59
Letzte Aktualisierung: 22.08.2008 Basiswissen Literaturwissenschaft Ein Skript der Fachrichtung 4.1 Germanistik der Universität des Saarlandes Vorbemerkung und Hinweise zur Benutzung: Dieses Skript war ursprünglich als Lernhilfe bei der Vorbereitung auf die Schriftliche Zwi- schenprüfung in Literaturwissenschaft gedacht. Im Zuge der Einführung modularisierter Stu- diengänge (ab WS 2007/08) erfolgt die Abprüfung des Grundlagenwissens nicht mehr in Form der Zwischenprüfung, sondern im Rahmen des Grundlagenmoduls A: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Nach wie vor jedoch zählt der Erwerb einer fachsprachlichen Beschreibungs- und Erklä- rungskompetenz zu den zentralen Lernzielen der ersten Semester. Das Skript hat sich zur Aufgabe gesetzt, die dazu notwendigen literaturwissenschaftlichen Fachtermini möglichst präzise zu definieren und zumindest ansatzweise mit der Vermittlung größerer Zusammen- hänge zu verbinden. Auf die Lernziele des Grundlagenmoduls bezogen, ersetzt es weder die begleitende Lektüre (etwa einer Einführungsdarstellung wie Alo Allkemper/Norbert Otto Eke: Literaturwissenschaft. Paderborn 2004) noch das eigenständige Nachschlagen (etwa in Metzlers Literatur Lexikon und in der angegebenen Spezialliteratur). Ebenso selbstverständ- lich bedarf das Skript der Ergänzung durch Lehr- und Lernmaterialien, wie sie in den jeweili- gen Grundkursen Literaturwissenschaft eingesetzt werden. Im Ganzen jedoch hofft die Fach- richtung Germanistik, ihre Studierenden auch mit Hilfe dieses in der Praxis seit längerem erprobten Skripts beim Erwerb grundlegender literaturwissenschaftlicher Kompetenzen zu unterstützen. Saarbrücken, im Oktober 2008 Dr. Sascha Kiefer Verwendete Zeichen: Beispiele Weiterführende Literatur Lerntipps

Info Basiswissen LitWiss - uni-saarland.de · - einen Epochenbegriff wie z.B. ›Romantik‹ - einen Autornamen aus dem 19. Jahrhundert wie z.B. Gottfried Keller

  • Upload
    vanngoc

  • View
    224

  • Download
    2

Embed Size (px)

Citation preview

Letzte Aktualisierung: 22.08.2008

Basiswissen Literaturwissenschaft

Ein Skript der Fachrichtung 4.1 Germanistik der Universität des Saarlandes

Vorbemerkung und Hinweise zur Benutzung: Dieses Skript war ursprünglich als Lernhilfe bei der Vorbereitung auf die Schriftliche Zwi-schenprüfung in Literaturwissenschaft gedacht. Im Zuge der Einführung modularisierter Stu-diengänge (ab WS 2007/08) erfolgt die Abprüfung des Grundlagenwissens nicht mehr in Form der Zwischenprüfung, sondern im Rahmen des Grundlagenmoduls A: Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. Nach wie vor jedoch zählt der Erwerb einer fachsprachlichen Beschreibungs- und Erklä-rungskompetenz zu den zentralen Lernzielen der ersten Semester. Das Skript hat sich zur Aufgabe gesetzt, die dazu notwendigen literaturwissenschaftlichen Fachtermini möglichst präzise zu definieren und zumindest ansatzweise mit der Vermittlung größerer Zusammen-hänge zu verbinden. Auf die Lernziele des Grundlagenmoduls bezogen, ersetzt es weder die begleitende Lektüre (etwa einer Einführungsdarstellung wie Alo Allkemper/Norbert Otto Eke: Literaturwissenschaft. Paderborn 2004) noch das eigenständige Nachschlagen (etwa in Metzlers Literatur Lexikon und in der angegebenen Spezialliteratur). Ebenso selbstverständ-lich bedarf das Skript der Ergänzung durch Lehr- und Lernmaterialien, wie sie in den jeweili-gen Grundkursen Literaturwissenschaft eingesetzt werden. Im Ganzen jedoch hofft die Fach-richtung Germanistik, ihre Studierenden auch mit Hilfe dieses in der Praxis seit längerem erprobten Skripts beim Erwerb grundlegender literaturwissenschaftlicher Kompetenzen zu unterstützen. Saarbrücken, im Oktober 2008 Dr. Sascha Kiefer Verwendete Zeichen: ● Beispiele ■ Weiterführende Literatur ►Lerntipps

2

Inhaltsverzeichnis 1. Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft ......................................................... 4 2. Hilfsmittel der Literaturwissenschaft ..................................................................................... 5

2.1 Germanistische Fachbibliographien ............................................................................... 5 2.2 Sachlexika der Literaturwissenschaft ............................................................................. 5 2.3 Autorenlexika .................................................................................................................. 6 2.4 Werklexika ...................................................................................................................... 6

3. Textkritik und Editionstechnik ............................................................................................... 8 3.1 Wichtige Begriffe der Editionstechnik (Auswahl) ............................................................ 8 3.2 Apparat und Apparatgestaltung ...................................................................................... 9 3.3 Ausgabentypen ............................................................................................................ 10

4. Rhetorik .............................................................................................................................. 12 4.1 Was ist Rhetorik? ......................................................................................................... 12 4.2 Rhetorische Tropen und Figuren .................................................................................. 13 4.2.1 Tropen im Umkreis der Metapher .............................................................................. 13 4.2.2 Tropen der Indirektheit .............................................................................................. 15 4.2.3 Wiederholungsfiguren ............................................................................................... 16 4.2.4 Kontrastfiguren .......................................................................................................... 17 4.2.5 Wortschatzfiguren ..................................................................................................... 18 4.2.6 Wortspielfiguren ........................................................................................................ 18 4.2.7 Satzfiguren ................................................................................................................ 19

5. Verslehre ............................................................................................................................ 21 5.1 ›Gebundene Rede‹ ....................................................................................................... 21 5.2 Zur Notation .................................................................................................................. 21 5.3. Wichtige Begriffe der Verslehre ................................................................................... 22 5.4. Stationen der Versgeschichte ..................................................................................... 23 5.5. Metren (Versfüße) ....................................................................................................... 24 5.6. Versschlüsse ............................................................................................................... 24 5.7 Der Reim ...................................................................................................................... 24 5.8. Feste Versmaße (Verszeilen, Versformen) ................................................................. 25 5.8.1 Antike Versmaße ....................................................................................................... 25 5.8.2 Romanische Versmaße ............................................................................................. 26 5.8.3 Germanisch-deutsche Tradition ................................................................................ 27

6. Lyrik .................................................................................................................................... 30 6.1 Minimaldefinition ........................................................................................................... 30 6.2 Lyrik als subjektiver Ausdruck und Stimmung .............................................................. 30 6.3 Wer spricht das Gedicht? ............................................................................................. 30 6.4. Strophen- und Gedichtformen ..................................................................................... 31 6.4.1 Strophenformen antiker Herkunft .............................................................................. 31 6.4.2 Strophen- und Gedichtformen romanischer Herkunft ................................................ 32 6.4.3 Strophenformen der germanisch-deutschen Tradition .............................................. 34 6.4.4 Eine Gedichtform der orientalischen Tradition .......................................................... 35 6.5. Ein gattungstheoretischer Sonderfall: Die Ballade ...................................................... 35

7. Dramatik ............................................................................................................................. 38 7.1 Definition Dramatik/Drama ........................................................................................... 38 7.2 Eine Auswahl dramatischer Textarten in Kurzdefinitionen ........................................... 38 7.3 Grundtypen des Dramas .............................................................................................. 40 7.4 Bau- und Formelemente ............................................................................................... 40 7.5 Geschlossene und offene Form des Dramas ............................................................... 42 7.6 Episch-narrative Elemente im Drama ........................................................................... 43 7.7 Konfiguration und Figurenkonstellation ........................................................................ 43 7.8 Figurenkonzeption: Typus und Charakter .................................................................... 44 7.9 Kommunikation im Drama ............................................................................................ 44

8. Epik .................................................................................................................................... 46 8.1. Epische Texte als Fiktion ............................................................................................ 46

3

8.2. Eine Auswahl epischer Textarten in Kurzdefinitionen ................................................. 47 8.3. Wie wird erzählt? ......................................................................................................... 49 8.3.1 Romananfänge und Ereignisfolge ............................................................................. 49 8.3.2 Die Zeitstruktur der Erzählung ................................................................................... 50 8.3.3. Erzählsituationen ...................................................................................................... 51 8.4 Formen der Rede in epischen Texten .......................................................................... 53

9. Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte ...................................................................... 55

4

1. Gegenstand und Aufgaben der Literaturwissenschaft Nach: Alo Allkemper/Norbert Otto Eke: Literaturwissenschaft. Paderborn 2004, S. 26; vgl. auch ebd., S. 13-33. – Literaturwissenschaft ist eine Wissenschaftsdisziplin, deren Gegenstand der gesamte Pro-zess der textlichen Ausformung (Verbreitung, Rezeption, Wirkung und Bewertung von Litera-tur) ist, und sie setzt die Literatur dabei in ein Verhältnis zu Wirklichkeit und Gesellschaft, also zu den Wert-, Wissens- und Überlieferungssystemen in Geschichte, Religion, Philoso-phie, Kunst usw., in denen eine Zeit ihr Selbstverständnis ausbildet und zum Ausdruck bringt. – Als Textwissenschaft beschäftigt sich Literaturwissenschaft mit der Interpretation von Texten, mit Literaturgeschichtsschreibung und Edition, Kultur- und Mentalitätenge-schichte sowie mit theoretischen und systematischen Fragen des Faches (Literaturtheo-rie). – Die Gegenstände des Faches sind nicht zuletzt von dem Literaturbegriff abhängig, der ihrer Bestimmung zugrunde liegt. Es gibt einen engen Literaturbegriff und einen weiten bzw. erweiterten Literaturbegriff. Der enge Literaturbegriff orientiert sich an den Kriterien der Schriftlichkeit (Literatur als abgeschlossene, zusammenhängende sprachliche Äußerungen in Schriftform), der Fiktionalität (Literatur als erdachte Welt, siehe auch unter 8.1), der Lite-rarizität (Formung, Gestaltung, künstlerische Arbeit mit und an der Sprache) und der Poly-semie/Bedeutungsoffenheit (Kunst lässt sich nicht auf einen ein für allemal gültigen Sinn fixieren, dieser ist vielmehr als Ergebnis eines kommunikativen Prozesses prinzipiell offen und wandelbar). Der enge Literaturbegriff umfasst in der Regel ästhetisch hochrangige, ›ka-nonisierte‹ Texte. Der weite oder erweiterte Literaturbegriff umfasst letztlich alle Formen sprachlicher Äußerungen (auch ›oral tradition‹), insbesondere auch nichtfiktionale ›Ge-brauchsliteratur‹ (vom Brief bis zum Kochbuch) oder ästhetisch fragwürdige ›Trivialliteratur‹. → Literaturwissenschaft beschäftigt sich mit Texten im weitesten Sinn, unabhängig von ihrer Ausdrucks-, Überlieferungs- und Vermittlungsform. → In der literaturwissenschaftlichen Praxis (Themen der Lehrveranstaltungen, Zahl der ein-schlägigen Publikationen) dominieren Gegenstände, die dem engen Literaturbegriff entspre-chen, obwohl sich die Literaturwissenschaft allgemein heute in der Regel zu einem weiten Literaturbegriff bekennt.

5

2. Hilfsmittel der Literaturwissenschaft Ein erfolgreiches Studium setzt die Fähigkeit voraus, die für ein Problem oder eine Fragestel-lung relevanten Titel der Primärliteratur sowie die existierende und die konkret erreichbare Forschungsliteratur systematisch recherchieren zu können. Vor allem zum Recherchieren der Forschungsliteratur sind Bibliothekskataloge (z.B. der Web-Opac der Universität des Saarlandes oder auch die Gesamtheit der deutschen Biblio-thekskataloge im sog. ›Karlsruher Katalog‹ unter www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html) unzu-reichend – denn hier findet man nur die Titel selbständig erschienener Publikationen (also ›Bücher‹), aber keine Titel von Aufsätzen, die in Zeitschriften oder Sammelbänden veröffent-licht wurden! 2.1 Germanistische Fachbibliographien Unentbehrlich zur Literaturrecherche sind die zwei wichtigsten und periodisch erscheinenden germanistischen Fachbibliographien: – Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft. Begründet von Hanns W. Eppelsheimer, fortgeführt von Clemens Köttelwesch, hrsg. v. Bernhard Koßmann. Frankfurt/M. 1957ff (im ›Fachjargon‹: ›Eppelsheimer-Köttelwesch‹; erscheint im Jahresrhythmus in Printfom und ist auch online zugänglich unter www.bdsl-online.de; beim Online-Zugang ist zu beachten, dass die neuesten Jahrgänge lizenzpflichtig sind, also nur über Universitätsrechner in die Recherche einbezogen werden können). – Germanistik. Internationales Referatenorgan mit bibliographischen Hinweisen. Hrsg. v. H.W. Bähr u.a. Tübingen 1960ff (erscheint vierteljährlich). Um sich bestimmte Basisinformationen zu literaturwissenschaftlichen Fragestellungen ver-schaffen zu können, muss ein Germanistik-Student/eine Germanistik-Studentin den folgen-den Minimalkatalog von Nachschlagewerken bzw. Gruppen von Nachschlagewerken ken-nen: 2.2 Sachlexika der Literaturwissenschaft

Dort findet man: Fachbegriffe aus Rhetorik und Stilistik, Epochenbegriffe, Gattungsbegriffe usw. – Metzler Lexikon Literatur [LL] Begriffe und Definitionen. Begründet von Hrsg. v. Günther und Irmgard Schweikle. 3., voll-ständig neu bearbeitete Auflage hrsg. v. Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff. Stuttgart und Weimar 2007.* – Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft [RL]. Hrsg. v. Klaus Weimar mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller. 3 Bde. Ber-lin 1997-2003. – Meid, Volker: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Stuttgart 1999. – Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 82001. Relativ wenige, dafür ausführliche Artikel enthalten die folgenden Fachlexika (die eher Handbuchcharakter haben): – Literaturwissenschaftliches Lexikon.

6

Grundbegriffe der Germanistik. Hrsg. v. Horst Brunner und Rainer Moritz. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage Berlin 2006. – Fischer Lexikon Literatur. Hrsg. v. Ulfert Ricklefs. 3 Bände. Frankfurt/M. 1996. 2.3 Autorenlexika

Dort findet man: biographisch orientierte Artikel. – Literatur-Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache [LL]. Hrsg. v. Walther Killy. 15 Bde. Gütersloh, München 1988-1993 [Bd. 1-12: Autoren; Bd. 13-14: Begriffe]. Im ›Fachjargon‹: ›der Killy‹. Die zweite, überarbeitete Auflage erscheint ab 2008 unter der Herausgeberschaft von Wilhelm Kühlmann (nur noch als 12bändiges, um einen Registerband ergänztes Autorenlexikon). – Deutsches Literatur-Lexikon [DLL]. Biographisch-bibliographisches Handbuch. Begründet von Wilhelm Kosch. Hrsg. v. Heinz Rupp und Carl Ludwig Lang. 3., völlig neu bearbeitete Auflage Bern 1999ff. – Deutsches Literatur-Lexikon – das 20. Jahrhundert [DLL-20. Jh.] Biographisch-bibliographisches Handbuch. Begründet von Wilhelm Kosch […]. Bern, Mün-chen 2000ff. – Metzler Autoren-Lexikon. Hrsg. v. Bernd Lutz. Stuttgart 21994. – Lexikon der Weltliteratur. Bd. 1: Deutsche Autoren A-Z. Hrsg. v. Gero von Wilpert. 4., vollständig neu bearbeitete Auf-lage Stuttgart 2004. – Deutsche Dichter. Hrsg. v. Gunter E. Grimm, Frank Rainer Max. Stuttgart 21995.* – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur [KLG]. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. Loseblattsammlung und CD-ROM. München 1983ff. 2.4 Werklexika

Dort findet man: Inhaltsangaben mit mehr oder weniger weit reichender Interpretation. – Kindlers Neues Literatur Lexikon [KNLL]. Hrsg. v. Walter Jens. 20 Bde. München 1988-1992. – Reclams Roman Lexikon. Hrsg. v. Frank Rainer Max, Christine Ruhrberg. Stuttgart 2000.* Tipps zum wissenschaftlichen Arbeiten, Recherchieren, Zitieren, Verfassen einer Mitschrift,

Merken: Allgemeine Lexika wie Brockhaus Enzyklopädie, Meyers enzyklopädisches Lexikon oder die Internet-Enzyklopädie Wikipedia sind in literaturwissenschaftlichen Arbeiten nicht zitierfähig und enthalten in den jeweiligen Artikeln meist auch zu wenig fachspezifische In-formationen (vergleichen Sie einmal den Artikel zu z.B. Gottfried Keller im Brockhaus und im Killy Literatur Lexikon!).

7

eines Referats, einer Hausarbeit usw. findet man z.B. in folgenden arbeitspraktischen Ein-führungen: ■ Moenninghoff, Burkhard/Meyer-Krentler, Eckhardt: Arbeitstechniken Literaturwissenschaft. München 92001 (UTB).* ■ Jeßing, Benedikt: Arbeitstechniken des literaturwissenschaftlichen Studiums. Stuttgart 2001 (RUB 17631). Über die verschiedenen Möglichkeiten des Bibliographierens mit Hilfe von Bibliographien, Fachlexika, Literaturgeschichten, Archiven, literarischen Gesellschaften usw. informiert sehr ausführlich: ■ Blinn, Hansjürgen: Informationshandbuch Deutsche Literaturwissenschaft. 4. völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Auflage. Mit Internet- und CD-ROM-Recherche. Frankfurt/M. 2001.* * Anschaffung empfohlen (und finanzierbar!) für den heimischen Handapparat ► Lerntipp: Führen Sie einen Lexikonvergleich durch, indem Sie - einen Fachterminus wie z.B. ›Bildungsroman‹, - einen Epochenbegriff wie z.B. ›Romantik‹ - einen Autornamen aus dem 19. Jahrhundert wie z.B. Gottfried Keller - einen Autornamen aus der Zeit nach 1945 wie z.B. Peter Handke in verschiedenen Nachschlagewerken suchen und nachvollziehen, wo sie eher kurze, wo sie eher ausführliche oder wo und warum sie keine Informationen zu Ihrem Suchbegriff erhalten! Schauen Sie dabei z.B. in: - das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft - das von Walther Killy herausgegebene Literatur Lexikon - das Metzler Literatur Lexikon - das von Gero von Wilpert verfasste Sachwörterbuch der Literatur - das Kritische Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur - das Deutsche Literatur-Lexikon sowie vergleichend in die Allgemeinen Enzyklopädien (Brockhaus, Meyer).

8

3. Textkritik und Editionstechnik Wer Aussagen über Texte trifft, muss sich darauf verlassen können, dass er den Text in ei-ner möglichst ›authentischen‹ Version vor sich hat. Unter einem authentischen Text versteht man einen solchen, den der Autor selbst abgefasst hat, von dem also eine handschriftliche Fassung, ein Autograph vorliegt, oder dessen schriftliche Fixierung vom Autor überwacht wurde (etwa bei Diktaten, die z.B. Goethe im Alter oft anwandte). Aber auch Druckfassun-gen, die der Autor selbst betreut (›autorisiert‹) hat, gelten als authentisch. Ein authentischer Text darf keinerlei Elemente enthalten, die vom Herausgeber, vom Drucker, vom Korrektor stammen, ohne als nicht autorisierte Zusätze kenntlich gemacht worden zu sein. Editionstechnische Fragen werden dann besonders relevant, wenn entweder schwer zu ent-scheiden ist, welche Fassung eines Textes am ehesten ›authentisch‹ ist oder wenn mehrere Versionen existieren, die jeweils in gleichem Maße auf den Autor zurückgehen (● z.B. eine frühe Fassung und eine spätere Fassung, wie bei Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther [1774/1787]). Im zweiten Fall muss der Herausgeber (Editor) entscheiden, welche Fassung er seinen Lesern in der von ihm verantworteten Edition vollständig präsentieren will und wie er zugleich über die Abweichungen in den späteren Versionen informieren kann (siehe unter Apparat, Apparatgestaltung) – denn jede autorisierte Variante kann ja das Text-verständnis und damit die Interpretation beeinflussen! Deshalb sollte sich ein Literaturwis-senschaftler in seinen Interpretationen nach Möglichkeit auf sog. ›historisch-kritische‹ Werk-ausgaben (s. 3.3) beziehen, denn nur dort ist die Sicherheit gegeben, dass die Textüberliefe-rung mit maximaler Sorgfalt geprüft wurde und der Leser sich über alle Fassungen, Entste-hungsvarianten usw. informieren kann. 3.1 Wichtige Begriffe der Editionstechnik (Auswahl) – Überlieferungslage Die Überlieferungslage bezeichnet die Gesamtheit der als Überlieferungsträger (oder Text-zeugen) bezeichneten Handschriften, Abschriften, Drucke, die zu einem Werk überliefert (tradiert) sind. – Textgenese Unter der Textgenese versteht man den Prozess der Werkentstehung von der ersten Notiz bis zur späteren Druckfassung. Die Rekonstruktion der Textgenese ermöglicht einen ›Blick in die Werkstatt‹ des Autors. – Textkritik Kritische Überprüfung eines Textes mit dem Ziel, die Texttradierung und die Textgenese auf-zuzeigen; die Textkritik dient der Rekonstruktion eines möglichst authentischen Textes durch die Prüfung sämtlicher vorhandener Überlieferungsträger, um die Intentionen des Autors dokumentieren zu können und eine zuverlässige Edition überhaupt erst zu ermöglichen. Ihre Methoden und Ziele sind unterschiedlich, je nachdem ob ein ›Original‹ noch zur Verfügung steht (das ist bei Texten aus der Antike und dem Mittelalter meistens nicht der Fall!) oder ob eine oder mehrere authentische Textfassungen vorliegen (bei neueren Autoren die Regel). – Emendation (lat.: emendare = berichtigen, verbessern) Verbesserung offensichtlicher Rechtschreib- oder Druckfehler. – Konjekturalkritik (Konjektur) (lat.: coniectura = Vermutung) Verbesserungen eines Textes, die der Herausgeber dort vor-nimmt, wo er eine Verfälschung und Unechtheit des Textzeugen gegenüber dem zugrunde liegenden (verlorenen) Original vermutet. Das kommt z.B. vor, wenn eine Textstelle in Stil, Reimschema, Wortsinn, Satzbau usw. nicht zum übrigen Text zu passen scheint. Bei Text-

9

verderbnis versucht der Editor, den ursprünglichen Wortlaut sinnvoll zu rekonstruieren; be-sonders relevant bei antiken und mittelalterlichen Texten. – Kontamination (lat.: contaminare = durch Vermischung verderben) Verschmelzung mehrerer gleichzeitig nebeneinander als Vorlage benutzter Textträger zu einem neuen Text, mit dem Ziel, eine Textfassung herzustellen, die dem Originaltext mög-lichst nahe kommt. Bei der Edition antiker und mittelalterlicher Texte sind Kontaminationen häufig unerlässlich, bei der Edition neuerer Texte ist das Verfahren heute streng verpönt. – Variante Abweichung des Textes (des Wortlautes) in einem literarischen Text, wie sie innerhalb eines oder mehrerer Überlieferungsträger zu finden ist. Es ist eine objektiv feststellbare Textände-rung. Man unterscheidet: - Entstehungsvariante (Autorvariante) Textänderung während der Textgenese. Es sind in der Regel primäre Varianten, d.h. vom Autor selbst durchgeführte Änderungen. - Überlieferungsvariante (Fremdvariante) Textänderung während der Überlieferungsgeschichte. Es sind in der Regel sekundäre Va-rianten, d.h. Änderungen durch fremde Hände, wie z.B. Schreiber oder Redakteure. – Lemma Als Lemma bezeichnet man den Teil des edierten Textes, zu dem es Varianten gibt und der im Apparat als Zuordnungshilfe wiederholt wird. – Lemmazeichen Trennzeichen zwischen Lemma und Varianten, das als nach links geöffnete, eckige Klammer dargestellt wird: ]. – Sigle Feststehendes Abkürzungszeichen für ein Wort, eine Silbe oder einen Begriff. Bei jüngeren Autoren sind die Siglen für die Textgenese konventionalisiert. Stehen sie bei mittelalterlichen Texten in der Regel für den Fundort einer Fassung (z.B. entspricht D bei Eilharts von Oberg Tristrant und Isalde der Dresdner Handschrift von 1433), so bezeichnen sie in der neueren Literatur die Arten von Überlieferungsträgern: H: eigenhändige Handschrift (Skizzen, Entwürfe, Niederschriften, Reinschrift; heute auch

Typoskript oder Diskettenfassung) h: nicht eigene, d.h. fremde Handschrift (autorisierte Abschriften oder Diktate, autor-

fremde Abschriften) J: Druck (bzw. erschienen) in einem regelmäßig erscheinenden Publikationsorgan (Pe-

riodikum bzw. Journal) D: Druck (aktiv/passiv) autorisierte Drucke, Doppeldrucke, Raubdrucke, Titelauflagen S: Abdruck des Textes innerhalb der (gesammelten) Schriften des Autors 3.2 Apparat und Apparatgestaltung – Apparat / kritischer Apparat Umfasst alle nicht im Textteil einer kritischen Ausgabe gebotenen Hilfsmittel zum Werkver-ständnis (Editortext, d.h. alle wissenschaftlichen Zugaben zu einer Edition, z.B. Wort- und Sacherklärungen, Kommentar, Erläuterungen, Anmerkungen, Literaturhinweise, Notationen textkritischer Art) und den im Textteil wiedergegebenen Autortext, welcher die Varian-ten/Lesarten eines Werkes dokumentiert. Er soll zudem die Werkgenese bzw. die Überliefe-rungsgeschichte eines Werkes darstellen.

