener Boss sein. Für mich ist es essentiell, Songs zu schreiben, einzuspielen und zu formen. Ich liebe es, den Klängen und Rhythmen zu folgen.

Sind Sie jemals Kompromisse eingegangen?Ich glaube nicht, dass ich je die Gelegenheit dazu hatte. Wo könnte ich schon Kompromisse eingehen?

Vielleicht hat Ihnen das eine oder andere Label dazu geraten, vermehrt Back-ground-Sängerinnen einzusetzen?Noch so gerne! Denn Background-Sängerinnen haben in der Regel einen weit besseren Zugang zu Melodien als ich.

In den Anfangstagen von Giant Sand mussten Sie fix arbeiten, weil Sie nur wenig Geld und entsprechend wenig Studiozeit hatten. Dabei entstand Ihre

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Vorliebe für das Raue und Direkte. Eine Methode, auf die ich auch heute noch gerne zurück-greife. Trotz grösseren Budgets musste ich erfahren, dass es mich nicht weiterbringt, endlos an einem Song zu arbeiten. Im Gegenteil. Verbringe ich zu viel Zeit mit einem Stück, dann klingt zwar alles korrekt, berührt mich aber weniger als eine schlampigere Version des Tracks.

Der Musik von Giant Sand haftet Trockenheit und Staub an. Lässt sich dies auf Tuscon und dessen wüstenhafte Umgebung zurückführen?Ich glaube, dass sich Tucson vor allem im Minimalismus von Giant Sand niederschlägt. Und im Hang zu viel freiem Raum. Allerdings trifft das auch auf die in Dänemark ent-standenen Sounds zu. Inzwischen lebe ich wieder in Arizo-na, weil es meinem Hirn gut tut.

Joey Burns und John Convertino, die für einige Jahre Giant Sand angehörten und heute als Calexico unterwegs sind, lebten ebenfalls lange Jahre in Tuscon. Sind Sie den beiden jemals wieder begegnet?Mit John Convertino habe ich mich vor wenigen Tagen per SMS ausgetauscht. Zu Joey Burns habe ich hingegen keinen Kontakt mehr, obschon er noch in Tucson lebt. Ich habe das Gefühl, dass er sich ein wenig dafür schämt, wie er sich mir gegenüber benommen hat. Als es zum Bruch mit mir kam, war er noch unglaublich jung. Er war ambitiös, anmassend und hatte null Verständnis für die Schwierig-keiten, die ich damals durchlebte. Er war stets organisiert und dachte strategisch, ich nicht. Die meisten von uns, die in der Wüste leben, sind faule Kerle.

Sie sind faul?Ich habe das Faulsein zur Kunstform erhoben. Ich bin nur auf Tour, um meine Faulheit finanzieren zu können. Sonst müsste ich arbeiten gehen.

Auch Neko Case oder Duane Eddy haben ihre Zelte in Tucson aufgeschlagen. Wie lebendig ist die Musikszene der Stadt?Sehr lebendig. Aber nicht wegen Neko Case, sondern we-gen Gabriel Sullivan und Brian Lopez, die beide in mei-ner Band spielen. Sie gehören zu einem kreativen Haufen Musiker, die – Zufall oder nicht – fast alle mexikanische Vorfahren haben. Die zwei sind der Grund dafür, weshalb ich Tucson wieder mag.

Die Besetzung von Giant Sand ist seit Beginn in einem konstanten Fluss. Giant Sand war stets eine organische Angelegenheit. Und wurde immer von den Elementen und von der Natur beein-flusst. Sind wir gut drauf, dann reisst unsere Musik mit wie ein Wirbelwind. Und wie bei einem solchen lässt sich auch bei unseren Auftritten nicht vorhersagen, was das Resul-tat sein wird. Weil ich etwas ungezügelt erscheine, haben viele Menschen das Gefühl, es sei besser, wenn man von Giant Sand und mir die Finger lässt. Doch ich habe meine Methoden und erziele Resultate. Das wird allerdings erst ersichtlich, wenn man Zeit mit mir verbringt. Bei mir geht es häufig ums Improvisieren, und zwar auf allen Ebenen.

Nochmals: Weshalb ist das Line-up von Giant Sand ständigen Veränderungen unterworfen?Ich denke, dass alles seinen Lebenszyklus hat. Kann jemand weniger Zeit für Giant Sand aufwerfen, fahren wir einfach ohne ihn weiter. Doch ich habe noch nie jemanden gefeu-ert, obschon ich das vielleicht hätte tun sollen. Verlässt ein Musiker die Band, ist das kein Todesfall. Schliesslich blei-ben nicht bloss die Platten, sondern auch allerlei schöne Erinnerungen. Nichts ist für immer. Weder eine Ehe noch eine Freundschaft und schon gar nicht eine Band. Entspre-chend soll man es einfach geniessen, so lange es etwas zu geniessen gibt.

Nach welchen Kriterien suchen Sie sich neue Mitstreiter aus?Im Normalfall suche ich nicht, ich finde. Jeremy Garett etwa hing im Studio herum, als ich mit den Aufnahmen zu «’Sno Angel Like You» beschäftigt war. Jemand erwähn-

te, dass er Schlagzeug spielt, und ich benötigte geraden einen Drummer. Als habe ich es mit ihm versucht – ohne zu wissen, ob er etwas taugt. Ich habe schnell festgestellt, dass der Junge brillant ist. Deshalb ist er inzwischen auch Mitglied von Arcade Fire. Eine Voraussetzung müssen alle meine Musiker erfüllen: Ich muss gut mit ihnen abhängen können.

Sie mögen es, alte Songs neu aufzubereiten. Gibt es auch Lieder, die zu heilig erscheinen, um sie zu verändern?Nein. Denn ich glaube, dass Musik schon immer evolutio-när war. Du fertigst eine Platte an, dann wird sie tausend-fach gepresst. Wodurch sie zu einem blossen Produkt wird. Musik ist die einzige Kunstform, die sich massenhaft her-stellen lässt und die einzige, zu der man auch den Abwasch erledigen kann. Musik ist letztlich nichts anderes als ein Werbespot in eigener Sache. Und wir alle sind uns dessen bewusst. Ein Robert Johnson hat seine Songs jeden Abend anders gespielt. Andere Künstler haben seine Stücke über-nommen und ihr eigenes Ding daraus gemacht. Wichtig bei der Musik ist vor allem die Improvisation. Sie sorgt dafür, dass der Sound nicht an Integrität verliert.

Lässt sich daraus schliessen, dass Giant Sand ohne Setlist agieren?Richtig. Deshalb muss die Band die Musik, die bei einem Konzert gespielt werden könnte, vorab absorbieren. Das ist keine Hexerei.

Wie lange wird uns die aktuelle Formation von Giant Sand erhalten bleiben?Es ist bloss eine Frage der Zeit, bis Gabriel Sullivan und Brian Lopez so mit ihren eigenen Projekten beschäftigt sein werden, dass sie nicht mehr über genügend Freiraum für Giant Sand verfügen. Aber noch bleiben wir zusammen und sind bereits am nächsten Album. Für dieses habe ich mir vorgenommen, «future standards» zu schreiben. Ein bisschen wie die Lieder von Sinatra, bloss sollen meine noch länger überdauern.

Was erachten Sie nach 30 Jahren Giant Sand als grösste Errungenschaft Ihrer Band?Dass es uns noch gibt. Womit ich das erreicht habe, was ich immer angestrebt habe.

Und gibt es etwas, das Sie mit Giant Sand noch erreichen möchten?Wahrscheinlich, aber ich versuche, nicht darüber nachzu-denken.

Interview Michael GasserGiant Sand: «Heartbreak Pass» (New West/Irascible)

howe gelb

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REDIMENSIONIERT tobi gmür

Nach langen Jahren als Frontmann der Band Mothers Pride hat der Luzerner Tobi Gmür diesen Frühling ein Mundart-Album veröffentlicht – und damit seine Karriere in eine ganz andere Richtung gedreht.Die Lieder auf dem Album hören sich so an, als hättest Du bereits jahrelang nichts anderes als Mundart-Songs geschrieben. Zufall? Offiziell heisst es ja, Du hättest anlässlich eines Beitrags zum Jack-Stoiker-Tributalbum «Jack Is Back» die Liebe zur Mundart entdeckt. Aber so einfach kann es ja nicht ge-wesen sein, oder?

Es war mehr oder weniger Zufall. Ich habe immer wieder mit dem Gedanken gespielt, Mundartsongs zu schreiben, hatte lange Zeit jedoch den Mut nicht, es auch anzupa-cken. Dass ich bislang englisch gesungene Lieder machte, war eher ein Zufall. Denn zu der Zeit, als ich anfing, mit Sämi Gallati Songs zu machen, hörten wir gerade mit Vor-liebe Popmusik britischer Prägung – viel Beatles, Rolling Stones und sehr viel Depeche Mode … das war gegen Ende der Achzigerjahre. Mundartlieder haben mich das ganze Leben hindurch begleitet, zuhause liefen oft Mani-Matter-Platten, und seit meinen Zwanzigern gehören Züri West zu den Bands meines Herzens. Dass ich mich dann doch an Mundartsongs wagte, hatte auch den Grund, dass meine «Karriere» eine Richtungsän-derung brauchte. Ich musste meinen kindlichen Traum, die Welt zu erobern, auf die Deutschschweiz redimensionieren, da ich gehört werden möchte – und auch mal Reaktionen zu meinen Texten bekommen.

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Ist es denn angenehmer, in der eigenen Sprache zu schreiben? Oder eben kom-plizierter, weil a) die Leute alles direkt verstehen und b) die Tradition nur sehr wenig hergibt?Ich finde es angenehmer, in der eigenen Sprache zu schreiben, der Wechsel dazu hat sich als eine kleine Befreiung heraus-gestellt. Die anfängliche Angst, man könnte zu oberflächlich werden, weil es platt wirken könnte, wenn man zu ehrlich oder direkt ist, habe ich mittlerweile verloren. Es macht grossen Spass, die Dinge genau so benennen zu können, wie man sie sieht. Man muss einfach voll dazu stehen können und das Verstecken hinter cool klingenden Zeilen – wie es beim Singen in englischer Sprache eher möglich ist – sein las-sen. Ich merke, dass ich nun Menschen erreiche, die Mothers Pride nicht interessierten. Die Tradition im Sinne von Mund-artmusik abseits von Plüsch & Co gibt tatsächlich wenig her, von der Menge her gesehen. Was sie jedoch hergibt, ist von hoher textlicher Qualität, finde ich, wenn ich an Matter und Züri West denke. Diese Messlatte liegt hoch, der Anspruch muss sein, dahin zu kommen. Luzern im Speziellen hat mei-nes Wissens gar keine oder nur eine sehr dürftige Tradition – ausser beim HipHop, da kommt viel.

