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11 Entwicklungstrends in Wirtschaft und Gesellschaft. Mögliche Auswirkungen auf den Beratermarkt 1 GEWITTERWOLKEN AM HORIZONT DER BERATERBRANCHE? Mir ist kaum ein anderer Wirtschaftszweig bekannt, der in den ver- gangenen drei Jahrzehnten auf eine so ungebrochen dynamische Wachstumsentwicklung zurückblicken kann, wie das bei den orga- nisationsbezogenen Beratungsdienstleistungen der Fall ist. Durch- schnittliche Wachstumsraten in zweistelliger Höhe pro Jahr waren bei vielen Firmen keine Seltenheit, und dies kontinuierlich über viele Jahre hinweg. Vor allem die 1990er-Jahre zeichneten sich durch einen ganz außergewöhnlichen Boom aus, der allerdings nicht nur die quantitative Seite des Angebotes betraf, sondern auch zu einer wei- teren Ausdifferenzierung des Dienstleistungsangebotes gegenüber Organisationen im Allgemeinen, speziell aber gegenüber Unterneh- men führte. Laut einer Statistik des Bundes deutscher Unterneh- mensberater (BDU) belief sich 2001 der Umsatz der unternehmens- bezogenen Beratungsdienstleistungen auf insgesamt 12,9 Mrd. Euro. 1995 waren es noch 7,2 Mrd. Euro. Ein Blick auf den gesamten europäischen Markt zeigt die Wachs- tumsdynamik noch etwas dramatischer. 13,7 Mrd. Euro im Jahre 1995 stehen 42,5 Mrd. Euro im Jahre 2000 gegenüber (Quelle: FEA- CO). Diese beindruckende Expansion bestätigt frühere Prognosen, die Europa im Vergleich zu den USA in dieser Branche noch ein er- hebliches Wachstumspotenzial bescheinigt hatten. Auf der Anbie- terseite ist dieser Markt hoch fragmentiert. Der BDU spricht für 1 Zuerst veröffentlicht in: H. Lobnig, J. Schwendenwein, L. Zsacek (Hrsg.) (2003): Beratung in der Veränderung. Grundlagen, Konzepte, Beispiele. Wiesbaden (Gabler), S. 13–32. ...................................................

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Entwicklungstrends in Wirtschaft und Gesellschaft.Mögliche Auswirkungen auf den Beratermarkt1

GEWITTERWOLKEN AM HORIZONT DER BERATERBRANCHE?

Mir ist kaum ein anderer Wirtschaftszweig bekannt, der in den ver-gangenen drei Jahrzehnten auf eine so ungebrochen dynamischeWachstumsentwicklung zurückblicken kann, wie das bei den orga-nisationsbezogenen Beratungsdienstleistungen der Fall ist. Durch-schnittliche Wachstumsraten in zweistelliger Höhe pro Jahr warenbei vielen Firmen keine Seltenheit, und dies kontinuierlich über vieleJahre hinweg. Vor allem die 1990er-Jahre zeichneten sich durch einenganz außergewöhnlichen Boom aus, der allerdings nicht nur diequantitative Seite des Angebotes betraf, sondern auch zu einer wei-teren Ausdifferenzierung des Dienstleistungsangebotes gegenüberOrganisationen im Allgemeinen, speziell aber gegenüber Unterneh-men führte. Laut einer Statistik des Bundes deutscher Unterneh-mensberater (BDU) belief sich 2001 der Umsatz der unternehmens-bezogenen Beratungsdienstleistungen auf insgesamt 12,9 Mrd. Euro.1995 waren es noch 7,2 Mrd. Euro.

Ein Blick auf den gesamten europäischen Markt zeigt die Wachs-tumsdynamik noch etwas dramatischer. 13,7 Mrd. Euro im Jahre1995 stehen 42,5 Mrd. Euro im Jahre 2000 gegenüber (Quelle: FEA-CO). Diese beindruckende Expansion bestätigt frühere Prognosen,die Europa im Vergleich zu den USA in dieser Branche noch ein er-hebliches Wachstumspotenzial bescheinigt hatten. Auf der Anbie-terseite ist dieser Markt hoch fragmentiert. Der BDU spricht für

1 Zuerst veröffentlicht in: H. Lobnig, J. Schwendenwein, L. Zsacek (Hrsg.)(2003): Beratung in der Veränderung. Grundlagen, Konzepte, Beispiele.Wiesbaden (Gabler), S. 13–32.

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in Beratung in der Veränderung, (Hrsg.) Hubert Lobnig, Joachim Schwendenwein, Liselotte Zvacek 352 Seiten, Gabler Verlag, Wiesbaden 2003, ISBN: 3409124136
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Deutschland zurzeit von ca. 14 500 Beratungsunternehmen, in de-nen insgesamt mehr als 70 000 Berater und Beraterinnen beschäftigtsind. Mehr als zwei Drittel davon sind Klein- und Kleinstunterneh-men mit weniger als zehn Personen, die einen Marktanteil von ledig-lich 16,2 % unter sich aufteilen. Dominiert wird diese Branche voneinigen großen, zumeist international tätigen Beratungsgesellschaf-ten, deren Markennamen auch die öffentliche Diskussion prägt. Sobeherrschen die Top 40 knapp 50 % des Marktes in Deutschland.36 % aller Berater und Beraterinnen sind in diesen Firmen beschäf-tigt. Der Umsatz pro Berater ist bei diesen großen, durchweg be-kannten Namen fast doppelt so hoch, als dies bei der Masse derKleinstunternehmen und freiberuflich tätigen Beratern der Fall ist.Diese Zahlen deuten darauf hin, dass sich auf diesem Markt in Be-zug auf die zu realisierenden Tagessätze pro Berater eine extremeSpannbreite eingespielt hat, die wohl auf die unterschiedlichstenFaktoren zurückgeführt werden kann. Die letztlich ausschlaggeben-den Mechanismen der Preisbildung zu erforschen wäre eine eigeneUntersuchung wert. Zweifelsohne spielen Reputation, Unterneh-mensgröße und das bevorzugte Beratungssegment eine herausra-gende Rolle.

Wie kommt das klassische Segment der Prozessberatung (mitunterschiedlichen professionellen Hintergründen: ob der OE-Tradi-tion verpflichtet mit ihren eher gruppendynamischen Zugängenoder dem inzwischen weiten Feld der systemischen Organisations-beratung zugeordnet) in diesem Gesamtkontext vor? Spielt dieseSzene, die im deutschsprachigen Raum seit den späten 1960er-Jah-ren doch eine erhebliche Ausbreitung erfahren hat, auf dem Marktfür organisationsbezogene Beratungsdienstleistungen überhaupteine nennenswerte Rolle? Es gibt dafür leider keine verlässlichenZahlen, was zweifelsohne mit dem hohen Grad an Zersplitterungund Vereinzelung dieser professionellen Szene zusammenhängt.Dieser Beratungsrichtung entspricht überwiegend die freiberuflicheExistenzform oder der Zusammenschluss in losen Netzwerken bzw.in teamförmigen Firmenkonstellationen. Eigenen Schätzungen zu-folge dürften im deutschsprachigen Raum ca. 3000 bis 4000 Per-sonen diesem Beratungssegment zuzurechnen sein, die ihren Le-bensunterhalt überwiegend mit organisationsbezogenen Beratungs-dienstleistungen erwirtschaften (wobei hier die Grenzen zumtherapeutischen Bereich manchmal fließend sind). Legt man den

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durchschnittlichen Jahresumsatz pro Person zugrunde (134 000 Eu-ro), wie er vom BDU für die kleineren Beratungsfirmen errechnetworden ist, so kommt da ein Marktanteil von ca. 3 bis 4 Prozentheraus. Man kann davon ausgehen, dass diese Nische prozentuellschon mal etwas größer war, weil die Prozessberatungsszene allerWahrscheinlichkeit nach nicht in dem Ausmaß gewachsen ist, wiedies in den 1990er-Jahren bei den klassischen Unternehmensbera-tungen, die auf ihre inhaltliche Expertise setzten, der Fall war. Fürein ähnlich rasches Wachstum ist der Professionalisierungsweg indieser Nische in aller Regel viel zu langwierig und verschlungen.Erstaunlich ist, dass es die Prozessberatungsszene, ungeachtet ihresrelativ bescheidenen Marktanteils, geschafft hat, sich in der fachli-chen Öffentlichkeit (in den Wirtschaftsmedien, in der Beratungsfor-schung, mit eigenen Publikationen) einen überproportional starkenNamen zu machen, allerdings deutlich weniger angedacht aus Top-Management, sondern überwiegend an organisationsinterne OE-und PE-Spezialisten.

Über dieser bislang heilen Beraterwelt tauchen seit Mitte 2001erstmals bedrohliche Gewitterwolken auf. Die Wachstumsdynamikhat im Jahr 2001 eine deutliche Verlangsamung erfahren. Im Seg-ment der kleinen Firmen ist sogar ein Schrumpfen beobachtbar.Aber auch die Großen haben heftig zu kämpfen, auch wenn sie diesnach außen nicht sichtbar werden lassen. Erstmals wird von Freiset-zungen gesprochen. Die normal hohe Fluktuation wird nicht im ge-wohnten Maße nachbesetzt, Leute werden scharenweise auf Sab-baticals geschickt, der Preiskampf beim Kunden ist um vieles härtergeworden. Auch die Großen entdecken jetzt den Mittelstand, eineKlientel, die sie bislang eher gemieden haben. Die Wettbewerbs-situation hat sich 2001 für Beratungsunternehmen erheblich ver-schärft. Was ist passiert?

Zum ersten Mal in ihrer jungen Geschichte profitiert die Bera-tungsbranche nicht von einem konjunkturellen Wellental, ganz imGegenteil, sie bekommt dieses Tal selbst zu spüren. Es ist unver-kennbar, dass vor allem die „beratungsverwöhnten“ Großunterneh-men ihre Beratungsbudgets zum Teil drastisch reduzieren. Das Geldsitzt gerade dort, wo in der Vergangenheit die großen Umsätze mög-lich waren, offensichtlich nicht mehr so locker. Daimler-Chryslerhatte noch im Jahre 2000 einen externen Beratungsaufwand vonmehr als 1 Mrd. DM.

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Jetzt wird auf diesem Gebiet mit aller Kraft gespart. Die Vergabevon Beratungsaufträgen wird einem streng kontrollierten „Ein-kaufsprozess“ unterworfen, für den spezifische Gütekriterien entwi-ckelt werden. Die Projektvolumina sind dramatisch geschrumpft.

Wie lässt sich dieses Phänomen erklären? Die Optimisten spre-chen von einer vorübergehenden Sparwelle. In der tief verunsicher-ten wirtschaftlichen Gesamtlage des Jahres 2002 optimieren alle Un-ternehmen ihre Kostensituation. In den meisten Branchen wartetman mit etwas riskanteren Vorhaben ab, bis die Wachstumsperspek-tiven wieder kalkulierbarer werden. Angesichts der anhaltendenTurbulenzen auf den Kapitalmärkten und angesichts der offensicht-lichen konjunkturellen Wachstumsschwäche sowohl der europäi-schen wie der US-amerikanischen Wirtschaft sei es nur verständlich,dass die Unternehmen äußerst vorsichtig investieren. Dies trifft ebenauch die Aufwendungen für externe Beratungsdienstleistungen.Wenn sich die allgemeine Zuversicht in den wirtschaftlichen Auf-schwung wieder festigt, dann wird sich die gewohnte Wachstums-dynamik im Beratungsgeschäft wohl wiederum einstellen.

Es ist dies ein durchaus mögliches Zukunftsszenario. Es gibt al-lerdings auch eine Reihe von Anzeichen, die darauf hindeuten, dasswir es mit einem ernsteren Strukturwandel in der Beraterbranche zutun haben. Was ist damit gemeint?

Wenn wir auf die letzten drei Jahrzehnte des vergangenen Jahr-hunderts zurückblicken, die auf das Wirtschaftswunder der Wieder-aufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg folgten, dann war dieserZeitraum von unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen in demBemühen um kontinuierliche Produktivitätssteigerungen geprägt.Bis in die späten 1980er-Jahre dominierten Rationalisierungsan-strengungen, die in erster Linie auf eine Verbesserung der Produk-tionsprozesse im engeren Sinne abzielten. Andere Leistungsprozes-se im Unternehmen (wie etwa der Vertrieb, F&E oder die immerrascher wachsenden unternehmensbezogenen Stabsbereiche) warenin der Regel diesem ständigen Rationalisierungsdruck, der sich ineiner fortschreitenden Automatisierung äußerte und zu einer weite-ren Perfektionierung der „fordistischen“ Produktionsweise führte,nicht unterworfen. Freilich unterzogen sich viele Unternehmen pe-riodisch irgendwelchen Gemeinkostensenkungsprogrammen, dieaber an ihrer organisatorischen Grundarchitektur zumeist nicht rüt-telten.