10

– Variantenapparat Verzeichnet die objektiv feststellbare Änderung einer Textstelle im Laufe der Texttradierung, d.h. der Entstehungs- bzw. Überlieferungsgeschichte (Entstehungsvarianten gehen auf den Autor selbst zurück, Überlieferungsvarianten ergeben sich z.B. durch Schreiber). Im folgenden Beispiel wird die Fassung B zuerst in Form eines positiven, dann in Form ei-nes negativen Apparates nachgewiesen. Text A: Er konnte es nicht glauben, daß diese wunderbare, zauberhafte Frau ihn begehrte. Text B: Er konnte es nicht begreifen, dass die wunderbare, engelsgleiche Gestalt ihn liebte.

Positiver Apparat (= lemmatisierter Apparat) Apparatform, die mit der Zuordnungshilfe des Lemmas nur die variierenden Textstellen und Textträger angibt. 1 glauben] begreifen B; daß diese] dass die B; zauberhafte Frau] engelsgleiche Gestalt B; begehrte] liebte B

1 = Positionsangabe (z.B. Zeile oder Seite) glauben = Lemma ] = Lemmazeichen begreifen = Variante B = Sigle (= Abkürzungszeichen für Überlieferungsträger,

häufig z.B. H für „eigenhändige Handschrift“, D für „Druck“)

Negativer Apparat (= nichtlemmatisierter Apparat) Apparatform, die auf die Zuordnungshilfe des Lemmas verzichtet. Der negative Apparat ver-zeichnet auch invariante Textstellen und Textträger. 1 begreifen, dass die wunderbare, engelsgleiche Gestalt ihn liebte B

Synoptischer Apparat Apparatform, welche die Varianten in Zeilen-, Spalten- oder Seitenparallelisierung wieder-gibt. Er konnte es nicht glauben, daß diese wunderbare, zauberhafte Frau ihn begehrte. begreifen, dass die engelsgleiche Gestalt liebte 3.3 Ausgabentypen – editio princeps Erstausgabe. Erste selbständige Buchveröffentlichung eines literarischen Werkes. – Ausgabe letzter Hand Bezeichnung für die letzte vom Autor selbst redigierte (›einen [eingesandten] Text bearbei-ten, druckfertig machen‹) und überwachte Ausgabe seiner Werke, die die Texte in ihrer end-gültigen Gestalt bietet. – Historisch-kritische Ausgabe (HKA) Greift stets auf alle erhaltenen Textträger zurück und bietet einen daran kritisch überprüften Text. Anhand der Überlieferungsträger wird bei mittelalterlichen Autoren die Texttradierung, bei neueren Autoren die Textgenese (= Prozess der Werkentstehung) aufgezeigt. Sie um-fasst auf jeden Fall:

- den edierten Text

11

- ein Verzeichnis aller Textträger - ein Verzeichnis aller verwendeten Siglen - einen Variantenapparat/Lesartenapparat

Darüber hinaus kann bzw. sollte sie enthalten: - Wort- und Sacherklärungen - Dokumente zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte - ein Namen- und Sachregister

– Kritische Ausgabe Sie bietet einen kritisch überprüften Text und verzichtet häufig auf einen Variantenapparat, kann aber auch einen solchen enthalten. Dieser beschränkt sich aber nur auf ausgewählte Textträger und legt nur diese dem Variantenapparat zu Grunde. Die Form bzw. der Inhalt des Apparates gleicht grundsätzlich der/dem der historisch-kritischen Ausgabe. – Studienausgabe Ausgabe mit sorgfältig ediertem Text, greift meist auf den Text von kritischen oder historisch-kritischen Ausgaben zurück. Der Text wird oft orthographisch ›behutsam modernisiert‹ und richtet sich an breitere Leserkreise. In der Regel enthält sie auch Erläuterungen, Kommenta-re, eventuell auch Dokumente zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte sowie Literaturhin-weise. – Leseausgabe Ist für breiteste Leserschichten gedacht. Sie bietet den reinen Textabdruck ohne wissen-schaftliches Beiwerk, manchmal mit Nachwort, Wort- und Sacherklärungen versehen. ■ Bodo Plachta: Editionswissenschaft. Eine Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997 (RUB 17603). ► Lerntipp: Schauen Sie sich einmal sehr bewusst den kritischen Apparat an, den etwa die Weimarer Ausgabe der Werke Goethes oder die von Hans Zeller erarbeitete Historisch-kritische Aus-gabe der Gedichte Conrad Ferdinand Meyers bereit stellen!

12

4. Rhetorik 4.1 Was ist Rhetorik? Die Rhetorik (= Redekunst) ist die Lehre von der Fähigkeit, durch öffentliche Rede einen Standpunkt überzeugend zu vertreten und so Denken und Handeln anderer zu beeinflussen.

Exkurs: Zur Geschichte der Rhetorik Die Antike, in der die Rhetorik entstand, unterscheidet drei Situationen, in denen der Redner auf andere einzuwirken bestrebt ist: - die Rede vor Gericht (genus iudiciale oder iudicale) - die Rede vor einer politischen Körperschaft (genus deliberativum) - die Fest- oder Prunkrede auf eine Person (genus demonstrativum) Schon das 5. Jh. v. Chr. brachte die Professionalisierung der Rhetorik und die philosophi-sche Kritik an ihr. Die Sophisten erteilten gegen Bezahlung rhetorischen Unterricht; durch ihre Kunst könne man sogar »das schwächere Argument zum stärkeren machen«, warb Gorgias von Leontinoi. Gerade dies warf Platon der sophistischen Rhetorik vor: Sie setze Nützlichkeit und Opportunität an die Stelle von Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Kritik ist im Laufe der Jahrhunderte immer wieder an der Rhetorik geübt worden. Trotzdem blieb sie bis weit ins 18. Jh. hinein eine wichtige Disziplin. Grundlage des Rhetorik-Unterrichts bildeten die systematisierenden Werke des Aristoteles (Rhetorik), des Marcus Tullius Cicero (De oratore, Über den Redner) und des Quintilian (Institutio oratoria, Lehrbuch der Redekunst). Die Produktionsstadien der Rede Die Produktionsstadien der Rede sind die Schritte, die der Redner nacheinander zu vollzie-hen hat. Fünf Stationen müssen in einer festgelegten Folge ›abgearbeitet‹ werden: 1. inventio (Sammlung von Argumenten zum Thema) 2. dispositio (Anordnung der Argumente) 3. elocutio (sprachliche Ausgestaltung) 4. memoria (Auswendiglernen der Rede) 5. actio (Vortrag; auch pronuntiatio genannt) Für die dispositio und die elocutio gibt es eine Fülle von Regeln und Anweisungen. Die dispositio soll die Argumente in eine zweckmäßige Anordnung und Verteilung bringen, so dass sich am Ende eine Vier- bzw. Fünfteiligkeit der Rede ergibt: 1. exordium (Anfang, Einleitung) 2. narratio (anschauliche Schilderung des Sachverhalts) 3. argumentatio (Beweisführung) mit den beiden Teilen - probatio (werbende Bekräftigung der eigenen Position) und - refutatio (Widerlegung der gegnerischen Position) 4. peroratio, auch conclusio genannt (Redeschluss mit Zusammenfassung und Zuspitzung) Zentral für die elocutio ist der Begriff des aptum oder decorum (»das Angemessene«). Das aptum zielt auf Angemessenheit, Ausgewogenheit und Harmonie des sprachlichen Aus-drucks im Hinblick auf den Redner selbst, auf die Zuhörer und auf den Gegenstand der Re-de. Dabei unterscheidet man eine niedere (einfache, schlichte), eine mittlere und eine hohe (erhabene, sublime) Stillage. Die hohe Stillage ist angebracht, wo es um die Erregung star-ker Affekte geht; hier sind Verfremdungseffekte, rhetorische Tropen und Figuren (der sog. ornatus, Redeschmuck) am Platz.

13

■ Uwe Neumann: Rhetorik. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 1996, S. 219-233. ► Lerntipp: Achten Sie auf rhetorische Prinzipien im Alltag! Suchen Sie Analogien zwischen der Lehre der antiken Rhetorik (z.B. bezüglich der Arbeitsschritte des Redners) und Ihrem eigenen Vorgehen beim Schreiben eines Textes (früher beim Schulaufsatz, heute bei Referat und Hausarbeit). Lesen Sie Zeitungsartikel unter dem Aspekt, ob Aufbau und Argumentation mit den Kategorien der antiken Rhetorik zu erfassen sind! Hören Sie einem Redner genau zu und messen Sie ihn an den Ansprüchen und Verfahrensweisen der rhetorischen Lehre! 4.2 Rhetorische Tropen und Figuren Der Einsatz rhetorischer Tropen und Figuren (als ornatus, Redeschmuck) dient dazu, die Wirkung einer Rede bzw. eines Textes zu steigern, die Aufmerksamkeit des Zuhörers bzw. Lesers durch den gezielten Einsatz sprachlicher Besonderheiten zu fesseln. Einen Eindruck von der Fülle rhetorischer Tropen und Figuren, die bereits die antike Rhetorik entwickelt und systematisiert hat, geben u.a. ■ Gert Ueding/Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode. Stuttgart, Weimar 31994, bes. S. 283-328. ■ Clemens Ottmers: Rhetorik. Stuttgart 1996. Dort – und unter den jeweiligen Stichworten im Metzler Literatur Lexikon – sollten Zweifels-fälle nachgelesen werden. Im Folgenden werden die bekanntesten und wichtigsten Tropen und Figuren definiert, die man in Texten erkennen können sollte. Was sind rhetorische Tropen? Tropen sind sprachliche Ausdrucksmittel der uneigentlichen Rede, Wörter oder Wendungen, die im übertragenen oder bildlichen Sinne gebraucht werden (z.B. »Blüte« für Jugend). Es besteht ein semantischer Unterschied zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten, zwi-schen Zeichen und Bedeutung. Tropen dienten ursprünglich der Veranschaulichung von Sachverhalten. 4.2.1 Tropen im Umkreis der Metapher – Der Vergleich Der Vergleich gehört zu den am häufigsten eingesetzten rhetorischen Mitteln. Er soll im Ge-genüber von Bild und Gegenbild die Anschaulichkeit erhöhen, eine verdeutlichende Analogie herstellen. Konstitutiv für einen Vergleich sind Vergleichspartikel (»wie«) oder Verben des Gleichens sowie das ausgesprochene oder unausgesprochene tertium comparationis (das ›gemeinsame Dritte‹, der Vergleichs- oder Berührungspunkt zwischen den beiden Analogie-sphären). Rhetorisch-stilistisch weniger interessant ist der bildlose Vergleich (● Beispiele: »Der Platz ist so groß wie zehn Fußballfelder«; »Der Sohn ist klug wie sein Vater«); wichtiger ist der uneigentliche (bildhafte, tropische) Vergleich, bei dem eine kategoriale Verschieden-heit der verglichenen Bereiche vorliegt (● Beispiele: »Mein Gemüt brennt heiß wie Kohle«; »Du bist wie eine Blume«). Zwischen dem (tropischen) Vergleich und der Metapher (s.u.) besteht ein gewisses Ver-wandtschaftsverhältnis. Der antike Rhetoriker Quintilian hat die Metapher als verkürzten Vergleich gedeutet, bei dem lediglich die Vergleichspartikel weggefallen sei (● Beispiel: aus dem Vergleich »Ihr Haar ist wie Gold« wird die Metapher »das Gold ihrer Haare«). – Die Metapher Das eigentlich gemeinte Wort wird ersetzt durch ein anderes, das eine sachliche oder ge-dankliche Ähnlichkeit oder dieselbe Bildstruktur aufweist, ● z.B. »Quelle« für »Ursache«. Die Sprache springt dabei gleichsam von einem Vorstellungsbereich in einen anderen über (Sprungtropus). Voraussetzung für das ›Funktionieren‹ einer Metapher ist üblicherweise ein (unausgesprochenes) tertium comparationis (s. auch unter Vergleich): Die metaphorische

14

Formulierung »Achill war ein Löwe in der Schlacht« basiert auf dem tertium comparationis der Stärke und des Mutes, die Achill und der Löwe gemeinsam haben. Sieht man von den mehr oder weniger unbewussten, verblassten und lexikalisierten Meta-phern der Alltagssprache (● Beispiele: Stuhlbein, Redefluss, Wissensdurst) ab, so werden in der Literaturwissenschaft häufig folgende Arten der Metapher unterschieden: - Adjektivmetapher (● Beispiele: »spitze Bemerkung«, »flammender Zorn«) - Genitivmetapher (● Beispiel: »des Wahnsinns sanfte Flügel«, Trakl) - Kühne oder absolute Metapher, bei der das tertium comparationis kaum mehr zu erken-nen ist (● Beispiel: »schwarze Milch der Frühe«, Celan); geht das tertium comparationis ganz verloren (›Analogiedefekt‹) spricht man auch von einer Chiffre (frz. Geheimzeichen; ● Beispiel: »Diese Musik, ein Sternträger schwieliger Schwärze, wird uns noch lange verfol-gen«, Celan). – Die Personifikation Abstrakte Begriffe (Liebe, Tod usw.), Kollektiva (Länder, Städte), Naturerscheinungen (Flüs-se, Regen usw.), Tiere oder leblose Dinge, Konkreta werden als handelnde und redende menschliche Gestalten dargestellt (Anthropomorphismus) ● z.B. als »Frau Welt«, »Gevatter Tod« oder erhalten Züge des Menschlichen ● z.B. »Die Sonne lacht«, »Gelassen stieg die Nacht ans Land« (Mörike). – Die Allegorie In der rhetorischen Tradition wird die Allegorie vielfach als fortgesetzte Metapher (metaphora continuata) definiert. Zur Metapher bestehen allerdings auch deutliche Unterschiede: Wäh‐rend ein metaphorischer Ausdruck  rein wörtlich verstanden  i.d.R. keinen Sinn ergibt, erscheint bei der Allegorie auch das rein wörtliche Verständnis sinnhaft. Bei einem allegorischen Text  lassen sich immer zwei Bedeutungsebenen, eine wörtliche (sensus  litteralis) und eine allegorische (sensus alle‐goricus), voneinander abgrenzen. Eine große Rolle spielt die Allegorie  in den Textgattungen Parabel und Gleichnis, aber auch in Fabeln und Dramen. Man unterscheidet insbesondere zwischen Begriffs‐ und Geschehensallegorien:  - Eine Begriffsallegorie veranschaulicht einen Begriff durch ein rational fassbares Bild (● z.B. Staat als Schiff). Eine literar‐ und kunsthistorisch wichtige Sonderform der Begriffsallegorie ist die allegorische Personifikation,  in der ein Abstraktum  in menschlicher Gestalt dargestellt wird  (● z.B. Darstellung der Gerechtigkeit als Frau mit Waage und verbundenen Augen). - Eine Geschehensallegorie veranschaulicht einen abstrakten Vorstellungskomplex oder ein Begriffs‐feld durch eine Bild‐ oder Handlungsfolge, ● z.B. Widerstreit von Tugend und Laster als Kampf ver‐schiedener Lebewesen. – Das Symbol Sinnbildhaftes Zeichen, das über sich auf Ideen, geistige Zusammenhänge hinausweist; nach Goethe im Besonderen das Allgemeine ahnen lässt, ohne es zu nennen. Oft liegt eine Pars-pro-toto-Relation zugrunde, der besondere Fall eines allgemeinen Phänomens gewinnt ›symbolische‹ Bedeutung. Während es im politischen oder religiösen Bereich Symbole gibt, deren Bedeutung festgelegt ist (● Beispiele: Kreuz, Taube, Ring), kann in der Literatur alles zum Symbol werden (Person, Gegenstände, Farben usw.) und im Gegensatz zur deutlich festgelegten Allegorie mehrdeutig sein: ● z.B. die Schaukel in Fontanes Effi Briest, das Schloss in Kafkas gleichnamigem Roman. – Die Synästhesie (griech.: Zusammenempfinden) Metaphorischer Ausdruck, der Wahrnehmungen verschiedener Sinnesorgane miteinander vermischt. ● Beispiele: »vom Licht berührt werden« (visuell-taktil) oder »golden weh’n die Töne nieder« (akustisch-visuell).

15

– Die Katachrese (griech.: Missbrauch) Vermischung nicht zusammen passender Metaphern und Worte aus verschiedenen Berei-chen. Bildbruch, Stilblüte. ● Beispiel: »Er brachte ihn an den Rand des Bettelstabes« (Hier: Vermischung zweier Re-densarten: ›Jemanden an den Bettelstab bringen‹ und ›Jemanden an den Rand des Ruins bringen‹). – Das Emblem, Plural Emblemata Das Emblem, eine Art barockes Gesamtkunstwerk, ist immer dreiteilig: Es ist eine Textsorte, die Text und Bild miteinander verknüpft. Dabei weist es eine Überschrift auf (inscriptio), ein Bild (pictura) und einen darunter stehenden Text (subscriptio), der den Zusammenhang zwi-schen Bild und Text erhellt. ● Beispiel: Das Vanitas-Symbol des Totenschädels als Bildteil eines Emblems. Die Überset-zung der inscriptio über der pictura lautet: »Aus dem Höchsten das Geringste«, die der subscriptio: »Dies sind die Überreste des Tempels, in welchem / Das lebendige Bild Gottes gewesen sein soll. / Dies ist auch die Ruine jenes Hauses, / In dem die Vernunft einst resi-dierte. / Und nun ist es das schreckliche Bild des Todes. / Ein luftiges Haupt ohne Hirn.«

■ Eine Vielzahl barocker Embleme dokumentiert der Band von Arthur Henkel und Albrecht Schöne: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967 u.ö., Taschenausgabe 1996. 4.2.2 Tropen der Indirektheit – Die Periphrase (griech.: Umschreibung, Drumherumreden) Ersetzung des eigentlich Gemeinten durch ein Zusammenstellen von Angaben (Attributen), die die Substanz und Merkmale der Sache zum Inhalt haben. ● Beispiel: »Jenes höhere Wesen, das wir verehren« (= Gott); »Urheber meines Lebens« (= Eltern). – Die Antonomasie (griech.: Gegenbenennung) Wechselseitige Ersetzung von Namen und Begriffen; Eigennamen können durch besondere Merkmale umschrieben werden (● Beispiele: »der Korse« für Napoleon, »die Göttliche« für Greta Garbo) oder ein Merkmal kann durch den Eigennamen eines typischen Vertreters um-schrieben werden (● Beispiele: »ein Judas« für Verräter, »ein Casanova« für Frauenheld).

16

– Die Metonymie (griech.: Umbenennung) Die Ersetzung des eigentlich gemeinten Ausdrucks durch einen anderen, der zu ihm in realer (zeitlicher, räumlicher, ursächlicher) Beziehung steht. (Fließende) Grenze zur Synekdoche: Die Synekdoche bleibt im gleichen Begriffsfeld (insbe-sondere wenn die Beziehung unter einem erweiterten Gesichtspunkt auch als eine von Teil und Ganzem verstanden werden kann, ist die Überschneidung zur Synekdoche gegeben). (Fließende) Grenze zur Metapher: Die Metapher springt in eine andere Bildsphäre. Je nach Art des Zusammenhanges kann man verschiedene Typen der Metonymie unter-scheiden: Es steht - der Urheber statt des Erzeugnisses (● Beispiele: ›vom Bauern leben‹, ›Porsche fahren‹), - ein Raum oder ein Gefäß statt des Inhalts (● Beispiel: ›ein Glas trinken‹), - ein Ort für dortige Institutionen (● Beispiel: ›Berlin meldet: ...‹) oder - die Ursache statt der Wirkung (● Beispiel: ›Hüte deine Zunge!‹) – Die Synekdoche (griech.: Mitverstehen; Betonung auf der letzten Silbe) Ersetzung des eigentlichen Begriffes durch einen zu seinem Bedeutungsfeld gehörenden engeren oder weiteren Begriff. Man unterscheidet zwei Formen: - totum pro parte (generalisierende Synekdoche): der semantisch engere Ausdruck wird durch einen semantisch weiteren ersetzt (● Beispiel: ›Deutschland wurde 1990 Weltmeister‹) - pars pro toto (partikularisierende Synekdoche): der semantisch weitere Ausdruck wird durch einen semantisch engeren ersetzt (● Beispiele: ›Ich kehre an den eigenen Herd zu-rück‹, ›Herd‹ für ›Haus‹; ›Brot für die Welt‹, ›Brot‹ für ›Nahrung‹). – Die Hyperbel (griech.: Übermaß) Extreme, im wörtlichen Sinne oft unglaubwürdige oder unmögliche Übertreibung. ● Beispiele: Eine Ewigkeit warten; im Schneckentempo; blitzschnell. Was sind rhetorische Figuren? Rhetorische Figuren organisieren die Stellung und Beziehung von Wörtern zueinander. Sie-dienen der rhetorischen Ausschmückung, außerdem der Verdeutlichung, Veranschaulichung und Verlebendigung einer sprachlichen Aussage durch syntaktische Besonderheiten. Dabei verändern sie den gemeinten, eigentlichen Wortlaut nicht. 4.2.3 Wiederholungsfiguren – Der Parallelismus (griech. parallelos: gleichlaufend) Wiederholung gleicher syntaktischer Strukturen. ● Beispiel: »Als ich noch Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte ich wie ein Kind, urteilte ich wie ein Kind« (1. Kor. 13,11). – Die Alliteration (Stabreim) Gleicher Anlaut aufeinander folgender Wörter. ● Beispiele: Land und Leute; Milch macht müde Männer munter. – Die Anapher (Anaphora) Wiederholung eines Wortes oder einer Wortgruppe zu Beginn aufeinander folgender Sätze, Satzteile, Verszeilen oder Strophen (Strophenanapher). ● Beispiel: »Wer nie sein Brot mit Tränen aß, / Wer nie die kummervollen Nächte…« (Goe-the). – Die Epipher (Epiphora) Wiederholung eines Wortes oder einer Wortgruppe am Ende aufeinander folgender Sätze (in der Versdichtung zugleich ein identischer Reim). ● Beispiel: »Doch alle Lust will Ewigkeit / will tiefe, tiefe Ewigkeit!« (Nietzsche)

17

– Die Geminatio (lat. gemini: Zwillinge) Unmittelbare Wiederholung eines Satzteiles (Wort, Wortgruppe). Dabei kann weiter unter-schieden werden zwischen - der Wiederholung eines Einzelwortes (iteratio oder duplicatio) ● Beispiel: »Wehe, wehe, …« (Busch) - der Wiederholung einer Wortgruppe (repetitio) ● Beispiel: »Mein Vater, mein Vater...« (Goethe) – Die Epanalepsis Wiederholung eines oder mehrerer Wörter am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines Sat-zes/Verses, d.h. Wiederaufnahme eines Wortes oder Satzteiles innerhalb eines Sat-zes/Verses, jedoch nicht unmittelbar wie bei der Geminatio, sondern mit (nicht zu großem) Abstand. ● Beispiel: »Und atmete lang und atmete tief« (Schiller) – Die Anadiplose (Reduplicatio) Wiederholung des letzten Wortes oder der letzten Wortgruppe einer syntaktischen Einheit zu Beginn der nächsten syntaktischen Einheit. ● Beispiel: »Dies erledige ich heute, heute will ich es tun«.