Mundart ist ja keine Schriftsprache – wie schwierig gestaltet sich da das Songwriting?Einfacher als gedacht, die Mundart ist die Sprache, in der ich denke. Es gibt keine bindende Grammatik, man kann hier und da die Satzstellung etwas umstellen, ohne gleich als Legastheniker zu gelten. Ich habe es richtig lieb gewon-nen, nicht mehr den Umweg über eine Sprache nehmen zu müssen, deren Wortschatz ich nicht vollständig kenne.

Das Verblüffende ist: Du singst in einem «unreinen» Dialekt. Eigentlich müsste es ja heissen: «Gedoud ha» oder «S‘Gäube im Pool». Ist das eine bewusste Anpassung? Oder ist das der «Singbarkeit» geschuldet? Oder biographisch bedingt?Das ist biographisch bedingt, ich bin in der Stadt aufge-wachsen, rechtes Ufer. «Mönch» und «Gedoud» sagen die Menschen erst knapp ausserhalb, ab Rothenburg oder Neuenkirch, glaube ich. Dazu kommt bei mir eine «Verun-reinigung» durch meine Zuger Mutter. Ich singe also genau so, wie ich rede. Wenn ich die Texte aufschreibe, finde ich oft, es sehe sehr komisch aus.

Eines der stärksten Lieder auf dem neuen Album ist «Es esch es Züüg», eine ruhige Reflektion auf – sage ich jetzt mal – gewisse schöne Klischees aus der Countrymusik. Irre ich da?Dieses Lied habe ich an einem eher schwermütigen Nach-mittag geschrieben. Es war mir von Anfang an klar, dass es auf eine Ballade rausläuft. In der Countymusik gefallen mir die schwermütigen Songs am besten, es war nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung, aber sie ist auch nicht allzu weit her geholt.

Besagten Song hast Du mit der Ländlerkapelle Siidhang eingespielt. Wie kam es denn zu dieser doch eher ungewöhnlichen Kollaboration?Dadurch, dass Siidhang auch einen Song zum Jack-Stoiker-Tributalbum beigesteuert haben, das bei Limmat Records veröffentlicht wurde, wo jetzt auch mein Album erschienen ist. Die gute Alexandra Steinegger hat für uns das Sääli in der Alpnacher Pfistern reserviert, und dort konnte ich dem Bandleader Dani Wallimann erzählen, dass ich gerne einen Song mit Siidhang aufnehmen würde. Meine Vorgabe war, dass Dani das Stück arrangiert, ihm verdankt es auch den lüpfigen Instrumentalteil. Er hörte sich zwei meiner Demos an und entschied sich spontan für «Züüg». Im Herbst und Winter sind ein paar Konzerte gebucht, bei denen wir uns noch mehr ans gegenseitige Liedgut wagen werden.

Kurze Zwischenfrage: Weshalb trägt das Album denn einen englischen Titel? «Sincerely, T. Gmür» – eine internationale Signatur als Zeichen dafür, dass das nun nur so ein «Ausrutscher/Zwischending» war?Eine Signatur unter meine «Abrechnung» mit der ersten Le-benshalbzeit, geschuldet meiner Schwester und Grafikerin Susanne. Ich suchte noch nach einem Titel, da hat sie ihn schon gefunden. Englisch auch ein bisschen als Reminiszenz an all die «englischen» Jahre. Die Google-Translate-Resulta-te von Sincerely gefallen mir gut: aufrichtig, ernsthaft, offen und inniglich. Genau so möchte ich Musik machen.

Es ist eigentlich unüberhörbar, dass Du in der Tradition von Züri West stehst. Das läuft – inklusive YB-Seitenhieb – darauf hinaus, dass man für gute Mund-artsongs eine Stadt, einen Fluss und einen Fussballverein benötigt. Falsch?Richtig. Auf jeden Fall für die guten Mundartsongs, die ich kenne. Durch die Züri-West-Songs – denke ich jedenfalls – habe ich Bern und die BernerInnen kennengelernt! Und YB ist durchaus ein Club, für den ich Sympathien habe, seit Lars Lunde und Robert Prytz dort gespielt haben.

In einigen Songs auf «Sincerely, T. Gmür» rechnest Du auch mit Deiner Ver-gangenheit als Bandleader ab. Aber wie steht es denn nun um Mothers Pride?Mothers Pride ist seit fünf Jahren auf Eis gelegt, aber stets griffbereit. Ich bin mir sicher, wir machen wieder ein Album, aber ich weiss auch, dass das noch eine Wei-le dauern kann. Unser Gitarrist Sämi ist mit den Knocked Out Rhythms dabei, seine Rockabilly-Skills zu schärfen. Er spielt aber in meiner Liveband mit, in der auch Bas-sist Kuno Studer mittut. Wir sind also stets sehr nahe an Mothers Pride. Ich freue mich bereits darauf, eine weitere Platte zu schreiben und vorzubereiten, wie und wann auch immer das herauskommen mag.

Und was kommt nun? Ein weiteres Mundart-Album? Mehr Arbeit im Studio? Eine Chanson-Platte mit Stephan Eicher?Ein weiteres Mundart-Album. Vielleicht eines nur mit Siidhang-Arrangements, aufgenommen in der Dorfkirche

Alpnach – oder ein Bandal-bum, produziert vom Ad-miral in Winti? Ich weiss es noch nicht, bin aber fleissig am Lieder schreiben. Um mit Herrn Eicher eine Chanson-Platte machen zu dürfen, muss ich zuerst doch noch eini-ges leisten. Ich habe aber Geduld.

Hast Du eigentlich einen Lieblings-Mundartsong? Oder gab es gar ein Lied, das Dich – abgesehen vom Stoiker-Cover – dazu motiviert hat, in der eigenen Sprache zu schreiben und zu singen?Ganz ehrlich: Ich habe den Traum, dass das wenige, das ich unserem Haus-halt beisteuern muss, mit der Musik hereinkommt, nicht aufgegeben. Also mit Konzerten, etwas Suisa, im besten Fall mit ein paar ver-kauften Platten. Ich musste wirklich etwas ändern, da ich das Gefühl hatte, ich befände mich – musikalisch – in einer Sackgasse. Dazu hatte ich zwei, drei Leute in meinem Umfeld, die mir seit längerem immer wie-der zuredeten, ich solle das mit den Mundartsongs mal probieren. Die Stoiker-Geschichte und auch meine Mitarbeit bei der Open Minded Riot Crew – einem Bandprojekt aus dem Umfeld der FCL-Kurve, wo ich ebenfalls Mundart gesungen, jedoch nicht getextet habe – haben dem Ganzen dann noch nachgeholfen.

Interview Philippe Amrein

Tobi Gmür: «Sincerely, T. Gmür»

(Limmat Records)

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DIE NEUEN PLATTEN

A$AP Rocky«At.Long.Last.A$AP»(RCA/Sony)

Folgende Regel scheint sich mit dem zweiten Longplay-er von US-Rapper Rakim Mayers alias A$AP Rocky zu festigen: Wer eines sei-ner Alben kauft, bekommt das Rundum-Wohlfühlpa-ket. Die volle Dröhnung Soundästhetik, die volle Dröhnung Violett, die volle Dröhnung «Swag». Die Welt, die der 26-jährige Fashionista aus dem New Yorker Stadtteil Harlem erschaffen hat, entwickelt auch fast vier Jahre nach der Veröffentlichung der In-itialzünder «Purple Swag», «Peso» und «Goldie» einen unwiderstehlichen Sog. Gerne streift man sich für ein paar Minuten die Brille des «Pretty Flacko» über und sieht die Welt plötzlich verlangsamt, verschleiert, mit durch die Einnahme eines Hustensaft-Alkohol-Gemischs angeschippertem Bewusstsein. A$AP Rocky macht trippige Musik, die nicht viel mehr sein will als trippige Musik. Ein Rei-se voller Rauchschwaden, Modereferenzen, Stilstudi-en, Kunstpausen und wun-derschönem Eskapismus.Für das zweite Album hat er sich unter anderem Dan-germouse als Executive Pro-ducer, Rod Stewart als Re-fraingast und Mos Def als Reimpartner in die schwim-mende Apotheke geholt. Und dort gibts neben Hus-tensaft auch «L$D». Und wir wollen mehr davon, immer mehr.

räd.

Alpha Blondy & The Solar SystemPositive Energy(Wagram)

In den letzten Jahren ist es um den einst wichtigsten Reggae-Musiker Afrikas etwas ruhiger geworden, und an seine Stelle ist der jüngere, ebenfalls von der Elfenbeinküste stammende Tiken Jah Fakoly getreten.Mit «Positive Energy» bringt sich der grosse Alte aber wieder zurück ins Ge-dächtnis der Fans. Mitte der Achtziger eroberte Al-pha Blondy mit Roots-Reg-gae und politischen Texten die Herzen der europäi-schen Reggae-Fans. Damals wie heute ist die Stärke afrikanischen Reggaes die Vielseitigkeit, die trotz der Roots-Basis auch auf «Posi-tive Energy» gewahrt bleibt. Während durch manche Tracks Rockgitarren fegen, lehnt sich «N’Téritchê» an karibischen Zouk an, jenen Tanzstil, der auch in der El-fenbeinküste sein Zentrum hat. Mit Jacob Desvarieuxs rachitischer Stimme – er ist einer der beiden Gründer der bekanntesten Zouk-Band Kassav – hat sich Al-pha Blondy hier prominen-te Verstärkung besorgt. Bei meinem Favoriten des Albums, dem wunderschö-nen «Séchez vos larmes», hören wir die im Kongo geborene Sängerin Pierrette Adams. Alpha Blondy kriti-siert hier Politiker, die lieber Kriege anzetteln, statt sich um die Probleme der Be-völkerung zu kümmern. Be-gleitet von seiner Band The Solar System gelingt Alpha Blondy ein feines Reggae-Album.

tb.

Lady LambAfter(BB Island)

Hinter Lady Lamb steckt die von der US-Ostküste stammende, inzwischen in Brooklyn lebende Songwri-terin Aly Spaltro, die hier mit ihrer Band schon ihr zweites Album veröffent-licht. Bereits das Debüt, das die 25-jährige Musike-rin noch als Lady Lamb the Beekeeper eingespielt hat, wurde in der Fachpresse hochgelobt. Mit «After» dürfte sich ihr Ruhm nun noch steigern. Schon seit 2007 bastelt Lady Lamb an ihren Songs. Tagsüber arbeitet sie in ei-nem Indie-DVD-Laden, abends spielt sie daheim auf einem 8-Spur-Rekor-der über 100 Songs ein. Nach dem Debüt geht sie auf Tour und arbeitet an-schliessend an den neuen Songs, die wie schon beim Erstling mit Nadim Issa in dessen Studio in Brook-lyn geschliffen werden. So entstanden 12 kleine Indie-Pop-Songs, die Indie-Rock und Grunge ebenso streifen wie Anti-Folk und Alterna-tive-Folk. Verzerrte Gitar-ren, die über fein ziselierte Melodien fetzen, dazu eine sehr starke, präsente und ausdrucksstarke Stimme – das sind die Markenzei-chen von Songs wie «Billi-ons of Eyes» oder meinem Favoriten, dem folkigen «Violet Clementine», des-sen Bläserarrangements an Kurt Weill erinnern.

tb.