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Bei diesem Grundmuster des Produktionsgeschehens selbst wa-ren mit Beginn der 1990er-Jahre keine großen Wertschöpfungspoten-ziale mehr zu gewinnen. Konsequenterweise entdeckte man nun dasUnternehmen als Gesamtsystem in der Vielzahl seiner miteinandervernetzten Geschäftsprozesse als Gegenstand der Veränderung. Essetzten Bemühungen ein, die man heute gerne unter dem Begriff der„systemischen Rationalisierung“ zusammenfasst (vgl. etwa Deutsch-mann et al. 1995). Die neue Qualität dieses Rationalisierungsschubesbestand genau darin, dass damit die organisatorische Grundarchi-tektur eines Unternehmens plötzlich zur Disposition stand: DasPrinzip der funktionalen Gliederung mit seinen eingespielten hie-rarchischen Koordinationsmechanismen mußte dem Bauprinzip derSelbstähnlichkeit weichen. Es setzte sich das Primat der Geschäfts-gliederung durch, d. h., es entstanden unternehmerisch weitgehendselbstverantwortliche Subeinheiten, aus der Perspektive internerbzw. externer Kunden heraus segmentiert rund um gut abgrenzbare„Geschäfte“, die sich in der strategischen Positionierung als zu-kunftsfähig erwiesen haben (vgl. Wimmer 1995a). Mit diesem Wech-sel in der organisationsbezogenen Differenzierungslogik gerietendie historisch gewachsenen Führungsstrukturen und ihre Support-einheiten (die internen Stäbe) unversehens in den Mittelpunkt desGestaltungsinteresses. Ganze Führungsebenen wurden gestrichen,Stabsbereiche aufgelöst bzw. in die Geschäftsfelder reintegriert, be-stimmte interne Dienstleistungen gebündelt, fallweise auch outge-sourct. Mit dieser Phase der Produktivitätsentwicklung stellten sichdie Unternehmen in ihrer jeweiligen organisatorischen Verfasstheitdauerhaft zur Disposition. Mit der Bewältigung dieser permanentenAnforderung, auf veränderte Marktgegebenheiten bzw. auf neuestrategische Herausforderungen mit radikalen Organisationstrans-formationen zu reagieren, haben Unternehmen bis zum heutigenTage schwer zu kämpfen. Mit in diese Phase der systemischen Ratio-nalisierung gehören aber auch jene Anstrengungen, die darauf ab-zielen, die Optimierung von Geschäftsprozessen auf alle relevantenGlieder der Wertschöpfungskette auszudehnen, d. h. Lieferantenund auch Kunden verstärkt miteinzubeziehen. Damit entstandenund entstehen immer noch unternehmensübergreifende Wertschöp-fungsnetzwerke, in denen ernsthafte Produktivitätszugewinne nurmehr gemeinsam zu lukrieren sind. Wohl eine Variante dieser die ei-genen Grenzen transzendierenden Rationalisierungsanstrengungen

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stellen alle jene Fusionen und Zusammenschlüsse dar, die primärvom Synergiegedanken angetrieben sind. Allerdings haben die Pra-xis sowie die darauf bezogenen Evaluationsstudien bislang eindeu-tig gezeigt, dass bei Fusionen die in der Regel überzogenen Syner-gieerwartungen durchweg massiv enttäuscht worden sind (vgl. Jan-sen 2001, 2002), eine Erfahrung, die fusionswillige Unternehmenwahrscheinlich auch künftig nicht davon abhalten wird, der Auto-suggestion riesiger Synergiepotenziale zu erliegen.

Die beschriebenen Wellen in der Schwerpunktsetzung bei Pro-duktivitätssteigerungsbemühungen waren in den zurückliegendenJahren begleitet und zum Teil auch selbst vorangetrieben von denführenden Beratungsunternehmen dieser Welt. Deren außerge-wöhnliches Wachstum ist unmittelbar mit den sich abwechselndenZyklen immer neuer Aussichten auf Produktivitätszugewinne ver-bunden. In diesem spannenden koevolutionären Prozess von pro-duktivitätsgetriebener Unternehmensentwicklung auf der einen Sei-te und der Ausprägung eines dazu passenden Kranzes an externenDienstleistungen auf der anderen Seite spielten Berater eine mehr-fache Rolle. Zum einen waren sie gleichsam jene Metabeobachterdieses ubiquitären Prozesses in einer an Wettbewerbsintensität ge-winnenden, globalisierten Wirtschaft, die aus dieser privilegiertenBeobachterrolle heraus, unterstützt durch die einschlägigen Medien,die jeweils einzuschlagende Entwicklungsrichtung definierten. Ausden Beratungsunternehmen heraus rekrutierten sich quasi die „Mo-deschöpfer“ der Modernisierungsrichtungen. Sie schufen jene ab-wechselnd Prominenz gewinnenden Leitbegriffe und Verände-rungskonzepte, die den Managern in den Unternehmen einelegitimationskräftige Sprache für ihre Veränderungsvorhaben liefer-ten. Bis zu einem gewissen Grade spielt sich der Reputationswettbe-werb zwischen den Beratungsfirmen genau um die Definitions-macht dessen ab, was in den Unternehmen zur Steigerung ihrerWettbewerbsfähigkeit gerade angesagt ist (zu den Moden im Ma-nagement vgl. Kieser 1981, 1985, 1996, und Jansen 2001, 2002). DieserWettbewerb um die Kreationsfähigkeit von Managementmoden er-klärt zum Teil jedenfalls auch ihren immer kürzer werdenden Le-benszyklus.

Zum anderen gelang es den renommierten Beratungsunterneh-men auch, sich vor allem im Top-Management eine Autoritätszu-schreibung zu verschaffen, die in ihrem Kern darauf hinauslief, dass

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die jeweils angestrebten ehrgeizigen Produktivitätsziele und die da-für geeigneten Veränderungsvorhaben ohne professionelle Bera-tungsunterstützung von außen nicht ernsthaft zu haben sind. Diesein der Vergangenheit außergewöhnlich erfolgreiche Positionierunginsbesondere der klassischen Unternehmensberatung als unver-zichtbare Kompetenzträger zur Unterstützung der wechselndenUnternehmensentwicklungsziele der jeweils machtmäßig relevan-ten Entscheidungsträger in den Unternehmen (vielfach gegen denWiderstand der nächsten Führungsebenen) bildete das eigentlicheFundament der bisherigen Wachstumsdynamik dieser Branche.

Die zu Zeit beobachtbaren Irritationen am Beratermarkt könntenein Indiz dafür sein, dass diese bislang weitgehend fraglos funktio-nierende Koevolution zwischen unternehmensbezogener Produkti-vitätsentwicklung und den relevanten Spielern am Beratermarktzurzeit gerade einer tiefergehenden Veränderung unterworfen ist.Der Musterwechsel ist möglicherweise darin zu sehen, dass geradejene externen Dienstleister, an die bislang die Haupterwartungenhinsichtlich der Unterstützung von Rationalisierungsanstrengun-gen gerichtet waren und in die deshalb relativ großzügig investiertworden ist, dass also genau diese Geschäftsbeziehungen nun selbstzum Gegenstand einer wesentlich genaueren Prüfung der dadurchtatsächlich erzielbaren Wertschöpfung werden. Es spricht einigesdafür, dass wir uns insgesamt in eine neue Periode der Produktivi-tätsauseinandersetzung hineinbewegen, die zunächst davon ge-kennzeichnet ist, dass gerade jene Unternehmen, die in den 1980er-und 1990er-Jahren in ihren Weiterentwicklungsanstrengungen dieintensivsten Beratungserfahrungen gemacht haben und besondershohe Erwartungen in diese Zusammenarbeit gelegt hatten, dass die-se Unternehmen jetzt damit beginnen, ihre Investitionen auf diesemGebiet wesentlich genauer auf ihren tatsächlich erwartbaren Wert-schöpfungsbeitrag hin zu überprüfen. Mit anderen Worten, die vonden Beratern bislang auf andere Geschäftsprozesse angewendetenGrundgedanken werden nun von den Unternehmen auf die Bera-tungsbeziehung selbst angewendet. Die Nutzung von Beratungs-leistungen (gerade auch der managementnahen) wird reflexiv. DieseArt von Selbstbezüglichkeit hat zur Folge, dass Beratung (bislanggeschützt durch ihre enge Koalition mit den relevanten Entschei-dungsträgern) ihre privilegierte Position als verdeckter Profiteur derProduktivitätsanstrengungen ihrer Kunden zu verlieren beginnt.

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Gestützt durch die ziemlich ernüchternden Erfahrungen der jüngs-ten Zeit geraten nun auch diese letzten bislang weitgehend aus-geklammerten Geschäftsbeziehungen unter das allgemeine Diktatproduktivitätsorientierter Wertsteigerung. Auer die hier diskutier-ten organisationsbezogenen Beratungsdienstleistungen trifft dieserMusterwechsel vor allem auch die Software- und IT-Branche. DasEnde der E-Businesseuphorie hat das Pendel vielfach in die andereRichtung zurückschlagen lassen. Der Glaube an die ultimativenProduktivitätssprünge durch innovative IT-, insbesondere Internet-lösungen, ist einem neuen Realismus gewichen. Dies zeigt sich anden zum Teil dramatisch rückläufigen Auftragsvolumina vieler dereinschlägigen Dienstleistungsunternehmen. Ähnlich betroffen istdie gesamte Werbebranche, die auch seit Beginn des Jahres 2001 miteiner überraschend hohen Investitionszurückhaltung ihrer Kundenzu kämpfen hat, ein Umstand, den vor allem jene Medien, die auf einkontinuierlich wachsendes Anzeigenvolumen angewiesen sind,drastisch zu spüren bekommen. Auch hier stellt sich für den Beob-achter die Frage, ob es sich bei diesem deutlichen Rückgang derInvestitionsneigung um ein konjunkturell bedingtes Phänomen han-delt (man spart halt in schwierigen Zeiten relativ einfach am Marke-tingbudget) oder ob sich nicht doch auch ein grundsätzlicher Mus-terwechsel andeutet, der diese Art von Aufwendungen noch vielstärker als bislang grundsätzlich auf den Prüfstand stellt. Im Mo-ment ist diese Frage noch nicht mit ausreichender Sicherheit beant-wortbar; zu ungewiss sind die aktuelle Gesamtlage der Weltwirt-schaft und ihre erwartbare Entwicklungsrichtung. Damit dieserHintergrund noch besser eingeordnet werden kann, soll im Folgen-den etwas ausführlicher auf die Frage eingegangen werden, welcherEntwicklungsdynamik der Finanzsektor zurzeit weltweit unterliegtund welche Auswirkungen diese Dynamik auf die Wettbewerbs-bedingungen von Unternehmen wahrscheinlich haben wird. Wir rü-cken den Finanzsektor deshalb in den Mittelpunkt der Betrachtung,weil wir davon ausgehen, dass die Art und Weise, wie Unternehmenin ihrem Kapitalbedarf an den Finanzsektor gekoppelt sind, derzeiteinem grundlegenden Wandel unterworfen ist. Wir vermuten, dassvon diesem Wandel ein prägender Einfluss auf die Möglichkeitenund Grenzen künftiger Unternehmensentwicklung ausgehen wird.

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DAS VERHÄLTNIS VON REAL- UND FINANZWIRTSCHAFTHAT SICH GRUNDLEGEND GEDREHT

Um diesen Blick auf die aktuellen Eigenheiten des gesellschaftlichenFunktionssystems Wirtschaft zu schärfen, greifen wir auf eine ge-bräuchliche Unterscheidung der ökonomischen Theorie zurück,nämlich auf die Unterscheidung zwischen Real- und Finanzkapital,um einige aktuell überaus bedeutsame Veränderungen in den wirt-schaftlichen Grundstrukturen unserer Gesellschaft beschreibbar zumachen (vgl. dazu wesentlich ausführlicher Schulmeister, 1998). Wirblenden dabei die wichtige Rolle des Faktors Arbeit und seiner Ver-handlungsstärke aus Gründen der Übersichtlichkeit aus, ohne dieseRolle im Gesamtkontext der gesellschaftlichen Entwicklung unter-schätzen zu wollen.

Was markiert die Unterscheidung zwischen Real- und Finanz-kapital? Realkapital meint jene Vermögenswerte, die in die Leis-tungsfähigkeit von Unternehmen zur Bereitstellung von Produktenund Dienstleistungen investiert worden sind, um damit Erträge zuerwirtschaften, die die Fortführung der Unternehmen auch künftigermöglichen. Die Bildung des Realkapitals erfolgt teilweise durchdie seitens der Eigentümer zur Verfügung gestellten Mittel (diesewerden damit üblicherweise zum Eigenkapital des Unternehmens),teilweise erfolgt die Finanzierung über Fremdmittel (im Mittelpunktsteht hier immer noch der klassische von Banken zur Verfügung ge-stellte Firmenkredit). Während in Europa im Verhältnis von Eigen-und Fremdmittel traditionellerweise eine deutliche Schlagseite inRichtung Fremdkapital vorherrscht, ist in den USA dieser bank-kreditbasierte Teil seit jeher zugunsten „fremden“ Eigenkapitals(d. h. Aktien, unterschiedliche Formen der Beteiligung etc.) deutlichkleiner. Die Finanzschulden der Unternehmen (letztlich aber auchdie anderer Kreditnehmer, wie dies Staaten und Gebietskörperschaf-ten sind) stellen sozusagen als Kehrseite des Realkapitals das Fi-nanzkapital in der Hand der Gläubiger dar, die diese Mittel mit derErwartung investieren, dass daraus angemessene Zinserträge er-wachsen. Institutionell steht der Begriff Gläubiger im Großen undGanzen für den Banken- und Sparkassensektor und vergleichbareUnternehmen der Finanzdienstleistungsbranche, die traditioneller-weise ihre Erträge mit der gekonnten Bewirtschaftung der Risikenvon Veranlagungen (vornehmlich der Ersparnisse privater Haushal-

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te) und von Ausleihungen (vornehmlich an Unternehmen) erzielen(vgl. Baecker 1991). Zwischen diesen beiden Kapitalformen zu un-terscheiden hat schon deshalb Sinn, weil sie miteinander in einemständigen Interessenkonflikt leben. Unternehmen, die ihre Erträgeim realwirtschaftlichen Kontext erwirtschaften, sind sehr an günsti-gen Finanzierungsbedingungen interessiert (d. h. an niedrigen Real-zinsen, an stabilen Wechselkursen und an keiner Überbewertungder eigenen Währung). Unternehmen im Finanzsektor wünschensich dagegen eine hohe Zinsspanne bei möglichst niedrigem Aus-fallsrisiko, eine Hochbewertung jener Währung, in der sie ihr Fi-nanzkapital angelegt haben und überdies instabile Devisen- und Ka-pitalmärkte. Denn je stärker die Kurse schwanken, desto größer sinddie potenziellen Spekulationsgewinne. Es ist klar, dass Real- und Fi-nanzkapital auf subtile Weise miteinander verkoppelt sind, dassaber die Art der Verknüpfung mit darüber entscheidet, in welcherSpähre der Wirtschaft welche Ertragschancen realisiert werden kön-nen.