– Der Kyklos (griech.: Kreis) Umrahmung, Umschließung eines Satzes, Verses durch Wiederholung des ersten Wortes (der ersten Wörter) am Ende in derselben Form oder flektiert. ● Beispiel: »Entbehren sollst du, sollst entbehren« (Goethe). 4.2.4 Kontrastfiguren – Die Antithese (griech.: Entgegensetzung) Gegenüberstellung zweier gegensätzlicher Begriffe oder Gedanken (als Satz-, Wortgruppen- oder Einzelwort-Antithese). Sie erscheint häufig als Parallelismus oder Chiasmus. ● Beispiele: »Der Tod, das ist die kühle Nacht, / Das Leben ist der schwüle Tag« (Heine); »Krieg und Frieden«. – Der Chiasmus Überkreuzstellung von syntaktisch oder semantisch einander entsprechenden Satzgliedern. Oft gebraucht, um Gegensätze zu verdeutlichen. ● Beispiel: »Die Kunst ist lang, und kurz ist unser Leben« (Goethe) – Das Paradoxon (griech.: das Unerwartete) Logischer Widerspruch durch Herstellung eines polaren oder widersprüchlichen Gegensat-zes zwischen zwei Satzteilen eines Satzes oder zwischen zwei Sätzen einer Satzfolge. ● Beispiel: »Wer sein Leben findet, der wird es verlieren« (Matth. 10,39). – Das Oxymoron (griech.: scharfsinnige Dummheit) Verbindung zweier sich gedanklich-logisch ausschließender Begriffe/Vorstellungen - zwischen Substantiv und Attribut (= contradictio in adiecto) ● Beispiele: wacher Schlaf, kalte Glut, beredtes Schweigen - zwischen den Teilen eines Kompositums ● Beispiel: traurigfroh - zwischen Verb und Adverb ● Beispiel: unschuldig verschuldet, stumm sprechen. – Die Klimax/die Antiklimax Mindestens dreiteilige Abfolge von Wörtern oder Wortgruppen, die eine deutliche Steigerung (Klimax; ● z.B. »Wie habe ich ihn nicht gebeten, gefleht, beschworen«, Lessing) oder Abstu-fung (Antiklimax, ● z.B. »Urahne, Großmutter, Mutter und Kind«, Schwab)

18

4.2.5 Wortschatzfiguren – Der Archaismus Bewusste Verwendung eines Ausdrucks, der nicht mehr zum aktiven Wortschatz gehört (● z.B. ›Antlitz‹ statt ›Gesicht‹) oder veraltete syntaktische Fügung (● z.B. Flexion: »Goethens Werk, das er in wenigen Tagen gedichtet, ward sofort aufgeführt«). Oft auch mit ironischer Intention. – Der Neologismus Auffällige sprachliche Neuschöpfung (durch Ableitung, Zusammensetzung, Übersetzung, Bedeutungsverlagerung u.a.). – Die Onomatopöie, Onomatopoesie Lautmalerei. Schallnachahmende Wortbildung nach dem Naturlaut oder Klang einer Sache. ● Beispiel: »Da pfeift es und geigt es und klinget und klirrt,/ Da ringelt’s und schleift es und rauschet und wirrt, / Da pispert’s und knistert’s und flistert’s und schwirrt« (Goethe). – Der Euphemismus Milderung, Verhüllung, Beschönigung (Höflichkeitsformeln), oft mit Ironie verbunden. ● Beispiele: ›Minuswachstum‹ (für Rezession), ›heimgehen‹ (für sterben). – Die Litotes (griech.: Schlichtheit) Hervorhebung eines Begriffs durch Verneinung seines Gegenteils. ● Beispiele: »keine leichte Aufgabe« (statt ›sehr schwierige Aufgabe‹); »nicht selten« (statt ›oft‹); »nicht übel« (für ›sehr gut‹). – Der Pleonasmus (griech.: Überfluss) Verdopplung einer Aussage durch Explikation des Implizierten. ● Beispiele: weißer Schimmel, alter Greis. – Die Tautologie Wiedergabe eines Begriffes durch zwei oder mehrere Wörter gleicher Bedeutung und Wor-tart (Synonyma). Meist in einer Zwillingsformel. Die zwei- oder mehrgliedrige Tautologie wird nicht immer scharf vom eingliedrigen, attributiven Pleonasmus unterschieden. ● Beispiele: Lug und Trug, ganz und gar, recht und billig, Art und Weise, Schloss und Riegel – Das Hendiadyoin (griech.: eins durch zwei) Wiedergabe eines Begriffes durch zwei mit ›und‹ verbundene, bedeutungsgleiche Wörter (in diesem Fall von der Tautologie nicht zu unterscheiden). ● Beispiele: immer und ewig, voll und ganz, bitten und flehen Ein Begriff wird durch zwei gleichwertige, mit ›und‹ verbundene Wörter (meist Substantive) ausgedrückt. (Beiordnung anstelle einer logisch richtigeren syntaktischen Unterordnung (et-wa Substantiv + Adjektiv- oder Genitivattribut). ● Beispiele: »mir leuchtet Glück und Stern« (für ›Glücksstern‹); »Wir opfern in Schalen und in Gold« (für ›in goldenen Schalen‹) 4.2.6 Wortspielfiguren Ein Wortspiel ist allgemein ein Spiel mit der Bedeutungsvariabilität, Vieldeutigkeit und Klang-vielfalt der Sprache. Man unterscheidet insbesondere: – Die Paronomasie (griech.: Wortumbildung) Wortspiel mit Wortbedeutungen durch Zusammenstellen von Wörtern desselben Stammes mit bestimmten Bedeutungsverschiebungen (● Beispiel: »Wer sich auf den verlässt, der ist

19

verlassen«) oder von Wörtern verschiedener Herkunft und Bedeutung, aber gleicher oder ähnlicher Lautung (● Beispiel: »zwischen Verlegenheit und Verlogenheit«, Karl Kraus). – Figura etymologica Sonderfall der Paronomasie: Verbindung zweier oder mehrerer Wörter des gleichen Stam-mes, ohne Bedeutungsverschiebungen. ● Beispiele: »betrogener Betrüger«, »Alles geht seinen Gang«, »schöne Spiele spiel’ ich mit dir«. – Das Polyptoton (griech.: Polys: viel; ptosis: Fall) Wiederholung desselben Wortes in verschiedenen Flexionsformen. ● Beispiele: »Das Sein des Seins ist kein Seiendes« (Martin Heidegger); »homo homini lu-pus« (Plautus).

4.2.7 Satzfiguren – Das Asyndeton (griech.: Unverbundenheit) Aneinanderreihung von mindestens drei koordinierten Gliedern ohne Bindewörter. Man kann weiter unterscheiden zwischen Einzelwort-Asyndeton (● Beispiel: »Veni, vidi, vici«, Caesar), Wortgruppen-Asyndeton und Satzteil-Asyndeton (● Beispiel: »Er zeigte mir, dass..., dass..., dass...«). – Das Polysyndeton (griech.: Vielverbundenheit) Reihung von mindestens drei syntaktisch parallelen Elementen, die durch die gleiche Kon-junktion miteinander verbunden sind. ● Beispiel: »Und es wallet und siedet und brauset und zischt« (Schiller) – Die Ellipse Auslassen eines Wortes oder mehrerer, wodurch das Verständnis aber nicht erschwert wird. ● Beispiele: »Warum so schnell?«, »Was nun?« – Das Zeugma (griech.: Zusammengefügtes) Zuordnung eines Satzgliedes (Wortes) zu zwei oder mehreren syntaktisch oder semantisch inkongruenten Satzteilen. Oft komische Wirkung. ● Beispiele: »Er saß ganze Nächte und Sessel durch« (Jean Paul); »Ich heiße Heinz Erhardt und Sie willkommen!« – Die Apostrophe Direkte Anrede von anwesenden Einzelpersonen (● Beispiel: Bundestagsreden), abwesen-den Personen (● Beispiel: historische Persönlichkeiten); Dingen (● Beispiel: »Augen, werdet Stein«) oder Kollektive (● Beispiel: »Oh Deutschland!«). – Die Emphase Nachdrückliche Betonung (zumeist nur eines sinnschweren Wortes) in der Rede. ● Beispiel: »Er ist ein Mensch!« (d.h. je nach Kontext: gut, edel usw. oder schwach, irrend). – Die Aposiopese (griech.: Verstummen) Bewusster Abbruch der Rede oder eines begonnenen Gedankens vor der entscheidenden Aussage. ● Beispiel: »Was, ich soll...?« (aus dem Kontext zu ergänzen: »meine Erbtante vergiftet ha-ben?«); »Euch werd ich!« – Der [oder das] Anakoluth (griech.: nicht folgerichtig) Satzbruch, Fügungsbruch (in grammatischer Konstruktion Stilfehler).

20

● Beispiel: »Korf erfindet eine Mittagszeitung, welche, wenn man sie gelesen hat, ist man satt« (Christian Morgenstern). – Die Akkumulation Worthäufung. Gehäufte Aneinanderreihung mehrerer Unterbegriffe anstelle des zusammen-fassenden Oberbegriffs, der auch mitgeliefert werden kann (im Beispiel: Krieg). ● Beispiel: »Ist was, das nicht durch Krieg, Schwert, Flamm und Spieß zerstört?« (Gryphius) – Die Hypallage (auch Enallage; griech.: Vertauschung; Betonung auf der letzten Silbe) Verschiebung der logischen Wortbeziehungen, besonders die Abweichung von der erwarte-ten Zuordnung eines Adjektivs. Dies wird zu einem anderen als dem semantisch passenden Substantiv gestellt (● Beispiel: »In baldiger Erwartung Ihrer Antwort« anstelle von »In Erwar-tung Ihrer baldigen Antwort«); gelegentlich kann auch ein unpassendes Adjektiv-Attribut statt eines passenden Genitiv-Attributs gesetzt werden (● Beispiel: »Der schuldige Scheitel« [Goethe] anstelle von ›Der Scheitel des Schuldigen‹). – Die Sentenz Knapp und treffend formulierter Sinn- oder Denkspruch im dichterischen Kontext. Leicht ein-prägsam aufgrund rhythmisch-klanglicher Merkmale. ● Beispiel: »Die Axt im Haus erspart den Zimmermann« (Schiller). ► Lerntipps: - Achten Sie auf rhetorische Tropen und Figuren in Gebrauchstexten, insbesondere in Wer-bespots und Werbeanzeigen! - Visualisieren Sie sich die Tropen und Figuren, indem Sie sie auf einem Blatt, mit Hilfe von Karteikarten oder am PC zu Gruppen zusammenstellen – Überbegriffe können z.B. sein: Wiederholung, Ersetzung, Abschwächung, Steigerung, Häufung, Wortverbindung, syntakti-sche Störung, semantische Störung.

21

5. Verslehre 5.1 ›Gebundene Rede‹ Auszug aus Horst J. Frank: Wie interpretiere ich ein Gedicht? Eine methodische Anleitung. Tübingen und Basel6 2003, S. 24f.: »Im Unterschied zur ungebundenen Rede, der wir uns in der Umgangssprache bedienen und die wir in Prosatexten lesen, hören und lesen wir Gedichte in der gebundenen Rede ih-rer Verse. Bewirkt wird diese Bindung der Wörter zu Versen meist durch ein Metrum (Ver-smaß), nämlich durch die Regelmäßigkeit in der Betonung der Silben. Nun hat jedes Wort schon seine natürliche Betonung (Wortakzent). Der Ton liegt im Deutschen bei zwei- und dreisilbigen Wörtern meist auf der ersten Silbe (dichten, dichterisch). Betont wird nämlich die Stammsilbe. Ihr vorausgehende Vorsilben bleiben ebenso wie Nachsilben tonlos (Ge-dicht, gedichtet). Verlangt nun das Metrum, wie meistens, dass betonte und unbetonte Sil-ben regelmäßig wechseln (alternieren), so muss der Dichter seine Worte so wählen oder anordnen, dass ihre natürliche Betonung diesem Wechsel auch entspricht: Wortakzent und Versakzent müssen übereinstimmen. […] Sprechen wir aber Verse nur gemäß diesem Wechsel von betonten und unbetonten Silben, so klingen sie leicht eintönig. Natürliches Sprechen nämlich betont bald stärker und bald schwächer in vielen Abstufungen; es hebt durch stärkere Betonung die sinntragenden Wörter des Satzes heraus. Das Metrum dagegen – als Grundmuster der Betonung – kennt nur das einfache Entweder-Oder: Eine Silbe wird entweder betont und ist eine so genannte Hebung, oder sie ist unbetont und eine so ge-nannte Senkung. Dem Anfänger bereitet die Erkennung des Metrums dann Schwierigkeiten, wenn er die Verse mit natürlichem Ausdruck spricht und sinngemäß in dem einen vielleicht drei, in dem anderen nur zwei Silben betont, während das Metrum tatsächlich stets vier He-bungen vorsieht. Durch absichtlich ausdrucksloses, ›leierndes‹ Sprechen findet man am leichtesten das Metrum heraus. Es ist das zugrunde liegende, gleich bleibende Betonungs-muster, das indes von Vers zu Vers durch Wortwahl, Satzbau und Stimmführung verschie-den ausgeführt wird. Der eigentümliche Reiz der Verssprache beruht in der geheimen Span-nung zwischen dem bindenden Gleichtakt des Metrums und dem freien Tonfall des redneri-schen Ausdrucks. ›Dichten heißt, in Ketten tanzen‹ (Nietzsche). Der Interpret muss die Ket-ten zeigen.« 5.2 Zur Notation Es gibt verschiedene Notationen als Möglichkeiten, Versmaße schematisch wiederzugeben. Wenn man (nach dem Vorbild von A. Heusler) für jede Silbe ein schrägliegendes Kreuz schreibt, so erhalten alle metrisch betonten Silben, also alle Hebungen, ein Akzentzeichen auf der Silbe bzw. dem Kreuz, während alle übrigen unbetonten Silben, also alle Senkungen ohne dieses Zeichen bleiben. Am PC ist das schwer zu realisieren; deshalb empfiehlt sich (nach dem Verfahren von U. Pretzel) eine Notation, bei der für jede betonte Silbe (Hebung) ein großes X und für jede unbetonte Silbe ein kleines x steht. Diese Notation wird im Folgen-den verwendet. Das Metrum ist am einfachsten zu ermitteln, wenn man zunächst für jeden Vers so viele Kreuze schreibt, wie er Silben hat (ganz wichtig: wer sich bei den Silben verzählt, muss scheitern). Dann kann man durch ›leierndes‹ Sprechen versuchen, die Hebungen herauszu-finden, um diese dann nachträglich (durch Akzentsetzung) von den Senkungen zu unter-scheiden. Anmerkung: Die antike Metrik unterschied nicht zwischen betonten und unbetonten, sondern zwischen langen und kurzen Silben (s.a. unter 5.4). Für diese setzte sie einen nach oben geöffneten Bogen und für jene einen waagerechten Strich. In Übertragung dieser Schreib-weise auf die deutsche Metrik bezeichnete man früher meist und heute noch gelegentlich Hebungen mit Strichen und Senkungen mit Bögen. Diese Notation ist nicht ›falsch‹, Puristen sähen sie aber gerne auf quantifizierende, d.h. Längen messende Verssysteme beschränkt.

22

5.3. Wichtige Begriffe der Verslehre – Schwebende Betonung/Tonbeugung: Der Begriff der Schwebenden Betonung meint die ausgleichende Akzentuierung (gleich star-ke Betonung) von Verspartien, in denen natürliche, sprachbedingte und metrische Betonung in Widerstreit stehen. Als bewusstes rhythmisches Kunstmittel eingesetzt um 1) einzelne gegen das Versmetrum gesetzte Wörter hervorzuheben oder 2) den Versgang zu beleben, da die totale Übereinstimmung von Wortton und metrischem Akzent auf die Dauer monoton wirken kann. ● Beispiel (Friedrich Hebbel: Herbstbild): Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah! Die Luft ist still, als atmete man kaum, Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah, Die schönsten Früchte ab von jedem Baum. […] Das Metrum des Gedichts ist ein fünfhebiger Jambus. Nach der metrischen Form wäre die erste Silbe »Dies« eine Senkung und die zweite »ist« eine Hebung, von der Bedeutung her muss jedoch »dies« betont werden. »Dies« wird also gegen das Schema besonders hervor-gehoben, es entsteht eine Spannung zwischen Wortakzent und Versakzent, die im Vortrag durch eine »schwebende Betonung« ausgeglichen werden kann. Die Unregelmäßigkeit un-terstreicht hier die Ergriffenheit des lyrischen Ichs und die Besonderheit des speziellen Herbsttages. In der metrischen Analyse darf man sich durch solche schwebenden Betonun-gen nicht verleiten lassen, das Grundmetrum zu verkennen: hier wie sonst auch gilt, dass man sich nicht an der Qualität einer Silbe aufhalten darf, sondern mehrere Verse durchskan-diert. Das ›metrische Umfeld‹ ist dann entscheidend. Die sog. Tonbeugung missachtet das metrische Schema noch deutlicher und ohne expressi-ve Absicht (im Wesentlichen nur in älterer deutscher Literatur: Meistersang, Kirchenlied u.a., oder als dichterische ›Fehlleistung‹). Die Begriffe Schwebende Betonung/Tonbeugung wer-den allerdings oft nicht exakt voneinander abgetrennt bzw. unterschiedlich definiert. – Die Zäsur Die Zäsur (von lat. caedere = hauen, einschneiden) ist ein Einschnitt im Versinnern (beim lauten Lesen als kleine Pause realisiert). Es gibt sowohl feststehende, verskonstituierende Zäsuren, wie beispielsweise die Mittelzäsur beim Alexandriner und beim Pentameter, als auch frei bewegliche Zäsuren, so im Blankvers und im Endecasillabo. In Gryphius’ Gedicht Es ist alles eitel wird die für den Alexandriner typische Zäsur (nach der dritten Hebung) im zweiten und dritten Vers der ersten Strophe besonders deutlich (und inhaltlich durch die Anti-these verstärkt): ● »Was dieser heute baut / reißt jener morgen ein: Wo itzund Städte stehn / wird eine Wiesen sein.« – Das Enjambement (frz.: Überschreitung) Wenn das Satzende nicht mit dem Versende zusammenfällt, sondern ein Satz- oder Sinnzu-sammenhang über die Versgrenze hinweg fortgeführt wird, spricht man von einem Enjam-bement bzw. Zeilensprung. Dadurch wird der auf Dauer eintönig wirkende Zeilenstil, bei dem Satz und Vers übereinstimmen, aufgebrochen und eine gleitende Struktur mit ungewöhnli-chen Akzenten erreicht. ● Beispiel (aus Hölderlins Abendphantasie): Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt Der Pflüger, dem Genügsamen raucht sein Herd. Gastfreundlich tönt dem Wanderer im Friedlichen Dorfe die Abendglocke. – Waise Reimlose Zeile.

23

5.4. Stationen der Versgeschichte Metrische Systeme sind sprachspezifisch und traditionsabhängig. In deutschen Versen herrscht das akzentuierende Versprinzip vor, weil die germanischen Sprachen generell durch starke Akzentuierung, also Hervorhebung der betonten und meist sinntragenden Sil-ben, gekennzeichnet ist. Demgegenüber bindet z.B. das Französische die Silben und Wörter sehr viel stärker aneinander, wodurch der Melodie des Satzes und des Verses eine viel grö-ßere Bedeutung zukommt als der Akzentuierung. Regelmäßigkeit in französischen und in-sgesamt in romanischen Versen wird daher zunächst durch eine festgelegte Zahl der Silben erreicht (silbenzählendes Versprinzip), die Verteilung der Hebungen und Senkungen bleibt frei. Die antike griechische Versdichtung unterliegt dagegen dem ›zeitmessenden‹ oder quantitierenden Versprinzip, für das die Unterscheidung zwischen langen und kurzen Sil-ben (also die zum Sprechen benötigte Dauer) konstitutiv ist; es entsteht dabei im Vortrag eine Art Sprechgesang. Die Übertragung fester Versmaße von der einen Sprache in die an-dere ist daher gar nicht so einfach, wenn zugleich das mit der ursprünglichen Sprache ver-bundene Versprinzip gewechselt wird; gerade das Experimentieren mit neuen, aus anderen Sprachen entnommenen Versbildungsformen ist aber für die Entwicklung einer lyrischen Sprache immer wieder sehr produktiv geworden.

Martin Opitz (1597-1639) Für die deutsche Lyrikgeschichte spielt die Versreform von Martin Opitz (Buch von der deut-schen Poeterey, 1624) eine wichtige Rolle: Opitz sieht vor, die Messung der Silbenlänge, die der antiken Metrik zugrunde liegt, durch eine akzentuierende Metrik zu ersetzen. Opitz ak-zeptiert nur die strenge Alternation von betonten und unbetonten Silben (also als Versfüße nur Jambus und Trochäus), macht den Endreim verpflichtend und schreibt die Silbenzahl vor. Damit hofft er, die deutsche Sprache als dem Lateinischen ebenbürtige Kunstsprache etablieren zu können.