Sound SurprisenIm Sommer 1982 erschien in der deutschen Zeitschrift «Sounds» ein langer Artikel über The Fleshtones. Im Ein-stieg verkündete der Autor Hans Keller, er würde mit Pe-ter Zaremba weit lieber über Merengue sprechen als über Rock’n’Roll. Merengue? Ich stutzte. Warum würde ein New Yorker Rockstar über Merengue sprechen wollen? Nach der Lektüre dieses brillanten Stücks Rockjournalis-mus war ich klüger, und meine Ohren öffneten sich für eine mir zuvor völlig fremde Welt. Zum ersten Mal hörte ich von Merengue, ich erfuhr, dass New York jahrzehn-telang die kreative Brutstätte und der grösste Markt für zentralamerikanische Musik war, und dass in seinen La-tinovierteln fusioniert und experimentiert wurde, bis die Tanzfläche glühte und der Salsa seinen Siegeszug um die Welt antrat. Gut, ganz genau weiss ich nicht mehr, was in diesem Text stand, es reichte aber, um eigene Nachfor-schungen anzustellen und mir Platten der Fania All Stars, von Eddie Palmieri, Joe Bataan und anderen anzuhören, und zwei Jahre später landete ich erstmals selber auf latein-amerikanischem Boden. Allerdings in Brasilien – was zu einem vorübergehenden Bedeutungsverlust anderer latein-amerikanischer Rhythmen führte.Leider gab es damals noch keinen Sampler wie «Nu Yori-ca! Culture Clash in New York City: Experiments in La-tin Music 1970-1977». Er hätte mir viele Recherchen und Umwege erspart. «Nu Yorica!» erschien 1995 und schlug ein wie eine Bombe – und zwei Jahre später landete ich in Kuba, um mich mehrere Monate lang unter anderem mit der kubanischen Musik auseinanderzusetzen.«Nu Yorica!» wurde zum Klassiker, und auch zwanzig Jah-re später hat diese Zusammenstellung nichts an Kraft und Faszination verloren. Die Geburtstagsedition kommt in er-weiterter Form daher, soundmässig optimiert und versehen mit Liner Notes, die die wesentlichen historischen Linien nachzeichnen. «Nu Yorica!» setzt 1970 an; da war die New Yorker La-tinszene seit Jahrzehnten fest etabliert. Viele Musiker waren bereits in New York geboren, andere lebten und arbeite-ten seit Jahrzehnten in seinen Clubs, und es trafen immer wieder neue Musiker aus Zentralamerika ein. Es war ein Schmelztiegel, ein ständiger Crossover von Einflüssen, eine Spannung zwischen Traditionellem und Modernem, zwi-schen Authentizität und Weiterentwicklungen. Dazu kamen die Aggressivität und Hektik der Metropole, die die Rhyth-men nervöser und die Melodien angriffiger machten. Keine Folklore, sondern die Musik einer vitalen multikulturellen Grossstadt. Eine Salsa eben, eine grosszügig gewürzte Sauce.«Nu Yorica» präsentiert die Zeit zwischen 1970 und 1977 in ihrer ganzen Bandbreite: Von lupenreinem Salsa und Santeria-Rhythmen über glühende Legierungen mit Jazz und Funk bis hin zu freien Explosionen. Und immer ist die Perkussion mächtig, sind die bis zu 14 Minuten langen Tracks von zwingender Tanzbarkeit. Und: Sie sind überra-schend modern. Immer wieder hört man, wie viel von New York ausgegangen ist und bis heute in zentralamerikani-schen Stilen und Trends nachhallt.

Christian Gasser

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DIE NEUEN PLATTEN

Jeffrey LewisSie sind derzeit wieder lauter vernehmbar, die Klagen über die Plattenlabels, die Veröffentlichungen und damit die Künstlerschaft nicht genügend schützen – und ziemlich hilflos in der veränderten Geschäftslandschaft zwischen Streaming und Downloads und Vinylpressungen herumir-ren. «Label got me fucked up!!!!!!!!», twitterte der Rap-per Earl Sweatshirt, als seine Single «Grief» plötzlich im Netz verfügbar war – und ähnlich äusserte sich auch das Lager von Kendrick Lamar, als das neue Album «To Pimp a Butterfly» zu früh über die Onlinekanäle rauschte. Nun, jemand muss dafür zahlen, und meist ist es halt dann doch der Künstler und nicht das Majorlabel. Dass man sich dem Label nicht allzu sehr ausliefern und immerzu eine gesunde Skepsis bewahren sollte, und sei es auch gegenüber einem guten, unabhängigen Haus, dafür steht Jeffrey Lewis’ «Don’t Let the Record Label Take You Out to Lunch». Vor zwölf Jahren erschien dieser Song auf der mittlerweile klassischen Platte «It’s the One’s Who’ve Cracked That the Light Shines Through», seiner ersten für das damals wiedergeborene Label Rough Trade. 456 Wörter rattert der Antifolk-Schnellsprecher in zwei Minu-ten runter. Minuten, in denen Lewis erzählt, wieso er nicht mit den Vertretern des Plattenlabels zum Mittagessen geht, denn am Ende des Tages ist es doch er, der bezahlen muss. Minuten, in denen Lewis den grossen Ratschläger gibt und nebenbei seine Art des Songwritings und seine Rolle im Musikgeschäft erläutert: Mach nicht, dass das Showman-tum über die Aufrichtigkeit gewinnt! Und: Du musst nicht so tun, als seist du verrückt, um grossartige Sachen zu ma-chen, selbst wenn niemand zu hört. Und auch: Werde nicht zynisch. Anbiedern? Nein, denn es geht um deine Seele.Jeffrey Lewis hat sich in der Zwischenzeit die hier prokla-mierte Unabhängigkeit bewahrt – mit selbstgebrannten CDs und selbstkopierten Comicalben, die seine industriel-len Produkte ergänzten. Er mag mit dieser Strategie nicht reich geworden sein, zumal seine Songs selbst in den gol-denen Antifolk-Tagen immerzu uncool waren, aber er ist immer noch da. Wer will da noch mit dem Plattenlabel zum Businesslunch?

Benedikt Sartorius

FFSFFS(Domino/Irascible)

«Collaborations Don’t Work» heisst das zweitletz-te Stück und dient Russell Mael und Alex Kapranos als Bühne für einen Zi-ckenkrieg. Dabei stimmt die Behauptung im Songti-tel hinten und vorne nicht. Das gemeinsame Werk von Franz Ferdinand und den Sparks ist ein Album des Jahres – für Leute, die schlaue Popmusik mit Hang zum Überkandidel-ten schätzen. Die Paarung ist ja naheliegend. Franz Ferdinand waren schon immer vom Popentwurf der Sparks beeinflusst. Und so ist hier die Handschrift der Gebrüder Mael deut-lich zu erkennen. Rons Pi-ano dominiert, die Franzen wirken vornehmlich als vorzügliche Backingband. Russel und Kapranos zei-gen sich als kongeniales Sängergespann für diese Lieder, die fast alle als Sin-gles (oder zumindest als B-Seite) taugen würden. «Johnny Delusional» soll-te der Sommerhit werden, «Dictator’s Son» ist eine Groteske aus Pumpbeats und Kopfstimme und «Litt-le Guy from the Suburbs» eine Ballade, wie sie heute kaum noch geschrieben wird. Wann wurde denn letztmals Sartre in einem Popsong genamedroppt? Und später wird «Drama» auf «Dalai Lama» gereimt – köstlich. FFS ist ein Roll-griff durch die Geschich-te des Pop mit Camp und Köpfchen. Franz Ferdinand und Sparks: Diese Kollabo-ration funktioniert.

ash.

Hot ChipWhy Make Sense?(Domino/Irascible)

Drei Jahre statt der übli-chen zwei sind verstrichen seit dem letzten Album der Londoner Electronica-Melange-Combo Hot Chip. In der Pause sind diverse Mitglieder Nebenprojek-ten nachgegangen. Multi-Instrumentalist Al Doyle und Synthie-Spezialist Felix Martin ergründeten unter dem Namen New Build unkonventionelle Song-strukturen und Gitarren-Feedback. Joe Goddard kredenzte als 2 Bears harte House-Beats. Alexis Tay-lor wiederum erforschte im Trio About Band das Unter-holz zwischen Electronica, Folk und Improvisation. Als sie wieder zusammen-gekommen seien, hätten sie das Bedürfnis gehabt, bei Hot Chip vermehrt den Groove zu spüren. Alle sei-en sie während den Aufnah-men unter dem Einfluss des letzten D’Angelo-Albums gestanden, erklärt Doyle, und dies hat dazu geführt, dass überall der Einfluss vergangener Soul-, Funk- und House-Epochen zu hören ist – in Kombination mit dem gewohnten Hot-Chip-Sound und Taylors Folkstimme stinkt es aber nirgends nach abgestande-nen Nos talgiesocken. Die freudvollste Überraschung folgt ganz zuletzt mit dem Titelstück. Hier treffen House-Beats in höchst un-gewohnter Weise auf pech-schwarzen Rock-Groove, Orgel und kirchenhafte Ge-sangsmelodie. Rundum ein vergnügliches Album mit vielen verborgenen Tiefen.

hpk.

The Leisure SocietyThe Fine Art of Hanging On(Full Time Hobby)

Anwärter auf eines der bes-ten Alben des Jahres ist das neue, vierte Werk der briti-schen Band mit dem lässi-gen Namen. Die Feingeister aus Brighton und London legen mit «The Fine Art of Hanging On» eine Platte voller feiner Popsongs vor. Das ist famoser sophistica-ted Pop, der der alten bri-tischen Schule geschuldet ist. Der «Musikexpress» übertreibt nur ganz leicht, wenn er Mastermind Nick Hammond als einen der «am meisten unterschätz-ten Songwriter der Gegen-wart bezeichnet». Recht hat er, denn das zeigt auch dieses Meisterwerk von einem Album, das Grösse und Pathos hat, gerne mal nahe am Kitsch schlittert, im Wohlklang badet und einen an manchen Stellen schlichtweg umwirft. Da knallen auch schon mal die Peitschen, und bei den wohlgefälligen, aufwendi-gen Arrangements werden dicke Streicher und Bläser aufgefahren. Highlights sind nicht nur die Single «Tall Black Cabins» und der Titelsong mit dem erwähnten Peitschenge-knalle, sondern auch der feine Spannungsaufbau bei «Outside In» oder der durch die Sixties taumelnde Ohrwurm «I’m a Setting Sun». Folk, Indie-Pop und Brit-Pop gehen bei dieser Freizeitgesellschaft eine funktionierende Symbiose ein.

tb.