Wir operieren deshalb im Folgenden mit der These, die StephanSchulmeister (1998) im Detail näher ausgearbeitet hat, nämlich dasssich die Einflußrelation dieser beiden Erscheinungsformen von Ka-pital zueinander in den Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieggrundlegend geändert hat.

Das entscheidende Strukturmerkmal der ersten beiden Jahr-zehnte der Wiederaufbauphase lag wohl in der besonderen Art undWeise, wie die Realwirtschaft in ihrer Wachstumsdynamik mit demFinanzsektor zusammenspielte. Eine bestimmende Rolle nahmendabei die Zinsen für jene Fremdmittel ein, die die Unternehmen fürihre Wachstumsinvestition in hohem Maß benötigten. Zwischen1950 und 1965 lag dieser Zinssatz in den wichtigsten Industrie-ländern um etwa 3 Prozent unter der Wachstumsrate. Diese übereinen längeren Zeitraum relativ stabile Konstellation förderte daskontinuierliche Wachstum der Unternehmen in der Realwirtschaftim Vergleich zum Finanzsektor aus zwei Gründen. Erstens ist dasErtragspotenzial in Aussicht genommener Investitionen in die Pro-duktion von Gütern und Dienstleistungen umso größer, je höher die(erwartete) gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate über dem (erwar-teten) Zinssatz liegt. Zweitens können umso mehr Investitionsvor-haben durch Kreditaufnahme (d. h. durch Verschuldung) finanziertwerden, je geringer die Finanzierungskosten für vergangene, schon

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getätigte Investitionen sind. Der Wachstumsprozess der Gesamt-wirtschaft in dieser Periode war somit dadurch charakterisiert, dassdie Überschüsse der privaten Haushalte (d. h. ihre Spareinlagen beiden Banken) auf dem Weg über die Kreditaufnahmen der Unterneh-men direkt in ein wachsendes bzw. produktiveres realwirtschaft-liches Leistungsvermögen von Unternehmen transformiert wurden.Die beschriebene Konstellation, begleitet von stabilen Wechselkur-sen, einer relativ geringen Inflationsrate und einer erst in den 1960er-Jahren moderat ansteigenden Lohnquote, ermöglichte ein stetigesund gleichzeitig so hohes Wirtschaftswachstum, „dass in den euro-päischen Industrieländern bereits Anfang der sechziger Jahre Voll-beschäftigung erreicht wurde“ (Schulmeister 1998, S. 7). Die Politikder Notenbanken unterstützte die Stabilität dieser Konstellationnicht unwesentlich. Diese sorgten dafür, dass sich das unternehme-rische Gewinnstreben vornehmlich auf realwirtschaftliche Investi-tionen richtete, indem sie die Zinssätze auf niedrigem, unter derWachstumsrate liegendem Niveau stabilisierten.

Paradoxerweise waren es gerade die Erfolge des Wirtschafts-wunders nach dem Krieg, die eine Transformation der beschriebe-nen gesamtwirtschaftlichen Konstellation einleiteten (eine längerePeriode der Vollbeschäftigung, ein erhebliches Anwachsen des Fi-nanzvermögens, eine sich abzeichnende Sättigung des Marktes ineinigen Branchen und damit verbunden eine Intensivierung derWettbewerbsauseinandersetzung; die Überbewertung des US-Dol-lar als Weltleitwährung benachteiligte zusehends die internationa-len Wettbewerbschancen der amerikanischen Wirtschaft etc.). DieZeit der späten 1960er- bis in die frühen 1980er-Jahre war deshalbgeprägt von einer schrittweisen Umformung jener gesamtwirt-schaftlichen Rahmenbedingungen, die die ersten Jahrzehnte nachdem Krieg geprägt hatten. Dieser Transformationsprozess wurdebegleitet und unterstützt durch einen Paradigmenwechsel in derwirtschaftswissenschaftlichen Grundausrichtung. Als dominieren-de Werte und Denkhaltungen begannen sich mehr und mehr durch-zusetzen: ein Zurückdrängen der Rolle des Staates; ein Infragestel-len des Keynesianismus; eine Kritik am Wohlfahrtsstaat und derwachsenden Staatsverschuldung; die Bekämpfung der Inflation alswichtigstes wirtschaftspolitisches Ziel; die Deregulierung des Fi-nanzsektors, d. h. ein Übergang von stabilen zu instabilen Wechsel-kursen und Zinssätzen.

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Es ist natürlich nicht möglich, einzelnen Ereignissen dieserÜbergangsperiode eine direkte kausale Wirkung für die Transforma-tion des Verhältnisses von Finanz- und Realkapital zuzuordnen. Ei-nige markante Einschnitte seien jedoch kurz erwähnt. Anfang der1970er-Jahre kam es zum Zusammenbruch des Systems fester Wech-selkurse. Die Abkehr von den Festlegungen von Bretton Woods de-stabilisierte in der Folgezeit das Währungsgefüge, ein Umstand, derall jenen Finanzaktivitäten enormen Auftrieb gab, die die damit ver-bundenen Risiken geschäftlich ausbeutbar machten. Zwei ausge-prägte Abwertungen des US-Dollar am Beginn und am Ende diesesJahrzehntes und die damit in Verbindung stehenden massiven Öl-preiserhöhungen (Stichwort „Ölschock“) veränderten die Wettbe-werbsbedingungen der Unternehmen in der Realwirtschaft auf eineganz einschneidende Weise. Wirtschaftspolitisch wurden diese Ver-änderungen begleitet durch einen Übergang zu einer monetaristischmotivierten Hochzinspolitik. Die Hintergrundfolie für diesen Pro-zess gab eine schrittweise Verlagerung wichtiger wirtschaftspoliti-scher Funktionen vom Staat auf die Notenbanken ab. Damit warenam Beginn der 1980er-Jahre gesamtwirtschaftliche Konstellationenentstanden, die das Wachstum der Realwirtschaft dämpften – derProduktivitätsdruck auf die Unternehmen war deutlich gestiegen –,die das der Finanzmärkte dagegen kräftig anheizten. Dieser Trans-formationsprozess fand in einem volkswirtschaftlichen Steuerungs-parameter seinen ganz besonders folgenschweren Ausdruck: DerZinssatz lag erstmals in der Nachkriegszeit permanent über derWachstumsrate. Dieser Umstand zeigte für die Unternehmen wieauch für den Staat seine je eigentümlichen Folgen. Aufseiten der öf-fentlichen Hand ließ diese Konstellation die Budgetdefizite kontinu-ierlich steigen. Ihre historisch gewachsene Aufgaben- und Ausga-benstruktur stammte aus einer anderen Periode. „Ein dauernd überder Wachstumsrate liegendes Zinsniveau macht den Sozialstaatlangsam, aber sicher unfinanzierbar“ (Schulmeister 1998, S. 12).Dementsprechend erleben wir seit fast zwei Jahrzehnten die politi-schen Auseinandersetzungen um die Rolle des Staates, um die Gren-zen seiner Budgetverschuldung, um die Dichte des Netzes sozialerSicherungssysteme etc. Aufseiten der Unternehmen war durch diebeschriebene Konstellation erstmals die Chance entstanden, die er-wirtschafteten Erträge profitabler im Finanzsektor zu reinvestierenals in der Realwirtschaft. Diese Option eröffnete sich jedoch nur für

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jene (zumeist größeren) Unternehmen, die über einen ausreichendenfinanzpolitischen Spielraum verfügten. Genau diese Firmen profes-sionalisierten in dieser Phase ihre unternehmensinternen Finanzbe-reiche, bauten diese von ihrem Fähigkeitspotenzial her zu bankähn-lichen Kompetenzzentren aus, die die Unternehmen in die Lageversetzten, erfolgreich auf den sich mehr und mehr entfaltenden Fi-nanzmärkten mitzuspielen. Diese Märkte hatten sich in dem be-schriebenen Transformationsprozess zusehends von der engen Bin-dung an die Wachstumsdynamik der Realwirtschaft „emanzipiert“.Sowohl die wirtschaftlichen als auch die politischen Rahmenbedin-gungen waren seit den späten 1970er-Jahren darauf ausgerichtet.Das Volumen des Finanzkapitals hatte im Laufe der Jahre einen Um-fang angenommen, das jenes der Realwirtschaft um ein Zigfachesüberstieg. In ungewöhnlicher Fungibilität hält es rund um den Erd-ball permanent nach Chancen Ausschau, um zu renditeträchtigenAnlagemöglichkeiten zu kommen. Die Finanzmärkte konnten damiteine mehr oder weniger selbstbezügliche Eigendynamik entwickeln,die in ihrer kurzfristigen spekulativen Logik nur mehr sehr lose andie Geschehnisse der Realwirtschaft gekoppelt ist.

Die Bedingungen dafür waren auf internationaler Ebene im Ver-hältnis der drei Weltwirtschaftszentren zueinander (USA, Europa,Japan) geschaffen worden. Die deutliche Verschlechterung der Er-tragschancen in der Realwirtschaft, wie sie mit den bekannten Tur-bulenzen der 1970er-Jahre verbunden war, und die Verbesserungder Anlagemöglichkeiten im Finanzsektor hatten in den 1980er-Jah-ren den politischen Druck zugunsten einer Deregulierung undgrenzüberschreitenden Liberalisierung des Finanzsektors sichtlicherhöht. Der zehn Jahre zuvor erfolgte Übergang zu einem Systemflexibler Wechselkurse hatte dafür die entscheidenden Weichen ge-stellt. Die zunehmende Volatilität der Wechselkurse und der damitverbundene Risikoabsicherungsbedarf bei internationalen Transak-tionen hatten ganz neue Finanzgeschäfte entstehen lassen (gemeintist das Geschäft mit den so genannten Derivaten). Risikoabsicherungund Spekulation bilden bekanntermaßen zwei Seiten ein und der-selben Medaille. Der Strukturwandel des sich rasch globalisieren-den Devisenmarktes wurde so „zur Initialzündung für den Struk-turwandel der gesamten Finanzmärkte“ (Sablowski u. Rupp 2001,S. 50). Es kann nicht überraschen, dass in diese Dynamik sehr früh,ausgehend von den wesentlich entwickelteren US-amerikanischen

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Verhältnissen, die Aktienmärkte mithereingenommen wurden. DieZunahme der Renditemöglichkeiten bei Finanzinvestitionen triebauch die Erwartungen an die Aktienrendite systematisch in die Hö-he. Aktien selbst wurden damit mehr und mehr zum Spekulations-objekt auf den an Bedeutung gewinnenden Kapitalmärkten.

Der sich kraftvoll entfaltende Finanzsektor, übrigens einer derVorreiter der Globalisierung der Weltwirtschaft, besaß natürlich seinorganisationales Pendant aufseiten der Finanzinstitute. Die großenbörsennotierten und zunehmend auch international operierendenGeschäftsbanken konzentrierten sich in verstärktem Maße auf diewesentlich attraktiver gewordenen kapitalmarktbezogenen Finanz-geschäfte. Die Wertpapierbereiche wurden auf- und ausgebaut. DasInvestmentbanking wurde zur Königsdisziplin des global operie-renden Bankgeschäftes. Die Expansion der Finanzmärkte und derdamit verbundene Umbau des Bankensektors ließen einen wachsen-den Markt für Unternehmen selbst entstehen. Der „Handel“ mitUnternehmen, das Einfädeln und Ermöglichen von Fusionen, dasprofessionelle finanzpolitische Management von M&A-Aktivitätenwurde zu einem heiß umkämpften Markt, auf dem einige wenigeExperten Erträge erwirtschaften können, von denen das traditionel-le Bankgeschäft nur träumen kann. Parallel dazu verlor für diesejetzt stärker kapitalmarktorientierten Banken der klassische Unter-nehmenskredit zunächst unmerklich, heute offen ausgesprochen anstrategischer Bedeutung. Die geringen Margen in Verbindung mitdem hohen Ausfallsrisiko haben angesichts der immer reichhaltigerwerdenden geschäftlichen Alternativen auf den Kapitalmärkten die-sem traditionellen Kerngeschäft der Banken den Boden entzogen.Die Entwicklungen, die sich aktuell rund um den neuen Baseler Ak-kord (kurz Basel II genannt) abspielen, holen letztlich nur etwasnach, was durch den beschriebenen Strukturwandel des Finanzsek-tors längst vorgezeichnet worden ist (vgl. dazu ausführlicher Kol-beck u. Wimmer 2002).