Friedrich Gottlieb Klopstock (1724-1803) Im 18. Jahrhundert hebt Klopstock die festgeschriebene Silbenzahl und den Reimzwang auf. Von dem direkten Rückgriff auf die antiken Versformen verspricht er sich eine Erneuerung der deutschen Verssprache. Wie in der antiken Metrik baut er seine Verse allein nach Grö-ßen. Allerdings unterscheidet er nicht zwischen langen und kurzen Silben (silbenmessend, quantitierend), sondern zwischen schweren und leichten, also akzentuierend. So überträgt er antike Versmaße (wie etwa den Hexameter, einige Odenmaße und die ›Freien Rhythmen‹) auf die Gegebenheiten des Deutschen.

24

5.5. Metren (Versfüße)

Jambus xX 1. Silbe unbetont, 2. Silbe betont ●Beispiel: umsonst Trochäus Xx 1. Silbe betont, 2. Silbe unbetont ●Beispiel: Fenster Daktylus Xxx 1. Silbe betont, 2.+3. Silbe unbetont ●Beispiel: Daktylus Anapäst xxX 1.+2. Silbe unbetont, 3. Silbe betont ●Beispiel: Anapäst Spondeus XX 1.+2. Silbe betont ●Beispiel: Einhorn

5.6. Versschlüsse – Männliche und weibliche Kadenzen Den Versschluss bezeichnet man als Kadenz. Unterschieden werden männliche (stumpfe) und weibliche (klingende) Kadenzen: Eine männliche Kadenz ist einsilbig, der Vers endet mit einer Hebung (● Beispiel: Nacht – Wacht); die weibliche Kadenz ist zweisilbig und endet mit einer Senkung (● Beispiel: Blume – Ruhme). – Katalektisch/Akatalektisch/Hyperkatalektisch Als katalektisch (griech.: katalēktikos, vorher aufhörend) wird ein Vers bezeichnet, dessen letzter Versfuß unvollständig ist, also eine Silbe weniger trägt, als zu erwarten. ● Beispiel: »Der Du von dem Himmel bist« (XxXxXxX) – der letzte Trochäus ist um eine Senkung verkürzt. Beim akatalektischen (nicht vorher aufhörenden) Versschluss ist der letzte Versfuß voll-ständig ausgeführt. ● Beispiel: »Alles Leid und Schmerzen stillest« (XxXxXxXx) – alle vier Trochäen sind voll-ständig. Beim hyperkatalektischen Versschluss enthält der Vers über den letzten regelmäßig gefüll-ten Versfuß hinaus eine überzählige Silbe. ● Beispiel: »Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde!« (xXxXxXxXx) – auf die vier voll-ständigen jambischen Versfüße folgt eine überschüssige Senkung. 5.7 Der Reim 5.7.1 Reimfolgen – Paarreim (aabb) ● Beispiel: Aug, mein Aug, was sinkst du nieder? a Goldne Träume, kommt ihr wieder? a Weg, du Traum! so Gold du bist; b Hier auch Lieb und Leben ist. b (Goethe) – Kreuzreim (abab) ● Beispiel: Wende dich, du kleiner Stern, a Erde! wo ich lebe, b Daß mein Aug, der Sonne fern, a Sternenwärts sich hebe! b (Gottfried Keller) – Schweifreim (aab ccb) ● Beispiel: Nun ruhen alle Wälder, a Vieh, Menschen, Städt und Felder, a

25

Es schläft die ganze Welt; b Ihr aber meine Sinnen c Auf, auf, ihr sollt beginnen c Was eurem Schöpfer wohl gefällt. b (Paul Gerhardt) – umschließender, umarmender, umrahmender Reim (abba) ● Beispiel: Einsamer nie als im August: a Erfüllungsstunde –, im Gelände, b Die roten und die goldnen Brände, b Doch wo ist deiner Gärten Lust? a (Gottfried Benn)

5.7.2 Reimformen – Reiner Reim: Der reine Reim erfordert genauen Gleichklang in Vokal und Schlusskonsonant vom letzten betonten Vokal an. ● Beispiele: Raub – Staub / Matten – Schatten / Frühe – Mühe / nahm – kam – Unreiner Reim: Ungenauer oder unvollständiger Gleichklang entweder der Vokale oder der Schlusskonso-nanten; Unterschiede liegen ● z.B. in der Vokallänge (Hass – Maß), in der Lippenrundung (Blick – Glück), in der Stimmhaftigkeit der Konsonanten (kälter – Wälder) oder in der Klang-ähnlichkeit (statt Identität) der Konsonanten (geschwommen – begonnen). – Rührender Reim: Reime zwischen phonetisch völlig (also auch im Anlaut) gleichlautenden bedeutungsver-schiedenen (homophonen) Wörtern, d.h.Übereinstimmung auch der Vokale vor dem beton-ten Vokal ● Beispiele: wird – Wirt / Häute – heute / Weise – Waise – Identischer Reim: Wiederholung des gleichen Wortes. – Assonanz: Nur Vokale sind am Gleichklang beteiligt. ● Beispiel: weichen – ausgebreitet / Ritt – Tisch 5.8. Feste Versmaße (Verszeilen, Versformen) 5.8.1 Antike Versmaße Anmerkung: Antike Versmaße sind grundsätzlich ungereimt. Der Endreim wurde erst um 1000 n. Chr. eingeführt. – Der Hexameter Form Sechshebiger Langvers, in der Regel aus fünf Daktylen und einem abschließenden Tro-chäus. Im Deutschen besteht die Freiheit, die ersten vier Daktylen durch Trochäen zu ersetzen. Der fünfte Daktylus muss unverändert bleiben; der sechste Versfuß ist stets zum Trochäus verkürzt (daher ist der Hexameter immer katalektisch; die Schlussformel lautet immer: Xxx Xx). Minimum: 13 Silben, Maximum: 17 Silben

26

Metrisches Muster: Xx(x) Xx(x) Xx(x) Xx(x) Xxx Xx ● Beispiel: Der Anfang von Homers Odyssee in der Übertragung durch Johann Heinrich Voß (1781): »Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung.« Geschichte und Verwendung Der Hexameter ist der wichtigste antike Vers und der Grundvers des antiken Epos: Homers Ilias und Odyssee, die ersten schriftlich fixierten Heldenepen der Menschheit, stehen ebenso in Hexametern wie die einige Jahrhunderte später entstandene Aeneis von Vergil. Klopstock entdeckte den Hexameter für das deutsche Epos: in seinem Messias wird er zum Versmaß religiös-hymnischer Gesänge. Goethe popularisiert den Hexameter in Reineke Fuchs und Hermann und Dorothea. – Eine andere Verwendung des Hexameters ist die Kombination mit dem Pentameter zum Distichon (s. dort). – Der Pentameter (als deutsches Versmaß) Form Wie der Hexameter ist auch der Pentameter ein sechshebiger, überwiegend daktylischer Langvers (obwohl er, gemäß der in diesem Fall verwirrenden antiken Versfußzählung ›Fünf-fuß‹ heißt). Im Deutschen besteht die Freiheit, die ersten beiden Daktylen durch Trochäen zu ersetzen. Der dritte und der sechste Versfuß bestehen nur aus je einer Hebung (daher Vers-schluss immer männlich und katalektisch). Minimum: 12 Silben, Maximum: 14 Silben. Konstitutiv sind die feste Zäsur und der Hebungsprall (Aufeinandertreffen zweier betonter Silben) nach der 3. Hebung: Xx(x) Xx(x) X || Xxx Xxx X ● Beispiel: »Und so wurmt es mir [!] oft, daß ich nicht tugendhaft bin« (Schiller) Geschichte und Verwendung: Der Pentameter kommt fast ausschließlich zusammen mit dem Hexameter im elegischen Distichon vor (s. dort). – Der Jambische Trimeter Jambischer Sechsheber, mit stets männlicher Kadenz (daher stets akatalektisch). Ungereimt (wie alle antiken Versmaße) und ohne feste Zäsur (daher auch vom Alexandriner relativ leicht zu unterscheiden). xX xX xX xX xX xX ● Beispiel: Aus Schillers Trauerspiel Die Braut von Messina: »Das Recht des Herrschers üb’ ich aus zum letzten Mal« 5.8.2 Romanische Versmaße – Der Alexandriner Form Sechshebiger jambischer Vers (12 Silben bei männlichem und 13 Silben bei weiblichem Versschluss); feste Zäsur nach der 3. Hebung bzw. nach der 6. Silbe → zweischenkliger, meist antithetischer Aufbau; Reimvers (oft Paar- oder Kreuzreim): xX xX xX || xX xX xX (x) ● Beispiel:

27

»Was dieser heute baut / reißt jener morgen ein« (Gryphius). Geschichte und Verwendung Der Alexandriner ist benannt nach den französischen Alexanderepen und ist der Vers der klassischen französischen Tragödie. In Deutschland wurde er von Opitz eingeführt; bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ist er der wichtigste Vers der deutschen Versdichtung, besonders im barocken Sonett. – Der vers commun (frz.: allgemeiner Vers): Form Fünfhebiger jambischer Vers (10 Silben bei männlichem und 11 Silben bei weiblichem Vers-schluss); feste Zäsur nach der 2. Hebung bzw. nach der 4. Silbe; Reimvers: xX xX || xX xX xX (x) ● Beispiel: Aus Goethes Gedicht Mignon: »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, Im Dunkeln Laub die Goldorangen glühn, […]« Geschichte und Verwendung Der vers commun war in Frankreich neben dem Alexandriner die beliebteste Versart. In Deutschland von Opitz eingeführt, wurde er bald vom Alexandriner verdrängt und gegen En-de des 18. Jahrhunderts schließlich vom Endecasillabo und vom Blankvers abgelöst. Durch seine feste Zäsur kann er rasch monoton wirken. – Der Endecasillabo (Elfsilbler) Form Fünfhebiger jambischer Vers; in der strengen Form hat er 11 Silben und stets weibliche Ka-denzen (im Deutschen auch als Zehnsilbler mit männlicher Kadenz); Reimvers ohne feste Zäsur (Einschnitte nach der 4. oder 6. Silbe sind möglich, aber nicht obligatorisch): xX xX xX xX xX (x) ● Beispiel: Aus Venedig von August von Platen: »Venedig liegt nur noch im Land der Träume, Und wirft nur Schatten her aus alten Tagen, Es liegt der Leu der Republik erschlagen, Und öde feiern seines Kerkers Räume.« Geschichte und Verwendung Der Endecasillabo ist die italienische Entsprechung des vers commun und der Hauptvers der italienischen Dichtung (z.B. in Sonett, Terzine, Stanze). In Deutschland wird er seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts verwendet (u.a. bei Goethe, Wieland und den Romantikern, um 1900 bei Stefan George, Georg Heym, Trakl u.a.). Dass er im Deutschen auch als Zehnsilb-ler mit männlicher Kadenz auftritt, hängt mit der Armut des Deutschen an weiblichen Reimen zusammen.

5.8.3 Germanisch-deutsche Tradition – Der Blankvers Form Fünfhebiger jambischer Vers (10 Silben bei männlichem und 11 Silben bei weiblichem Vers-schluss); ohne Zäsur, ohne Reim (›blank‹, engl. = leer, hier gemeint: reimlos):

28

xX xX xX xX xX (x) ● Beispiel: Aus Schillers Wilhelm Tell: »Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, In keiner Not uns trennen und Gefahr.« Geschichte und Verwendung Der Blankvers ist ursprünglich die englische Adaption des vers communs; er findet sich u.a. in Shakespeares Dramen und in Miltons Epos Paradise lost. In Deutschland wurde der sehr modulationsfähige Vers auch aufgrund der Ablehnung des Reims während der Antike-Rezeption Mitte des 18. Jahrhunderts immer beliebter; Lessing verwendet ihn 1779 in Na-than der Weise, woraufhin der Blankvers zum Hauptvers des klassischen Dramas wird (Goe-the: Iphigenie auf Tauris, Torquato Tasso; Schiller: Maria Stuart, Wallenstein, Wilhelm Tell) – vor allem, weil er ein sehr flexibler und flüssiger Vers ist, der durch häufige Enjambements prosanah wirken kann, ohne dass die Stilisierung durch die metrische Abfolge ganz aufge-geben wäre. – Der Volksliedvers Form: Relativ freie Versform: Nur die Hebungszahl ist festgelegt – er ist entweder drei- oder vierhe-big; die Senkungsfüllung ist frei. Das Grundmetrum ist aber meist jambisch oder trochäisch. In der Regel sind Volksliedverse gereimt. ● Beispiel: »Da drob'n auf dem Berge, da wehet der Wind«. Geschichte und Verwendung: Der Volksliedvers ist für die mündliche Überlieferung und das Singen besonders geeignet. Durch Herder und insbesondere durch die Volkslied-Sammlung Des Knaben Wunderhorn, die Achim von Arnim und Clemens Brentano 1806-1808 herausgaben, wurden Volksliedvers und Volksliedstrophe wiederentdeckt und häufig auch literarisch nachgeahmt (v.a. in der Romantik). – Der Knittelvers Der strenge Knittelvers ist vierhebig und gereimt (oft Paarreim). Er alterniert strikt und nimmt viele Tonbeugungen in Kauf; das führt zu einer gewissen Holprigkeit. ● Beispiel: »Vor Jahren wohnt in eynem Walt Ein Waltbruder, von jaren alt, […]« Der freie Knittelvers versucht durch Füllungsfreiheit zwischen den vier Hebungen die Holp-rigkeit auszugleichen. ● Beispiel: Der Beginn von Goethes Faust I: »Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, Und leider auch Theologie Durchaus studiert, mit heißem Bemühn […]« Geschichte und Verwendung: Der ›strenge Knittelvers‹ wurde nur im 15. und 16. Jahrhundert gebraucht, am kunstvollsten von Hans Sachs. Nach der Opitzschen Versreform galt er als unbeholfen. Wiederentdeckt wurde der Knittelvers nur in der freien Form, im Zuge der durch Herder angeregten Rückbe-sinnung auf ältere deutsche Literaturformen. Der Beginn von Faust I ist der bekannteste Text

29

in Knittelversen; Goethe wählt das Metrum, um den Leser bzw. Zuhörer in die Gedankenwelt der frühen Neuzeit zurückzuversetzen. – Freie Rhythmen Die freien Rhythmen entstehen im Deutschland des 18. Jahrhunderts als Weiterentwicklung der antiken Odenmaße, von der Prosa durch Zeilenumbruch unterschieden. Sie sind stark rhythmisiert, in keiner Weise metrisch festgelegt und reimlos. ● Beispiel: Der Beginn von Klopstocks Ode Die Frühlingsfeyer (1759): »Nicht in den Ozean der Welten alle Will ich mich stürzen! schweben nicht, Wo die ersten Erschaffnen, die Jubelchöre der Söhne des Lichts, Anbeten, tief anbeten! und in Entzückung vergehn!« ► Lerntipps: - Merken sie sich zu jeder Versform ein Beispiel! Wer Schillers Distichon (siehe unter 6.4.1) im Kopf hat – am besten in einer nachdrücklich ›leiernden‹ Version – kann sich z.B. immer einen Hexameter und einen Pentameter rekonstruieren! - Fertigen Sie sich eine tabellarische Übersicht zu den Versmaßen an mit folgenden Spalten: Metrum, Hebungszahl, (feste) Zäsur, Reim, Kadenz, Herkunft, bevorzugte Gattung!

30

6. Lyrik Lyrik nach griech.: Lyra = Leier. Poetische Gattung, ursprünglich mit Lyra-Begleitung vorget-ragene Gesänge. Die Lyrik wurde erst im 18. Jh. als dritte Hauptgattung der Poesie (neben Epik und Dramatik) klassifiziert. 6.1 Minimaldefinition Ein Gedicht ist »eine mündliche oder schriftliche Rede in Versen, ist also durch zusätzliche Pausen bzw. Zeilenbrüche von der normalen rhythmischen oder graphischen Erscheinungs-form der Alltagssprache abgehoben« (Burdorf). Diese Minimaldefinition kann durch Eigenschaften ergänzt werden, die nicht bei jedem Ge-dicht zu beobachten sind, z.B.: - Deutliche Abweichung von der semantisch-syntaktischen Codierung der Alltagssprache (Vers, Rhythmus, Lautmalerei, unübliche Wortstellungen usw.) - Besonders verdichteter Wortgebrauch (Metaphern, Symbole usw.) → Vieldeutigkeit (Poly-valenz/Polysemie) der Aussage - Nähe zum Gesang (Strophengliederung, Wiederholungen, Refrain usw.) - Relative Kürze 6.2 Lyrik als subjektiver Ausdruck und Stimmung Als im 18. Jahrhundert die Lyrik als dritte Gattung neben Epik und Dramatik konzipiert wur-de, galt sie vor allem als die Gattung des unmittelbaren Ausdrucks menschlicher Empfindun-gen und Gefühle. Im 19. Jahrhundert wurde die so genannte ›Erlebnislyrik‹ des jungen Goethe (Sesenheimer Lieder [1771], z.B. Willkomm und Abschied) als Inbegriff von Lyrik überhaupt gesehen: Lyrik galt in erster Linie als Ausdruck von Selbsterlebtem und Selbstge-fühltem. Noch der Germanist Emil Staiger beschrieb Lyrik als irrationale Stimmungskunst des Fühlens und Ahnens (Grundbegriffe der Poetik, 1946). Damit wird allerdings eine histori-sche Ausprägung von Lyrik – nämlich die der klassisch-romantischen Epoche – absolut ge-setzt; andere Formen der Lyrik (z.B. gesellige Lyrik, Lehrgedichte, Anakreontik) werden demgegenüber zu Unrecht abgewertet. 6.3 Wer spricht das Gedicht? Gerade bei Gedichten ist die Bestimmung der Sprecherposition wichtig: Wenn sich ein ›Ich‹ zu Wort meldet, spricht man in der Analyse häufig vom so genannten ›lyrischen Ich‹, um die Unterscheidung vom realen Ich des Autors sicherzustellen. Der Begriff wurde von Margarete Susman 1910 geprägt und hat sich in der Literaturwissenschaft weitgehend durchgesetzt. Das ›lyrische Ich‹ meint nicht nur das Ich, das im Gedicht als Personalpronomen erkennbar ist, sondern in allen Gedichten (auch wenn ›ich‹, ›mein‹, ›mir‹, ›mich‹ usw. nicht auftauchen) das Aussagesubjekt des jeweiligen lyrischen Textes. Mit dem realen Ich des Autors ist es prinzipiell nicht gleichzusetzen; das lyrische Ich ist immer das besondere Ich eines speziellen Gedichtes und damit auch nicht identisch mit dem ›Ich‹ anderer Gedichte desselben Autors. Susman unterschied zwischen ›lyrischem Ich‹ und ›empirischem Ich‹: Das lyrische Ich sei »kein Ich im real empirischen Sinne«, sondern »Ausdruck« und objektive »Form eines Ich«, die der Dichter »aus seinem gegebenen Ich erschafft«, während er zugleich sein empiri-sches Ich in der höheren formalen Einheit des Kunstwerks vernichtet. Die spätere Literatur-wissenschaft hat das lyrische Ich auch als eine ›Leerstelle‹ betrachtet, die vom Leser in einer identifizierenden Probehandlung besetzt werden kann: Das ›überindividuelle‹ lyrische Ich wird dann von jedem Leser und jeder Leserin neu gefüllt – eine typische Betrachtungsweise der Rezeptionsästhetik, die sich vor allem für den Prozess des Lesens interessiert. Ein so genanntes Rollengedicht liegt vor, wenn das ›Ich‹ eines Gedichtes aus einer be-stimmten Rolle heraus spricht, die meist schon durch den Titel festgelegt wird. Häufig be-

31

zieht sich die ›Rolle‹ auf einen bestimmten Typus (Wanderer, Hirte, Schäfer, Jäger usw.) oder auf eine mythologische Figur. ● Beispiele für Rollengedichte: Goethe: Prometheus, Der Zauberlehrling, Wanderers Nachtlied, Künstlers Morgenlied; Hei-ne: Lied der Gefangenen, Die schlesischen Weber; Brentano: Der Spinnerin Lied; Mörike: Das verlassene Mägdlein. 6.4. Strophen- und Gedichtformen Strophen sind Versgruppen, die formal in Verszahl, Versmaß und Reimordnung (weitge-hend) übereinstimmen. Für die Lyrik der Gegenwart ist diese Norm allerdings nicht mehr verbindlich. Bei Gedichtformen ist die gesamte Struktur des Gedichtes fest vorgegeben (et-wa beim Sonett). 6.4.1 Strophenformen antiker Herkunft – Die Ode Oden zeichnen sich durch Feierlichkeit und Erhabenheit aus; da sie aus der antiken Traditi-on stammen, weisen sie üblicherweise keinen Endreim auf. Sie können einem festen Metrum folgen, müssen aber nicht. Passend zur Würde und Größe des behandelten Themas wird meist ein hoher, pathetischer Sprachstil verwendet. Die wichtigsten Odendichter der deut-schen Literatur sind Klopstock und Hölderlin; der Begriff ›Hymne‹ wird heute weitgehend synonym mit ›Ode‹ verwendet. Zu den ältesten festen Strophenformen gehören die Oden der altgriechischen Lyriker Alkaios (um 660 v. Chr.), Asklepiades (um 300 v. Chr.) und der Lyrikerin Sappho (um 600 v. Chr.); nach ihnen sind die Formen der alkäischen, der asklepiadeischen und der sapphischen Ode benannt (genaueres ist bei Bedarf nachzuschlagen, z.B. im Metzler Lexikon Literatur). – Das Distichon Das Distichon ist eine zweizeilige Strophenform der antiken Tradition; sie besteht aus einem Hexameter und einem Pentameter. Schiller verfasste ein Distichon mit dem Titel Distichon, das zugleich als Merkvers dienen kann: ● Beispiel: »Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule, Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.« XxXxxXxXxXxxXx XxXxxX XxxXxxX Als Strophenform begegnet das Distichon häufig in der literarischen Gattung des Epigramms. Epigramme sind kurze, zugespitzte, gedanklich konzentrierte, oft lehrhafte und satirische Sinngedichte. Die meisten isolierten Distichen sind damit Epigramme (● z.B. die Xenien von Goethe und Schiller); allerdings muss nicht jedes Epigramm den formalen Krite-rien des Distichons entsprechen (vgl. ● z.B. Lessing: An den Leser). So wie das Distichon das formale Gestaltungsprinzip eines Epigramms sein kann, so kann es auch eine so genannte Elegie konstituieren. Eine Elegie entsteht aus der Aneinanderrei-hung von Distichen (meist 10 oder mehr) und damit aus der geregelten Abfolge von Hexa-metern und Pentametern; daher wird das Distichon häufig auch mit dem Beiwort ›elegisch‹ versehen. In der Antike war die Elegie inhaltlich nicht festgelegt, erst später verstand man darunter vor allem wehmütig klagende Gefühlslyrik. In der lateinischen Tradition ist die eroti-sche Elegie vorherrschend; Goethe knüpft mit seinen Römischen Elegien (1788-90) an sie an. Die zunehmende inhaltliche Definition ›elegischer‹ Dichtung führt dazu, dass auch Kla-gegesänge als Elegie bezeichnet werden, die sich formal nicht mehr an der Abfolge Hexa-meter/Pentameter orientieren.

