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16 MMW-Fortschr. Med. Nr. 8 / 2012 (154. Jg.) AKTUELLE MEDIZIN REPORT _ Der Diabetes mellitus entwickelt sich zur Volkskrankheit von größter Bedeu- tung. 10% der Bevölkerung in Deutsch- land sind bereits davon betroffen. Mo- toren der Entwicklung sind die zuneh- mende Adipositas einerseits und die steigende Lebenserwartung anderer- seits. Im Alter von 75–85 Jahren ist min- destens jeder Vierte an einem Diabetes mellitus Typ 2 erkrankt, in Pflegeheimen liegt die Prävalenz bei bis zu 30%. Selbst bei vielen Ärzten besteht die Meinung, dass „ein bisschen Zucker“ doch kein wesentliches Problem darstel- le. Auch für viele Patienten ist es durch- aus nicht einzusehen, warum sie bei völ- liger Freiheit von Krankheitssymptomen nur wegen eines Laborbefundes Ein- schränkungen in ihrer täglichen Lebens- führung auf sich nehmen sollten. Diese „entspannte“ Haltung vieler Patienten im noch „vorgeriatrischen“ Alter wird bei älteren Patienten durch die Ergebnisse großer Therapiestudien zum Diabetes mellitus der letzten Jahre bestätigt. So wurde zum Beispiel die ACCORD-Studie, die in der Interventi- onsgruppe eine möglichst normale Glykämie und einen möglichst norma- len HbA 1c anstrebte, wegen Übersterb- lichkeit der Therapiegruppe vorzeitig abgebrochen, wobei sich die Todesfälle überwiegend auf maligne Rhythmusstö- rungen bezogen. Tatsächlich konnte in jüngster Zeit auch gezeigt werden, dass insbesondere Hypoglykämien zu kardialen Schäden und Rhythmusstörungen führen kön- nen. Fatalerweise nimmt die Wahrneh- mung für Hypoglykämien sowohl mit dem gehäuften Auftreten dieser Stoff- wechselentgleisung als auch mit zuneh- mendem Lebensalter ab. Zusätzlich konnte gezeigt werden, dass auch das Demenzrisiko mit der Zahl der Hypo- Diabetes-Therapie im Alter Individuelle Therapieziele notwendig „Mein Mann ist vor acht Jahren gestorben, mich schaut kein Mann mehr an und nun würden Sie, Herr Doktor, mir auch noch meinen täglichen Kaffeehausbesuch mit zwei Stück Kuchen verbieten. Wo- zu soll ich eigentlich noch weiterleben?“ (Aussage einer 78-jährigen adipösen Diabetikerin in einer Diabetesambulanz.) Bei der Diabetestherapie von Patienten mit geriatrischem Syndrom kommt es vor allem darauf an, die Lebensqualität im Auge zu haben, während kon- ventionelle diabetologische Ziel- parameter wie Blutzucker und HbA 1c nur noch die zweite Geige spielen. Ein Symposium auf dem Internistenkongress in Wiesbaden zeigte auf, dass die Erhaltung der Lebensqualität und vor allem die Vermeidung von Hypoglykämien die wichtigsten Ziele bei betagten Diabetespatienten sind. © Medioimages/Photodisc/Thinkstock

Individuelle Therapieziele notwendig

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16 MMW-Fortschr. Med. Nr. 8 / 2012 (154. Jg.)

AKTUELLE MEDIZIN–REPORT

_ Der Diabetes mellitus entwickelt sich zur Volkskrankheit von größter Bedeu-tung. 10% der Bevölkerung in Deutsch-land sind bereits davon betroffen. Mo-toren der Entwicklung sind die zuneh-mende Adipositas einerseits und die steigende Lebenserwartung anderer-seits. Im Alter von 75–85 Jahren ist min-destens jeder Vierte an einem Diabetes mellitus Typ 2 erkrankt, in Pflegeheimen liegt die Prävalenz bei bis zu 30%.