Die vorangegangenen Überlegungen haben den Versuch unter-nommen, einen längerfristigen Strukturwandel der Wirtschaft nach-zuzeichnen, der sich dem Beobachter auf den ersten Blick nicht soleicht erschließt. Der zentrale Punkt dabei ist die These, dass derUmstand, dass seit dem Ende der 1970er-Jahre die Kredit- und An-leihezinsen permanent über der Wachstumsrate liegen, zu einem„Regimewechsel“ zwischen Real- und Finanzkapital geführt hat.

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Während in der Wiederaufbauphase das Finanzkapital mehr oderweniger der vollen Wachstumsentfaltung der Realwirtschaft diente,hat sich in dem beschriebenen Transformationsprozess die Bezie-hung gleichsam umgekehrt. Die Spielregeln auf den Finanzmärktendefinieren heute in einem viel stärkeren Ausmaß mit, ob überhauptin realwirtschaftliche Zusammenhänge investiert wird, und wenn ja,mit welchen Steuerungskonsequenzen für Unternehmen in derRealwirtschaft diese Investitionen getätigt werden. Im Folgendensoll deshalb auf die Frage, welche Auswirkungen eine verstärkte Ka-pitalmarktorientierung, wie wir sie vor allem in der zweiten Hälfteder 1990er-Jahre in einem bei uns noch nie dagewesenen Ausmaß er-lebt haben, auf die Entwicklung von Unternehmen besitzt. Wir wer-den dabei zwischen börsennotierten Unternehmen und solchen, dieüberwiegend in Familienbesitz sind und ihren Finanzierungsbedarfnach wie vor hauptsächlich durch den klassischen Bankkredit ab-decken, unterscheiden.

DIE ZUNEHMENDE KAPITALMARKTORIENTIERUNG UND DAS SHAREHOLDER-VALUE-PRINZIP

Wie bereits angedeutet, hat der beschriebene „Regimewechsel“ vonReal- und Finanzwirtschaft auch in Europa die wirtschaftspoliti-schen Prioritätensetzungen verschoben. Die unglaubliche Erfolgsge-schichte der amerikanischen Wirtschaft in den 1990er-Jahren, dasüberdurchschnittliche Wirtschaftswachstum auf der einen Seite unddie ungebremste Kursentwicklung an den Kapitalmärkten, hat zwei-felsohne ihre Suggestivskraft auch in Europa entfalten können. DieseVorbildwirkung hat auch hierzulande die Kapitalmarktorientierungin erheblichem Maße vorangetrieben. Die Zahl der börsennotiertenUnternehmen stieg in Deutschland von 679 im Jahre 1995 auf 1035Ende September 2000. Der beindruckende Erfolg des Börsengangsder Deutschen Telekom zeigte, wie breit verankert in der Zwischen-zeit die Bereitschaft weiter Bevölkerungskreise ist, in Aktien odervergleichbare Wertpapiere zu investieren. Diese Wachstumsdyna-mik hat sich zwar seit dem jähen Ende des Booms im Frühjahr 2000stark abgeschwächt. Insgesamt ist die in der Zwischenzeit deutlichentwickeltere „Aktienkultur“ in Deutschland nicht wieder zurück-drehbar.

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Dass dem so ist, dafür sorgt in der Zwischenzeit auch eine er-staunliche Fokussierung der Medien auf dieses Thema. Denn die zu-nehmende Kapitalmarktorientierung in Europa hängt zweifelsohneauf das Engste mit der Entfaltung einer Medienlandschaft zusam-men, die der Entwicklung an den Kapitalmärkten eine ganz beson-dere Aufmerksamkeit zukommen lässt. Wir erleben seit den 1990er-Jahren ein explosives Anschwellen der diesbezüglichen Berichter-stattung quer über alle Mediengattungen hinweg (Print, Radio, TVund Online), eine Berichterstattung, die sich primär an den extremenAusschlägen von Tagesereignissen orientiert und die deshalb mitganz wenigen Ausnahmen kein wirklich konsistentes Bild derMarktzusammenhänge entstehen lässt. Die mediale Öffentlichkeitwirkt so mit ihrem Spürsinn für die Bedeutung von Neuigkeiten wieein überdimensionaler Verstärkereffekt von Abweichungen, derselbst zu einem konstitutiven Bestandteil der Volatilität des Kapital-marktes geworden ist. Die Medien bieten eine Spezialarena, auf dersich die Akteure dieses Marktes wechselseitig dahin gehend beob-achten, mit welcher Erwartungshaltung die jeweils anderen dasMarktgeschehen gerade beobachten. Bei diesem Beobachtungsge-schehen geht es darum, Anhaltspunkte zu identifizieren, die es er-möglichen, über eine gezielte Informationspolitik andere in ihremBeobachterverhalten so zu beeinflussen, dass die laufende Erwar-tungsbildung am Markt im eigenen Interesse gelenkt werden kann.Diese wundersame Symbiose von zunehmender Kapitalmarktorien-tierung und der Entfaltung darauf gerichteter Wirtschaftsmedien istselbst ein erstaunliches Phänomen, ohne das ein tieferes Verständnisder spezifischen Eigenlogik dieses Marktgeschehens nicht zu gewin-nen ist.

DER SIEGESZUG DES SHARHOLDER-VALUE-PRINZIPS ALS PENDANT ZUR BEDEUTUNGSZUNAHME DES KAPITALMARKTES

Es ist wenig überraschend, dass der Regimewechsel im Verhältnisvon Real- und Finanzwirtschaft auch seine Auswirkungen auf dieherrschenden Vorstellungen gezeitigt hat, wie Unternehmen am bes-ten zu führen sind.

Die europäische Tradition der Unternehmensführung fußte jahr-zehntelang auf einer Einheit von Management und Unternehmens-

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eigentum. Sie war auf eine Ertragssteigerung aus dem realwirt-schaftlichen Kontext heraus ausgerichtet mit dem Ziel, das Unter-nehmen als werteschaffende Einheit in ihrem Eigensinn längerfristigzu erhalten. Eigentümerinteressen und die Interessen der Unterneh-mensführung trafen sich in diesem gemeinsamen Ziel der konti-nuierlichen und zukunftsorientierten Überlebenssicherung. Wohlerheblich anders verlief die Entwicklung in den dominanten Sekto-ren der amerikanischen Wirtschaft, wo sich schon viel früher undauf einer wesentlich breiteren Basis die Funktion des Investors unddie des Managements klar ausdifferenzierten. Ein wesentlich entwi-ckelterer Kapitalmarkt bot dafür in den USA schon seit den 1930er-Jahren die entsprechenden Rahmenbedingungen, unterstützt durchein Bankensystem, das sich frühzeitig auf diese kapitalmarktorien-tierten Formen der Unternehmensfinanzierung ausgerichtet hatte.

Mit der sprunghaften Zunahme des Gewichtes europäischer Ka-pitalmärkte bzw. in dem Ausmaß, in dem auch europäische Unter-nehmen begannen, ihre Aktien am amerikanischen Markt zu plat-zieren, geriet die europäische Tradition der Unternehmensführungmit all ihren Werten und institutionellen Ausformungen (wie etwader Mitbestimmung) mehr und mehr unter Druck. Die kapital-marktorientierte Alternative zu dieser Tradition wird seit den1990er-Jahren gerne unter dem Begriff des „Shareholder Value“ dis-kutiert. Mit diesem Grundgedanken verbindet sich ein ganz be-stimmtes Konzept „moderner“ Unternehmensführung, das sich be-wusst von tradierten Führungs- und Steuerungsphilosophienabgrenzt und die dauerhafte Grundlage für außergewöhnliche Un-ternehmenserfolge zu schaffen verspricht (vgl. beispielhaft Rappa-port 1998). Dieses Konzept versucht im Kern, das Top-Managementdarauf zu verpflichten, alle Ziele der Unternehmensentwicklungprimär an den Interessen der Aktionäre auszurichten, d. h., auf eineüberdurchschnittliche Wertsteigerung ihrer Anteile hinzuarbeiten.

Das Management ist in diesem Verständnis dazu da, das Unter-nehmen ständig so weiterzuentwickeln, dass es für die Investoreneine optimale Veranlagung ihres Kapitals darstellt, ein Investmentalso, das dem immer wieder irritierenden Vergleich mit anderen An-lagemöglichkeiten standhält. „Begründet wird dies mit der wohl-fahrtstheoretischen Annahme, nur der Kapitalmarkt selbst könneletztlich für eine effiziente Allokation ökonomischer Ressourcen sor-gen und die konsequente Durchsetzung der Aktionärsinteressen ge-

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genüber anderen Partialinteressen sei für das Allgemeinwohl not-wendig“ (Sablowski u. Rupp 2001, S. 57).

Implizit geht dieses Prinzip der Unternehmensführung von ei-nem Gegensatz zwischen dem Management einerseits und den Ak-tionären andererseits aus. Dieser Gegensatz wird in dem letztlich un-aufholbaren Informationsvorsprung des Managements gesehen, dasüber den „wahren“ Zustand eines Unternehmens im Vergleich zuden Investoren natürlich immer um vieles besser Bescheid weiß. Eskann Weichenstellungen vornehmen, deren Bedeutung für die Wer-tentwicklung des Unternehmens die Eigentümer nie und nimmerdurchblicken können. In diesem Sinne sind die Aktionäre als die ei-gentlichen Kapitalgeber gegenüber dem Management, das mit demKapital verantwortungsvoll umgehen soll, faktisch in der eindeutigschwächeren Position. Das Shareholder-Value-Prinzip versprichtnun, unternehmensintern Steuerungsmechanismen zu etablieren,die dieser prinzipiellen Informationsasymmetrie entgegenwirkenund Einschätzungsunsicherheiten sowohl im Top-Management alsauch bei den Anlegern reduzieren sollen. Ein Schlüsselelement indiesem Umbau der Steuerungsmechanismen zugunsten der Aktio-näre ist die Konzentration des Top-Managements auf die Formulie-rung und konsequente Durchsetzung finanzpolitischer Zielsetzun-gen für das Unternehmen, primär gewonnen aus den aktuellenRenditeerwartungen des Kapitalmarktes. Oberste Prämisse für allerelevanten Unternehmensentscheidungen ist demnach die Wertstei-gerung des Unternehmens aus der Perspektive der Anleger. DiesePrämisse bindet den Zielfindungsprozess des Unternehmens unmit-telbar an die Verwertungsbedingungen des Kapitalmarktes. Diesensind letztlich die relevanten Leitlinien für die Unternehmensent-wicklung zu entnehmen. Der realwirtschaftliche Zusammenhangbietet lediglich das Spielfeld, auf dem es diese Leitlinien zu realisie-ren gilt.

Dieser Verlagerung des unternehmensbezogenen Zielfindungs-schwerpunktes in Richtung Kapitalmarkt korrespondieren im Detaildie Rechenkalküle „wertorientierter Unternehmensführung“ (oftauch Value-Based-Management genannt, vgl. dazu beispielhaft dasSteuerungskonzept von Daimler-Chrysler ,dargestellt in Nagel u.Wimmer 2002, S. 325 ff.). Diese finanzorientierten Zielfindungskon-zepte stützen sich auf Steuerungsgrößen (wie etwa den DiscountedCash-flow), die allesamt auf der modernen Kapitalmarkttheorie auf-

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bauen (vgl. etwa Hirsch-Kreinsen 1998). Sie kritisieren die her-kömmlichen betriebswirtschaftlichen Kennziffern, weil diese denZeitwert des Geldes, d. h. die kalkulatorischen Kosten des eingesetz-ten Eigenkapitals, zu wenig berücksichtigen. Genau an dieser Stellewird der Dreh- und Angelpunkt dieses Unternehmenssteuerungs-konzeptes sichtbar. Die erwartete Eigenkapitalrendite ebenso wiedie Zinsen für das eingesetzte Fremdkapital firmieren in der Ziel-ermittlung des Value-Based-Managements unter der Rubrik „Kapi-talkosten“, d. h., ein Teil der angestrebten Erträge findet sich bei die-sem Sprachgebrauch bei den Kosten wieder. Nur dann, wenn einUnternehmen Erträge erwirtschaftet, die über diesen in der Berech-nung angesetzten Kapitalkosten liegen, d. h. nur dann, wenn über-durchschnittliche Gewinne vorliegen, dann wird für die Investorenwirklich Wert geschaffen. Mit dieser rechnerisch präzise angebbarenMesslatte sind alle geschäftlichen Aktivitäten eines Unternehmensgut einschätzbar. Aus Sicht der Führungsprinzipien des Sharehol-der-Value haben schlussendlich nur jene Geschäftsbereiche eine ech-te Überlebensberechtigung, die tatsächlich wertschaffend in demdefinierten Sinne sind.