32

Zu den berühmtesten Elegien, die die Gattungskriterien sowohl formal als auch inhaltlich erfüllen, gehören die Elegien Hölderlins. ● Beispiel: Hölderlin: Menons Klagen um Diotima Täglich geh ich heraus und such ein Anderes immer, Habe längst sie befragt, alle die Pfade des Lands; Droben die kühlenden Höhn, die Schatten alle besuch ich, Und die Quellen; hinauf irret der Geist und hinab, Ruh’ erbittend, so flieht das getroffene Wild in die Wälder, Wo es um Mittag sonst sicher im Dunkel geruht; […] XxXxxXxXxXxxXx XxXxxXXxxXxxX XxxXxxXxXxXxxXx XxXxxXXxxXxxX XxXxxXxxXxxXxxXx XxxXxXXxxXxxX […] 6.4.2 Strophen- und Gedichtformen romanischer Herkunft – Die Stanze Die Stanze besteht im Italienischen aus acht Endecasillabi (im Deutschen meist alternieren-der männlicher und weiblicher Versschluss). Charakteristisches Reimschema: ab ab ab cc. Häufig findet sich ein gedanklicher Einschnitt nach der 6. Zeile (das letzte Reimpaar er-scheint dann als besonders pointierter, sentenzartiger Schluss). ● Beispiel: Goethe: Zueignung Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten, a Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. b Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten? a Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt? b Ihr drängt euch zu! nun gut, so mögt ihr walten, a Wie ihr aus Dunst und Nebel um mich steigt; b Mein Busen fühlt sich jugendlich erschüttert c Vom Zauberhauch, der euren Zug umwittert. c – Die Terzine Die Terzine ist eine 3zeilige Strophenform (berühmt durch Dantes Göttliche Komödie). Die Versart ist im Italienischen der Endecasillabo. Auffällig ist das Reimschema aba bcb cdc ... yzy z (= Ketten- oder Terzinenreim oder geflochtener Reim; den Abschluss bildet meist ein Kreuzreim oder ein Reimpaar)

● Beispiel: Goethe: Schillers Reliquien

[...] Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte! a Die gottgedachte Spur, die sich erhalten! b Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte, a

Das flutend strömt gesteigerte Gestalten. b Geheim Gefäß’! Orakelsprüche spendend, c Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten, b

33

Dich höchsten Schatz aus Moder fromm entwendend c Und in die freie Luft zu freiem Sinnen, d Zum Sonnenlicht andächtig hin mich wendend. c

Was kann der Mensch im Leben mehr gewinnen, d Als daß sich Gott-Natur im offenbare? e Wie sie das Feste läßt zu Geist verrinnen, d Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre. e – Das Sonett Das Sonett ist im 13. Jh. auf Sizilien entstanden; erst im 16. Jahrhundert kam es nach Deutschland, wo es die beliebteste Gedichtform des Barock wurde (vgl. z.B. die berühmten Sonette von Gryphius und Hofmannswaldau). Im 18. Jahrhundert verlor es an Bedeutung, wurde aber von den Romantikern (Tieck, Brentano, Eichendorff) wieder gepflegt und auch in der modernen Dichtung (Hofmannsthal, Rilke, Trakl, Heym u.a.) fortgeführt. Das Sonett besteht aus vierzehn Zeilen und wird durch die Reimstellung in zwei Quartette (Vierzeiler) und zwei Terzette (Dreizeiler) unterteilt. Die Grundform abba abba cdc cdc lässt sich (besonders die Reime der Terzette) auf vielfache Weise abwandeln. Das Sonett ist nicht auf eine Versart festgelegt, bevorzugt aber jambische Versmaße (Ende-casillabo, Alexandriner, vers commun). Es gibt formale Untertypen des Sonetts (Petrarca-Sonett, Ronsard-Sonett), die bei Bedarf nachzuschlagen sind. Besonders auffällig ist dabei das so genannte Englische Sonett oder Shakespeare-Sonett, das nicht aus zwei Quartetten und zwei Terzetten, sondern aus drei Quartetten und einem abschließenden Reimpaar (= couplet) besteht und das Reimschema abab cdcd efef gg aufweist. ● Beispiel: August Wilhelm Schlegel: Das Sonett

Zwei Reime heiß ich viermal kehren wieder, Und stelle sie, geteilt, in gleiche Reihen, Daß hier und dort zwei eingefasst von zweien Im Doppelchore schweben auf und nieder,

Dann schlingt des Gleichlauts Kette durch zwei Glieder Sich freier wechselnd, jegliches von dreien. In solcher Ordnung, solcher Zahl gedeihen Die zartesten und stolzesten der Lieder.

Den werd ich nie mit meinen Zeilen kränzen, Dem eitle Spielerei mein Wesen dünket, Und Eigensinn die künstlichen Gesetze.

Doch, wem in mir geheimer Zauber winket, Dem leih ich Hoheit, füll in engen Grenzen, Und reines Ebenmaß der Gegensätze. – Die Romanze bzw. Romanzenstrophe Die Romanze ist ursprünglich die epische Gedichtform der romanischen Völker, besonders in Spanien (als südliche Entsprechung zur germanisch-nordischen Ballade). Die so genannte ›Romanzenstrophe‹ ist vierzeilig und besteht aus vierhebigen Trochäen (Romanzenvers). In der strengen Form hat sie stets weibliche Endungen, im Deutschen kommt sie oft mit alter-nierender Kadenz vor (1. und 3. Zeile weiblich, 2. und 4. Zeile männlich). Die Strophen sind oft assonierend oder kreuz- bzw. halb kreuzgereimt.

34

● Beispiele: Und es geht mit leisen Füßen, Daß der Vater nicht erwache, Rosablanka aus der Hütte, Um die Sonne zu erwarten. (Brentano) Singet nicht in Trauertönen Von der Einsamkeit der Nacht; Nein, sie ist, o holde Schönen, Zur Geselligkeit gemacht. (Goethe) 6.4.3 Strophenformen der germanisch-deutschen Tradition – Die Volksliedstrophe ›Volksliedstrophe‹ ist eine etwas unscharfe Sammelbezeichnung. Charakteristisch ist eine gewisse formale Schlichtheit (auf Sangbarkeit angelegt). Der Volksliedvers (siehe auch unter 5.8.3) ist relativ kurz: Er hat drei oder vier Hebungen, kann jambisch oder trochäisch sein. Es besteht Füllungsfreiheit, d. h. einer Hebung können auch zwei Senkungen folgen. In ihrer häufigsten Form ist die Volksliedstrophe vierzeilig; sie kann aber auch aus sechs oder sogar acht Zeilen bestehen – entscheidend ist, dass in jedem aus Volksliedstrophen bestehenden Gedicht eine Variante dieser Strophenform für das ganze Gedicht verbindlich ist. Die Verse sind immer gereimt (meist Kreuzreim, aber auch Paarreim möglich). ● Beispiel: Heines Lorelei-Gedicht (1824), das in der Vertonung durch Friedrich Silcher (1837) ›volk-stümlich‹ geworden ist: Ich weiß nicht was soll es bedeuten, Dass ich so traurig bin; Ein Märchen aus alten Zeiten, Das kommt mir nicht aus dem Sinn. – Die Chevy-Chase-Strophe Sie ist benannt nach der Ballade von der Jagd auf den Hügeln von Cheviot, welche die Bal-ladensammlung Thomas Percys (Reliques oft Ancient English Poetry, 1765) eröffnet. Die Grundform der Chevy-Chase-Strophe ist vierzeilig; es wechseln vierhebige (1. und 3. Zeile) und dreihebige Verse miteinander ab. Das Metrum ist jambisch, bei gewisser Füllungsfreiheit (Eingangs- wie Binnensenkung kann mehrsilbig sein). Die Kadenz ist immer männlich; übli-cherweise liegt ganzer oder halber (2. und 4. Zeile) Kreuzreim vor. Abweichungen von die-sem Grundschema sind relativ häufig und kommen sogar in der Chevy-Chase-Ballade selbst vor). ● Beispiel: Theodor Fontanes Archibald Douglas Ich hab’ es getragen sieben Jahr Und ich kann es nicht tragen mehr! Wo immer die Welt am schönsten war, Da war sie öd’ und leer.

35

Sehr ähnlich gebaut ist die so genannte Vagantenstrophe der deutsch-lateinischen Traditi-on: Statt der stets männlichen Kadenz der Chevy-Chase-Strophe weist sie abwechselnd männliche (Vers 1 und 3) und weibliche (Vers 2 und 4) Kadenzen auf. In der ›reinen‹ Form ist die Vagantenstrophe streng alternierend (jambisch oder trochäisch), in der volkstümlichen Nachahmung (z.B. bei Heine, Eichendorff) oft auch füllungsfrei. ● Beispiel: Hermann Hesse: Höhe des Sommers […] Entreiß dich, Seele, nun der Zeit; Entreiß dich deinen Sorgen Und mache dich zum Flug bereit In den ersehnten Morgen.

6.4.4 Eine Gedichtform der orientalischen Tradition Ein auffälliger Import aus der orientalischen Dichtung ist das Ghasel (arab. Ghazal = Ge-spinst, Liebesgedicht), das in der deutschen Lyrik vor allem von August von Platen und Friedrich Rückert gepflegt wurde. Es weist das folgende Reimschema auf: aa ba ca da ... xa. Das Ghasel ist eine metrisch freie Strophen- und Gedichtform, meist umfasst es etwa 10 bis 20 Verse; der stets wiederkehrende, häufig auch reiche a-Reim (in den orientalischen Spra-chen aufgrund anderer lautlicher Gegebenheiten viel leichter und natürlicher zu bilden als im Deutschen) ist das einzige Definitionskriterium. In der arabischen Dichtung ist das Ghasel häufig auch thematisch charakterisiert, als Loblied auf Lebensgenuss, Liebe und Wein; es kann aber auch andere inhaltliche Bereiche abdecken (wie im folgenden Beispiel). ● Beispiel: Ein Ghasel von Friedrich Rückert; es handelt sich um die freie Nachdichtung einer Vorlage des persischen Dichters Dschelaleddin Rumi (1207-1273), der als der bedeutendste mysti-sche Dichter des Islam gilt:

Wohl endet Tod des Lebens Not, Doch schauert Leben vor dem Tod. Das Leben sieht die dunkle Hand, Den hellen Kelch nicht, den sie bot. So schauert vor der Lieb ein Herz, Als wie von Untergang bedroht. Denn wo die Lieb erwachet, stirbt Das Ich, der dunkele Despot. Du laß ihn sterben in der Nacht, Und atme frei im Morgenrot.

6.5. Ein gattungstheoretischer Sonderfall: Die Ballade Gehört sie zur Epik, zur Lyrik oder zur Dramatik? Vom Ursprung und vom Namen her (ital. ›ballata‹ = Tanzlied) gehört sie als Tanzlied mit Refrain zur Lyrik, doch schon bald verflüch-tigt sich die Funktion als Lied zum Tanz, vielmehr werden in Lied- und Versform Geschichten erzählt, vornehmlich von Göttern, Helden und mythischen Geschehnissen; oft enthält sie dialogische Partien (was ein dramatisches Element darstellt). Wegen dieser Verbindung epischer, dramatischer und lyrischer Elemente hat Goethe die Ballade als das »Ur-Ei« der Dichtung betrachtet:

36

»Es gibt nur drei echte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drei Dichtwei-sen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beisammen, und sie bringen eben durch die Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild hervor, wie wir an den schätzenswertesten Balladen aller Völker deutlich gewahr werden.« (Goethe: Noten zum Westöstlichen Divan) »Die Ballade hat etwas Mysterioses, ohne mystisch zu sein – Diese letzte Eigenschaft eines Gedichtes liegt im Stoffe, jene in der Behandlung. Das Geheimnisvolle der Balla-de entspringt aus der Vortragsweise. Der Sänger nämlich hat seinen prägnanten Ge-genstand, seine Figuren, deren Taten und Bewegung so tief im Sinne, daß er nicht weiß, wie er ihn ans Tageslicht fördern will. Er bedient sich daher aller drei Grundarten der Poesie, um zunächst auszudrücken, was die Einbildungskraft erregen, den Geist beschäftigen soll; er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen und nach Belieben die Formen wechselnd, fortfahren, zum Ende hineilen oder es weit hinausschieben. Der Refrain, das Wiederkehren ebendesselben Schlußklangs gibt dieser Dichtart den ent-schiedenen lyrischen Charakter. […] Übrigens ließe sich an einer Auswahl solcher Ge-dichte [gemeint: Balladen der Völker] die ganze Poetik gar wohl vortragen, weil hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen sind, das nur bebrütet werden darf, um als herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln in die Lüf-te zu steigen.« (Goethe: Kunst und Alterum II, 1 [1821])

Zu unterscheiden ist zwischen anonymen ›Volksballaden‹ und individuellen Autoren zu-zuordnenden ›Kunstballaden‹. Die Kunstballade entstand im 18. Jahrhundert in England; im Zusammenhang mit Herders Aufwertung des Volksliedes wurde die Ballade um 1770 auch in Deutschland beliebt, besonders durch Bürgers Lenore (1773) und die Gattungsbeiträge Goe-thes und Schillers. Formal können Balladen sehr unterschiedlich gestaltet sein; eine relativ typische Strophenform ist allenfalls die Chevy-Chase-Strophe (siehe dort). Unter den vielfältigen Versuchen, eine Balladentypologie zu entwickeln, hat sich (neben der Bezeichnung ›historische Ballade‹ für eine Ballade mit historischem Stoff) vor allem die Un-terscheidung zweier Unterarten durchgesetzt: 5.5.1 Die numinose Ballade gestaltet die Begegnung des Menschen mit übermenschlichen Wesen und Mächten, die in sein Schicksal eingreifen; innerhalb der numinosen Ballade kann zwischen naturmagischer Ballade, totenmagischer Ballade und Schicksalsballade unter-schieden werden. ● Musterbeispiel für die naturmagische Ballade: Goethes Erlkönig. 5.5.2 Die Ideenballade schildert den Triumph einer Idee über das Schicksalhafte oder Rea-le; entwickelt von Goethe und Schiller im sog. ›Balladenjahr‹ 1797. ● Musterbeispiel für die Ideenballade: Schillers Die Bürgschaft als Verherrlichung der Idee der Freundschaft. Literaturhinweise: Es gibt zwei besonders empfehlenswerte Einführungen in die Gedichtanalyse. Für Anfänger besonders geeignet ist ■ Horst J. Frank: Wie interpretiere ich ein Gedicht? (Tübingen 62003). Frank geht sehr praxisnah vor, auch für eine Didaktik der Gedichtanalyse ist sein Buch sehr hilfreich. Abstrakter, dafür aber auch einige Hintergründe intensiver ausleuchtend als Frank, ist der Band von ■ Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart 21997. Sowohl Frank als auch Burdorf gehen natürlich auch auf metrische Probleme ein. Wer sich dahingehend noch spezieller informieren möchte, sei verwiesen auf: ■ Wolfgang Kayser: Kleine deutsche Versschule. Tübingen 251995. ■ Christian Wagenknecht: Deutsche Metrik. Eine historische Einführung. München 31993. Die Vorliebe für bestimmte formale Muster und Gestaltungsweisen hat auch eine literarhisto-rische Komponente und steht oft in engem Zusammenhang zu den ästhetischen Ansichten

37

einer bestimmten Epoche – diese Einsicht verdeutlicht präzise, gut lesbar und auf 124 Seiten komprimiert ■ Dirk von Petersdorff: Geschichte der deutschen Lyrik. München 2008 (Beck’sche Reihe 2434). ► Lerntipp: Blättern Sie eine Anthologie deutscher Lyrik durch und suchen Sie - nach Sonetten - nach Gedichten mit Volksliedstrophe - nach Rollengedichten - nach Balladen Gute Lyrik-Anthologien (von denen Sie sich eine für den »Hausgebrauch« anschaffen soll-ten) sind z.B. ■ Das große deutsche Gedichtbuch. Hrsg. v. Karl Otto Conrady. München 2001 (mit ca. 1300 Seiten!) ■ Deutsche Gedichte. Hrsg. v. Hans-Joachim Simm. Frankfurt/M. 2000 (Insel; ca. 1150 Sei-ten!), oder, in sehr viel knapperer Auswahl z.B.: ■ Deutsche Gedichte. Eine Anthologie. Hrsg. v. Dietrich Bode. Stuttgart 2006 (Reclam; ca. 380 Seiten). ■ Die berühmtesten deutschen Gedichte. Hrsg. v. Hans Braam. Stuttgart 2004 (Kröner; mit Ermittlung einer Art ›Hitparade‹ der meistgedruckten deutschen Gedichte).

38

7. Dramatik 7.1 Definition Dramatik/Drama Literarische Großform, in der eine in sich abgeschlossene Handlung durch die daran unmit-telbar beteiligten Personen in Rede und Gegenrede und als unmittelbar gegenwärtig auf der Bühne dargestellt wird. Konstituierende Funktion hat dabei der Dialog. Die Figuren werden nicht durch einen Erzähler beschrieben, sondern unmittelbar wahrgenommen. Im Gegensatz zur Theaterwissenschaft kann die Literaturwissenschaft nur die Analyse des Dramentextes leisten; die Interpretation ist damit in der Regel abgelöst von den verschiede-nen Formen der medialen Unterstützung des Dramas im Theater. Trotzdem sollte der dra-matische Text immer in einem Verhältnis zur Bühne und ihrer Praxis gedacht werden. 7.2 Eine Auswahl dramatischer Textarten in Kurzdefinitionen – Die Tragödie (synonymer deutscher Begriff: Trauerspiel) Definition nach Aristoteles (Poetik, um 335 v. Chr.):

»Die Tragödie ist Nachahmung (mimesis) einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese for-menden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Na-chahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer (eleos) und Schau-dern (phobos) hervorruft und hierdurch eine Reinigung (katharsis) von derartigen Erre-gungszuständen bewirkt.«

Ziel ist eine (innere) Reinigung von den hervorgerufenen Affekten, d.h. eine befreiende Af-fektentladung, deren Wirkung psychotherapeutisch ist. Affektenlehre: Die Diskussion um die Katharsisformel Im Humanismus Akzentverschiebung durch eine andere Übersetzung der Textstelle: »Jammer (eleos) und Schaudern (phobos)« wird durch »Mitleid und Furcht« ersetzt. Die Tragödie erhält nun eine ethische Funktion: Katharsis bedeutet nun die Reinigung von (fehlerhaften) Leidenschaften, welche zum tragischen Scheitern des Helden führen. Mitleid mit dem Protagonisten und Furcht vor einem ähnlichen Schicksal sollen zur sittlichen Läuterung des Zuschauers führen. Bei Martin Opitz Im 17. Jahrhundert kommt dem Begriff Katharsis erneut eine gewandelte Bedeutung zu: Ka-tharsis bedeutet nun eine heroisch-stoische Gemütsabhärtung gegen eigene Schicksals-schläge. Die Tragödie soll eine »Steigerung der Leidensfähigkeit« des Zuschauers bewirken. Bei Gotthold Ephraim Lessing (Hamburgische Dramaturgie) »Die Tragödie errege Furcht und Mitleid [Termini für phobos und eleos aus dem Humanis-mus], um Furcht und Mitleid zu reinigen«. Aus Mitleid und Furcht sollen tugendhafte Fertig-keiten entwickelt werden, deren Endzustand die »rechte Mitte zwischen den Extremen Furcht und Mitleid« sein soll. Die Tragödie soll in erster Linie ein gereinigtes Mitleid erwe-cken (Furcht ist für Lessing nur »eine Sprosse auf der Leiter zur Mitleidsfähigkeit«, d.h. sie dient lediglich dazu, die Gemütsbewegung Mitleid zu verstärken). Nach Lessings Ansicht ist der »mitleidigste Mensch« der »beste Mensch«. Diese Auffassung entsteht im Rahmen des Erziehungsprogramms der Aufklärung, welches den Menschen für seine Mitmenschen sen-sibilisieren soll, d.h. er soll mitleidsfähig werden. In dieser Zeit wird auch der Begriff ›Mitmen-schlichkeit‹ geprägt. In Lessings Dramaturgie soll Mitleid für Figuren empfunden werden, die dem Stand des Zus-chauers angepasst sind (→ Erhöhung des Identifikationspotentials). Diese Richtlinie erfordert

39

einen Wechsel des Personals (→ Fall der Ständeklausel, der zufolge die Tragödie den höhe-ren Ständen vorbehalten bleiben sollte). Die drei Einheiten Die Renaissance-Poetik hat aus der Tragödientheorie des Aristoteles die Lehre von den drei Einheiten abgeleitet. Gefordert wird von einer regelkonformen Tragödie: Einheit der Zeit: Bei Aristoteles heißt es, die Tragödie solle sich »nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs« vollziehen. Die Einheit der Zeit ist bei maximal drei Hand-lungstagen gewahrt. Einheit des Ortes: Kein Schauplatzwechsel (unter den Prämissen der griechischen Orchest-rabühne selbstverständlich). Einheit der Handlung: Die Handlung soll einsträngig sein (keine Nebenhandlungen), linear und kontinuierlich durchgeführt werden. Der Begriff des Tragischen Das schuldlose Schuldigwerden des Helden, der aufgrund einer Verfehlung, Verblendung, Selbstüberschätzung (Hybris) oder Leichtsinn in einen Konflikt von Individuum und Gesell-schaft, Freiheit und Notwendigkeit, Mensch und Gott hinein gerät, der letztlich nur in der tra-gischen Vernichtung des Individuums aufhebbar wird. – Das Bürgerliche Trauerspiel Dramatische Gattung der deutschen Aufklärung. Als erstes bürgerliches Trauerspiel in Deutschland gilt Lessings Miss Sara Sampson (1755). Das b.T. gestaltet das tragische Schicksal von Menschen nicht nur bürgerlichen Standes. »Die Verwendung bürgerlicher Personen, Geschicke und Lebensauffassung im Trauerspiel ist nicht zu allen Zeiten selbst-verständlich gewesen: bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts herrschte die Ständeklausel, die dem Bürger die Fähigkeit zum Tragischen und dem b.T. die Fallhöhe abspricht« (Wilpert, S. 129). Es wird entweder ein innerfamiliärer Konflikt (Privattrauerspiel) oder ein Konflikt zwi-schen Angehörigen unterschiedlicher Gesellschaftsschichten ausgetragen (im Gegensatz zum heroischen Trauerspiel, in dem ein öffentlicher Konflikt im Mittelpunkt steht). Im Zuge der Emanzipationsbewegung des Bürgertums werden ständische Werte durch ethische Wer-te ersetzt. Der höfischen (korrupten, intriganten, lasterhaften, zynischen) Welt wird die bür-gerliche (antihöfische) Welt der Wertvorstellungen entgegengestellt. Hier ist die Familie die höchste Ausdrucksform. Im Zuge der Konzentration auf innerfamiliäre Konflikte wird es dann vom Sozialdrama abgelöst. Das bürgerliche Trauerspiel bevorzugt die Prosa. – Die Komödie (synonymer, deutscher Begriff: Lustspiel) Literarisches Bühnenwerk komischen oder heiteren Inhalts mit glücklichem Ausgang. Ent-stand aus dem Zusammenwirken verbaler Komik und unliterarischer, mimetischer Spieltradi-tionen. Als verbindlich für die Komödie erachtet man allgemein nur den Bezug auf das men-schlich Komische, dessen Darstellung neben Spott und Gelächter Kritik, d.h. aber letztlich versöhnliche Toleranz impliziert. Sie richtet sich – im Gegensatz zur Tragödie (Emotionen) – an den Intellekt. Eine Theorie der Komödie wird erst in der Renaissance entwickelt. Sie be-tont nach Aristoteles, dass die Komödie Nachahmung niederer (nicht dem Stande nach!) Charaktere und deren Verfehlungen sei, soweit die Verfehlungen lächerlich, aber nicht ver-letzend sind. Die Fabel soll nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit ablaufen. Es sollen kei-ne historischen oder mythischen Figuren vorkommen. Bis zur Neugestaltung im 18. Jahr-hundert waren für die Komödie die Einteilung in Akte, die drei Einheiten, die Ständeklausel und das genus humile verbindlich (klassische Komödie). Vor der Neugestaltung waren Ko-mödien »Verlachkomödien«. Die Ständeklausel schrieb daher niederes Personal vor (Bür-gertum, Landbevölkerung). Der Zuschauer sollte sich nicht auf Kosten höherer Gesell-schaftsschichten amüsieren. Die Romantiker schätzten die Komödie wegen ihrer die Wirklichkeit transzendierenden Mög-lichkeiten (Elemente des Traums und des Unwirklichen).