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DIE NEUEN PLATTEN

The Helio SequenceThe Helio Sequence(Sub Pop/Irascible)

Dass hinter The Helio Se-quence zwei Nerds stecken, ist unschwer zu erkennen: Sowohl Brandon Summers als auch Benjamin Weikel arbeiteten früher in ein- und demselben Musikge-schäft in Beaverton, Ore-gon, und für ihr sechstes gemeinsames Album haben sie sich zu einem bandinter-nen Wettbewerb aufgerafft. Die beiden wollten raus-kriegen, wer binnen eines Monats mehr und bessere Lieder zustande bekommt. 26 Tracks sollen dabei he-rausgeschaut haben, 10 davon sind auf «The Helio Sequence» zu hören. «Oh, I’m looking for a new di-rection», singt Summers auf dem Opener «Battle Li-nes». Zu ganz neuen Ufern ist das Duo allerdings nicht aufgebrochen, obschon der Sound entspannter denn je klingt. Man predigt fein ziselierten Indie-Pop, rührt mit grosser Kelle, viel Hall und zurückhaltender Elektronik an. Die Musik schürft nicht tief, sondern gibt sich mit freundlichen Melodien zufrieden. Mit dem Ergebnis, dass sich die Songs nicht allzu gross voneinander unterschei-den. Stets treffen blenden-de Harmonien auf fein verwickelte Gitarrenarbeit. Stücke wie «Seven Hours» oder «Stoic Resemblance» kommen einem Sommer-flirt gleich: Alles fühlt sich wunderbar an – wenigstens für eine kurze Weile.

mig.

Du BlondeWelcome Back to Milk(Mute)

Gleich mit ihrem ersten Album schien Beth Jeans Houghton ihren überaus eigenen Stil gefunden zu haben. Er bestand aus ei-nem Drittel englischer Schrägheit à la Robert Wyatt, einem Drittel Rrriot- Girl-Attitüde und einem Drittel feiner Refrains. Das sei alles Mumpiz gewesen, behauptet sie heute: Mu-sik, die durch ihre eigenen technischen Mängel und das vorübergehende Fehlen von Mut geprägt worden sei. Die Aufnahmen für ein zweites Album wurden ver-worfen. Lange USA-Reisen und schliesslich ein Besuch der David-Bowie-Ausstel-lung in London haben ihr den Irrtum ihrer Wege ge-zeigt. Zu lange habe sie ihren Traum unterdrückt, grosse Aussagen zu ma-chen, eben wie Bowie. Drum nun der komplette Umsturz: ein kühnes neues Image, ein dreckiger, neu-er Sound, produziert von Jim Sclavunos, Drummer bei den Bad Seeds. Auch Houghtons Stimme hat sich deutlich verdunkelt. Die Resultate frustrieren. Wuchtig die Arrangements, simpler die Refrains, aber die grossen Gesten wirken oft wie doofe Posen. Nur «Chips to Go» gemahnt an vergangene Zappa-Einflüsse und fällt gänzlich aus dem Rahmen. Hough-ton redet gern und oft über bedingungslose Ehrlichkeit im künstlerischen Aus-druck. Kurios, dass nun so vieles wie aus dem Second-hand-Laden wirkt.

hpk.

EnoFrom the Lower Earth and Ocean(Ikarus Records)

Den Status des Geheim-tipps haben sie längst hin-ter sich gelassen, der Gitar-rist Christian Mikolasek und der Schlagzeuger Ivo Münger. Mit ihrem Duo Eno waren sie in der Ver-gangenheit auch schon im Vorprogramm von Mog-wai zu hören, und nun le-gen die beiden St. Galler ein Album vor, das sich anhört wie gebündelte mu-sikalische Mikroblog-Ein-träge aus dem Untergrund und den Ozeanen. Es sind akustische Exkursionen in eine entvölkerte Welt, in die Unterwasserschwerelo-sigkeit, in Halbschlaf und Tagtraum gleichermassen. Seinsvergessen und in sich selbst ruhend breiten Mi-kolasek und Münger ih-ren Entwurf von Postrock aus, lassen die überlangen Stücke zwischenzeitlich in einzelne Klänge zerfallen, ducken sich in Zeitlupe unter Sprachsamples weg, agieren ansonsten aber sprachlos. Und hier darf denn auch ausgiebig ge-schwiegen werden, umge-ben von zerdehnten, leicht melancholisch unterfüt-terten Melodien, die den Weltschmerz zu lindern vermögen. Was bleibt, ist schweres Atmen.

amp.

Jim O’RourkeWenn einer der einflussreichen Schattenmänner sein erstes Songalbum seit 14 Jahren ankündigt, dann dürfen die Er-wartungen schon mal gross sein. Zumal dann, wenn der Schattenmann Jim O’Rourke heisst und das Vorgängeral-bum «Insignificance» ist; ein Album, das 2001 aufzeigte, dass im klassischen Songformat noch vieles möglich ist – mit Ausweitungen, die selbstverständlich wirkten, mit wi-derborstigen Noises und auch mit grosser Spielfreude. «In-significance», sein damals drittes Album für das Chicagoer Label Drag City, erschien noch vor Wilcos «Yankee Hotel Foxtrot», das O’Rourke mitproduzierte, und vor Sonic Youths «Murray Street», das er als damals festes Bandmit-glied mitprägte. In der Folge kappte O’Rourke nach und nach die Verbindungen zu Chicago und New York und siedelte über nach Tokyo. Mittlerweile ist er dort Teil der Improvisations-Szene und veröffentlicht immer wieder Mu-sik mit alten Freunden wie Christian Fennesz.Nun, sechs Jahre nach seiner letzten Halb-Pop-Platte «The Visitor» gibts nun «Simple Songs». Acht dieser simplen Lieder sind auf dem Album enthalten, wobei es natürlich ganz und gar nicht einfach ist mit diesen neuen Songs, die O’Rourke mit japanischen Musikern eingespielt hat. Denn entstanden ist eine Platte, die im ersten Hördurchgang erstaunlich altväterisch, wenn nicht gar schulmeisterlich wirkt. Und es ist auch beim weiteren Hören nicht so, dass «Simple Songs» nun eine neue Offenbarung darstellen würde. Vielmehr ist auf diesem Album ein Songwriter zu hören, der seiner Liebe zu den Arrangements und Amerika-Fantasien von Van Dyke Parks nachgeht. Die Bläser, die Streicher, O’Rourkes Gitarren und seine lange nicht mehr gehörte Stimme: Alles erklingt makellos, bewundernswert sorgfältig und klar und nur ganz selten zu dick aufgetragen. Jim O’Rourke hat sich mit dieser Platte zu einem Hüter der Popklassik entwickelt, der die Stream-Gegenwart mit einem genau gearbeiteten Songalbum (das weder auf Spo-tify noch im iTunes-Laden erhältlich ist) konfrontiert. Aber das Abenteuer, das seine Biografie und andere seiner gegen-wärtigen Arbeiten durchzieht, das findet an anderen Orten statt. Und das darf man schon bedauern.

Benedikt Sartorius

Jim O’Rourke: «Simple Songs» (Drag City)

Page 16: Im Umbruch · 2017-02-21 · / J 5! SZENE DAS COMIC MAGAZIN erscheint Schnupperabo: 3 für für 2! chf 25.00 euro 20.00 DAS COMIC MAGAZIN vierteljährlich Schnupperabo: 3 2! chf 25.00

SZENE

EIN FILM VON TONY GATLIF"EXILS", "GADJO DILO"

AB 4. JUNI IM KINO

CÉLINE SALLETTE

RACHID YOUS

NAILIA HARZOUNE

CÉLINE SALLETTE

RACHID YOUS

NAILIA HARZOUNE

THE STRANGLERS USA

S0 15.11. SALZHAUS WINTERTHUR

Sonntag 7.6. 19Uhr19GIIGESTUBETE

Sonntag 5.7. 19Uhr19GIIGESTUBETE

Sonntag 14.6. 20Uhr20

LYDIA LUNCH RETROVIRUS

ZN E S

Montag 1.6. 20Uhr20

PAUL UBANA JONES

Samstag 20.6. 21Uhr21DOOMENFELS

Samstag 20.6. 21Uhr21ANAHEIM + THEE IRMA&LOUISE

Montag 15.6. 20Uhr20RICHARD DOBSON

Montag 22.6. 20Uhr20

DELANEY DAVIDSON

Montag 6.7. 20Uhr20

JOLIE HOLLAND

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Herr Müllerweiss alles über [email protected]

Page 17: Im Umbruch · 2017-02-21 · / J 5! SZENE DAS COMIC MAGAZIN erscheint Schnupperabo: 3 für für 2! chf 25.00 euro 20.00 DAS COMIC MAGAZIN vierteljährlich Schnupperabo: 3 2! chf 25.00

DIE NEUEN PLATTEN

Hugo Race & The True SpiritThe Spirit(Glitterhouse/Irascible)

Sieben Jahre ist es schon her, seit Hugo Race das letzte Album mit The True Spirit veröffentlicht hat. Nicht, dass er untätig ge-wesen wäre. In der Zwi-schenzeit gabs mehrere Al-ben mit Dirtmusic, einem Projekt mit Chris Eckman, bei dem zeitweise auch die Tuareg-Band Tamikrest mitwirkte. Auf «The Spi-rit» scheint diese Erfahrung nachzuwirken, denn wo Races Songs früher schwül vor sich hin gärten, klingen sie nun tendenziell trocken – Wüste statt Sumpf. Doch das bringt nur eine neue Nuance in den stets hyp-notisch groovenden Sound, den der «Melody Maker» einst «Industrial Trance Blues» nannte. More of the same ist «The Spirit» aber keineswegs, sondern – wenn schon – die Essenz einer langen Karriere. Mitt-lerweile hat der Australier sein Wispern und Raunen derart perfektioniert, dass der einstige Bad Seed als Crooner fast auf Augenhö-he mit Nick Cave operiert. Stücke wie die Single «Ele-vate My Love» und das er-hebende «Bring Me Wine» beweisen Races gereifte Qualitäten als Songwriter, entscheidend aber ist die hellwache Lethargie, die sich durchs Album zieht. Genau das Richtige, wenn bald auch hierzulande mal die Luft über dem Boden flimmert.

ash.