Die Ausrichtung der Unternehmensführung am Prinzip desShareholder-Value ist längst nicht mehr nur eine schöne Formel, diezur Beruhigung der Aktionäre, Investoren und Analysten in denMund genommen wird. Dies mag um die Mitte der 1990er-Jahre, alsdiesbezügliche Beteuerungen des Top-Managements erstmals etwaslautstärker zu hören waren, noch der Fall gewesen sein. In der Zwi-schenzeit unternimmt ein Großteil der an den internationalen Bör-sen notierten Großunternehmen erhebliche Anstrengungen, ihreUnternehmenspolitik sowie insbesondere ihre Steuerungssystemean den perzipierten Bedürfnissen des Kapitalmarktes auszurichten.Sie stellen ihre Zielfindungsprozesse auf wertorientierte Unterneh-mensführung um. Sie minimieren Quersubventionierungen zwi-schen besonders ertragsstarken und ertragsschwächeren Geschäfts-bereichen. Sie konzentrieren sich so weit als möglich auf jeneKerngeschäfte, in denen sie aktuell besonders wettbewerbsstarksind, d. h., sie betreiben Portfoliobereinigung ganz nach den Erwar-tungen der tonangebenden Analysten. Sie kündigen in periodischenAbständen groß angelegte Personalabbauprogramme an, um denBeobachtern des Kapitalmarktes den ernsten Willen zu Wertsteige-rung zu dokumentieren. Sie starten regelmäßig Aktienrückkaufs-

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aktivitäten, um die Kursentwicklung nach oben zu befördern. Sievariabilisieren die Vergütung des Top-Managements in Abhängig-keit vom Wertzuwachs des Aktienkurses. Sie initiieren umfangrei-che Aktienoptionsprogramme, um die Interessen der Führungskräf-te mit denen der Anleger in Einklang zu bringen. Sie bauen eigeneInvestorrelationship-Bereiche auf, um die Kommunikation mit denAkteuren des Kapitalmarktes im Vergleich zu früher auf eine deut-lich professionellere Basis zu stellen. Sind sie durch all diese Maß-nahmen letztlich auch erfolgreicher geworden als nichtbörsenno-tierte Unternehmen? Seit sich die Kaptialmarktorientierung alsLeitlinie der Unternehmensentwicklung auch in Europa durchzu-setzten begonnen hat, sind einige Jahre ins Land gezogen. Wir kön-nen in der Zwischenzeit die Wirkungen dieses Denkens anhand ei-ner Reihe von Indikatoren beobachten und jene Probleme ganz gutbeurteilen, die mit der konsequenten Implementierung dieses Kon-zeptes Hand in Hand gehen.

Die Denkfehler des Shareholder-Value-PrinzipsAuf den ersten Blick sind die Grundgedanken einer an der Bewe-gung des Kapitalmarktes ausgerichteten Unternehmensführungsehr überzeugend. Die zugrunde liegenden Prämissen spiegeln janichts anderes als eine lange Tradition betriebswirtschaftlicher Ra-tionalitätsannahmen, denen zufolge Unternehmen ökonomische Ver-anstaltungen sind, die dem Gewinnstreben ihrer Eigentümer dienen.Bei genauerem Licht besehen, verdecken diese Prämissen jedoch ei-nige Paradoxien und Widersprüche, deren Leugnung zu Lösungenführen, die letzten Endes für alle Beteiligten an diesem „Spiel“ selbst-destruktive Wirkungen erzeugen.

Wenn im Shareholder-Value-Konzept von der Steigerung desUnternehmenswertes als oberstem Ziel der Unternehmensentwick-lung die Rede ist, so verwischt der Begriff „Unternehmenswerts“den Unterschied zwischen dem jeweiligen Marktpreis des Aktien-kapitals (wie er eben am Kapitalmarkt zu einem bestimmtenZeitpunkt zu erzielen ist) und jenem Wert des im Unternehmeninvestierten Kapitals, das seine realwirtschaftliche Leistungsfähig-keit ermöglicht. „Es ist wichtig, diese Differenz zu betonen, um deut-lich zu machen, dass die Maximierung des Marktpreises des Aktien-kapitals und damit der Aktionärsrendite etwas ganz anderes ist alsdie Maximierung der Profitabilität des produktiv im Unternehmen

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fungierenden Kapitals. Beide hängen nur vermittelt miteinanderzusammen“ (Sablowski u. Rupp 2001, S. 49). Im Rahmen der Share-holder-Value-Debatte wird regelmäßig übersehen, dass es sich beider Steigerung der Aktionärsrendite und bei der Steigerung der Er-tragskraft des Unternehmens um zwei ganz verschiedene Zielset-zungen handelt.

Die beiden Ziele betreffen recht unterschiedliche Sphären desWirtschaftens, die zwar aufeinander verwiesen sind, aber nicht ineins gesetzt werden können. Denn der Aktienkurs hängt weitausstärker als der Unternehmensertrag von Einflussfaktoren ab, auf diedie verantwortlichen Entscheidungsträger im Unternehmen keinengestaltenden Zugriff haben. Ein Blick auf die jüngste Entwicklungder Kapitalmärkte zeigt nur zu deutlich (und hier sind nicht nur dieUnternehmen der New Economy gemeint), dass sich der Preis dereinzelnen Aktie relativ unabhängig von den realisierten Gewinnendes betreffenden Unternehmens und seiner Dividendenausschüt-tung bewegen kann. Zwar gehen in die Renditeerwartungen derInvestoren unternehmens- und branchenspezifische Informationenein, zwar spielen die gesamtwirtschaftliche Lage und die langfris-tige Zinsrate eine gewichtige Rolle, aber unabhängig von diesen sogenannten Fundamentaldaten wird die Anlageentscheidung dochganz primär von den Erwartungen bezüglich der Erwartungen deranderen Marktteilnehmer geprägt. Die Kauf- und Verkaufentschei-dungen spekulieren letztlich mit den Erwartungen anderer Markt-teilnehmer an die künftigen Gewinnchancen bzw. Verlustrisiken, diesich an bestimmte Finanztitel knüpfen. Ausschlaggebend für dieKursentwicklung ist letztlich genau dieses schwer erklärbare speku-lative Moment. Die so genannten Fundamentaldaten sind lediglichdas in ganz unterschiedliche Richtungen wirkende Spielmaterial, andem sich die selbstbezügliche Eigendynamik des Kapitalmarktesentzündet.

Die volle Entfaltung der weitgehend deregulierten und globalmiteinander vernetzten Finanzmärkte hat dazu beigetragen, dassdiese beiden Sphären des Wirtschaftens heute nur noch ausgespro-chen lose miteinander gekoppelt sind.

Die geschilderten Zusammenhänge werden noch etwas deutli-cher, wenn man die institutionellen Besonderheiten des Aktienkapi-tals genauer unter die Lupe nimmt. Im Grunde genommen, ist dieAktie eine Eigentumsform mit zwei Seiten. „Einerseits steckt der Ak-

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tionär sein Geld in ein Unternehmen und gibt es damit definitiv ausder Hand. Er erhält dafür nichts weiter als einen Rechtstitel, der ihmentsprechend dem Umfang seiner Anteile Teilhaberechte an den zu-künftigen Unternehmensgewinnen und gewisse Mitentscheidungs-rechte bei bestimmten rechtlich eng umrissenen Unternehmensbe-langen auf der jährlichen Hauptversammlung verleiht. Andererseitskann der Aktionär seine Anteile an dem Unternehmen durch denVerkauf an Dritte jederzeit wieder in Geldkapital zurückverwan-deln, vorausgesetzt, es besteht zahlungsfähige Nachfrage. Die Aktiefungiert in seiner Hand ebenso, als wäre sie bares Geld“ (Sablowskiu. Rupp 2001, S. 48). Die Aktie als im Unternehmen für Investitionenzur Verfügung stehendes Kapital ermöglicht die Weiterentwicklungdes realwirtschaftlichen Leistungsvermögens eines Unternehmens,das seinerseits die Voraussetzung für eine ausreichende Wertschöp-fung seitens des Unternehmens ist. Diese ständig zu bewerkstelli-gende Kapitalbildung schafft die Grundlage für weitere Zukunfts-investitionen, die ein Unternehmen auch morgen noch wettbewerbs-fähig und ertragsstark machen. Sie bildet gleichzeitig aber auch dieBasis für eine Gewinnausschüttung, die den getätigten Kapitalein-satz rechtfertigen soll. Auf der anderen Seite nimmt die Aktie an derDynamik des Kapitalmarktes als frei handelbarer Wert teil. In dieserFunktion unterliegt sie der Eigendynamik des Finanzsektors undden dort geltenden Spielregeln. In diesem Sinne greift die Aktienren-dite zum einen auf die jährliche Dividende zurück (also auf das, wasein Unternehmen von seinem erwirtschafteten Ertrag an die Eigen-tümer ausschüttet), zum anderen auf die Wertentwicklung der Ak-tie, die in ihrem Börsenkurs zum Ausdruck kommt. Aus Sicht derAnleger hat die Kursentwicklung (zumindest in der jüngsten Ge-schichte des Kapitalmarktes) für die Ertragserwartung eine ungleichgrößere Bedeutung als die erwarteten Dividendenzahlungen. Auchan diesen beiden Aspekten wird die real- und finanzwirtschaftlicheSeite der Aktie deutlich sowie die unverkennbare Verschiebung desInvestoreninteresses in Richtung Kursentwicklung.

Stellt man die Zweiseitenform der Aktie in Rechnung, dann istdas Shareholder-Value-Konzept die Antwort auf eine falsch gestellteFrage. Dieses Konzept suggeriert nämlich, man könne wirtschaftli-che Sphären, in denen auf eine höchst unterschiedliche Weise unter-nehmerisches Risiko eingegangen wird, in eine strikte Koppelungzueinander bringen. Nur wenn man von dieser Grundannahme aus-

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geht, kann man so uneingeschränkt das Unternehmen und seineEntwicklung zum Mittel für die Zwecke der Aktionäre erklären unddas Management primär auf diese Art der Zweckerfüllung fokus-sieren. Konsequent zu Ende gedacht, hieße das, Unternehmen derRealwirtschaft in erster Linie als finanzwirtschaftliche Spekulations-objekte zu sehen und sie ihres Eigensinns zu berauben. Dass Invest-mentbanken, die aus dem Handel mit Unternehmen in der Zwi-schenzeit einen höchst erträglichen Geschäftszweig gemacht haben,den gesellschaftlichen Sinn und Zweck der Wirtschaft gerne so kon-zeptualisieren, ist aus ihrer unternehmerischen Perspektive durch-aus verständlich. Folgenschwere Konsequenzen zeitigt es, wenn dasTop-Management realwirtschaftlich operierender Unternehmen seinGrundverständnis von Führung diesen Konstruktionsprinzipienwirtschaftlicher Zusammenhänge entlehnt.

Denn die Frage kann nicht lauten: Dienen das Unternehmen undseine erwirtschafteten Erträge primär den Aktionären oder dem Ma-nagement oder den Mitarbeitern oder oder …? Die Grundannahme,Unternehmen seien bloße Instrumente zur Verfolgung anderweiti-ger Interessen, schafft genau jene Widersprüche und Verwerfungen,die dem Shareholder-Value-Konzept zurzeit so zuschaffen machen.Diesen Widersprüchen ist nur durch eine Redefinition der Aus-gangsfrage zu begegnen. Unternehmen sind sich selbst Mittel undZweck zur gleichen Zeit. Unternehmen sind höchst eigensinnige so-ziale Systeme, die unentwegt nach Chancen Ausschau halten, inner-halb der Rahmenbedingungen unseres Wirtschaftssystems für dieeigene Zukunftsfähigkeit Sorge zu tragen. Für diese Art von Selbst-produktion generieren sie eigenes und nutzen fremdes Kapital, dasaus Sicht des Unternehmens unverzichtbares Mittel zur Verfolgungder eigenen Entwicklungsziele ist.

Aus diesem Verständnis von Unternehmen gewinnt Führungeine ganz andere Funktionalität. Sie repräsentiert dann jene System-qualität, die sich auf die Sicherung dieser Form von Zukunfts-fähigkeit angesichts einer nicht durchschaubaren Umwelt und nichtkalkulierbarer Zukunftsentwicklungen spezialisiert (vgl. dazu Wim-mer 1995a).

Begreift man Unternehmen als zielsuchende und sich selbstzwecksetzende, d. h. Identität verleihende soziale Systeme, dannwirft das auch ein anderes Licht auf den alten Gegensatz von Arbeitund Kapital. Denn an einem hochwettbewerbsfähigen, ertragsstar-

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ken Unternehmen müssten eigentlich die Beschäftigten wie die An-teilseigner und Investoren gleichermaßen interessiert sein. DieserStandpunkt würde aber bedeuten, die alte Sicht vom Unternehmenals einer Arena, in der die antagonistischen Interessen von Arbeitund Kapital tagtäglich ihre Austragung finden, ein erhebliches Stückweiterzuentwickeln. Das Unternehmen als soziales System ist mitseinem Interesse an sich selbst, an der eigenen erfolgreichen Exis-tenzsicherung im Verhältnis zu seinen Stakeholdern (Beschäftigten,Eigentümern, Kunden, Öffentlichkeit etc.) ein eigenständiges Drit-tes. Das Unternehmen als lebendiges Sozialgefüge lässt sich nichtauf die Summe jener Partikularinteressen reduzieren, die an seinerFunktionstüchtigkeit jeweils für sich selbst partizipieren wollen.Nur wenn Arbeit und Kapital diesen unverrückbaren Eigenwert ei-nes Unternehmens als disziplinierenden Faktor für den nach wie vorvorhandenen Interessenkonflikt um die Verteilung des erwirtschaf-teten Mehrwertes anerkennen, bekommt das Unternehmen als ei-genständige Überlebenseinheit die erforderliche Prioritätensetzung.Genau in der Durchsetzung dieser Prioritätensetzung, d. h. in derglaubwürdigen Sorge um die Zukunftsfähigkeit eines Unterneh-mens als eines Wertes an sich, gewinnt Unternehmensführung ihrentieferen Sinn. Führung sorgt dafür, dass die vorhandenen Ressour-cen so wertschöpfend eingesetzt werden, dass für die künftigen Ent-wicklungsnotwendigkeiten des Unternehmens ausreichend Vorsor-ge getroffen werden kann. Die zentrale Paradoxie im Verhältnis vonAnteilseignern und Management besteht eben genau darin, dass nurdie Anerkennung des Vorrangs für die vitalen Überlebensinteressendes Unternehmens an sich dafür sorgt, dass genügend zusätzlicherMehrwert erwirtschaftet wird, um die berechtigten Interessen derrelevanten Anspruchgruppen, insbesondere die Renditeerwartun-gen der Investoren, angemessen zu bedienen.