40

Unterformen der Komödie werden meist nach inhaltlich-strukturalen Kriterien (Typen-, Cha-rakter-, Situations-, Intrigen- oder Konversationskomödie) oder nach intentionalen Ge-sichtspunkten (politische, gesellschaftskritisch-satirische Komödie, didaktische Komödie, Unterhaltungskomödie, Boulevardkomödie) vorgenommen; die Grenzen zu anderen Formen des komischen Theaters sind fließend (z.B. zu Posse, Burleske, Farce usw.). – Tragikomödie Dramatische Gattung, in der die tragischen und komischen Elemente sich wechselseitig durchdringen bzw. so zusammenwirken, dass die Tragik durch humoristische Brechung ge-mildert wird oder die tragisch gebrochene Komik die tragischen Aspekte vertieft. Sie war bis ins 18. Jahrhundert vor allem gekennzeichnet durch zwei Freiheiten gegenüber dem klassi-schen Regelkanon: durch die Durchbrechung der Ständeklausel und durch den untragischen Ausgang einer tragisch angelegten Handlung. – Das Epische Theater Theaterform, die die illusionsbildende Unmittelbarkeit des herkömmlichen (nach Brecht oft ›aristotelisch‹ genannten) Theaters durch Fiktionsbrechungen (z.B. in Form einer vermitteln-den oder kommentierenden ›Erzähler-‹ oder ›Spielleiterfigur‹) und andere theatertechnische (Beleuchtung, Dekoration) oder im Dramentext festgelegte Verfremdungseffekte (wie z.B. Songs) vermeidet. Lockere Montage der Einzelszenen. Eine Einfühlung in die Bühnenfiguren oder eine nur persönliche Emotionalisierung sollen durch die geschaffene Distanz des Zus-chauers von der Theaterhandlung verhindert und so eine rationale und kritische Reaktion geschaffen werden, welche ihn zu eigenen Urteilen und Entscheidungen zwingt. Der Schluss bleibt in der Regel offen und muss vom Zuschauer selbst gestaltet werden. Weitere Merkma-le: Distanzierung des Zuschauers (Zuschauer wird zum Betrachter gemacht), Appell an die Ratio, Lehrwert, Aktivierung des Zuschauers, Kritik an der Gesellschaft, Veränderung der Gesellschaft. Das epische Theater ist eine Weiterführung der offenen Dramenform. ● Bei-spiel: Brecht: Mutter Courage. – Weitere Typologisierungsmöglichkeiten Zu den weiteren, hier nicht genauer zu erläuternden und nach unterschiedlichen Kriterien definierten dramatischen Textarten gehören u.a. Schicksalsdrama, Charakterdrama, soziales Drama, historisches Drama. 7.3 Grundtypen des Dramas Analytisches Drama (Enthüllungsdrama) Schauspiel, dessen Geschehen in der szenischen Aufklärung eines vor Handlungsbeginn abgeschlossenen Vorgangs besteht. Es hat also einen rückwärtigen Bezugspunkt, und es erfolgt eine sukzessive Auflösung der Vergangenheit (= ›fortschreitendes Rückschreiten‹). (● Beispiel: Sophokles: König Ödipus oder Kleist: Der zerbrochne Krug; Modell der Gerichts-verhandlung; Sonderfall des analytischen Dramas: Prozess-, Kriminalstück) Zieldrama (Konflikt- oder Entfaltungsdrama) Schauspiel, dessen Bezugspunkt in der Zukunft liegt, d.h. es ist weniger als das analytische Drama durch die Vorgeschichte bestimmt. Gekennzeichnet wird es v.a. durch das Konflikt-geschehen, das sich während der Dramenhandlung entwickelt (als ›äußerer Konflikt‹ zwi-schen Pro- und Antagonist oder zwei Parteien; als ›innerer Konflikt‹ im Helden selbst, z.B. als moralisch-emotionaler Widerstreit zwischen Pflicht und Neigung). Oft gibt es Mischformen zwischen analytischem Drama und Konfliktdrama. 7.4 Bau- und Formelemente

41

– Akt Übergreifendes Kompositionselement. Größte Gliederungseinheit im Drama. Verknüpfung mehrerer Szenen, die in der Regel einen zusammenhängenden Abschnitt der Handlung mit einem eigenen inhaltlichen Akzent bietet und bühnentechnisch durch Pausen und/oder das Öffnen und Schließen des Vorhangs markiert wird. Häufigste Dramenformen sind der Fünf-akter und der Dreiakter. – Szene Mittlere Gliederungseinheit im Drama. Verknüpfung mehrerer Auftritte, deren Ende durch den Abgang aller Figuren (vollständiger Konfigurationswechsel) und/oder die Unterbrechung der räumlich-zeitlichen Kontinuität markiert wird. – Auftritt Kleinste Gliederungseinheit im Drama, deren Anfang und Ende durch einen wenigstens teil-weisen Konfigurationswechsel gekennzeichnet werden. Oft werden die Begriffe Auftritt und Szene synonym verwendet.

– Funktion der Akte im klassizistischen Drama Das folgende ›pyramidale‹ Modell wurde im 19. Jahrhundert von dem Autor und Theoretiker Gustav Freytag systematisiert (Die Technik des Dramas, 1863): Akt I. Exposition Information des Zuschauers über die Hauptpersonen und Grundsituation eines Dramas so-wie über Ereignisse, die (fiktionsintern) zeitlich vor dem Aufgehen des Vorgangs liegen. Akt II. Steigerung Spannungsaufbauende Hinführung zum Höhepunkt. Im Zieldrama: Entfaltung des dramati-schen Grundkonflikts. Akt III. Höhepunkt Akt IV. Peripetie Handlungswende. Dramatisches Handlungselement, das eine zuvor angebahnte Entwick-lung auf ein gutes bzw. schlimmes Ende hin zunichte macht. In der streng gebauten fünfakti-gen Tragödie befindet sich die Peripetie am Schluss des dritten oder am Anfang des vierten Aktes. Akt V. Katastrophe (Tragödie) / Lösung (Komödie) Schlimmer Ausgang einer Tragödienhandlung, traditionell durch den Tod mindestens eines der positiven Protagonisten gekennzeichnet. In der Komödie (traditionell) gutes Ende. Tragisches Moment Erregendes Moment Moment der letzten Spannung 1. Akt 2. Akt 3. Akt 4. Akt 5. Akt

Höhepunkt

Peripetie

Katastrophe/Lösung Exposition

Steigerung

42

Erregendes Moment Aufgedeckte innere oder äußere Bedingungen, die die Handlung vorwärts treiben, d.h. die den dramatischen Konflikt auslösen. Retardierendes Moment Verzögerung im Entwicklungsgang der Handlung, die zeitweilig (fälschlich) Hoffnung auf Ab-wendung der Katastrophe weckt. In der Komödie hingegen ruft sie die durch das Ende wider-legte Furcht vor der unwiderruflichen Verfehlung des erhofften Glücks hervor. Taucht dieses retardierende Moment im vorletzten Akt des Dramas auf, spricht man von dem ›Moment der letzten Spannung‹. Das retardierende Moment findet sich jedoch auch an anderen Stellen des Dramas. 7.5 Geschlossene und offene Form des Dramas Der Literaturwissenschaftler Volker Klotz (Geschlossene und offene Form im Drama, zuerst München 1960) hat die Unterscheidung zwischen den Idealtypen des offenen und des ge-schlossenen Dramas systematisiert. Als Drama der geschlossenen Form (auch: aristoteli-sche oder tektonische Form) gilt das klassische Drama mit seinen fünf Akten mit ihren je-weils festgelegten Funktionen und den drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung.

Im Drama der offenen Form (auch: nicht-aristotelische, atektonische Form) werden diese Regeln aufgegeben, die Zahl der Akte ist beliebig, die Handlung kann sich zu einer bloßen Szenenfolge auflösen, der Ort der Handlung kann in Ort und Zeit beliebig springen. Beide Typen sind als Idealtypen polarer Gegensätze konzipiert, in der konkreten Dramenliteratur gibt es zahlreiche Mischformen zwischen offenem und geschlossenem Typus. Tendenziell bevorzugt die literarische Moderne die offene Form, während die Antike und alle klassizisti-schen Strömungen (z.B. Französischer Klassizismus, Weimarer Klassik) zur geschlossenen Form neigen.

In der folgenden Tabelle sind die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale von geschlossenem und offenem Drama nach Volker Klotz aufgeführt:

Geschlossene Form: ›Der Ausschnitt als Ganzes‹

Offene Form: ›Das Ganze in Ausschnitten‹

Handlung

D

rei A

risto

telis

che

Ein

heite

n

• Einheitliche Haupthandlung • Keine Nebenhandlungen • Kausale Verknüpfung der Sze-

nen, logisch und psychologisch zwingende Abfolge

• Vielheit/Dispersion • Nebenhandlungen/ mehrere Hand-

lungen gleichzeitig (Polymythie) • Relative Autonomie einzelner Sze-

nen, partielle Austauschbarkeit

Zeit • Einheit der Zeit • »Von Sonnenaufgang bis

Sonnenuntergang« (Aristote-les)

• Ausgedehnter Zeitraum • Zeitsprünge zwischen Szenen

Ort

• Kein Ortswechsel • Ort nur Rahmen des Gesche-

hens

• Viele Orte • Ortswechsel zwischen den Szenen • Ort charakterisiert und determinier

die Handlung(en)

Personen • Geringe Zahl • Ständeklausel*

• Große Zahl • Keine ständischen und sozialen

Begrenzungen

Komposition • Klassischer tektonischer Bau: Eintei-

lung in 5 Akte • Akt als wichtigste dramaturgische

Einheit

• Atektonischer Bau • Größere Bedeutung und Eigens-

tändigkeit einzelner Szenen

43

Sprache

• Einheitlich hohe, stilisierte Sprache (meist Verse)

• Sprache als Werkzeug und Waffe

(Rededuell; Stichomythie)

• Pluralismus des Sprechens, Mi-schung der Stilebenen (meist Pro-sa)

• Orientierung an Alltagssprache („Er aber, sag’s ihm, er kann mich…“)

Beispiel Goethe: Iphigenie auf Tauris (1786) Goethe: Götz von Berlichingen (1773) * Ständeklausel »In der Poetik der Renaissance und des Barock aus ihrer absolutistischen Haltung aufges-tellte Forderung, die das Trauerspiel nur für die Schicksale von Königen, Fürsten und ande-ren hohen Standespersonen vorbehält, während bürgerliche Figuren nur [...] zum Gegens-tand der Komödie gemacht werden dürfen, da ihnen die Erhabenheit der Lebensform fehle, die für die Tragödie Voraussetzung schien, und ihr Leben der Größe und Wichtigkeit entbeh-re« (Wilpert). ► Lerntipp: Lesen Sie während der Vorbereitung je ein Drama des geschlossenen und eines des offenen Typus und versuchen Sie, sich an den Texten die jeweiligen Merkmale klar zu machen. Dass sich nicht alle Merkmale der abstrahierten Typen an jedem konkreten Text zeigen, versteht sich von selbst. ■ Beispiele für die geschlossene Form: Goethe: Iphigenie auf Tauris; Torquato Tasso; Pierre Corneille: Der Cid; Jean Racine: Phädra (Übersetzung von Schiller). ■ Beispiele für die offene Form: Shakespeare: Heinrich V. (oder ein anderes seiner vielen Dramen!); Goethe: Götz von Berlichingen; Grabbe: Napoleon oder die hundert Tage; Büch-ner: Dantons Tod. (Alle Texte u.a. bei Reclam) 7.6 Episch-narrative Elemente im Drama Gerade das geschlossene Drama ist wegen seiner Bewegungsarmut (Einortdrama) auf epi-sche Elemente angewiesen. Die Dinge müssen zum Ort kommen, sie müssen also berichtet werden. – Expositionserzählung s.o. (Exposition) – Botenbericht Synchronisation von Ereignissen, die an einem anderen Ort oder zu einer anderen Zeit ge-schehen sind. Es ist eine fiktionsinterne, narrative Vermittlung eines bereits abgeschlosse-nen Geschehens außerhalb der Bühne durch eine Bühnenperson (den ›Boten‹). – Teichoskopie (griech.: Mauerschau) Berichte von Ereignissen, die gleichzeitig an einem für den Zuschauer nicht (wohl aber für die Bühnenpersonen) sichtbaren Ort ablaufen. Reportageartige Vermittlung. Weitere epische Elemente können sein: Erzählerfigur, Songs, Spruchbänder, etc. Diese Mit-tel dienen auch der Zeitraffung. 7.7 Konfiguration und Figurenkonstellation – Konfiguration Unter Konfiguration versteht man die Teilmenge des Personals, die jeweils an einem be-stimmten Punkt des Textverlaufs auf der Bühne präsent ist. Der Wechsel der Konfiguration

44

signalisiert auch den Wechsel von Auftritten und Szenen. (Sonderfälle: lee-re/Nullkonfiguration, Ensemble-Konfiguration) – Figurenkonstellation Figurenkonstellationen sind dynamische Interaktionsstrukturen. Struktur des Dramenperso-nals. »Man ermittelt dabei für jede Figur die auf sie entfallenden positiven, neutralen oder negativen Bezugnahmen durch die anderen Figuren« (Pfister).

7.8 Figurenkonzeption: Typus und Charakter – Typus (griech. Typos = Abbild, Muster) Figur in dramatischen (und epischen) Texten, die durch wiederkehrende (eben typische, ver-allgemeinerte, nicht individuelle) Merkmale eine Gruppe repräsentiert. ● Beispiele: Der Gelehrte, der Geizige, das junge Liebespaar, der eifersüchtige Ehemann usw. Oft entsprechen die Typen den Traditionsfiguren der Commedia dell’arte, einer seit dem späten 16. Jahrhundert verbreiteten Form der Stegreifkomödie, die auf der Basis fester Typen – z.B. Arlecchino/Harlekin = der geistreiche Schelm, Colombina/Kolombine = die ko-kette Dienerin, Pantalone = der geizige Kaufmann und Schürzenjäger, Dottore = der ge-schwätzige Gelehrte usw. – improvisiert wurde und die von großem Einfluss auf die gesamte europäische Komödientradition war. – Charakter Durch große Merkmalsdichte und -komplexität individualisierte, durchaus auch widersprüch-lich profilierte Figur in dramatischen (und epischen) Texten. ● Beispiele: Faust, Wallenstein, Hamlet, Tellheim (in Lessings Minna von Barnhelm) u.a.

Figurenkonzeption und Figurencharakterisierung sind keine voneinander unabhängigen Ka-tegorien, d.h. eine bestimmte Figurenkonzeption bedingt eine bestimmte Selektion aus dem Repertoire der Charakterisierungstechniken mit. ■ Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München 91997, S. 220-264. 7.9 Kommunikation im Drama Haupttext = Figurentext, Figurenrede Nebentext = Autorentext, Regieanweisungen 7.9.1 Redeformen – Monolog Vom Zuschauer hörbare, aber nicht an ihn oder an eine andere Bühnenperson adressierte Rede im Drama; Funktion: Einblick in die inneren Denkprozesse und in das Bewusstsein einer Figur; Informationsvermittlung zum besseren Verständnis der Handlung; Verbindung von Szenen (Brückenmonolog). – Dialog Wechselrede (Duolog zwischen zwei, Polylog zwischen mehreren Figuren) mit gleichem oder unterschiedlichem Redeanteil der Beteiligten – Beiseitesprechen (a parte) Fiktionsinternes, in den Dialog eingeschaltetes Monologfragment einer Bühnenperson. Der Sprecher ist weder allein auf der Bühne, noch wähnt er sich allein. Kommentiert die Situati-

45

on, ohne dass die Worte der Figur direkt an das Publikum gerichtet wären und ohne dass sie von den auf der Bühne befindlichen Figuren gehört werden). – Ad spectatores Fiktionsdurchbrechende Anrede des Publikums durch eine Bühnenfigur (v.a. in der Komö-die). – Prolog Fiktionsexterne oder zumindest deutlich vom fiktionalen Geschehen der Haupthandlung ab-gesetzte Einleitung in ein Drama – Epilog Fiktionsexterner oder zumindest deutlich vom fiktionalen Geschehen der Haupthandlung abgesetzter Abschluss eines Dramas.

Exkurs zur Bühnenform Dramatische Texte sind für die Aufführung geschrieben (selbst wenn sie als »Lesedramen« keine Rücksicht auf die Aufführungspraxis nehmen, wirken sich die Möglichkeiten einer In-szenierung auf den Text und seine Gestaltung aus). Entsprechend nimmt die in einer Zeit oder einer Kultur dominierende Bühnenform Einfluss auf das, was in den Texten vorkommt bzw. vorkommen kann, etwa auf die Zahl der Schauplätze und das Tempo, in dem diese wechseln können. Historisch unterscheidet man im Wesentlichen die folgenden Bühnenformen: Orchestrabühne Die Griechen spielten zunächst auf einem kreisförmigen Tanzplatz (Orchestra) vor dem Tempel des Dionysos. Sehr bald wurde dahinter – zunächst aus Holz, dann aus Stein – das Bühnenhaus errichtet (Skene). Die Skene ermöglicht die Vorstellung von Innenraumgesche-hen und damit die indirekte Darstellung von Morden usw. in Form von verdeckter Handlung. Zwischen Orchestra und Skene befand sich ein erhöhtes Podest (Proskenion), auf dem nun gespielt wurde. Die Orchestra, die nach und nach zu einem Halbrund wurde, stand nur mehr dem Chor zur Verfügung. Eines der berühmtesten noch erhaltenen antiken Theater ist das in Epidauros. Simultanbühne Im Mittelalter spielte man zunächst in der Kirche, dann jedoch bald auf Straßen und freien Plätzen. Wichtigste Bühnenform ist die Simultanbühne. Sie besaß mehrere nebeneinander angeordnete Schauplätze, die von den Schauspielern wechselweise benützt wurden (das Publikum zog dann mit zur jeweils nächsten Station). Relikte des mittelalterlichen Theaters sind die Passionsspiele (z.B. in Oberammergau). Shakespeare-Bühne Die Shakespeare-Bühne bestand aus einer in den Zuschauerraum hineinragenden, dekora-tionslosen Vorderbühne (Proscenium), einer Hinterbühne und einer Oberbühne (gut geeignet für Balkonszenen u.ä., vgl. Romeo und Julia). Die Vorderbühne ist die Hauptspielfläche. Die drei Spielflächen, die sich nach Wichtigkeit und Spielfrequenz unterscheiden, ermöglichen zusammen mit dem Stilmittel der gesprochenen Dekoration im Gegensatz zur Guckkasten-bühne (mit nur einer Spielfläche und Illusions- bzw. Verwandlungsprinzip) die Mehrsträngig-keit der Handlung und die Kurzszenentechnik in Shakespeares Stücken – entsprechend schwierig ist die Aufführung der Stücke unter den Bedingungen der Guckkastenbühne (De-koration, Umbaupausen!). Guckkastenbühne

46

Die Guckkastenbühne entsteht ebenfalls schon im Barock. Ihre Entwicklung ist eng mit dem Beginn von Theateraufführungen in geschlossenen Räumen bei künstlichem Licht und unter Verwendung von Kulissen im europäischen Hoftheater verbunden: Die Bühne, durch Rampe und Bühnenportal mit Vorhang vom Zuschauerraum getrennt, präsentiert sich als dreiseitig abgeschlossener Kasten, dessen vierte Seite (die imaginäre ›vierte Wand‹) dem Zuschauer Einblick in das Bühnengeschehen erlaubt und ihm die Illusion gibt, als zufälliger Zeuge an einem realen Geschehen teilzunehmen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ist die Guckkas-tenbühne die gängige Bühnenform; seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart versuchen Regisseure zunehmend, die Illusionsbühne abzulösen (vgl. auch episches Thea-ter, Piscator-Bühne usw.). ■ Abbildungen zu den Bühnenformen u.a. in: Heinz Geiger/Herbert Haarmann: Aspekte des Dramas. Opladen 41996, S. 115-120.