Death and VanillaTo Where the Wild Things Are(Fire Records)

Dem kuriosen Namen zum Trotz haben wir es hier nicht mit einer Grufti-Band aus der nordenglischen Pro-vinz zu tun, sondern mit einem Trio von Schwed-Innen, die sich in den Sound altmodischer Synthies und den Groove von Velvet Un-derground verliebt haben. Marleen Nilsson, Anders Hansson und Magnus Bo-din stammen aus Malmö und haben dort schon in allerhand Bands verschie-denster Prägung mitgetan. Ähnlich wie den geistes-verwandten Virginia Wing ist ihnen gleich mit diesem Debüt ein überaus feines Album gelungen, das seine Einflüsse zwar wie Bro-schen auf der Brust trägt, diesen aber mittels eigen-williger Kleiderwahl ganz den eigenen Stil verpasst. Prägende Elemente sind ein Vibraphon, das nicht mit quirligen Jazz-Läufen bril-liert, sondern minimale und repetitive Riffs durch die Musik schimmern lässt, die eine konventionelle Band mit Gitarren und Piano auftischen würde. Nilssons nebelhafte und doch glo-ckenklare Stimme, dazu allerhand Mellotrone und Synthies tragen das ihre zu einem detailreichen Sound bei, der im Unterholz zwi-schen Krautrock, Broad-cast, United States of Ame-rica und den sonnigeren Liedern von Velvet Under-ground angesiedelt ist. Ein spukhaft schönes Album, das bei jedem Anhören neue Geheimnisse offenbart.

hpk.

ColleenCaptain of None(Thrill Jockey)

In einem Interview sagte Cécile Schott, dass die ja-maikanische Musik aus den Siebzigern der Zeit weit voraus gewesen sei. Bes-ser: gänzlich aus der Zeit gefallen. Etwas Ähnliches schwebte der Französin, die von 2007 bis 2013 mu-sikalisch pausiert hat, auf ihrem fünften Album unter dem Alias Colleen vor: eine Tiefe zu erlangen, in der Zeit und Raum vergessen sind. Die Instrumente, mit denen sie dieses erreichen wollte, sind eine tonange-bende Viola da Gamba, wenig Perkussion, einige Loop- und Reverbgeräte und ihre Stimme. Entstan-den sind acht Tracks, die überaus basslastig und perkussiv ausgefallen sind. Auf «Captain of None», das Schott in ihrem Studio in San Sebastian aufge-nommen hat, ist die Nähe des Meers stets spürbar. Natürlich in «Lighthouse», in dem Colleen aus ihrem Leuchtturm den Atlantik mit dem Suchscheinwerfer erkundet, aber zuweilen auch in Passagen, die an das ozeanische Werk von Arthur Russell erinnern. So ist «Captain of None» eine überaus einnehmen-de, ja tieftauchende Plat-te geworden. Eine, die zu den schönen musikalischen Entdeckungen dieses ersten Halbjahres 2015 zu zählen ist.

bs.

The Lilac TimeNo Sad Songs(Tapete Records)

Als Stephen Duffy seine neue Band nach einer Zei-le aus dem Nick-Drake-Evergreen «River Man» benamste, stand dessen Wiederentdeckung noch in ihren Anfängen. Seither haben beide Schicksale – das von Drake und das von Duffy – unerwartete Richtungen eingeschlagen. Der eine wurde posthum zum Superstar, der andere erkämpfte sich finanzielle Sorglosigkeit, indem er ein, zwei Alben lang als Hof-komponist von Robbie Wil-liams wirkte. Duffy wohnt inzwischen in Cornwall und erfreut uns gelegent-lich mit einem neuen Lilac- Time-Album. Zur Band gehören lauter Duffys: Bru-der Nick, Gemahlin Claire und ein gewisser Melvin an der Pedal Steel. Die frü-hen Lilac-Time-Alben auf Fontana Records könnten nicht bunter sein mit ihren herbstlich-englischen Ref-rains. Seither sind die Lie-der des dandyhaften Duffy simpler geworden, auch heiterer. «No Sad Songs» hält das schockierende Versprechen des Titels bis fast zum Schluss. Erst ganz zuletzt mit «A Cat on the Longwave» steigt ein Hauch Fernweh auf. Die Lieder streichen sanft übers Ohr und scheuen nicht vor rosarotem Zuckerwerk zu-rück. Aber schon mit der ersten Zeile beweist Duffy unwiderlegbar seine char-mante Wortgewalt: «Af-ter the flood/In the tower of love/You let your hair down...»

hpk.

Willie Nile If I Was a River (Blue Rose/MV)

Der New Yorker Willie Nile zählt zu den vergessenen Helden des Rock’n’Roll. 1980 veröffentlichte er sein Debüt, war knapp dran am Ruhm, jetzt veröffent-licht der 65-Jährige Akus-tiknummern im mittleren Tempo, die er um sein Pi-ano arrangiert. «If I Was a River» überrascht, beson-ders nach dem heftig ro-ckenden «American Ride» von 2013. Dennoch ist hier die dramatische Kraft des Songschreibers intakt, auch die Leidenschaft seines Ge-sangs klingt vertraut. Man-che der Songs geraten ein wenig zu melodramatisch. Die sparsamen Arrange-ments unterstreichen die-sen Eindruck. Auf wenigen Tracks liess Nile diskrete Oberdubs zu – akustische Gitarre, Mandoline, Syn-thesizer –, doch sie lenken nicht vom Wesentlichen ab. «If I Was a River» ist das Singer-Songwriter-Album, das Nile in den Achtzigern nie gemacht hat. Die Songs geben ihm Gelegenheit, sei-ner wärmeren, gefühlvol-leren Seite zu frönen. Das Resultat trägt den unver-kennbaren Stempel seines Talents, seiner Persönlich-keit. Und es beweist, dass Willie Nile es wagt, Neues zu versuchen, was bei ei-nem Künstler, dessen Kar-riere drei Dekaden umfasst, selten genug ist.

tl.

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The Word Soul Food (Vanguard)

14 Jahre sind zwischen dem Debüt und «Soul Food» verstrichen. Unterdessen haben die Mitglieder des Projekts – Pedal-Steelgitar-rist Robert Randolph, Key-boarder John Medeski, die North Mississippi Allstars (Chris Chew, Cody und Lu-ther Dickinson) – ihre Kar-rieren aufgebaut. Randolph war 22 und unbekannt, als er im Jahr 2000 zur Grup-pe stiess. Auf «Soul Food» steuert er viel zum span-nenden Ganzen aus Blues, R’n’B, Rock und Gospel bei, wobei der Anteil an funkigen und jazzigen Ele-menten in seinem Spiel jetzt noch prägnanter ist. Selbst-bewusster als vor 14 Jahren tauscht Gitarrist Luther Dickinson seine Licks mit ihm. Und John Medeski streut exakt die richtige Prise Jazz ein. The Word sind vielseitiger geworden, fokussierter, gereifter. Das neue Album rockt härter als das erste, es funkt, macht kurze Schlenker Richtung Country. Der Track «New Word Order» vermählt deftigen Southern-R’n’B mit Randolphs spirituellem Background. Auf «Come by Here» schwebt Chor-gesang über bodenstän-digem Juke-Joint-Blues. Randolphs Solo ist schrill, die Keyboards malen Spi-ralen, die Gitarrenfills sind schneidend. Ruthie Fosters Stimme macht «When I See the Blood» vollends zur Southern-Gospel-Fete. Amy Helm gastiert auf «Glory Glory». Der Rest ist magischer, instrumenta-ler Gospel.

tl.

DIE NEUEN PLATTEN

Buffy Sainte-MariePower in the Blood(True North)

Mit 74 veröffentlicht die Singer-Songwriterin Buffy Sainte-Marie eines der besten Alben ihrer langen Karriere. Seit dem Folk-Re-vival der frühen Sechziger kombiniert die Kanadierin politische Überzeugung («Uni versal Soldier») und Spiritualität mit akusti-schem Blues, Folk und Country sowie Elementen aus der traditionellen Mu-sik der nordamerikani-schen Indianer. Ihre neuen Aufnahmen besitzen etwas mehr Rock-Power. Atmo-sphärische Keyboards und Elektro-Grooves fügen sich zu einem dynamischen Mix, in dessen Zentrum diese unvergleichliche Frau mit dem charakteristischen (und polarisierenden) Vib-rato steht. Noch immer ar-tikuliert die geborene Cree-Indianerin ihre Anliegen mit grosser Dringlichkeit, spricht das Leid an, das der weisse Mann ihrem Volk zugefügt hat. Zwei der 12 Stücke sind Remakes älte-rer Songs, zwei sind Covers von britischen Bands («Po-wer In the Blood» von Ala-bama 3 sowie UB40s «Sing Our Own Song»). In den Balladen, Rock-, Love- und pointierten Politsongs ver-bindet Buffy Sainte-Marie grosse Musikalität mit vi-sionärer Kraft. «Power in the Blood» ist eine starke Platte einer nimmermüden Aktivistin.

tl.

EskimeauxO.K. (Double Double Whammy)

Eskimeaux könnte ein schöner Name für eine Band aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet sein. Doch dahinter ver-birgt sich das Projekt der New Yorkerin Gabrielle Smith und ihrer Begleit-musiker, die in derselben jungen Szene Brooklyns aktiv sind, die uns letztes Jahr Frankie Cosmos oder Mitski gebracht hat. Dort pflegt man eine frische Do-it-yourself-Haltung, und so hat Smith für ihre Musik das Label «Poetic bedroom pop» kreiert. Auf ihren ersten Bandcamp-Songs experimentierte sie im Schlafzimmer noch stark mit elektronischen Gerä-ten zwischen Ambient und Drone. Mit «O.K.» hat sie sich erweitert: Synthesizer, verzerrte Gitarren, Drum-computer, Schlagzeug und Harmoniegesänge ver-binden sich zu Balladen und Aufforderungen zum Tanz. Eskimeaux pendeln zwischen der Lust aufs Ungestüme wie im Refrain «You coward! You hum-mingbird!» und plötzlicher Einsamkeit («I admit I’m scared») und klingen bei aller DIY-Haltung schon ziemlich ausgefeilt. Da bahnt sich eine prächtige Popvariante ihren Weg aus dem Schlafzimmer.

anz.

Emmylou Harris/Rodney Crowell The Traveling Kind (Warner)

Für jede Stimmung und Gelegenheit einen Song auf einem Album. So wird das von Paul Simon kolportiert, Ähnliches könnte man auch Emmylou Harris unterstel-len. Wobei die Country-Kö-nigin weniger komponiert, sondern komponieren lässt oder gleich auf fremde Songs zurückgreift und sie für den Country salonfä-hig macht. Einer ihrer ganz wichtigen Songwriter war und ist Rodney Crowell, der bereits in den Siebzi-gern Mitglied ihrer Hot Band war. Seit 2013 sind die beiden musikalisch ein Paar, und auch ihr zweites Duo-Album hat Spielfreude und ist, wie alte Profis nun mal sind, ganz schön ausge-bufft. Die wissen einfach, dass ein angejazztes Piano auch mit Rockabilly geht. Das Album hat ein paar neu geschriebene Songs, ein paar Alte im neuen Gewand und Songs von anderen, wie zum Beispiel Lucinda Williams «I Just Wanted to See You So Bad». Viele Stimmungen sind zu hören. Melancholisch fängt es an, Crowell singt im Stil der al-ten Folk-Meister «we all die young», und rockig geht es weiter. Können die in Eh-ren ergrauten Herrschaften noch die Welt aus den An-geln heben? Es klingt so, denn wenn sie «Bring It on Home to Memphis» und das Rockabilly-Kracherle «The Weight of the World» singen, ist das nicht be-müht, sondern einfach nur gut.

cam.