Die Differenz zwischen der Sorge um das Unternehmen als so-zialem Ganzem und den Aktionärsinteressen wird in der Regel in derSituation einer „feindlichen“ Übernahme besonders aktualisiert. Dieverantwortlichen Führungskräfte eines Unternehmens können auf-grund ihrer Markteinschätzung und der auf dieser Grundlage vor-genommenen strategischen Ausrichtung mit gutem Grund derMeinung sein, dass eine Fusion mit dem übernahmebereiten Unter-nehmen absolut keinen Sinn hat, während das Angebot an die Aktio-näre gleichzeitig hochattraktiv sein kann. In solchen Fällen zeigt sich

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besonders eindrucksvoll der Unterschied zwischen dem Stellenwert,der Unternehmen in der realwirtschaftlichen Sphäre zukommt, undjenem, den Unternehmen als Handels- und Spekulationsobjekt amKapitalmarkt gewinnen. Die volle Entfaltung der finanzwirtschaft-lichen Sphäre sowie die zunehmende Kapitalmarktorientierung ha-ben diese letztere Funktion stark in den Vordergrund geschoben. Dieaktuellen Kontroversen um ein europaweit einheitliches Übernah-merecht spiegeln diesen Grundkonflikt zwischen Real- und Finanz-kapital. Diese durch die Fusionsforschung vielfach belegte Proble-matik (verwiesen sei auf die vielen Scheiternserfahrungen und dielängerfristige Beschädigung der fusionierten Unternehmen) zeigt,wie grundverschieden die Interessen der Akteure am Kapitalmarktvon den Überlebensinteressen eines Unternehmens sein können(vgl. Jansen 2001, 2002). Das Shareholder-Value-Prinzip versucht,diesen an sich ja durchaus produktiv nutzbaren Grundkonflikt zwi-schen dem Interesse eines Unternehmens an sich selbst, eingebun-den in die realwirtschaftlichen Zusammenhänge, und seiner Funk-tion als Spekulationsobjekt am Kapitalmarkt einseitig zugunsten derkurzfristigen Renditeerwartungen der Anteilseigner aus der Welt zuschaffen. Die jüngste Geschichte hat uns eindrucksvoll vor Augen ge-führt, wohin es führt, wenn man die Führung eines Unternehmenskonsequent darauf ausrichtet, dieses als primäres Werkzeug für diefinanziellen Verwertungsinteressen der Anleger zum Blühen zubringen. Diese einseitige Instrumentalisierung schädigt, auf Sicht ge-sehen, beide Seiten. Sie zerstört nachhaltig die innere Immunkraft,d. h. die lebendige Selbsterneuerungsfähigkeit des SozialkörpersUnternehmen, sie untergräbt aber auch die Vertrauensbasis derAkteure am Kapitalmarkt bezüglich dessen, was man jetzt in derCorporate-Governance-Diskussion als „gute und verantwortungs-volle Unternehmensführung“ bezeichnet. Auf diesen Selbstbeschä-digungsmechanismus sei hier abschließend noch anhand einiger bei-spielhaft aufgezeigter Dimensionen eingegangen.

Die finanzwirtschaftlichen Zielsetzungen bleiben mit den strategischen Möglichkeiten eines Unternehmens in seinem realwirtschaftlichen Umfeld unversöhnt

Streng genommen, zwingt das Shareholder-Value-Prinzip die Ver-antwortlichen an der Spitze eines Unternehmens dazu, ihre Ertrags-ziele ausschließlich aus der Erwartungshaltung des Kapitalmarktes

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heraus zu generieren. Unternehmensziele sind nicht mehr das Er-gebnis einer vom Management gemeinsam getragenen strategischenEinschätzung des Marktpotenzials, d. h., sie sind nicht die Antwortauf die Frage, was angesichts der gegebenen realwirtschaftlichen Be-dingungen und angesichts der eigenen strategischen Positionierungin diesem Umfeld realistischerweise an Gewinnzielen möglich er-scheint, sondern sie reflektieren einzig und allein die Renditeerwar-tungen, wie sie sich aus dem Zusammenspiel der bestimmenden Ka-pitalmarktakteure ablesen lassen. Mit diesem Schritt wird letztlichdie Kapitalmarktlogik ins Unternehmen hereinkopiert. Die Unter-nehmensspitze übernimmt die Funktion, die Ressourcenallokationim Unternehmen aus der Perspektive des Kapitalmarktes zu opti-mieren. Diese Rollenfestlegung der Spitze zwingt dazu, die unter-schiedlichen geschäftlichen Aktivitäten eines Unternehmens in ers-ter Linie mit der Brille eines Finanzinvestors zu betrachten. Diesestrikte Koppelung des Vorstandes an die Bedingungen des Kapital-marktes differenziert nicht mehr zwischen seinen unternehmeri-schen Aufgaben bezogen, auf die realwirtschaftlichen Verhältnisse,und jenen Überlegungen, die ein Investor als Teilnehmer am Kapi-talmarkt anstellt.

Diese Selbstdefinition des Top-Managements besitzt in der Pra-xis weit reichende Folgen: Man trennt sich beispielsweise von durch-aus profitablen Geschäftsbereichen, nur weil sie nicht der vom Ka-pitalmarkt vorgegebenen Portfoliologik entsprechen. Es ist durchnichts bewiesen, dass die immer enger werdende Fokussierung vonUnternehmen auf das so genannte Kerngeschäft sie längerfristig tat-sächlich wettbewerbsfähiger macht. Es gibt eine Vielzahl von Misch-konzernen, die höchst erfolgreich Geschäfte betreiben, die unter-schiedlichen Branchen zugerechnet werden und die es gerade durchihre kluge Diversifizierung schaffen, sich als Gesamtunternehmengegenüber schweren konjunkturellen Krisen zu immunisieren. Miteinem kapitalmarktorientierten Portfoliomanagement hingegen istauch die Gefahr verbunden, dass ein Unternehmen unter Umstän-den seine wichtigsten Kernkompetenzen zerstört, die gerade im his-torisch gewachsenen Zusammenspiel zwischen unterschiedlichenGeschäftsbereichen liegen können.

Ein weiterer häufig zu beobachtender Effekt dieses Prinzips derUnternehmensführung liegt in der unvermeidlich eingebauten Prä-ferenz für Maßnahmen mit kurzfristigen Ertragseffekten ohne Rück-

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sicht auf ihre längerfristige Konsequenzen, z. B. wird bei rückläufi-ger Ertragsentwicklung sofort mit massiven Einsparungsprogram-men, Personalkürzungen und Restrukturierungsprogrammen rea-giert. Damit werden vielfach Leistungspotenziale zerstört, die überJahre mühsam aufgebaut worden sind und bei künftigem Bedarfauch nicht mehr so leicht beschafft werden können. Ähnliche Phä-nomene, die sich dieser Präferenz für kurzfristig ausweisbare Er-tragseffekte verdanken, zeigen sich in der Desinvestition bei For-schung und Entwicklung, in der Verzögerung wichtiger Infrastruk-turmaßnahmen, im Outsourcing interner Dienstleister etc. DasShareholder-Value-Prinzip entscheidet den zentralen Zielkonfliktbörsennotierter Unternehmen zwischen kurzfristiger Aktienkurs-pflege und dem langfristigen Aufbau von aus der Strategie abgelei-teter unternehmerischer Leistungspotenziale (z. B. die Entwicklungneuer Kernkompetenzen, die Marktreife wichtiger Produktinnova-tionen, die Erschließung neuer Märkte, die erfolgreiche Bewältigungeines Postmerger-Integrationsprozesses etc.) einseitig zugunstenkurzfristig erzielbarer Kurseffekte. Dies geschieht vielfach ungeach-tet dessen, dass diese erhofften Effekte zumeist ohnehin ausbleiben,weil die Kursentwicklung letztlich durch andere Faktoren beein-flusst wird. Das Spannungsverhältnis zwischen Maßnahmen zurkurzfristigen Kurspflege und ihren destruktiven Auswirkungen aufdie nachhaltige realwirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit von Un-ternehmen wird natürlich immer dann besonders augenfällig, wenndurch rapide Marktveränderungen die Grunderwartungen ständigsteigender Gewinne massiv enttäuscht werden müssen. Dann ist dieVersuchung besonders groß, Anlegerinteressen kurzfristig zu bedie-nen, auch wenn damit das Risiko einer substanziellen Beschädigungder Leistungsfähigkeit eines Unternehmens verbunden ist. Die prä-ferierte Lösung des Shareholder-Value-Konzeptes für die Bewälti-gung des beschriebenen Zielkonfliktes verdankt sich offenkundigder spezifischen Eigendynamik des Kapitalmarktes, dessen äußerstfungible Kapitalströme von Augenblick zu Augenblick ebendorthinfließen, wo die Erwartungen künftiger Erträge (und dieser Erwar-tungshorizont kann eben sehr kurzfristig getaktet sein) am höchstensind. An diesem Umstand ändern die immer wieder vorgebrachtenBeteuerungen der Verfechter des Shareholder-Value-Konzeptesnichts, dass ihre Steuerungsintention ohnehin auch auf die langfris-tige Steigerung des Unternehmenswertes ausgerichtet sei und dass

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auch in ihrem Verständnis eine kurzfristige Gewinnoptimierung sei-tens des Managements kontraproduktiv wäre (vgl. Rappaport 1998,S. 28 ff.).

Die konsequente Implementierung des Shareholder-Value-Prin-zips stürzt die Führungsstrukturen eines Unternehmens in einschweres Dilemma. Sie macht die Spitze für die Generierung undVerfolgung der kapitalmarktorientierten, finanzwirtschaftlichenZiele zuständig und verpflichtet die darunter liegenden Führungs-ebenen (d. h. die Verantwortlichen der Geschäftsbereiche, die Ge-schäftsführungen von Tochterunternehmen etc.) zur Einlösung die-ser Ziele im realwirtschaftlichen Zusammenhang. Damit geratendiese Ebenen vielfach in eine unlösbare Konfliktsituation, weil sichin ihren Verantwortungsbereichen in aller Regel zeigt, dass sie die ih-nen zugemutete Versöhnung von Kapitalmarkterwartungen mit denrealwirtschaftlichen Gegebenheiten nicht hinbekommen. Üblicher-weise werden von Unternehmen im Schnitt Gesamtkapitalrenditenvon 12 bis 15 Prozent erwartet. In den meisten Branchen können sol-che Vorgaben zurzeit nicht annähernd erwirtschaftet werden. DieVerlagerung dieses elementaren Zielkonfliktes zwischen die Hierar-chieebenen zerstört nachhaltig die hierarchieübergreifende Koope-rationsbasis, weil sie die Unternehmensspitze tendenziell aus derVerantwortung für die Gestaltung der Überlebensnotwendigkeitendes Gesamtunternehmens entlässt und die Suche nach tragfähigenKompromissen zwischen den finanzwirtschaftlichen Vorgaben undihre realwirtschaftlichen Realisierungschancen den Subeinheitendes Unternehmens überlässt. Dies schafft eine Führungskonfigura-tion an der Spitze von börsennotierten Unternehmen, die die Glaub-würdigkeit zwischen den obersten Führungsebenen untergräbt, zuwechselseitigen Schuldzuschreibungen einlädt und gelingende Kom-munikation über divergierende Realitätseinschätzungen äußerstunwahrscheinlich werden lässt. Mit anderen Worten, es spielen sichbei einem solchen Führungsumfeld Einfluss- und Machtkonstel-lationen ein, die die Problemlösungsfähigkeit der Management-strukturen, bezogen auf das Gesamtsystem, auf Dauer dramatischvermindern.