8. Epik Definition Epik: Bezeichnung für jede Art von fiktiver Erzählung in Versen oder Prosa. 8.1. Epische Texte als Fiktion Fiktion »Unter Fiktion wird eine Darstellung tatsächlicher oder erfundener Sachverhalte einer als wirklich erscheinenden Welt verstanden, die weder vorgibt, noch behauptet (wie etwa die Geschichtsschreibung), die als wirklich erscheinende Welt sei eine empirisch nachweisbare, unabhängige wirkliche Welt. Fiktion meint eine bestimmte Art von Nicht-Wirklichkeit, die als Wirklichkeit erscheint, quasi eine eingeklammerte Wirklichkeit. Sprachtheoretisch unter-scheidet man zwischen Wirklichkeitsaussage und fiktionaler Aussage. Die Wirklichkeitsaus-sage ist eine Aussage über Sachverhalte mit überprüfbarem Wirklichkeitsbezug (Referenz), während die fiktionale Aussage eine Aussage ohne überprüfbare Referenz ist, ihr Wahr-heitsanspruch ist suspendiert, sie ist damit weder wahr noch falsch.« (Allkemper/Eke, S. 92) Fiktionalitätsindikatoren Zur Unterscheidung von Wirklichkeitsaussage und fiktionaler Aussage: - die Verben der inneren Vorgänge, also Verben des Fühlens, Empfindens, Denkens. Über die inneren Zustände kann nur ein Erzähler eine Aussage machen, eine Wirklichkeitsaussa-ge ist darüber nicht möglich. - das sog. ›epische Präteritum‹ in Verbindung mit Zeitadverbien. Erzähltexte werden meist im Präteritum abgefasst; von den Lesenden wird das erzählte Geschehen jedoch nicht als ›vergangen‹ empfunden, sondern scheint in einer (fiktiven) Gegenwart stattzufinden. Dieses Phänomen hat Käthe Hamburger in ihrem Buch Die Logik der Dichtung (1957) durch den Begriff des ›epischen Präteritums‹ gekennzeichnet. Im Gegensatz zum Wirklichkeitsbericht (wo das ›historische Präteritum‹ herrscht) verliert das Präteritum im Erzähltext »seine gram-matische Funktion, das Vergangene zu bezeichnen«. Hamburger illustriert ihre These mit einem berühmt gewordenen Beispielsatz: »Aber am Vormittag hatte sie den Baum zu put-zen. Morgen war Weihnachten.« In einem Wirklichkeitsbericht würde die Kombination eines Verbs im Vergangenheitstempus mit der in die Zukunft verweisenden Zeitangabe Verwirrung stiften. In einem fiktionalen Text jedoch wird diese Kombination ohne weiteres akzeptiert. Da das epische Präteritum nach Hamburger keine Vergangenheit anzeigt, sondern nur die Fik-tionalität des Textes, wird die Verbindung von Vergangenheitstempus und deiktischem (zei-gendem) Zeitadverb möglich. Dadurch, dass in einem fiktionalen Text eine (fiktive) Gegen-wart im Tempus der Vergangenheit erzählt wird, ›verschiebt‹ sich aber das gesamte Zeitge-füge in der erzählerischen Fiktion. Wenn als gegenwärtig vorgestelltes Geschehen im Präte-ritum erzählt wird, muss eine Vorzeithandlung, also etwas in der Fiktion Vergangenes, kon-

47

sequenterweise im Plusquamperfekt erscheinen: »Am Vormittag hatte sie noch den Baum zu putzen, weil sie sich gestern so lange mit erzähltheoretischen Problemen beschäftigt hatte«. 8.2. Eine Auswahl epischer Textarten in Kurzdefinitionen – Das Epos Großform erzählender Dichtung in gleichartig gebauten Versen oder Strophen (in der Antike: Hexameter). Charakteristisch für das Epos sind: - ›epische‹ Breite - gehobene Sprache und feierlicher Charakter - typisierende Gestaltungsmittel - Konzentration auf eine Zentralfigur oder einen Leitgedanken - Objektivität durch Distanz zum Dargebotenen - Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Aussage, oft bezogen aus einem geschlossenen Weltbild - Inhalt: Meist Götter- und Heldensagen und/oder (prä-)historische Ereignisse und Entwick-lungen ● Beispiele: Homer: Ilias, Odyssee (8. Jahrhundert v. Chr.); Artusepik des Mittelalters; Goe-the: Reineke Fuchs. – Seit dem 15./16. Jahrhundert wird das Versepos als Gattung zuneh-mend vom Roman verdrängt. – Der Roman Großform erzählender Dichtung in Prosa. Der Begriff geht auf die in Frankreich seit dem 12. Jh. gepflegte Bezeichnung ›romanz‹ für volkssprachliche Schriften in Vers oder Prosa zurück, die nicht in der gelehrten ›lingua lati-na‹, sondern in der allgemein verständlichen ›lingua romana‹ verfasst waren. In Frankreich zuerst abenteuerliche Helden-, Liebes- oder Rittergeschichten in Versen oder Prosa, seit dem Ende des 13. Jh. längere Erzählung in Prosa; in dieser Bedeutung kam der Roman im 16. Jh. nach Deutschland. Vorläufer sind die Volksbücher (Eulenspiegel, Schild-bürger) und die Prosaauflösungen mittelhochdeutscher Epen. Die Prosaform führt zu einer negativen Beurteilung der neuen Gattung durch Literaturtheore-tiker. Im 18. Jh. wird der Roman als Medium der Belehrung und Unterhaltung allmählich auf-gewertet (Robinsonaden, empfindsame Romane). Der Gipfelpunkt in der Bewertung des Romans wird in der Romantik erreicht. Heute ist er die am meisten verbreitete literarische Gattung überhaupt. Es gibt keine feste Definition, da ein Normkanon fehlt und die Stoffwahl nicht eingeschränkt ist. Gliederungen sind möglich nach - Stoffen und dargestelltem Personal: Abenteuer-, Ritter-, Schelmen-, Kriminal-, Familienro-man usw. - Themen und Problemen: Liebes-, Ehe-, Tendenz-, Entwicklungs-, Bildungsroman usw. - Form: Ich-, Er-, Brief-, Fortsetzungs-, Tagebuchroman usw. - Erzählerischer Grundhaltung des Erzählers: religiöser, erbaulicher, didaktischer, satirischer Roman usw. - Adressaten: Jugend-, Mädchen-, Frauenroman usw. - Anspruch: Problem-, Experimental-, Kolportage-, Schundroman usw. – Die Erzählung Allgemein: Oberbegriff für mündliche oder schriftliche Dichtung von realen oder fiktiven Ereignisfolgen, vorwiegend in Prosa, aber auch in Versform. Selbständige Einzelgattung innerhalb der Grundgattung Epik, die sich mit den übrigen epi-schen Gattungen häufig überschneidet und noch weniger als diese exakt bestimmbar ist. Ihre Formgesetze werden daher oft ex negativo beschrieben: Die Erzählung ist kürzer, weni-ger welthaltig, weniger figurenreich und weniger komplex in Handlung und Ideengehalt als der Roman, weniger scharf profiliert, weniger verschränkt und durchgestaltet als die Novelle

48

und weniger pointiert und weniger konsequent auf den Schluss hin komponiert als die Kurz-geschichte, außerdem nicht (wie Märchen oder Legende) auf Bereiche des Unwirklichen und Wunderbaren bezogen. Sie hat eine große thematische Bandbreite. – Die Novelle (ital.: kleine Neuigkeit) Prosaerzählung mittlerer Länge, gestaltet ein real vorstellbares Ereignis oder eine Folge we-niger, aufeinander bezogener Ereignisse, die gemäß dem Namen den Anspruch auf Neuheit erheben (Goethe definierte die Novelle als »eine sich ereignete unerhörte Begebenheit«, wobei ›unerhört‹ das Unbekannte, Neue, aber auch, im positiven oder negativen Sinn, das Außerordentliche und Einmalige eines Ereignisses meinen kann). Die Novelle ist häufig kon-zentriert auf einen zentralen Konflikt, der straff durchgeführt wird (Theodor Storm bezeichne-te die Novelle als »Schwester des Dramas«). Die mittlere Länge, die konsequente Ausformu-lierung des zentralen Konflikts und die Tendenz zur geschlossenen Form unterscheidet die Novelle von der Kurzgeschichte. Gattungshistorisch besonders signifikant sind darüber hi-naus die Verwendung besonderer Vorausdeutungs- und Integrationstechniken (Einsatz von Leitmotiven und ›Dingsymbolen‹, vgl. die ›Falkentheorie‹ Paul Heyses) sowie die Tendenz zur Rahmenbildung (s. 8.3.1.) sind gattungshistorisch bedeutsam geworden. ● Beispiele: Für Novellenzyklen: Boccaccio: Decamerone; Goethe: Unterhaltungen deutsch-er Ausgewanderten [!] (1795); Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, Das Sinngedicht. Für Einzelnovellen: Kleist: Michael Kohlhaas; Die Marquise von O…; Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche; Thomas Mann: Der Tod in Venedig (1912); Günter Grass: Katz und Maus (1961). – Die Kurzgeschichte Lehnübersetzung des amerikanischen Begriffs ›short story‹, stark reduzierende und kompri-mierende Kurzprosa, deren Entwicklung erst nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland einsetzt, obwohl es schon früher Vorformen gab (v.a. bei Heinrich von Kleist und Johann Peter He-bel). Durch die hohe Verdichtung kann eine komplexe, mehrschichtige Struktur zustande kommen (Schnurre: »ein Stück herausgerissenes Leben«). Im Gegensatz zur Novelle sind ihre vorherrschenden Prinzipien - ein geringer Umfang - eine gedrängte, bündige Komposition - der Verzicht auf Illusion und Rahmen - ein offener Anfang (meist medias in res) und offener Schluss - die Typisierung der Personen - die Neutralisierung der Umgebung - die Reduktion der ›unerhörten Begebenheit‹ der Novelle auf ein Moment alltäglicher Bege-benheiten Meist ist nur ein sehr geringes Personal vorhanden (häufig in einer Dreierkonstellation). Der Schluss zielt oft auf Erschütterung ab, beschreibt einen Lebensumbruch oder bleibt offen. In Deutschland verläuft die Entwicklung von einer Aufarbeitung der Vergangenheit (Böll, Bor-chert) über die psychologische Kurzgeschichte (Kaschnitz), die lyrische (Eich), die artistische (Aichinger) bis hin zur phantastisch-surrealistischen Kurzgeschichte (Aichinger, Hildeshei-mer, Kusenberg). – Die Fabel Allgemein: Stoff- und Handlungsgerüst, das einem epischen oder dramatischen Werk zu-grunde liegt. Spezieller: Zweig der Tierdichtung, knappe lehrhafte Erzählung in Vers oder Prosa, in der vorwiegend Tiere in einer bestimmten Situation so handeln, dass sofort eine Kongruenz mit menschlichen Verhaltensweisen deutlich wird und der dargestellte Einzelfall als sinnhaft-anschauliches Beispiel für eine daraus ableitbare Regel der Moral oder Lebensklugheit zu verstehen ist. In diesem Sinne gehört die Fabel zur didaktisch-reflexiven Zweckdichtung. Die Fabel erlebte in didaktisch geprägten Epochen (Humanismus, Aufklärung) Hochblüten, im Deutschland des 19. Jh. wurde sie oft nur noch als Kinder- und Jugendliteratur verwendet.

49

– Parabel (griech.: parabole, ›nebeneinanderwerfen‹, ›Gleichnis‹) Allgemein ein zur selbständigen Erzählung erweiterter Vergleich. Sie ist eine lehrhafte Erzäh-lung, die von nur einem Vergleichspunkt aus, ohne die Sachsphäre zu nennen, durch Analo-gieschluss eine allgemeine sittliche Wahrheit oder Erkenntnis vermittelt oder als Kritik an bestehenden, nicht genannten Zuständen gebraucht wird. Sie ist charakteristisch für die Lite-ratur des 18. Jh. (● Beispiel: Lessings Ringparabel aus Nathan der Weise als ›Hebel der Erkenntnis‹), seit Anfang des 20. Jh. oft als ›Mittel der Kritik‹ gebraucht (● Beispiel: Bertolt Brechts Geschichten vom Herrn Keuner). Die Parabel knüpft an antike und biblische Tradi-tionen an. Die Gleichnisse der Bibel sind oft im eigentlichen Sinne Parabeln, da sie nur die Bildsphäre, nicht aber die Sachsphäre nennen. 8.3. Wie wird erzählt? 8.3.1 Romananfänge und Ereignisfolge – Anfang ›ab ovo‹ (›vom Ei an‹) Erzählung wird vom Ursprung an entfaltet, durch das Voranstellen einer Vorgeschichte vor die eigentliche Handlung, chronologisches Erzählen oft von der Geburt des Helden an. ● Beispiel: Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (2. Fassung) – Anfang ›medias in res‹ (›mitten in die Sache hinein‹) Erzählen setzt mitten in der Geschichte ein, oft zu einem spannenden Zeitpunkt. In der zwei-ten Erzählphase kann die Vorgeschichte nachgeholt werden. ● Beispiel: E.T.A. Hoffmann: Der goldne Topf – Anfang ›in ultimas res‹ (›von den letzten Dingen an‹) Erzählen beginnt mit dem Ende der Geschichte oder kurz davor, oft mit der letzten Lebens-phase oder dem Tod des Romanhelden; es erfolgt ein analytisches Erzählen, das das Leben des Toten aufdeckt (typisch für Kriminal- oder Detektivgeschichten). ● Beispiel: Anna Seghers: Transit – Rahmen- und Binnenerzählung Eine Erzählung kann in einen größeren Bezugsrahmen eingebettet sein; der ›Anfang‹ des Textes muss dann nicht mit dem ›Anfang‹ der tatsächlich interessierenden Geschichte zu-sammenfallen, denn es gibt eine Rahmenerzählung und eine Binnenerzählung: - Rahmenerzählung: Entfaltet eine fiktive Erzählsituation: Der Erzähler ist homodiegetisch, d.h. er gehört zu den Figuren der erzählten Welt. Was er einem oder mehreren Zuhörern berichtet, macht die in diesen Rahmen eingebettete Binnenerzählung aus. - Binnenerzählung: Das von einem Rahmen umschlossene Kernstück der Rahmenerzählung, dichtungslogisch als stark ausgeweitete Personenrede einer fiktiven Figur zu verstehen. Eine Rahmenerzählung kann sowohl eine Binnenerzählung umfassen als auch mehrere. Im ersten Fall spricht man von einer gerahmten Einzelerzählung: Der Rahmen verweist dabei oft auf eine fingierte Quelle (Chronik, Tagebuch, Brief usw.), die für die Authentizität des Er-zählten einstehen soll (● Beispiel: Theodor Storms Der Schimmelreiter, der sogar doppelt gerahmt ist). Im zweiten Fall liegt eine zyklische Rahmenerzählung vor: Verschiedene Ein-zelerzählungen werden durch die Rahmenhandlung zu einer Einheit zusammengefasst (● Beispiel: Boccaccios Decamerone, um 1350 entstanden als eine Sammlung von 100 Novel-len, die durch eine Rahmenhandlung zusammengehalten wird; dem berühmten Vorbild Boc-caccios folgend, sind Rahmenkonstruktionen vor allem in der Gattung der Novelle häufig anzutreffen). – Was ist ein Erzählstrang?

50

Unter einem Erzählstrang versteht man eine figural oder zeitlich zusammenhängende Er-zähl-/Ereigniskette. Man unterscheidet: einsträngige Handlungen (auf einen Erzählstrang beschränkt); mehrsträngige Handlungen (mehrere Erzählstränge umfassend, die entweder episch integriert sind oder durch Montage verknüpft). – Was ist eine Erzählphase? Unter einer Erzählphase versteht man einen relativ geschlossenen Handlungsabschnitt, z.B. Phase eines Gesprächs, ein Tag usw. Die Einteilung in Erzählphasen verläuft oft parallel zur äußeren Gliederung, z.B. durch Kapitel. 8.3.2 Die Zeitstruktur der Erzählung 8.3.2.1 Erzählzeit und Erzählte Zeit Erzählzeit: Lesedauer eines Textes, Zeit, die man zum ›Erzählen‹ braucht, messbar in Sei-ten und Zeilen. Erzählte Zeit: ›Zeit des Inhalts‹, welche die Handlung einer Geschichte umfasst. Mögliche Relationen dieser beiden Zeittypen sind: – Zeitdeckendes Erzählen: Erzählzeit und Erzählte Zeit fallen zusammen. ● Beispiel: Szenische Darstellung und Wiedergabe wörtlicher Rede. – Zeitdehnendes Erzählen: Erzählzeit ist länger als Erzählte Zeit ● Beispiel: Detaillierte Darstellung komplexer psychologischer Vorgänge und Bewusstseins-prozesse, die in kurzer Zeit ablaufen, z.B. Träume. – Zeitraffendes Erzählen: Erzählzeit ist kürzer als Erzählte Zeit; einzelne Zeitspannen werden verkürzt; kommt insge-samt am häufigsten vor. Techniken der Zeitraffung: - Auslassung/Aussparung: (stärkste Form der Zeitraffung) Sie lässt ereignislose, unwichtige (oder z.B. bei Detektivgeschichten bewusst wichtige) Zeit-räume aus und deutet dies meist durch Überleitungsformeln wie »Einige Zeit später..« an. - Sukzessive (= schrittweise erfolgende) Raffung: Sie rafft durch Aufzählung von Begebenheiten in Richtung der erzählten Zeit (alle Ereignisse neben diesen ausgewählten Begebenheiten werden ausgespart). Grundformel: »Dann ... und dann … und dann…«

Starke sukzessive Raffung wird als Sprungraffung, weniger starke als Schrittraffung be-zeichnet. ● Beispiel (für sukzessive Sprungraffung): »Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen [...]« - Iterativ-durative Raffung: (beide Teilformen treten häufig gemeinsam auf) - iterativ (wiederholend): Angabe einzelner, sich regelmäßig wiederholender Begebenheiten (● Grundformel: »Immer wieder in dieser Zeit...«, »jeden Tag«, »sonntäglich«). - durativ (andauernd): Angabe allgemeiner, den ganzen Zeitraum überdauernder Begeben-heiten (● Grundformel: »Die ganze Zeit hindurch«). 8.3.2.2 Rückwendungen und Vorausdeutungen – Rückwendungen Allgemeine Funktion: Erklärung, Ergänzung, Spiegelung der Gegenwartshandlung durch Rückbezug auf vergangenes Geschehen. Man unterscheidet: - Aufbauende Rückwendung (in den Anfangspassagen eines Textes)

51

Bei unmittelbar (= medias in res) einsetzenden Texten: als »nachgeholte Exposition« bildet die Vorgeschichte die zweite Erzählphase, auf der dann das folgende Geschehen aufbaut. - Auflösende Rückwendung (gegen Ende eines Textes) Bildet einen Teil des Erzählungsschlusses oder bereitet diesen vor; oft hat sie entlarvenden Charakter, auf die Vergangenheit fällt ein neues Licht (typisch z.B.: entlarvender Schlussbe-richt im Detektivroman. - Eingeschobene Rückwendung (an jeder Stelle eines Textes möglich) Es kann sich um eingeschobene Episoden, kurze Erklärungen (etwa zu den Umständen, unter denen sich zwei Figuren kennen gelernt haben) oder auch um die ›besondere Ge-schichte‹, die fiktive Vergangenheit einer bereits aufgetretenen Figur bis zum Zeitpunkt ihres Eintritts in die Haupthandlung handeln. – Vorausdeutungen Allgemeine Funktion: Spannungssteigerung; kann Sinn und Richtungnahme der augenblick-lichen Situation eröffnen. Man unterscheidet: - Zukunftsgewisse Vorausdeutungen: Sie können nur von einem auktorialen Er- oder Ich-Erzähler getroffen werden, für den die ›Zukunft‹ des erzählten Geschehens bereits Vergangenheit ist, der also das Geschehen vom Ende her überblicken kann. ● Beispiel: »Später sollte sich zeigen, wie verhängnisvoll diese Tat war«; auch der Titel eines Textes kann schon eine zukunftsgewisse Vorausdeutung dar-stellen (● z.B. Thomas Mann: Der Tod in Venedig). - Zukunftsungewisse Vorausdeutungen: Alle Aussagen, Empfindungen usw. der Figuren über ihre Zukunft bzw. zukünftige Ge-schehnisse oder der Erzählinstanz über deren ›Zukunft‹ in der Fiktion, die den Anschein ei-ner Zukunfts-Ungewissheit erwecken (Ungewissheit, die der Realität des Lebens entspricht). Beispiele: Träume, Orakel, Warnungen, Gebote, Weissagungen usw. 8.3.3. Erzählsituationen

Zu den Klassikern der Erzähltheorie gehören die Arbeiten des Anglisten Franz Karl Stanzel: Die typischen Erzählsituationen im Roman (1955), Typische Formen des Romans (1964), Theorie des Erzählens (1979). Stanzels Unterscheidung von drei ›typischen Erzählsituatio-nen‹ ist vor allem im deutschsprachigen Raum stark rezipiert und auch für den Literaturunter-richt an Schulen adaptiert worden. Obwohl in der Zwischenzeit weitaus differenziertere Mo-delle zur Erzähltheorie vorgelegt wurden – genannt seien Gérard Genette: Die Erzählung (dt. 1974) und Jürgen H. Petersen: Erzählsysteme (1993) – bietet Stanzels Ansatz noch immer eine relativ einfache und pragmatische Möglichkeit, unterschiedliches Erzählverhalten zu kategorisieren.

■ Zu den Modifikationen des Stanzelschen Modell und den Positionen seiner Kritiker vgl. zusammenfassend Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen 1998, S. 41-94.

– Autor, Erzähler, Erzählform Bei der Lektüre eines fiktionalen Textes schaltet sich sowohl zwischen den Autor und die erzählte Geschichte (›histoire‹) als auch zwischen die Geschichte und den Leser eine Ver-mittlungsinstanz ein, die man als Erzähler, Erzählinstanz, Erzählfunktion oder Erzähl-Medium bezeichnen kann. Es spricht nicht der reale Autor, sondern eine Art ›Stellvertreter‹, eben der Erzähler, der vom Autor mit unterschiedlich großen ›Vollmachten‹ hinsichtlich der zu erzäh-lenden Geschichte ausgestattet werden kann. Der Erzähler/das Erzählmedium kann in unterschiedlichen Formen erzählen: von sich selbst, von Dritten oder von Angesprochenen. Spricht er von sich selbst, ist die Erzählform die Ich-Form (grammatisch: 1. Person), erzählt er von Dritten ist die Erzählform die Er/Sie-Form (grammatisch: 3. Person), spricht er von Angesprochenen, ist die Erzählform die Du-Form (grammatisch: 2. Person). Letzteres kommt selten vor (● Beispiel: Ilse Aichinger: Spiegelge-schichte) und spielt in der Erzähltheorie keine besondere Rolle.

52

Erzählsituationen (nach F.K. Stanzel) Als Erzählsituation bezeichnet Stanzel die von der Erzählinstanz (≅ Autor!) gewählte Erzähl-technik. Grundsätzlich gilt vor allem für umfangreichere Prosatexte: Verschiedene Erzählsituationen vermischen sich / wechseln sich ab (● Beispiel: Thomas Mann, Buddenbrooks), sind außer-dem als Idealtypen zu verstehen. – Personale (figurale) Erzählsituation - Beim personalen Erzählen wird das Geschehen mit den Augen einer beteiligten Figur ge-sehen, die aber nicht als ›Ich‹ erscheint, sondern als personales Medium (oder Reflektorfi-gur) in der 3. Person steht (Er/Sie-Form). Erzählt wird nur, was das personale Medium wis-sen oder wahrnehmen kann (oft in ›erlebter Rede‹); alle anderen Figuren können nur in Au-ßensicht erfasst werden. - Personales Erzählen wirkt auf den Leser als unmittelbare, fast dramatisch-szenische Dar-stellung, eröffnet ihm die Illusion, er befände sich direkt am Schauplatz des Geschehens. - Zu den vorherrschenden Darstellungsformen gehören Berichte über äußere Vorgänge, Be-schreibungen und direkte Rede (Dialogisierung), bei Bewusstseinswiedergaben insbesonde-re die erlebte Rede und der Bewusstseinsstrom, eine kommentierende Einmischung der Er-zählinstanz wie bei der auktorialen Erzählsituation gibt es nicht. - Als Sonderform der personalen Erzählsituation gilt die neutrale Erzählsituation, bei der der Standpunkt der Beobachtung nicht auf eine einzelne Figur eingeschränkt wird, der Leser aber trotzdem den Eindruck hat, als imaginärer Zeuge am Schauplatz des Geschehens zu sein (vergleichbar mit dem ›camera-eye‹ oder Kamerablick). Da die Erzählung von Bewuss-tseinsprozessen ausgeblendet wird (Formulierungen wie »dachte sie...« sind also nicht mög-lich), ist der Leser umso mehr aufgefordert, diese hinzuzufügen. – Auktoriale Erzählsituation - Die Erzählinstanz hat einen ›olympischen Standpunkt‹ außerhalb der Welt der Figuren, ist potentiell ›allwissend‹; durch den Abstand der Erzählinstanz zum Erzählten, ihre souveräne Verfügung über Raum, Zeit, Handlung und Figuren entsteht der Eindruck starker, typisch ›epischer Distanz‹. - Eine Gedankenwiedergabe aller Personen sowie der beliebige Wechsel zwischen Innen- und Außensicht (-perspektive) sind möglich. - Der Prozess des Erzähltwerdens wird stark betont: Reflexionen, Bewertungen, Vorausdeu-tungen, Rückwendungen, Abschweifungen, Leseranreden usw. täuschen die Existenz eines persönlichen, ›allwissenden‹ Erzählers vor. - Zu den vorherrschenden Darstellungsformen gehören der Bericht über äußere und innere Vorgänge und die indirekte Redewiedergabe.