Selbst bei vielen Ärzten besteht die Meinung, dass „ein bisschen Zucker“ doch kein wesentliches Problem darstel-le. Auch für viele Patienten ist es durch-aus nicht einzusehen, warum sie bei völ-liger Freiheit von Krankheitssymptomen nur wegen eines Laborbefundes Ein-schränkungen in ihrer täglichen Lebens-führung auf sich nehmen sollten.

Diese „entspannte“ Haltung vieler Patienten im noch „vorgeriatrischen“ Alter wird bei älteren Patienten durch die Ergebnisse großer Therapiestudien zum Diabetes mellitus der letzten Jahre bestätigt. So wurde zum Beispiel die ACCORD-Studie, die in der Interventi-onsgruppe eine möglichst normale Glyk ämie und einen möglichst norma-

len HbA1c anstrebte, wegen Übersterb-lichkeit der Therapiegruppe vorzeitig abgebrochen, wobei sich die Todesfälle überwiegend auf maligne Rhythmusstö-rungen bezogen.

Tatsächlich konnte in jüngster Zeit auch gezeigt werden, dass insbesondere Hypoglykämien zu kardialen Schäden

und Rhythmusstörungen führen kön-nen. Fatalerweise nimmt die Wahrneh-mung für Hypoglykämien sowohl mit dem gehäuften Auftreten dieser Stoff-wechselentgleisung als auch mit zuneh-mendem Lebensalter ab. Zusätzlich konnte gezeigt werden, dass auch das Demenzrisiko mit der Zahl der Hypo-

Diabetes-Therapie im Alter

Individuelle Therapieziele notwendig

„Mein Mann ist vor acht Jahren gestorben, mich schaut kein Mann mehr an und nun würden Sie, Herr Doktor, mir auch noch meinen täglichen Kaffeehausbesuch mit zwei Stück Kuchen verbieten. Wo-zu soll ich eigentlich noch weiterleben?“

(Aussage einer 78-jährigen adipösen Diabetikerin in einer Diabetesambulanz.)

Bei der Diabetestherapie von Patienten mit geriatrischem Syndrom kommt es vor allem darauf an, die Lebensqualität im Auge zu haben, während kon-ventionelle diabetologische Ziel-parameter wie Blutzucker und HbA1c nur noch die zweite Geige spielen. Ein Symposium auf dem Internistenkongress in Wiesbaden zeigte auf, dass die Erhaltung der Lebensqualität und vor allem die Vermeidung von Hypoglykämien die wichtigsten Ziele bei betagten Diabetespatienten sind.

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glykämien wesentlich ansteigt. In einer großen Praxisstudie an fast 28 000 Dia-betikern, die zwischen 1986 und 2008 beobachtet wurden, zeigte sich eine U-förmige Kurve des HbA1c im Hinblick auf die Gesamtmortalität (siehe Abb. 1).

Die alte Maxime, je niedriger, umso besser, gilt also nicht mehr. Es ist an der Zeit, gerade bei Patienten mit geriat-rischen Syndromen (siehe Tab. 1) die Messlatte bezüglich der Blutzuckerwerte und des HbA1c deutlich abzusenken bzw. im nummerischen Sinn anzuhe-ben. Die bisher verfolgten ärztlichen Therapieziele einer Senkung der Morta-lität müssen in den Hintergrund treten zugunsten der Patientenperspektive, der es in erster Linie um den Erhalt der Le-bensqualität in den verbleibenden Jah-ren geht (Tab. 2).

Prinzipien der Diabetestherapie bei geriatrischen PatientenHinsichtlich der nicht medikamentösen Therapiemaßnahmen wie Gewichtsab-nahme, Bewegung und Ernährung sollte man bei geriatrischen Patienten keine zu großen Bemühungen an den Tag legen. Im hohen und höchsten Lebensalter ist es eher von Vorteil, etwas übergewichtig

zu sein. Ein Großteil der geriatrischen Patienten neigt aufgrund vielfältiger Mechanismen ohnehin eher zur Ge-wichtsabnahme, sei es im Rahmen einer Sarkopenie oder infolge Unterernäh-rung aufgrund der allgemeinen psycho-sozialen Situation. Komplizierte struk-turierte Ernährungstherapien kann man sich bei Patienten mit geriatrischen Symptomen sparen. Die freie Ernährung und auch das Begehen sog. „Diätsün-den“ werden im hohen Lebensalter für

viele Patienten zu einem wichtigen Fak-tor der Lebensqualität.