Various Artists Remembering Mountains: Unheard Songs by Karen Dalton(Tompkins Square)

«Sie hatte eine Stimme wie Billie Holiday und spielte Gitarre wie Jimmy Reed», schrieb Bob Dylan über Ka-ren Dalton. 1969 und 1971 veröffentlichte Dalton zwei Alben mit fremden Stü-cken. Dann verschwand sie von der Bildfläche, kämpfte jahrelang gegen Drogen-sucht, Armut und Aids und starb 1993 55-jährig. Eigene Songs hatte sie nie veröffentlicht. In ihrem Nachlass fanden sich aber Notizbücher mit Liedskiz-zen und Gedichten. Ihr enger Freund, der Gitar-rist Peter Walker, hat nun elf Musikerinnen gebeten, diese Songfragmente zu vertonen und aufzuneh-men. Sharon van Etten ba-lanciert in «Remembering Mountains» kraftvoll zwi-schen gebrochenem Herzen und Trost; Josephine Foster macht aus «Met an Old Friend» ein schlichtes A-capella-Stück; Julia Holter verdichtet «My Love, My Love» in sieben Minuten grandios mit Gesang und Naturaufnahmen; Laurel Halo wählt einen ähnlich reduzierten, elektronischen Zugang; Patty Griffin, Iso-bel Campbell und Lucinda Williams packen den Blues ebenso wie den Soul auf ihre Stimmbänder. So er-weisen alle Beteiligten einer grossen, lange vergessenen Folk-Sängerin ihre Remi-niszenz und bleiben doch bei sich.

anz.

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DIE NEUEN PLATTEN

The Weather StationLoyalty (Paradise of Bachelors)

Auf ihrem ersten Album «The Field» begleitete sich Tamara Lindeman alias The Weather Station 2009 vor allem mit dem Banjo und setzte damit äusserst sparsam Tauperlen in ihre Lieder. Auf dem dritten Longplayer «Loyalty», den sie mit Afie Jurvanen (Bahamas) als Begleiter eingespielt hat, steht nun die akustische (und selte-ner die elektrische) Gitarre im Vordergrund, begleitet von Piano, alten Keyboards und Schlagzeug. Wobei «im Vordergrund» schlecht zu Lindeman passt: Es sind immer noch subtile Folk-Songs, die nicht mit eingängigen Refrains um Aufmerksamkeit heischen. Die Kanadierin aus Toron-to gleitet durch ihre Texte, alles ist hier in einem ste-ten, sanften Fluss. Sie wählt jedes Wort mit Bedacht und kreiert so die Intimität einer Unterhaltung unter vier Augen. Dabei sind ihre Geschichten persönlich, poetisch und auch philo-sophisch. So kommt man natürlich auf den Vergleich mit Joni Mitchell oder Ju-dee Sill. Wie diese grossen Songschreiberinnen ver-söhnt einen Tamara Linde-man mit ihrem reflektierten und ehrlichen Blick aufs Leben mit allen Widerwär-tigkeiten, das dieses mit sich bringen kann.

anz.

Yael NaimOlder(Embassy of Music)

Mit dem hübschen kleinen Song «New Soul» hatte die in Paris lebende israelisch-französische Sängerin 2008 dank einer Apple-Werbung einen internationalen Hit. Doch Yael Naims Kar-riere verläuft in Wellen. Denn bereits 2000 wurde sie von einer grossen Plat-tenfirma entdeckt, eine Rolle in einem Musical von Pascal Obispo verhalf ihr zu grösserer Bekannt-heit – dennoch floppte ihr Debüt 2001.Und auch nach «New Soul» ging es nicht richtig weiter mit ihr – immerhin war in Frank-reich zumindest das zweite Album «She Was a Boy» (2011) ein echter Erfolg. Nun meldet sie sich wieder mit «Older» – einer Platte mit überwiegend gelunge-nen, folkinspirierten und souligen Popsongs, die sehr fein arrangiert sind. Allen voran die Single «Coward» ist zum Dahinschmelzen schön. Der zweite heraus-ragende Song ist «Dream in My Head», das an die fran-zösische Americana-Band Moriarty erinnert. Leider singt sie auf dieser Platte fast nur englisch – abgese-hen von einem Track, auf dem auch hebräisch ge-sungen wird. Dennoch ist «Older» eine richtig schöne Platte geworden.

tb.

GirlpoolBefore the World Was Big(Wichita/MV)

Zusammengefunden haben Cleo Tucker und Harmony Tividad in Los Angeles, als Teenager. 2013 veröffent-lichten die beiden unter dem Namen Girlpool eine erste EP, jetzt folgt der Longplayer «Before the World Was Big». Inzwi-schen ist das Duo nach Phi-ladelphia umgezogen, wo man nach neuen Impulsen Ausschau hält. Und das, obschon ihre Lieder wei-terhin vor Frische strotzen. Girlpool bevorzugen ihren Sound rau, unverblümt und mit einer gut getim-ten Prise Dilettantismus. In «Dear Nora» wird übers Schwimmen in Seattle sin-niert, in «City Bus» über ein Fahrzeug, das sich auf der falschen Strassenseite befindet. Das klingt ebenso unschuldig wie neugierig, ist aber auch verletzlich. Und mutet an wie eine Mischung aus den Marine Girls und früher Liz Phair. Man instrumentiert spar-sam, lässt Raum für leicht schräge Harmonien und sorgsam Gepflücktes und mitunter auch Gegensätzli-ches von Bass und Gitarre. Man spürt und hört, dass sich Tucker und Tividad auf der Suche nach ihrer Identität befinden. Weder die Stücke noch deren Me-lodien sind komplett ausge-formt, doch genau das ver-leiht dem Werk auch seinen entscheidenden Charme.

mig.

London HotlineImmer wieder, wenn ich von Nick Cave zu schwärmen an-fange, begegne ich gesenkten Blicken und der quasi als Ent-schuldigung vorgebrachten Erklärung, man habe einfach Mühe mit dem düsteren Gehabe und dem permanenten existentiellen Weltschmerz. So oder ähnlich hat es früher bei Leonard Cohen getönt und dann wieder bei den Smiths und Morrissey. Selbst Menschen, die entsetzt wären, man würde sie eines einspurigen Umganges mit Popmusik be-zichtigen, kommen rasch ins Rotieren, wenn das Dargebo-tene nicht ganz in die üblichen Spuren der Musikwahrneh-mung fällt. Derweil britische Ohren auch im schwärzesten Lyric zuerst den Humor zu orten versuchen, machen es kontinentaleuropäische Seelen genau umgekehrt und su-chen selbst beim lustigsten Liedchen zuerst die existenzielle Pointe. Vielleicht gehört es in einen ähnlichen Zusammen-hang, dass jetzt, da sich Iggy Pop zum superfitten Vorbild aller Grossväter gewandelt hat, kein Mensch mehr von sei-nen frühen Tagen mit den Stooges nostalgiert, als er sich gern auf der Bühne wälzte und mit Glasscherben den Torso aufschlitzte. Item. Über Iggy Pop und seinen derzeitigen Schlagzeuger Larry Mullins alias Toby Dammit wären wir auch schon wie-der bei Nick Cave angelangt. Dem freundlichen Thomas Wydler habe ich es zu verdanken, dass ich am 3. Mai in der Royal Albert Hall sass, um mir das zweite Londoner Konzert von Nick Cave im Rahmen seiner «Solo»-Tournee zu Gemüte zu führen. Gerade geniesse ich das Konzert ein viertes, nein, fünftes Mal. Denn wie letztes Jahr offenbar schon Damon Albarn bediente sich auch Cave der neues-ten Technologie, die es Künstlern erlaubt, anderswo noch ein paar Groschen zu verdienen – und damit den Fans erst noch eine echte Freude zu bereiten: vor dem Konzert gab es für 20 Pfund einen Gutschein zu erstehen, dieser berech-tigte nach dem Konzert zum Anstehen in einer mehrere hundert Knochen langen Schlange, um die Live-Aufnahme des gerade erlebten Konzertes in Form einer Doppel-CD in Empfang zu nehmen. «Solo» hiess bei dem Konzert vor allem: Cave setzte das Programm aus all seinen Schaffens-perioden zusammen, ungeachtet der jeweiligen Bandbeset-zung. Heute bestand diese aus dem besagten Herrn Wydler an der Perkussion, dem ebenfalls besagten Larry Mullins an Keyboards und Vibraphon, Warren Ellis an Mandoline, Geige und Samples, und Bassist Martyn Casey. Ein nicht nur wegen der CD unvergessliches, aufwühlendes und er-hebendes Konzert. Apropos motzende MusikfreundInnen, die sich vor dem schwarzen Tiefsinn bei Cave fürchten. Genau darin liegt ja das Genialische bei ihm (ebenso wie beim späten Cohen, weniger wohl beim alternden Morrissey): dass er es ver-steht, die heroingetriebene Seelenklauberei von früher mit der Abgeklärtheit der fortgeschrittenen Jahre zu verbinden, um so die alten Lieder mit einer gänzlich neuen Frische wiederaufblühen zu lassen. Er schafft auch live einen ra-ren Spagat zwischen selbstironischem Showmanship und schmutzig rockender Theatralik, zwischen doppelbödigem Tiefsinn und einer eigenartigen Macho-Poesie, die sich mit zarten, lyrischen Bildern ständig selber subvertiert. Und alles mit einem charmanten Augenzwinkern, in welchem ganz hinten ganz listig die Wölfe lauern.

Hanspeter Künzler

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SZENE

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ng.c

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Tap Tab Musikraum | Baumgartenstrasse 19 | CH 8200 Schaffhausen

www.taptab.ch

JUNI15

Fr-5-6-15«Eine kleine feine Nachtigall»

DJs Beez & Simo («Grundton»/Winti), Eldn & Eazee (ZH), Solo Suey, Hals über KopfTechno, Tech-House

Sa-6-6-15«Colors»Summerfest

DJs Sweap, CutXact, Tugg, Doublechin, T Killa, Natty B, Selecta Maas, Rasko, Clapto, MainscreamGood HipHop Music + GL-Final, Indoor & Outdoor

Fr-12-6-15«Gute»

Sandro Kühne (ZH), ATA, Selim & Armin, Luca ParraviciniTechno, Tech-House, Deep House

Sa-13-6-15«Rasafari»Afterparty

DJs Oliver Schmid (Berlin/D), SPCZ («Subbass»/D), Ben I SabbahMinimal, Oriental, Bass, Dubstep

Mi-17-6-15The Coathangers (USA) und Mystery Park (CH)

«Upstairs & Loud» – Afterwork SpecialYes! Wave, Garage Rock, Punk

Sa-20-6-15 Saisonschluss bei TapTab

Pop, O beat, Rock, House, TechnoKonzerte! Food!! DJs!!! Bingo!!!! 5 Floors!!!!! 3 Bars!!!!!!