– Ich-Erzählsituation - Ein erfundenes, fingiertes ›Ich‹ (keinesfalls mit dem Autor zu verwechseln) erzählt aus sei-ner Perspektive; der Ich-Erzähler gehört zur Welt der Figuren. - Für den Leser bedeutet dies einen Gewinn an Unmittelbarkeit und Authentizität; eine starke Begrenzung des Blickfeldes (auf die notwendig subjektive Perspektive des ›Ich‹) muss dafür in Kauf genommen werden: Denn Innensicht ist nur ins Erzähler-Ich möglich, alle anderen Figuren werden nur in Außensicht beschrieben. - Oft sind zwei verschiedene Ich-Instanzen zu unterscheiden: ein Ich, das in der Vergangen-heit bestimmte Dinge erlebt hat (erlebendes oder erinnertes Ich), und ein anderes, das sie nach mehr oder weniger langer Zeit erzählt (erzählendes oder erinnerndes Ich). Die Span-nung zwischen diesen beiden Instanzen und die Distanz zwischen dem erlebenden und dem erzählenden Ich können sehr unterschiedlich gestaltet sein; wo sie stark betont werden, etwa im Memoirenroman (s.u.) spricht man auch von einer zweischichtigen Ich-Erzählung: Das gealterte, gereifte ›erzählende Ich‹ verhält sich kritisch, distanziert oder auch nachsichtig zu

53

den ›Jugendsünden‹ des ›erlebenden Ichs‹, auf die es aus großem zeitlichen Abstand zu-rückblickt. In Modifikation des ursprünglichen Modells der ›typischen Erzählsituationen‹ kann man auch zwischen einem ›auktorialen‹ Ich-Erzählen und einem ›personalen‹ Ich-Erzählen unterschei-den: Der ›auktoriale‹ Ich-Erzähler z.B. des Memoirenromans überschaut seine Geschichte (wobei sich seine ›Allwissenheit‹ allerdings auf die eigenen Erlebnisse und die äußeren Vor-gänge beschränkt), der ›personale‹ Ich-Erzähler z.B. eines Tagebuchromans (in dem der Abstand zwischen dem Erleben und der Niederschrift gering ist) steht noch mitten im Ge-schehen.

Innerhalb der Ich-Erzählsituation werden zur Systematisierung noch einmal vier häufig auf-tretende Formen voneinander abgegrenzt. Unterscheidungskriterien sind: - der zeitliche Abstand, aus dem das Ich erzählt: mit oder ohne ausgeprägte Retrospektive - die Beteiligung des Ich an der Geschichte: wird die eigene Geschichte erzählt (Zentralstel-lung des Ich-Erzählers) oder die einer anderen Figur.

Aus diesen Kriterien ergibt sich die Unterscheidung von:

Memoirenroman Retrospektive mit Zentralstellung des Ich-Erzählers, nach dem Muster einer Autobiographie. ● Beispiel: Thomas Mann: Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull.

Biographischer Roman Retrospektive mit Randstellung des Ich-Erzählers, nach dem Muster einer Biographie. ● Beispiel: Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde [nämlich dem Ich-Erzähler Dr. phil. Serenus Zeit-blom].

Brief- oder Tagebuchroman Keine ausgeprägte Retrospektive, mit Zentralstellung des Ich-Erzählers, nach dem Muster authentischer Briefe oder Tagebücher. ● Beispiel: Goethe, Die Leiden des jungen Werther [ein monoperspektivischer Briefroman, der nur die Briefe Werthers enthält, im Unterschied zum polyperspektivischen Briefroman, der Briefe mehrer Schreiber umfasst]. ● Beispiel für den Tagebuchroman: Max Frisch, Stiller (1957).

Detektivroman Keine ausgeprägte Retrospektive, mit Randstellung des Ich-Erzählers. ● Beispiel: Conan Doyle: Sherlock Holmes [wo der als Figur wenig interessante Dr. Watson in Ich-Perspektive von den Ermittlungen seines Freundes Sherlock Holmes erzählt]. 8.4 Formen der Rede in epischen Texten – Erzählerrede/Erzählerbericht Umfasst die Gesamtheit aller Textelemente, die unmittelbar der Erzählinstanz zuzuschreiben sind; macht Erzählen als Vermittlungsakt deutlich. – (Fiktionaler) Bericht Bietet meist geraffte Wiedergabe eines Handlungsablaufs; die zusammenfassende Wieder-gabe von Äußerungen der Figuren bezeichnet man als Redebericht. – Szenische Darstellung: Nicht oder nur wenig raffende Erzählweise, will Geschehen unmittelbar präsentieren; neigt zu zeitdeckendem Erzählen, direkte Wiedergabe von Redebeiträgen, Dialogen.

54

– Beschreibung … eines Zustands, einer Sache oder Person; unterbricht den Handlungsablauf. – Erörterung Besprechung allgemeiner Sachverhalte und Fragestellungen; unterbricht den Handlungsab-lauf, häufig als Exkurs eines auktorialen Erzählers. – Redeankündigung Leitet verschiedene Formen der Personenrede ein (direkte, indirekte, erlebte Rede) – Figurenrede (Personenrede) Gesamtheit aller Äußerungen die einer Handlungsfigur zugeordnet sind. 8.4.1 Formen der Figurenrede/Personenrede und Bewusstseinsdarstellung in epischen

Texten Definition und Beispiele stammen im Folgenden aus: ■ Harald Fricke/Rüdiger Zymner: Einübung in die Literaturwissenschaft. Paderborn, Mün-chen u.a. 31996, S. 143f.: – Direkte Rede:

Erzählerische Redewiedergabe in der 1. bzw. 2. Person Präsens Indikativ (als Basis-Tempus), ohne Innensicht und kommentierende Einmischung in vollständiger oder bei Be-darf beliebig unvollständiger Syntax.

● Beispiel: Othello fragte seine Frau: „Hast du zur Nacht gebetet, Desdemona? Ich werde dich jetzt töten!“

– Indirekte Rede [auch „oratio obliqua“]:

Erzählerische Redewiedergabe in der 3. Person Präsens Konjunktiv (bei Ich-Erzählung: in der 1. Person für das erlebende Ich), ohne Innensicht, mit der Möglichkeit kommentierender Einmischung, in vollständiger Syntax ohne Anführungs-, Ausrufe- und Fragezeichen.

● Beispiel: Othello fragte Desdemona drohend, ob sie schon zur Nacht gebetet habe; er werde sie nun töten.

– Erlebte Rede [auch „style indirect libre“]:

Erzählerische Redewiedergabe in der 3. Person Präteritum Indikativ, mit Innensicht und der Möglichkeit kommentierender Einmischung, aber ohne ‚verba dicendi et sentiendi’, in voll-ständiger Syntax (Ausnahme: Interjektionen) und mit unbeschränkter Interpunktion, jedoch ohne Anführungszeichen.

● Beispiel: Othello sah Desdemona liegen. Ob sie wohl schon zur Nacht gebetet hatte? Schließlich wollte er sie nicht bei beladener Seele töten.

– Redebericht: Erzählerische Redewiedergabe in der 3. Person Präteritum Indikativ, ohne Innensicht, mit kommentierender Einmischung, in vollständiger Syntax und beschränkter Interpunktion.

● Beispiel: Othello befragte Desdemona nach ihrem Nachtgebet und informierte sie über seine Mordabsicht.

– Innerer Monolog:

55

Erzählerische (Gedanken-)Redewiedergabe in der 1. (ersatzweise: gleichbedeutenden 2.) Person Präsens Indikativ, in Innensicht ohne kommentierende Einmischung, in vollständiger oder auch partiell unvollständiger Syntax mit unbeschränkter Interpunktion, jedoch ohne An-führungszeichen.

● Beispiel: Othello schlich zu Desdemonas Bett. Ob sie wohl schon zur Nacht gebetet hat? Schließlich willst du sie ja nicht bei beladener Seele … aber töten muß ich sie!

– Bewusstseinsstrom [urspr. engl. »stream of consciousness«]:

Erzählerische (Gedanken-) Redewiedergabe in der 1. Person Präsens Indikativ, in Innensicht ohne kommentierende Einmischung, in unvollständiger Syntax mit ganz oder weitgehend fehlender Interpunktion.

● Beispiel: da ist sie da liegt sie ja ob sie wohl schon aber das tut sie ja immer beten am Morgen am Mittag am Abend also hat sie natürlich aber besser ich frag sie nachher ist doch was dran und ich bin schuld daß sie dann ewig …

Die einzelnen Formen der Figurenrede sind häufig typisch für bestimmte Erzählperspektiven oder sogar nur innerhalb einer bestimmten Erzählperspektive möglich, z.B. ist der Innere Monolog an die Ich-Erzählperspektive gebunden, die Erlebte Rede an das personale Erzäh-len, der Redebericht und die indirekte Rede sind typisch für auktoriales Erzählen usw. Die Analyse der Figurenrede kann damit auch ein Indiz für die Erzählperspektive sein und umge-kehrt! ►Lerntipp: Wenn Sie einen Roman lesen (z.B. Thomas Manns Buddenbrooks, aber auch neuere und nicht nur deutschsprachige Werke!): Achten Sie ganz bewusst darauf, - wer in welchem Abschnitt wie erzählt - wie die Zeitstruktur angelegt ist: ob und wo es Rückwendungen oder Vorausdeutungen gibt; wie, wann und in welchem Ausmaß gerafft wird!

9. Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte Die Literaturwissenschaft ist in starkem Maße eine historisch orientierte Disziplin – es ist kein Zufall, dass die Fächerkombination ›Deutsch‹ und ›Geschichte‹ im Lehramtsstudiengang zu den häufigsten gehört. Literatur der Vergangenheit spielt in Forschung und Lehre eine große Rolle, insbesondere wenn es sich um kanonisierte Literatur handelt, also um Texte, die zum Kanon der ›wichtigen‹, ›hochrangigen‹, ›bleibenden‹ Werke gerechnet werden. Es gehört zu den wichtigen Aufgaben der Literaturgeschichtsschreibung, den Prozess der Kanonbildung kritisch zu reflektieren, die Kanonisierung bestimmter Texte immer wieder neu zu legitimieren oder auch den Kanon zu verändern und zu erweitern. Hauptziel von Literaturgeschichtsschreibung ist es jedoch, durch die Herstellung von Zu-sammenhängen und Zeitfolgen eine gewisse Ordnung zu schaffen in der unübersehbaren Fülle literarischer Überlieferung. Ein wesentliches Mittel dazu ist die Periodisierung des histo-rischen Verlaufs, die Bildung von ›Epochen‹. Epochenbegriffe und Epochenkonstruktionen gehen davon aus, »dass es innerhalb der his-torischen Zeitfolge, also auf dem Zeitpfeil der sozialen, politischen, kulturellen, ästhetisch-

56

poetologischen (oder was auch immer) Entwicklung eine als solche identifizierbare, in sich geschlossene und durch ein Set von Erscheinungen und Tendenzen gegenüber einem Vor-her und einem Nachher abgrenzbare historische und/oder literarhistorische Gestaltungsform von Geschichte gibt« (Allkemper/Eke, S. 182f.). Oder konkreter: »eine Menge von Texten weist für einen Zeitraum eine Reihe beschreibbarer Gemeinsamkeiten auf; zugleich sind die Unterschiede zwischen ihnen geringer als zu den Texten eines anderen Zeitraums, die sich ihrerseits in ihren Gemeinsamkeiten von den Texten des ersten Zeitraums (und weiterer Zeit-räume) unterscheiden« (Allkemper/Eke, S. 183). Die Notwendigkeit von Periodisierung als Ordnungs- und Orientierungshilfe ist in der Litera-turwissenschaft unbestritten, jedoch ist ihre grundsätzliche Problematik stets mitzureflektie-ren. Epochenbegriffe haben den Charakter von Konstrukten bzw. Interpretationsleistungen; verschiedene Wissenschaftler können unterschiedliche Kriterien zugrunde legen und de-mentsprechend zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen – etwa was die ›dominierende‹ Tendenz einer Epoche, ihre zeitlichen Grenzen, ihr Verhältnis zu vorangegangenen oder folgenden Entwicklungen angeht. Hinzu kommt das Problem einer ›Gleichzeitigkeit des Un-gleichzeitigen‹: Konkurrierende literarische Strömungen wie etwa ›Klassik‹ und ›Romantik‹ verlaufen zeitlich weitgehend parallel; der ›Sturm und Drang‹ steht in einem hochkomplexen Verhältnis zur Aufklärung, so dass die 1770er Jahre sowohl die Zeit des Sturm und Drang als auch die Spätzeit der Aufklärung markieren. Möglich ist weiterhin, dass besonders lang-lebige Autoren in hohem Alter noch nach ästhetischen Vorstellungen ihrer Jugend schreiben, obwohl die stilprägende Kraft dieser Epoche längst vorbei ist; und selbstverständlich gibt es immer ›Überlappungen‹ an den (ohnehin nur als Konstrukt festzusetzenden) Epochengren-zen. Außerdem bilden die gängigen Periodisierungen keine Systeme auf der Basis homogener Kriterien: Manche Epochenbegriffe beziehen sich auf ästhetisch-stilistische Aspekte (z.B. ›Realismus‹ als ein Begriff, der auf ein spezifisches Verhältnis von literarischer Schreibweise und Wirklichkeitswahrnehmung zielt), andere auf allgemein geistesgeschichtliche Prozesse (z.B. Aufklärung als ein Begriff, der vor allem auch die Philosophie dieser Zeit kennzeichnet), wieder andere auf rein realgeschichtliche Faktoren (z.B. Restaurationsepoche als ein Begriff, der die politische Situation als wesentlich für das Schreiben in dieser Zeit hervorhebt). Mit dieser Heterogenität können und müssen die LiteraturwissenschaftlerInnen leben, genauso wie mit der Tatsache, dass einzelne Epochenbegriffe in anderen Disziplinen weiter oder en-ger gefasst werden (der Begriff ›Romantik‹ z.B. wird in der Anglistik oder auch in der Musik-geschichte anders gehandhabt als in Bezug auf die deutsche Literatur). Das folgende Raster hat nicht den Anspruch universaler Gültigkeit – es gibt andere Epo-chenmodelle, es gibt andere Bezeichnungen, es gibt andere Periodisierungsmöglichkeiten, die gleichermaßen legitim sind. Insofern dient es nur als erste Orientierung über die histori-sche Entwicklung der deutschen Literatur; es versucht, Begriffe, Zahlen und Repräsentanten zu nennen, die bei aller grundsätzlichen Meinungsvielfalt von den meisten Literaturwissen-schaftlerInnen zumindest als mögliche Grobgliederung des historischen Verlaufs anerkannt werden. Das Raster soll dabei helfen, Einzeltexte wenigstens vage in einen historischen Zu-sammenhang einzuordnen. Einen wirklichen ›Überblick‹ über die Literaturgeschichte kann jedoch nur erhalten, wer ergänzend eine breitere literarhistorische Darstellung und vor allem: viele, viele literarische Texte liest. Insofern handelt es sich im Bereich der Literaturgeschichte um einen Prozess der Wissensaneignung, der auf Jahre hin angelegt sein muss. Sein Funk-tionieren erinnert an den hermeneutischen Zirkel: Epochenbegriffe sind durch Abstraktion aus einer großen Zahl von Einzeltexten abgeleitet; wer mit einer ersten Vorstellung z.B. von ›Romantik‹ als literarhistorischer Epoche an einen romantischen Text herangeht, wird in die-sem Text Elemente finden, die das jeweilige Vorverständnis von ›Romantik‹ bestätigen, mo-difizieren oder erweitern, wird also vom Einzeltext ausgehend neue Aspekte des Epochen-begriffs erkennen wie umgekehrt die Vorstellungen von der Epoche die Wahrnehmung des Einzeltextes präformiert haben. Mit jedem neuen Text, mit jeder neuen Reflexion über die Zusammenhänge zwischen (konkretem) Einzelwerk und (abstraktem) Epochenbegriff begibt man sich erneut in den hermeneutischen Zirkel hinein und erlebt das Wachsen des eigenen literarhistorischen Verständnisses.

57

Als Ergänzung zum vorliegenden Skript Basiswissen Literaturwissenschaft finden Sie daher im Anhang eine Lektüreliste mit literarischen Texten, die eine gründliche und (so weit das möglich ist) repräsentative Kenntnisnahme verschiedener literarischer Epochen erlaubt – nutzen Sie die Liste als ›Lektürefahrplan‹ während Ihres Studiums, stöbern Sie nach Lust und Laune darin herum, um Ihren eigenen Weg zur Literatur und zur Literaturgeschichte zu finden. Ergänzend sei zumindest auf eine einbändige Literaturgeschichten verwiesen – dass es auch mehrbändige gibt und natürlich eine Fülle von Epochenmonographien, werden Sie im Laufe Ihres Studiums herausfinden. Zur Erstinformation taugt insbesondere: ■ Peter J. Brenner: Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom Ackermann bis Günter Grass. Tübingen 22004. Anmerkungen zum Epochenraster: Die Spalte Periodisierung entscheidet sich nach Möglichkeit für die gängigste Epocheneing-renzung; es gibt immer Modelle, die andere Jahreszahlen benennen. Die Spalte Epochenbezeichnungen entscheidet sich für eine Hauptbezeichnung und fügt ggf. übliche Binnendifferenzierungen und/oder alternative Bezeichnungen hinzu. Die Spalte Historischer Hintergrund ist bewusst reduktiv gehalten und nennt nur diejenigen historischen Großereignisse, die von zentraler Bedeutung für die jeweilige Epoche sind und in unmittelbarem Zusammenhang zu ihrer Bezeichnung und Begrenzung stehen. Die Spalte Repräsentanten nennt vor allem Autoren, die als symptomatisch und typisch für den Epochenstil gelten (wobei es immer Schriftsteller gibt, über deren Rang kein Zweifel be-steht, die aber nicht eindeutig im Zusammenhang mit einer bestimmten Epoche zu sehen sind). Verweise auf einzelne Werke der Autoren finden Sie in der Lektüreliste ›Wege zur Literatur‹ (auf der Homepage). Periodisie-rung

Epochenbe-zeichnung(en)

Historischer Hintergrund Typische Vertreter

ca. 1400-1600

Humanismus und Reformationszeit

ca. 1450 Buchdruck mit beweglichen Lettern 1453 Fall von Konstantino-pel; 1492 europäische Ent-deckung Amerikas 1517 Thesenanschlag Lu-thers

Sebastian Brant, Hans Sachs, Johan Fischart, Conrad Celtis

ca. 1600-1700

Barock Dreißigjähriger Krieg 1618-1648 1683 Türken vor Wien

Martin Opitz, Andreas Gry-phius; Paul Fleming, Daniel Casper von Lohenstein, Hans Jacob Christoph von Grim-melshausen

ca. 1700/1740-1780/1800

Aufklärung (Früh-/Hoch-/Spätaufklärung)

1740-80: Maria Theresia 1740-86: Friedrich II. 1756-1763: Siebenjähriger Krieg 1776: Unabhängigkeitser-klärung der USA 1789: Frz. Revolution Napoleonische Kriege

Johann Christoph und Luise Adelgunde Victorie Gott-sched; Christian Fürchtegott Gellert; Gotthold Ephraim Lessing, Christoph Martin Wieland, Sophie von La Ro-che, Friedrich Klopstock

ca. 1770-1780

Sturm und Drang J.W. Goethe; Jakob Michael Reinhold Lenz, Friedrich Ma-ximilian Klinger, Heinrich Leo-pold Wagner

ca. 1786-1805

Weimarer Klassik J. W. Goethe; Friedrich Schiller

58

keiner Epo-che zu-zuordnende Autoren um 1800

Heinrich von Kleist, Friedrich Hölderlin, Jean Paul, Karl Philipp Moritz

ca. 1795-1830

Romantik (Früh-/Hoch-/Spätromantik)

1806: Auflösung des Heili-gen Römischen Reiches deutscher Nation

Novalis, Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Ludwig Tieck, Achim von Arnim, Cle-mens Brentano, E.T.A. Hoff-mann, Joseph von Eichen-dorff, Jacob und Wilhelm Grimm

ca. 1815-1848

Restaurations-epoche (Bieder-meier u. Vormärz)

1815: Wiener Kongress 1817: Wartburgfest 1819: Karlsbader Beschlüs-se 1830: Julirevolution in Frankreich

Johann Nestroy, Ludwig Bör-ne, Eduard Mörike, Jeremias Gotthelf, Heinrich Heine, An-nette von Droste-Hülshoff, Karl Gutzkow, Georg Büchner

ca. 1848-1890

(Bürgerlicher) Realismus

Revolution(en) von 1848 1871: Gründung des dt. Reichs 1871-90: Bismarck

Gottfried Keller, Wilhelm Raa-be, Theodor Fontane, Marie von Ebner-Eschenbach, Theodor Storm, Conrad Fer-dinand Meyer

ca. 1889-1895

Naturalismus Arno Holz, Gerhart Haupt-mann, Johannes Schlaf

Um 1900 Literatur der Jahrhundertwen-de (Ästhetizismus, Dekadenz, Fin de siècle)

Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Stefan George, Thomas Mann, Rai-ner Maria Rilke

ca. 1910-1920

Expressionismus und literarische Avantgarde (inkl. Dadaismus)

I. Weltkrieg 1914-1918 Georg Heym, Jakob van Hod-dis, Ernst Toller, Gottfried Benn, Georg Trakl, Franz Kafka, August Stramm, Else Lasker-Schüler

1918-1933 Literatur der Weimarer Repub-lik (Neue Sachlich-keit)

1918: Ende des Kaiser-reichs 1919: Gründung der Wei-marer Republik

Alfred Döblin, Erich Kästner, Anna Seghers, Irmgard Keun, Bertolt Brecht, Robert Musil, Marieluise Fleißer, Kurt Tu-cholsky, Hermann Hesse

1933-1945 Exilliteratur bzw. Literatur im Drit-ten Reich/›Innere Emigration‹

1933: Machtergreifung der Nationalsozialisten 1939: Beginn des II. Welt-kriegs

Exil: Anna Seghers, Klaus Mann, Bertolt Brecht, Thomas Mann, Franz Werfel, Lion Feuchtwanger ›Innere Emigration‹: Oskar Loerke, Werner Bergengruen

ca. 1945-1960

Nachkriegslitera-tur

Ende des II. Weltkriegs 1945

Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Günter Grass, Günter Eich, Paul Celan, Ingeborg Bachmann

Für die Zeit nach 1960 haben sich (noch?) kaum feste Epochenbegrenzungen eingebürgert; der Begriff ›Gegenwartsliteratur‹ ist inzwischen zu pauschal geworden. Möglich ist die Unter-scheidung nach Jahrzehnten – z.B. ›Literatur der 1970er Jahre‹ – oder die politische Fokus-

59

sierung – z.B. ›Literatur der DDR‹; für die 1980er und 1990er Jahre wird gelegentlich der Begriff ›Postmoderne‹ verwendet, für einen Teil der Literatur nach 1990 ›Wendeliteratur‹, für eine andere Gruppe von Texten seit 1995 der Begriff ›Popliteratur‹. Diese und weitere Be-grifflichkeiten treffen jedoch meist nur für einen Teil der literarischen Produktion des betref-fenden Zeitraums zu; es bleibt abzuwarten, ob die künftige Literaturgeschichtsschreibung in Zukunft schärfere Kriterien finden wird, um die Entwicklung in der 2. Hälfte des 20. Jahrhun-derts genauer zu beschreiben oder ob die Wahrnehmung eines Stilpluralismus trotz wach-senden historischen Abstands bestehen bleiben wird.