Einfache Regimes bevorzugtFür die medikamentöse Therapie ist es besonders wichtig, ein möglichst ein-faches und für die Situation des Pati-enten praktikables Therapieregime zu etablieren. Hypoglykämien müssen da-bei unter allen Umständen vermieden werden. Daraus folgt, dass gerade Sulfo-nylharnstoffe für ältere Patienten pro-

Abb. 1 Adjustiertes Mortalitätsrisiko in Abhängigkeit zum HbA1c-Wert bei ca. 28 000 englischen Diabetikern im Zeitraum 1986–2008; A: Therapie mit oralen Antidiabetika, B: Therapie mit Insulin (Currie et al. Lancet 2010; 375: 481)

Overnewsed and underinformedDie Woche nach Ostern ist für Medizinjournalisten genau so stressig wie die Karwoche für den Papst. Erst der Kardio-logenkongress in Mannheim und dann der Internistenkon-gress in Wiesbaden. Auf der ständigen Suche nach neuen interessanten Themen, die sich für eine Berichterstattung in der MMW eignen, braucht man schon eine gute intellektuelle Kondition, zumal einige Referenten nicht nur sich selbst, son-dern auch die Zuhörer sehr anstrengen.

Nach sechstägigem Kongressrummel fühlt man sich wie der Amerikaner, der nach seiner Landung in München tags darauf sofort zu den Passionsspielen nach Oberammergau aufbricht und von da am Abend noch nach Füssen weiter reist, um dort das Musical „Ludwig II.“ zu erleben. Nach einer etwas unru-higen Nacht wacht er am nächsten Morgen auf, reflektiert das Erlebte noch einmal kurz und ist doch etwas irritiert darüber, dass Ludwig II. ans Kreuz geschlagen wurde und Jesus im Starn-berger See ertrunken sein soll.

Üben Sie deshalb Nachsicht, wenn Sie in den nächsten Wochen mit Artikeln in diesem Journal konfrontiert werden, die vielleicht die Überschrift tragen: „Neues Antibiotikum heilt Vorhofflim-

mern“ oder „Mit der Katherablation gegen die Pilzinfektion“. Doch das Thema „Moderne Medizin verlängert die Pubertät bis ins Greisenalter“ beschreibt eine Vision, die schon bald Wirklich-keit werden könnte. Bei so viel Neuem zum Thema Antiaging hat sich der Kongressbesuch trotz allem Stress dann doch schon gelohnt. Dr. meD. Peter Stiefelhagen ■

Glosse

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Abbildung 1

2422201816141210

0,80,6

HR

(95%

CI)

HbA1c (%)0,6 6,5 7,0 7,5 8,0 8,5 9,0 9,5 10,0 10,511,0 11,5

A B

HbA1c (%)0,6 6,5 7,0 7,5 8,0 8,5 9,0 9,5 10,0 10,511,0 11,5

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blematisch sind. Auch komplexe Insu-linregimes mit vier und mehr Injekti-onen pro Tag sind bei dieser Patienten-gruppe in der Regel weder erforderlich noch praktikabel.

Tab. 3 zeigt die anzustrebenden The-rapieziele bei Patienten in Abhängigkeit von Begleiterkrankungen und geriat-rischen Symptomen. Bei geriatrischen Patienten wird man präprandiale Blut-zuckerwerte um 160 mg/dl tolerieren und ein HbA1c zwischen 7 und 8% an-streben (Abb. 2). Die Insulintherapie kann zum Beispiel mit zwei täglichen Injektionen eines Mischinsulins oder als basal unterstützte orale Therapie (BOT) mit Metformin und/oder einem Gliptin in Kombination mit einer Injektion eines lang wirksamen Analoginsulins relativ einfach durchgeführt werden.