Was ist die Schlussfolgerung daraus? Will man die beschrie-benen nichtintendierten negativen Folgewirkungen auf die länger-fristige Überlebensfähigkeit von Unternehmen vermeiden, dann be-deutet dies, vornehmlich die Unternehmensspitze selbst für die

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Bewältigung des Zielkonfliktes zwischen Finanz- und Realkapitalverantwortlich zu machen. Ein rekursiv durchgeführter Strategie-entwicklungsprozess müsste, bezogen auf das Gesamtunternehmenunter Einbeziehung der einzelnen Business Units, regelmäßig Gele-genheit schaffen, diese beiden Bezugswelten in der konkreten Ziel-findung und Strategiefestlegung plausibel miteinander zu verbin-den (vgl. zu dieser Art von Strategieentwicklung Nagel u. Wimmer2002). Aus der Perspektive des Kapitalmarktes würde dies bedeu-ten, dass nur die volle Anerkennung dieser obersten Führungsauf-gabe auf längere Sicht die beste Voraussetzung dafür ist, den Anle-gern eine nachhaltige Wertsteigerung ihres Investments in Aussichtzu stellen. Diese Anerkennung hieße aber, das Top-Management ausder engen Koppelung an die Eigendynamik des Kapitalmarktes zuentlassen. Es ginge dann darum, das Management gerade nicht da-ran zu messen, wie konsequent es die Erwartungen der Analystenerfüllt, sondern wie gut es mit dem unvermeidlich eingebauten Ziel-konflikt umgehen kann und die jeweils gefundenen Kompromiss-lösungen vor dem Hintergrund der Zukunftsfähigkeit des Unter-nehmens begründen kann. Das Qualitätskriterium wäre dann indiesem Zusammenhang die Frage, wie glaubwürdig Vorstände Ana-lystenerwartungen auch enttäuschen und sich gegenüber den stra-tegischen Implikationen dieser Erwartungen abgrenzen können. Inder Zwischenzeit zeigen es bereits eine Reihe von Vorständen durch-aus erfolgreicher Unternehmen z. B. Herr Wiedeking von Porsche),wie dieses paradoxe Beziehungsangebot an den Kapitalmarkt prak-tiziert werden kann.

Das illusionäre Versprechen ständig steigender GewinneNach dem Grundgedanken des Shareholder Value schaffen nur jeneUnternehmen einen zusätzlichen Wert für ihre Aktionäre, die überdie kalkulatorischen Eigenkapitalkosten hinaus eine überdurch-schnittliche Rendite erwirtschaften. Für jene Ausnahmeunterneh-men, die diesen Anspruch dauerhaft erfüllen, ist durch die Steue-rungsphilosophie des Value Based Managements außerdem soetwas wie eine selbstbezügliche Renditespirale eingebaut, ein Stei-gerungsautomatismus sozusagen. Schafft man stetig steigende Ak-tienkurse, dann steigt der Eigenkapitalkostensatz, der in die Be-sprechung der notwendigen Mindestrendite eines Unternehmenseingeht, ebenfalls mit. Die kalkulatorischen Eigenkapitalkosten fal-

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len in der jährlichen Zielfindung ja umso höher aus, je höher diemarktspezifische Risikoprämie und der unternehmensspezifischeRisikofaktor sind (vgl. dazu Sablowski u. Rupp 2001, S. 69). Der demShareholder-Value-Prinzip inhärente Steigerungsautomatismus müss-te schon dem gesunden Menschenverstand signalisieren, dass hierauf Sicht gesehen mit unrealistischen Grundannahmen operiertwird. Die außergewöhnlichen Wachstumsbedingungen in den1990er-Jahren haben jedoch eine kollektive Atmosphäre erzeugt, dieden irrationalen Glauben an ständig steigende Unternehmensge-winne und damit an einen kontinuierlichen Anstieg der Aktienkursein nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen gefestigt hat. Seit demFrühjahr 2000 können wir die Kehrseite dieses Glaubens studieren.Die jüngste Geschichte hat uns dramatisch vor Augen geführt, inwelche Dynamiken Unternehmen geraten können, die seitens ihresTop-Managements ganz und gar vorbehaltlos in den Dienst des Ka-pitalmarktes gestellt worden sind. Beispielhaft sei dies am Aufstiegund Fall von Worldcom, dem zweitgrößten amerikanischen Tele-comunternehmen, untersucht.

Das von Anfang an konsequent an der Logik des Kaptialmarktesausgerichtete Geschäftsmodell von Worldcom, 1983 von Bernie Eb-bers gegründet, basierte auf einem viele Jahre hindurch sich selbstverstärkenden kybernetischen Zirkel. Die außergewöhnliche Er-folgsgeschichte fußte auf schnellem Wachstum durch ständig neueÜbernahmen, durch enorm hohe Abschreibungen zum Zeitpunktder jeweiligen Übernahme und radikale Kosteneinsparungen in derFolge bei den übernommenen Unternehmen, sodass immer wiederüberdurchschnittliche Gewinne ausgewiesen werden konnten. Diesbeeindruckte den Kapitalmarkt, trieb die Aktien in Schwindel erre-gende Höhen, was eine hervorragende Ausgangsbasis für weitereÜbernahmen schuf, usw. usw … Seit seiner Gründung schluckte dasUnternehmen auf diese Weise 75 Konkurrenten. Das einschlägigeMeisterstück gelang Worldcom zweifelsohne 1998 mit dem Kauf desviermal so großen Konkurrenten MCI, eine 44 Mrd. US-Dollar teureÜbernahme, die man in letzter Sekunde British Telecom abjagenkonnte.

Radikal unterbrochen wurde dieses Muster Mitte 2000. Die US-Kartellbehörden untersagten Worldcom seinen bislang größtenÜbernahmecoup, den Kauf des Konkurrenten Sprint. Fast zeitgleichplatzte die Internet-Blase und mit ihr die hohen Wachstumsraten in

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den globalen Datennetzen. Worldcom verfügte diesbezüglich welt-weit über 50 % Marktanteil. Die Kurse begannen erstmals zu fallen.Das Unternehmen verfehlte über mehrere Quartale hinweg seine all-zu optimistischen Ertragsprognosen. Mit Beginn des Jahres 2001setzten jene schwerwiegenden Bilanzmanipulationen ein, derenAuffliegen im Juni 2002 die Abwärtsspirale in Richtung Zahlungs-unfähigkeit unaufhaltsam beschleunigte.

Besonders aufschlussreich in dieser eindrucksvollen Koevolu-tion von Unternehmen und Kapitalmarkt ist die Rolle des Vorstan-des auf der Arena dieses Marktes. Bernie Ebbers und sein Finanzvor-stand Scott Sullivan waren jahrelang die Lieblinge deramerikanischen Analystenszene. Unerschrocken mischten sie dieTelecom-Branche auf, schrieben kontinuierlich außergewöhnlicheGewinne und hatten eine „großartige“ Story zu bieten. Sie boten alsDuo hohe Glaubwürdigkeit: der eine als erfolgreicher Gründer undVisionär, der andere als hoch anerkannter Finanzfachmann miteindrucksvollem Detailwissen. Der Auftritt der beiden mit Blick aufden Kapitalmarkt war in Wall-Street-Kreisen seit Jahren als „Scott-and-Bernie-Show“ bekannt. „Das ungleiche Paar zog Scharen vonFondsmanagern, Analysten und Bankern in seinen Bann“ (FinancialTimes Deutschland, 28.6.2002, S. 28). Sie konnten über Jahre eine Aurades Erfolgs um sich herum aufbauen, die alle Beteiligten für beunru-higende Abweichungen blind machte. Wie man heute weiß, habengravierende Bilanzmanipulationen bereits 1999 begonnen. Die Ver-buchung von Ausgaben als Investitionen setzten in großem Stil mitBeginn des Jahres 2001 ein. Worldcom hätte ohne diese Buchungs-tricks bereits zu diesem Zeitpunkt tiefrote Zahlen geschrieben. DenPrüfern von Arthur Andersen ist dies alles nicht aufgefallen. Nichtsbemerkt haben auch die Investmentbanker, die Worldcom einer ge-nauen Bonitätsprüfung unterzogen haben, bevor sie im Mai 2001 diegrößte Unternehmensanleihe der USA aufgelegt haben. Noch imApril 2002 hat J. Grubman, der Staranalyst der US-amerikanischenTelecom-Branche, Worldcom-Aktien euphorisch zum Kauf empfoh-len. Eine derartige „kollektive Sehschwäche“ ist nicht zu erklären,wenn man nicht eine im System selbst angelegte selektive Wahrneh-mung der etablierten Beobachtungsverhältnisse unterstellt. Gemeintsind gemeinsame Wirklichkeitskonstruktionen von Vorständen,Analysten, Investmentbankern und Investoren, die sich, solange esnur ging, gegen eine Erschütterung ihrer Bilder wechselseitig immu-

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nisierten. Die spezifische Dynamik des Kapitalmarktes benötigt of-fensichtlich diese kollektiven aus immanenten Gründen zu Übertrei-bungen tendierenden Illusionsbildungen. Dies gilt sowohl für diePhase des scheinbar nie enden wollenden Aufschwungs (hier steu-ert die Gier die Realitätswahrnehmung) als auch für die Zeit nachdem Platzen der Spekulationsblase (hier sorgen Angst und Miss-trauen für massive Wahrnehmungsverzerrungen).

Der Schaden, den Worldcom hinterlassen hat, kann sich sehenlassen. Die zuletzt Anfang August 2002 bekannt gewordenen Fehl-buchungen haben den Bilanzbetrug insgesamt auf 7,2 Mrd. US-Dollar erhöht. Das Unternehmen muss zudem aufgrund der ver-änderten Marktlage Abschreibungen in Höhe von 50,6 Mrd. US-Dollar für Firmenwerte und andere immaterielle Vermögenswertevornehmen. Diese Summe entspricht dem gesamten Bruttoinlands-produkt von Ungarn und der Tschechischen Republik zusammen(Handelsblatt, 12.08.2002, S. 15). Nicht zu vergessen ist der Schaden,den die Anleger druch den Zusammenbruch von Worldcom erlittenhaben.

Eine ganz ähnliche Fallstudie ließe sich zu Enron verfassen, ei-nem Unternehmen der Energiebranche, das in einem rasantenWachstum in den 1990er-Jahren zum siebtgrößten US-amerikani-sche Unternehmen aufgestiegen war und dann Ende 2001 unter ähn-lich spektakulären Begleiterscheinungen seinen Niedergang erlebte.Diese und eine Reihe anderer vergleichbarer Fälle haben die ameri-kanische Wirtschafts- und Finanzwelt schwer erschüttert. Es wirdlange dauern, bis das Vertrauen der Anleger in die Mechanismen desKapitalmarktes, insbesondere in die verantwortungsvolle Führungbörsennotierter Unternehmen, wiederhergestellt sein wird. Sind diebeschriebenen Entwicklungsmuster einer engen Koppelung vonUnternehmen und Kapitalmarktdynamik mit den Bilanzmanipula-tionen als Begleiterscheinung primär ein US-amerikanisches Phäno-men? Keineswegs. Der neue Markt in Frankfurt kennt in der Zwi-schenzeit auch seine Problemkinder (Metabox, Comroad, Phenomedia,EM-TV, um nur einige Beispiele zu nennen).

Solche Verläufe in der Unternehmensentwicklung mit ihren ein-gebauten Tendenzen zu Bilanzmanipulationen können auch als einProdukt des spektulativ angeheizten Kapitalmarktes in der zweitenHälfte der 1990er-Jahre angesehen werden. In dieser Stimmungslagewar es möglich, innerhalb weniger Jahre mit geliehenem Geld Kon-

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zerne zu schaffen, die mit einer Börsenbewertung in dreistelligerMilliarden-Dollar-Höhe alles andere in den Schatten stellte. Diesehochgepuschten Riesen standen unter dem enormen Druck, die ho-hen Erwartungen des Kapitalmarktes dauerhaft zu erfüllen. RaschesWachstum über Firmenzukäufe war lange das Mittel der Wahl be-zahlt mit den eigenen überbewerteten Aktien. Diese neue „Wäh-rung“ für Fusionen ist jetzt nach den massiven Kurskorrekturen anden Börsen weitestgehend versiegt. Zurückgeblieben sind starküberschuldete Firmenkonglomerate, die organisationsintern ihr ra-sches Wachstum überhaupt nicht verkraftet haben und wenig Aus-sicht besitzen, auf dem Weg der normalen Geschäftstätigkeit diesenhohen Schuldenstand je bewältigen zu können. Der überwiegendeTeil der Unternehmen der Informations- und Kommunikationstech-nologie steckt heute in dieser Klemme. Der kapitalmarktgetriebeneBoom der späten 1990er-Jahre hat in dieser Branche zu milliarden-schweren Fehlinvestitionen geführt, die bei den Anlegern unglaub-liche Summen vernichtet haben (allein in den USA etwa 2 BilliardenDollar) und damit die heute noch am Markt befindlichen Unterneh-men auf Jahre belasten werden (siehe die aktuellen Schwierigkeitenbei der France Telecom bzw. bei der Deutschen Telekom).