Tap Tab Musikraum | Baumgartenstrasse 19 | CH 8200 Schaffhausen

15

Fr-5-6-15«Eine kleine feine

CAFE ZÄHRINGER

zähringerplatz 11 // 8032 zürich // www.cafe-zaehringer.ch

Sa. 30.5.15 Aktionshalle 20:00Fabrikjazz

TAKTLOS 15Bühne für grenzüberschreitendeMusik – seit 1984

Di. 2.6.15 Ziegel oh Lac 21:00Ziischtigmusig

GOD DAMNSupport

Sa. 6.6.15 Aktionshalle 21:00Enter The Dancehall

COCOA TEAIrie Souljah, Boss Hi-Fi, Real Rock Sound

Fr. 26.6.15 Aktionshalle 20:30Sugarshit Sharp

ANTEMASQUESupport

Mi. 8.7.15 Am See 19:30Ziischtigmusig

GENGAHR* V o r v e r k a u f : w w w . s t a r t i c k e t . c h

Inserat im LOOP vom Juni 15IG Rote Fabrik Seestrasee 395 8038 Zürich Tel. 044 485 58 58 Fax. 044 485 58 59

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DIE NEUEN PLATTEN

Paul WellerSaturns Pattern(Parlophone/Warner)

Seit 2008 und «22 Dreams» befindet sich Paul Weller in einer Phase des munteren Experimentie-rens. Daran orientiert er sich auch auf seinem neuen Album «Saturns Pattern». Mit seiner ersten Band The Jam verschmolz der Brite noch frühen Punk mit den Klängen der Mods. Es war Musik, die sich insbeson-dere durch ihre unbändige Wut auf die Welt der 70er-Jahre auszeichnete. Davon ist heute nichts mehr zu spüren. In «Long Time» – einem von insgesamt neun neuen Stücken – singt Wel-ler davon, wie verloren er sich früher gefühlt habe. Diesem Empfinden spürt der 58-Jährige mittels Energie nach und klingt dabei mit sich und den Sei-nen im Reinen. Während der Opener «White Sky» dem röhrenden Blues-Rock nachgibt, wagt sich «Going My Way» an den ebenso harmonischen wie ver-spielten Piano-Sound der Beach Boys. Und mit «Pick It Up» gibts auch eine klei-ne Verbeugung vor David Bowie und dessen Welt-raumschäumen. Weller setzt längst nicht mehr alle Hebel in Bewegung, um wie einst ein dichtes Melo-diefeld heraufzubeschwö-ren. Inzwischen ist es ihm wichtiger, dass kosmische Gitarren, funky Riffs und allerlei psychedelische Mo-mente zusammenspannen. Auf «Saturns Pattern» ist die Lust am Werk und die Freude gross – auch beim Zuhören.

mig.

AlectroSchool of Desire(Blue Rose/MV)

Ein Name auf dem Cover weckt meine Neugier: Jeff Eyrich. Der Mann produ-zierte in den Achtzigern tolle Platten wie «The Medicine Show» (Dream Syndicate), «Hard Line» (The Blasters) oder «The Las Vegas Story» von Gun Club. Heute ist er als Ses-sionbassist und Produzent in New York tätig. Für «School of Desire» spann-te Eyrich mit Steve Kirk-man zusammen, einem Songschreiber, Gitarristen und Tontechniker. Beide teilen die Leidenschaft für Surfgitarren, die Spaghetti-Western-Soundtracks von Ennio Morricone sowie altes Analog-Equipment – Verstärker, Gitarren, Pe-dale, Echoplex. Die CD enthält elf Songs, darunter zwei Covers (Woody Gu-thries «Hard Travellin’» und J.D. Laudermilks «To-bacco Road»), eingespielt zu zweit oder mit befreun-deten Musikern. Die Songs beschwören klischeehafte Bilder wie menschenlee-re Wüsten, sternenklare Nächte am Lagerfeuer oder Kojoten, die den Mond an-heulen. Vielleicht wartet die geheimnisvolle Schöne im alten Farmhaus, vielleicht ist sie mit einem Fremden fortgeritten. Jeff und Steve wissen genau, wie sie diese Geschichten erzählen und musikalisch perfekt in Sze-ne setzen – melancholisch, mit Surf-Country-Twang, Fuzz und Verzerrer, im Six-ties-Sound.

tl.

The Royal Southern BrotherhoodDon’t Look Back: The Muscle Shoals Sessions(Ruf/MV)

RSB haben den Abgang zweier Gründungsmitglie-der (Mike Zito und Devon Allman) gut weggesteckt. Neu dazu gestossen sind Bart Walker und Tyrone Vaughan, zwei grossartige Gitarristen, die dem Sound der Band noch mehr Drive verpassen. Die Blutauffri-schung macht sich auch da-rin bemerkbar, dass New-Orleans-Ikone Cyril Neville und die Rhythmussektion – Drummer Yonrico Scott und Bassist Charlie Woo-ton – noch mehr losfunken, ohne den Blues und Rock zu vernachlässigen. In ei-nem abgelegenen Haus am Tennessee River begann die neue Besetzung Songs zu schreiben. Die Zeit dort gab der Band auch Gelegenheit, jene Chemie zu entwickeln, welche eine Band von einer Gruppe von Musikern un-terscheidet. Songs wie «An-chor Me», «Hell or High Water» oder das Titelstück entstanden während frü-heren Tourneen – beim Soundcheck oder im Hotel. Bei den Aufnahmen im le-gendären FAME-Studio in Muscle Shoals, Alabama, konzentrierten sich die Mu-siker und Produzent Tom Hambridge deshalb nicht auf das Entwickeln von Ideen, sondern auf die opti-male Performance. Tatsäch-lich lassen RSB nichts an-brennen, dieses vorzügliche Album steht der Intensität ihrer Liveauftritte in nichts nach.

tl.

45 Prince«Swinging Drums» (Jazzman), ruft eine nasale Stimme aus dem Keller, und bereits bevor der Song startet, ist klar, dass hier eine abgefahrene Las-Vegas-Grind-Nummer startet. Schlagzeug, eine primitive, glockenhelle Gitarre und eine abgewürgte Kuhglocke als Perkussion reichen, um mit ei-nigen Zwischenrufen den Nonplusultra-Füdlischuppen-Tanzanimationssong zu kreieren. Damit schaffte es Ronny Kae, der Schlagzeuger aus Denver, 1962 auf Platz Nr. 1 in Denvers Radio KIMN. Dies lässt hoffen, dass dank dieses Reissues auch die Schweizer Radiolandschaft ihr Entwick-lungspotenzial erkennt. «Swimming Drums» auf der B-Seite paart in dilettantischer Weise Link Wray mit den Chantays und ist ideal für ein bisschen Skateboard-Surfen.Man könnte auch den Promotext einer dieser beliebigen Sandwich-Psychedelic-Kassettli-Gitarrenbands, die derzeit den Kontinent auf der Suche nach dem Durchbruch über-fluten, hier einfügen, und es würde passen. Der Gesang ist auch bei The Sueves getränkt in Nachhall, jedoch nicht, um mit La-La-La der zukünftigen Schwiegermutter zu gefallen, sondern um in stickigen Kellern tumultartiges Kopfkegeln zu provozieren. «Liquid Hounds» (Hozac) wird dank sei-ner Dynamik und trotz vierminütiger Spielzeit nie langwei-lig. Und wers lieber direkt und unkompliziert hat, wird ein-fach «Bricks n’ Bones» zu seiner A-Seite erklären.Endlich wieder mal ein Lebenszeichen aus England. Zwi-schen London und Brighton hat sich Paul Messis vor allem 60s-Garage und Loner-Folk verschrieben. Da ihm aufge-fallen ist, dass es zur Zeit unsäglich wenig Punk-Bands gibt auf der Insel, entschloss er sich kurzerhand, diesem traurigen Phänomen selber entgegenzuwirken. Und boom! The Suburban Homes (Market Square) schreddern mit aus-tralischer Primitivheit die Überreste der Swell Maps und erklären in «Suburban Home» die Trostlosigkeit ländlicher Einfamilienhaussiedlungen – gekrönt von einem MP3-Gi-tarrensolo. Dass es in London nicht besser ist mit all den «Pseudo-Intellectuals», ist ja auch klar, und so wird dem Ärger noch einmal Luft gemacht, damit beruhigt das Lo-beslied auf «D.I.Y.» angestimmt werden kann.

Philipp Niederberger

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NACHTSCHICHT

Federn mit Cocoa Tea

Cocoa Tea? Ein sicherer Wert im Dancehall- und Reggae-Geschäft. Mit-te der Achtzigerjahre ist Calvin George Scott erstmals in Jamaika in Er-scheinung getreten, doch der globale Triumph stellte sich dann erst in den frühen Neunzigerjahren ein – mit dem Track «Rikers Island», den Cocoa Tea seither immer mal wieder neu bearbeitet und ausgestaltet. Dass er sich auch mit Schalk für eine gute Sache einsetzen kann, bewies der inzwischen 55-Jährige, als er 2008 das Album «Yes We Can» herausbrachte, auf dem sich auch das Stück «Barack Obama» befand, in dem der Mann für den damaligen US-Präsidentschaftskandidaten Partei ergriff. Abgesehen davon hat Cocoa Tea für die einschlägig bekannten Reggae-Labels gearbeitet, ein Album für Motown eingespielt und mit Roaring Lion eine eigene kleine, fei-ne Plattenfirma gegründet. Daneben reist er durch die Welt der Tanzhallen und Konzertsäle, wo er mit federndem Gesang ein wenig gute Laune in die Luft legt – oder die Zustände anprangert. Was halt gerade so anfällt. (amp)