Individuelle, aber klare Therapiekonzepte Oberstes Therapieziel der Diabetesthe-rapie geriatrischer Patienten ist die Ver-meidung von Hypoglykämien unter Be-

achtung der allgemeinen Lebensqualität. Zu diesem Zweck sind individuelle, aber klare Therapiekonzepte erforderlich. Bezüglich der Ernährung sollten keine Einschränkungen gemacht werden, da es vor allem darauf ankommt, eine Mal-nutrition zu verhindern, die ihrerseits zu einem prognostisch ungünstigen Verlauf beiträgt.

Die orale Therapie wird in der Regel mit niedrig dosiertem Metformin unter Beachtung der Kontraindikationen (v. a. Niereninsuffizienz) begonnen. Gelingt damit keine Senkung des HbA1c unter 8%, sollte frühzeitig eine BOT begon-nen, zwei Injektionen eines Mischinsu-lins oder auch dreimal täglich ein pran-diales Insulin verabreicht werden.

Nachdem das Essverhalten geria-trischer Patienten stark variieren kann und in manchen Fällen nicht einzu-schätzen ist, können kurz wirksame In-sulinanaloga auch postprandial gegeben werden.

Natürlich sind auch bei geriatrischen Patienten Therapie und Prophylaxe von funktionellen und strukturellen Diabe-tesschäden zu beachten. Zur frühzei-tigen Erkennung dieser Schäden gehö-ren regelmäßige Fußuntersuchungen, neurologische und augenärztliche Un-tersuchungen.

Besonderer Wert ist auch auf eine suffiziente antihypertensive Therapie zu legen, da wir spätestens seit der HYVET-Studie wissen, dass eine Blut-drucksenkung auch noch bei Hochbe-tagten lohnt. Gleiches gilt auch für eine Hyperlipidämie.

Kein therapeutischer Nihilismus Die Großzügigkeit bei den diabetolo-gischen Therapiezielen bedeutet nicht, dass man bei geriatrischen Patienten ei-nen therapeutischen Nihilismus an den Tag legen sollte. Insbesondere beim Vor-liegen von spezifischen Komplikationen wie der diabetischen Polyneuropathie oder dem diabetischen Fußsyndrom sollte man vorübergehend eine normna-he glykämische Einstellung anstreben. Gerade geriatrische Patienten sind be-sonders gefährdet durch das diabetische Fußsyndrom und gehören zu der Pati-entengruppe mit der höchsten Amputa-tionsrate aufgrund diabetischer Kompli-kationen. Zu den diabetischen Kompli-kationen gehören auch schlecht heilende Wunden und rezidivierende Harnwegs-infekte. Prof. Dr. meD. h. S. füeSSl ■

■ 118. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, BDI Symposium: Diabetes Typ 2 – Aktuelle Therapie II

Abbildung 2

Diabetes- Symptome

BZ2702402101801501209060

HbA1c1110987654

Geriatrischer Zielbereich

Prävention Mikroangiopathie Hypoglykämie- risiko erhöht

Geriatrischer Zielbereich der Insulintherapie

Geriatrische Syndrome_ Immobilität_ Instabilität_ Iatrogene Störungen_ Intellektueller Abbau_ Isolation_ Inkontinenz_ Exsikkose_ Mangelernährung_ Dekubitalulzera

_ Sehstörungen_ Hörstörungen_ Sprech- und Sprach-störungen_ Schlafstörungen_ Chronischer Schmerz_ Schwindel_ Delir_ Depression

Tabelle 1

Therapieziele: StoffwechselBZ (mg/dl) präpandial

Patientengruppe HbA1c (%)

100 < 70 Jahre; 70 Jahre + DFS < 7,0130 > 70 Jahre + Symptome (PNP)

< 70 Jahre + Hypoglykämierisiko < 70 Jahre + Hypoglyk.-/CV-Risiko

< 7,5

160 Geriatrischer Patient > 70 Jahre (Lebenserwartung < 10 Jahre)

< 8,0

Tabelle 3

Tabelle 2

TherapiezieleArzt (geriatrischer) Patient

1. Lebenserwartung 3.

2. Lebensperspektive 2.

3. Lebensqualität 1.

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Weitere Highlights vom Internistenkongress unter springermedizin.de/dgim-2012