Der schleichende Autoritätsverlust des Top-ManagementsEin fester Bestandteil des Shareholder-Value-Prinzips ist die Vorstel-lung, die konsequente Ausrichtung der Unternehmensführung anden Kapitalmarkterwartungen könne dadurch gefördert werden,dass man die variable Entlohnung der Führungskräfte an dieWertsteigerung des Unternehmens knüpft. Wenn es gelinge, die re-levanten Entscheidungsträger im Unternehmen in ihren persönli-chen Interessen möglichst nah an jene der Anteilseigner heranzu-bringen, dann werde das Unternehmen schon aus dieser Motivlageheraus in die richtige Richtung gelenkt. Das am weitesten verbreiteteInstrument dafür sind die so genannten Aktienoptionsprogramme.Diese eröffnen den Begünstigten (in der Regel einer ausgewähltenSchicht von Führungskräften) die Möglichkeit, aufgrund von Op-tionsrechten Aktien des eigenen Unternehmens zu einem späterenZeitpunkt zu einem im Vorhinein festgelegten „Ausübungspreis“ zuerwerben. Zumeist handelt es sich dabei um den Preis der Aktie zumAusgabezeitpunkt der Optionsrechte. Die tatsächliche Wirkung sol-cher Programme ist in der wissenschaftlichen Diskussion heftig um-

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stritten. Analysiert man die besonders auffällig gewordenen Mani-pulationsfälle der US-Wirtschaft (z. B. Enron, Worldcom, Quest, AOL-Time Warner etc.), so ist ein Faktum allen gemeinsam: Das Top-Ma-nagement hat sein Insiderwissen stets ungebremst ausgenutzt, umüber Aktien des eigenen Unternehmens am Spekulationsgeschehendes Kapitalmarktes gewaltig zu partizipieren, ohne das übliche An-legerrisiko zu tragen. Das Ergebnis dieser Entwicklung kann sich se-hen lassen. Eine US-amerikanische Studie stellte fest, dass die Ver-gütungen der Manager in den USA in den vergangenen 20 Jahren400-mal stärker als der Durchschnittslohn eines einfachen Arbeitersgestiegen sind (Handelsblatt, 13.09.2002, S. 13).

Auch die Aktienoptionsprogramme fast aller im Deutschen Ak-tienindex (DAX) notierten Unternehmen weisen „schwere handwerk-liche Fehler“ auf. Dies ist die Schlussfolgerung einer aktuellen Studieder Fondsgesellschaft Union Invest (vorgestellt am 26.08.2002). „Man-che Programme haben eher die Tendenz zur Selbstbedienung als dasZiel, den Marktwert des Unternehmens zu steigern“ (Der Tagesspie-gel, 27.08.2002, S. 19).

Eine Reihe von börsennotierten Unternehmen hat den Sharehol-der-Value-Gedanken in Deutschland auch genutzt, die Entlohnungvon Top-Führungskräften ganz allgemein an US-amerikanische Ge-pflogenheiten anzupassen. So sind in den drei Jahren zwischen 1996und 1999 die Vorstandsvergütungen (ohne Aktienoptionsprogram-me) bei Siemens um 145 Prozent, bei Daimler-Chrysler gar um 466 Pro-zent erhöht worden. Bei Daimler-Chrysler spiegelt sich in diesemPunkt natürlich die Fusion mit Chrysler unmittelbar wider (vgl.Höpner 2000). Die enge Anbindung der Vorstandsgehälter sowie derzusätzlichen Anreizsysteme an die spekulativen Gewinnchancendes Kapitalmarktes, ohne dass der betreffende Personenkreis tat-sächlich das übliche Investorenrisiko tragen würde, nährt den Ver-dacht, die Unternehmensspitze sorge sich weniger um das Wohl desUnternehmens als um die Verfolgung höchst persönlicher Gewinn-interessen. Ob diese Zuschreibung im Einzelfall nun zutrifft odernicht, allein der Umstand, dass das Shareholder-Value-Prinzip sol-che Motivlagen nahe legt, führt dazu, dass die Glaubwürdigkeit derUnternehmensspitze in ihrem Führungshandeln massiv untergra-ben wird (vor allem, wenn es darum geht, dafür Sorge zu tragen, dassschmerzhafte Maßnahmen im Unternehmen von der Belegschaftmitgetragen werden).

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Einen ähnlichen Erosionseffekt besitzt ein anderes Instrument,mit dem Vorstände üblicherweise versuchen, die Entwicklung desAktienkurses ihrer Unternehmen zu beeinflussen. Gemeint ist diePraxis des Aktienrückkaufes.

Der gezielte Rückkauf eigener Aktien ist eine der wirksamstenMaßnahmen, mit deren Hilfe Unternehmen direkt Einfluss auf deneigenen Aktienkurs nehmen können. Man verknappt damit das An-gebot an den Kapitalmärkten, was in der Vergangenheit den Kurs inaller Regel nach oben befördert hat. In den USA besitzt diese Inter-ventionsform bereits eine lange Tradition. „Zwischen 1983 und 1990wurden dort 72,5 Prozent aller Nettokäufe von Aktien von Unter-nehmen getätigt“ (Sablowski u. Rupp 2001, S. 68). Aktienrückkäufewaren in diesem Zeitraum für 50 Prozent der Kreditaufnahme dieserUnternehmen verantwortlich und beliefen sich auf ca. 25 Prozentdes erwirtschafteten Cash-flows (Brenner 2000, S. 23). Diese Praxisder Beeinflussung der Kursentwicklung erhielt in der außergewöhn-lichen Boomphase zwischen 1994 und 1999 nochmals einen erhebli-chen Auftrieb. Nicht zuletzt aus diesem Grund hat der Verschul-dungsgrad der Unternehmen des S & P 500 Index in diesem Zeitraummerklich zugenommen. Diese Ressourcen gingen jedoch nicht in dieWeiterentwicklung der Leistungsfähigkeit der Unternehmen, son-dern dienten der „Pflege“ des eigenen Aktienkurses. In konkretenZahlen bedeutete dies, dass 697,4 Mrd. US-Dollar oder 57 Prozentder Kreditaufnahme genutzt wurden, um diese Rückkaufaktionenzu bedienen. Solche Zahlen belegen eindrucksvoll das Ausmaß, indem durch diese Politik der Vorstände den realwirtschaftlichen Auf-gaben und Herausforderungen der Unternehmen Ressourcen entzo-gen wurden, um auf die Dynamik der Kapitalmärkte Einfluss zu ge-winnen bzw. um Potenzial für die Aktienoptionsprogramme zurVerfügung zu haben.

In Deutschland sind Aktienrückkäufe erst seit 1998 erlaubt, undzwar bis zu einer Obergrenze von 10 Prozent des Grundkapitals. Diemeisten der bekannten börsennotierten Unternehmen haben seitherkräftig von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Bei BASF etwabelief sich im Jahr 2001 das Rückkaufvolumen auf 1,3 Mrd. Euro(Financial Times Deutschland, 29.07.02, S. 19). Seit kurzem beginnt sichjedoch auch am Aktienmarkt unter Analysten wie Investoren einedeutlich kritischere Sicht auf das Instrument des Aktienrückkaufsdurchzusetzen. „Die Stimmung hat sich gewandelt. Investoren for-

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dern derzeit, dass die Firmen ihr Geld profitabel ins Kerngeschäft in-vestieren und damit keine Spielchen am Aktienmarkt treiben“ (Han-delsblatt, 19.08.2002, S. 1).

ZUSAMMENFASSUNG

Ist das Konzept des Shareholder Value am Beginn der 1990er-Jahreangetreten, um unter Beweis zu stellen, dass Unternehmen, die sichkonsequent am Kapitalmarkt orientieren, auf einen dauerhaften,letztlich nicht einholbaren Erfolgskurs gebracht werden, so steht die-ses Prinzip heute mitten in einer schweren Identitätskrise. Stellt manein Unternehmen instrumentell in den Dienst der Spekulations-dynamik des Kapitalmarktes, so sind zwei (freilich nicht beabsich-tigte) Folgewirkungen ausgesprochen wahrscheinlich. Zum einenentzieht die primäre Verpflichtung des Top-Managements auf dieInteressen der Aktionäre ihm organisationsintern jene Autoritätsres-sourcen, die es braucht, um glaubwürdig seine Praxis der Unter-nehmensführung aus den Überlebensfragen des Unternehmens he-raus zu begründen. Je mehr unternehmensintern beobachtet wird,dass zentrale Ressourcen und geschichtlich aufgebaute Potenzialegeopfert werden, nur um den Erwartungen der Kapitalmarktakteurekurzfristig zu entsprechen, umso weniger wird die Führung Folge-bereitschaft und Verständnis für die heute immer wieder anste-henden tief greifenden Veränderungsnotwendigkeiten mobilisierenkönnen. Diese Art von Führung schädigt für den vordergründigenBeobachter vielleicht nicht gleich sichtbar im Ergebnis aber umsonachhaltiger die Immunkraft eines sozialen Systems. Wenn so deut-lich erlebbar wird, wie sich das Top-Management durch seine Nähezum Kapitalmarkt persönlich bereichern kann, während gleichzeitigdem Rest massive Opfer und außergewöhnliche Anstrengungen ab-verlangt werden, dann ermutigt das alle, wo immer es geht, primärauf die eigenen Interessen zu schauen. Das Unternehmen verliert soseine Fähigkeit, für sich als soziale Einheit, für die Bewältigung dereigenen unternehmerischen Existenzprobleme die erforderlicheSorgfalt und kollektive Energie zu mobilisieren. Dieser Verlust ist ge-meint, wenn von einer nachhaltigen Schädigung des Immunsystemseiner Organisation die Rede ist. In einer Schönwetterperiode, wenndie Geschäfte ausgezeichnet laufen, wird dieser Verlust möglicher-

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weise gar nicht unmittelbar sichtbar. Die mangelnde Identifikationmit dem sozialen Ganzen wird aber sofort schlagend, wenn es da-rum geht, krisenhaftere Herausforderungen zu bewältigen, die einüberdurchschnittliches Engagement aller Schlüsselspieler verlan-gen. In solchen Phasen macht sich die Glaubwürdigkeitskrise vorallem dem Top-Management gegenüber fatal bemerkbar.

Zum anderen haben die Erfahrungen seit dem Platzen der Spe-kulationsblase im Frühjahr 2000 auch gezeigt, dass die Anleger inder Zwischenzeit ein massives Misstrauen in die aktuell praktizierteForm der Unternehmensführung entwickelt haben. Paradoxerweisehaben gerade jene Firmen besonders mit dieser Vertrauensproble-matik zu kämpfen, deren Vorstände noch vor Jahren besonders eifrigfür das Shareholder-Value-Prinzip eingetreten sind. Die aktuelleCorporate-Governance-Diskussion, die verstärkten Aktivitäten derAufsichtsbehörden und politischen Entscheidungsträger, die neuer-lichen regulatorischen Eingriffe des Gesetzgebers, all dies sindSymptome dafür, dass der Gedanke des Shareholder Value die Kluftzwischen der Spitze börsennotierter Unternehmen und den Investo-ren am Kapitalmarkt nicht verringert sondern eher vergrößert hat.Es gibt zurzeit eine Reihe von Anzeichen, die darauf hindeuten, dassder Kapitalmarkt aus den Erschütterungen seit dem Frühjahr 2000zu „lernen“ beginnt und seine Beobachtungskriterien bezüglich des-sen, was „gute und verantwortungsvolle Unternehmensführung“heißt, umbaut. Damit könnten die Voraussetzungen dafür entstehen,dass Vorstände, die dem längerfristigen Überlebensinteresse vonUnternehmen den Vorrang einräumen, vom Kapitalmarkt wiederbelohnt und nicht bestraft werden.

Was heißt dies alles für die Beraterbranche? Die vorangegangeneAnalyse aktueller Entwicklungen auf den Kapitalmärkten und ihreImplikationen für die Unternehmensführung sollten zeigen, dasswir uns mitten in einer tief greifenden Reorientierungsphase befin-den. Die magische Kraft hochgepuschter Managementmoden istverblasst. Auf allen Seiten ist eine ziemliche Ernüchterung, wennnicht gar eine Neigung zur Ratlosigkeit zu beobachten. Die Dekon-struktion gängiger Managementleitbilder (in der vorliegenden Ar-beit wurde dies insbesondere am Beispiel des Shareholder-Value-Prinzips zu zeigen versucht) trifft mit voller Wucht die klassischenUnternehmensberatungsfirmen, die ihr exorbitantes Wachstum lan-ge Zeit ihrer Fähigkeit verdankten, das Top-Management mit einer

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tragfähigen Legitimation (nach innen und außen) für die jeweils ein-geleiteten Weichenstellungen in der Unternehmensentwicklung zuversorgen. Ganz offensichtlich scheint diese Versorgungsleistungnicht mehr in dem Ausmaß zu greifen, wie dies früher gerade beiden großen börsennotierten Unternehmen der Fall war. Mit demVerlust dieser fraglosen Autoritätsrolle gerät auch der Zukauf vonBeratung unter das Diktat jenes allgegenwärtigen Produktivitäts-steigerungsdrucks, der heute auch auf allen anderen unternehmens-bezogenen Leistungsprozessen lastet. Dieses Reflexivwerden vonBeratung (d. h., die von ihr beförderte Logik muss glaubwürdigauch auf sie selbst anwendbar sein) besitzt für die klassische Unter-nehmensberatung wie für die systemische Organisationsberatung jeunterschiedliche Konsequenzen. Zum Beispiel wird es für die Letz-tere bedeuten, dass sie sich für ihre unternehmensinternen An-sprechpartner wesentlich mehr auch in den relevanten Businessthe-men als kompetente Sparringspartnerin bewähren muss, weil esheute einfach nicht mehr genügt, sich ausschließlich auf die Prozessedes sozialen Miteinanders und auf das Bereitstellen gelingenderKommunikationsarchitekturen zu fokussieren. Die Zukunft wirdzeigen, wie sich diese beiden Erscheinungsformen von Beratung aufdie veränderten Anforderungen seitens ihrer Kunden werden ein-stellen können. Eines scheint sicher: Die Erfolgsmuster der 1990er-Jahre haben offensichtlich ausgedient.