6.6., Rote Fabrik, Zürich

Hautes Fréquences mit Eternal Tapestry

Nach der Bad Bonn Kilbi und vor dem B-Sides: Zwischen diese beiden eh-renwertesten Festivals der Schweiz quetscht sich bereits zum zweiten Mal das Hautes Fréquences in den Freiluft-Veranstaltungskalender rein. Doch während die Erstausgabe noch hoch oberhalb Leysins in einem Steinbruch stattgefunden hat, geht es dieses Jahr aus Umweltschutzgründen ins Zent-rum der Waadtländer Skidestination. Ansonsten ist die Ausgangslage gleich geblieben: Wiederum hat Cédric Streuli, der als Buvette seine Popexkursi-onen veröffentlicht, ein Programm mit einer psychedelischen Schlagseite zusammengestellt. Aus Portland reist etwa die Thrill-Jockey-Band Eternal Tapestry an (Bild), die kürzlich ihr dichtes Album «Wild Strawberries» ver-öffentlichte. Ebenfalls aus dem psychedelischen Lager stammen die Grie-chen Acid Baby Jesus sowie der einheimische Great Black Waters, während für die Partyzone so unterschiedliche Acts wie Larytta, Brian Shimkovitz mit seinen Awesome Tapes from Africa oder Helena Hauff aus dem Gol-den Pudel Club zuständig sind. Kurz: Diese hochfrequente Bergtour lohnt sich sehr. (bs)

5./6.6., Leysin, www.hautesfrequences.ch

B-Sides mit Tocotronic

«Man kann den Erwachsenen nicht trauen», singt Dirk von Lowtzow in ei-nem der schönsten Lieder auf dem neuen, dem «roten» Tocotronic-Album. Nun ist das B-Sides-Festival, das seit 2006 auf dem Krienser Sonnenberg stattfindet, glücklicherweise noch nicht erwachsen, sondern steht in voller Blüte, wie das Programm der zehnten Austragung beweist. Es ist ein Pro-gramm, das Tocotronic neben den englischen Rapper Dels stellt, der Teil der aufregenden Stunt-Pop-Gang um Micachu und Kwes ist, wie auch den einheimischen Gitarristen Manuel Troller, der am Festival solo und mit sei-ner Band Schnellertollermeier zu sehen ist. Und von dort gehts gleich wei-ter zum Malier Bassekou Kouyaté und seiner elektrisierenden Lautenband oder zum ausschweifenden Dance-Happening von Dan Deacon, der seine lasernden Synth-Sounds in tollen Songs bündelt. Wem das zu grell ist, der zieht sich einen Strumpf über das Gesicht und gibt sich die Angstmusik von Gazelle Twin oder bestellt ein Menü aus der B-Sides-Küche, deren Rezepte unlängst in einem Kochbuch erschienen sind. Bis der Sonnenberg bestiegen wird, kann sich die Besucherschaft im Verkabeln des Soundsystems üben – dank dem sehr schön designten Festival-App-Game Aux B. Man kann aber auch einfach ganz herzlich zum zehnten Geburtstag gratulieren – auf viele weitere Jahre! (bs)

11.–13.6., Sonnenberg, Kriens, www.b-sides.ch

Abstand halten zu Lydia Lunch

Da ist sie schon wieder. Lydia Lunch hat gerade eine umtriebige Phase, und so beehrt sie nach einem Auftritt in Bern im Dezember nun Zürich. Es ist auch im Internet-Zeitalter nicht ganz einfach, den Überblick über das Schaffen der Dame zu behalten, denn ihre eigene Website ist nicht gerade up to date. Andernorts entdeckt man dafür Anzeigen für eine Platte mit Cypress Grove, dem Mann hinter den Tributalben für Jeffrey Lee Pierce. Und dann gibt es eine neue Platte mit dem Titel«Urge to Kill», die un-ter dem Namen Lydia Lunch Retrovirus Neubearbeitungen von älterem Material versammelt. Aufgeführt wird der Reigen mit dem umtriebigen Gitarristen Weasel Walter sowie ehemaligen Swans- und Pussy-Galore-Musikern. Mal schauen, wie das wird. In Bern jedenfalls zeigte sich die Lunch in abgefuckter Pracht mit ungebrochenem Willen zur Konfrontati-on. Dazu veranstalteten James Johnston und Ian White von Gallon Drunk einen derart berauschenden Krach, dass man post festum den Merch-Stand leerkaufen wollte. Leider gab es keinen, dafür eine Erklärung. «Someo-ne» hätte nämlich die tolle Idee gehabt, erzählte Johnston, die kurze Tour durch Italien und die Schweiz mit dem Zug zu absolvieren. Und deshalb hätten sie nur dabei, was sie tragen können. Lydia Lunch macht, was sie will, und das noch immer so kompromisslos, dass man ihr nicht in die Quere kommen möchte, sondern aus sicherem Abstand mit offenem Mund auf die Bühne schaut. Und zwischendurch nach hinten. Ob da vielleicht diesmal ein Merch-Tisch steht? (ash)

14.6., El Lokal, Zürich

Page 23: Im Umbruch · 2017-02-21 · / J 5! SZENE DAS COMIC MAGAZIN erscheint Schnupperabo: 3 für für 2! chf 25.00 euro 20.00 DAS COMIC MAGAZIN vierteljährlich Schnupperabo: 3 2! chf 25.00

NACHTSCHICHT

Feiern mit Fischer & Fisch

Dass sich Bands für noch einmal für einen Auftritt zusammentun – das kennt man. Aber dass Musikprogrammgestalter für «one night only» noch einmal aus der Versenkung auftauchen, ist doch eher exklusiv. Frank Fi-scher und Chrigel Fisch haben zwischen 1995 und 2001 in der Kaserne Ba-sel das Musikbüro geleitet und in dieser Zeit etliche Bands für unvergess-liche Konzerte verpflichtet: Le Tigre, das Tied & Tickled Trio, Tocotronic, Mouse on Mars, Modest Mouse, The Roots, Swell, Tortoise, Blumfeld, The Residents und und und. Für ihr glorioses Comeback haben Fischer & Fisch noch einmal ein buntes Musikprogramm kuratiert. Da wird beispielsweise Lovebugs-Sänger Adri-an Sieber ins Rampenlicht treten und ein wenig akustische Gitarre spielen, derweil die längst legendäre Bum Khun Cha Youth ihren ersten Auftritt in der Schweiz absolvieren, den sie irgendwo zwischen romantischen Power-Balladen und exzentrischen Beats verorten. Und wenn man denkt , da geht nichts mehr, kommt DJ Fett daher. Der Pfundskerl aus Berlin, dessen hie-sige Residenz eigentlich das Bad Bonn in Düdingen ist, kommt mit seinen kleinen Vinylscheiben vorbei und beschallt den Rossstall mit jeder Menge Soul. Fernbleiben ist also keine Option. (amp)

20.7., Kaserne, Basel

Ausrücken mit Richard Dobson

Die Geschichte beginnt in den frühen Siebzigerjahren. Damals arbeitete der Texaner Richard Dobson auf einer Ölplattform vor der Golfküste – und langweilte sich. «Irgendwann kam mir die Idee, einen Song zu schreiben über ein völlig normales Paar», erklärt er rückblickend. Also kritzelte er ein paar Zeilen nieder und hatte bald schon «Baby Ride Easy» beisammen. Grössen wie Guy Clark oder David Allan Coe nahmen Dobson-Stücke auf, Mitte der Achtzigerjahre sogar Johnny Cash, der grosse Durchbruch blieb jedoch aus. Also verlegte sich Dobson aufs Bücherschreiben, veröffentlich-te zwei autobiografische Bände und landete 1999 in der Schweiz, wo er seine späte Liebe fand. Hier widmet sich der inzwischen 73-Jährige der Fischerei und rückt immer mal wieder aus, um ein paar Konzerte zu spie-len. Er muss nichts mehr beweisen, aber er hats immer noch drauf. (amp)

6.6., Dolder 2, Feuerthalen; 15.6., El Lokal, Zürich

Feuerwerken mit Antemasque

Eigentlich wollten sie ja nie wieder gemeinsame musikalische Sache ma-chen. Denn wenn Cedrix Bixler und Omar Rodriguez aufeinandertreffen, können schon mal die Funken fliegen. Mit der Band At The Drive-In haben sie in den späten Neunzigerjahren die letzte entscheidende Etappe der Post-Hardcore-Phase geprägt, danach war Schluss. Nicht wirklich. Die beiden kreativen Köpfe gründeten später eine weitere wegweisende Band: The Mars Volta. Unter diesem Namen gaben sie sich ausschweifenderen Experimenten auf dem Gebiet des Progrock hin. Doch Anfang 2013 löste sich die Band auf. Das Ende schien ein definitives zu sein, also war erst einmal grosses Seufzen angesagt. Doch dann rauften sich Rodriguez und Bixler ein drittes Mal zusammen und kehrten unter dem Namen Antemasque ins Musikgeschäft zurück. Im April 2014 lancierten sie sozusagen aus dem Nichts heraus ihre erste Single «4 AM» als digitalen Download. Tags darauf legten sie das Stück «Hangin’ in the Lurch» nach, und knappe 24 Stunden später folgte «People Forget». Anfang Juli wurde das Debütalbum Antemasque ohne Ankündigung über den Bandcamp-Account der Band vertrieben; überrascht vom grossen Interesse hat sie das Album aber wieder vom Netz genommen, um es im November in physi-scher Form zu veröffentlichen. Und wenn man sich die in atemloser Folge veröffentlichten Songs dieser neuen/alten Supergruppe anhört, bleibt einem die Spucke weg. Denn das Quartett haut Lieder raus, die sich der Intensi-tät von nach wie vor unerreichten Bands wie Black Flag und Minutemen verpflichtet. Das wird ein verdammtes Feuerwerk, liebe Freunde. (amp)

26.6., Rote Fabrik, Zürich

Das Tal verdammen mit U.S. Girls

4AD, das in der mittlerweile 35-jährigen Labelgeschichte Bands und Künst-ler wie Bauhaus, die Cocteau Twins, die Pixies oder in jüngerer Vergangen-heit Deerhunter oder Ariel Pink unter Vertrag hatte und hat, erfindet sich in diesem Jahr einmal mehr neu. Denn nach Holly Herndon, die eben ihr bestaunenswertes Album «Platform» veröffentlicht hat und am 3. Juli in Freiburg auftreten wird, wird auch Meg Remy, die unter dem Alias U.S. Girls ihre Musik einspielt, später im Jahr ein Album via 4AD in die gutsor-tierten Plattenläden dieser Welt stellen. Die erste Single aus diesem Album heisst «Damn That Valley» und ist ein weiterer herausragender Track in diesem bislang herausragenden Popjahrgang 2015. Über einen Piratensen-der-Dubbeat, der ihr musikalischer Weggefährte Onakabazien produziert hat, verdammt Remy das Tal, das ihr ihren Mann weggenommen hat. Denn es tobt ein Krieg, gegen den sie im Video zum Song protestiert und zu die-sem Zweck die stolz wehenden Sternenbanner wie auch Sehenswürdigkei-ten von Washington DC mit unfreundlichen Gesten eindeckt. Nun besucht Remy, die seit einigen Jahren in Kanada lebt, das Tal der Sensler mit noch ungehörten Songs und lohnenswerten Bedroom-Produktionen aus ihrer Vergangenheit, als sie noch für kleinere Labels tätig war. (bs)

1.7., Bad Bonn, Düdingen

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